Umberto Eco Vom Glück der Primzahlen von Umberto Eco Photo: Ekko von Schwichow Im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 12. 9. 2004 war in einem Beitrag über Umberto Eco ( Allein unter Büchern“, Ein Besuch in der Welt des Umberto Eco) zu lesen: Dabei hat er fast alles schon ” ” gelesen. Und er weiß es auch. Fragt man Umberto Eco nach seinen Wissenslücken, denkt er kurz, dann sagt er: ,Mathematik‘. Gut, er habe erst vorige Woche in der Zeitschrift ,L’Espresso‘1 eine Rezension über ein neues Buch über Primzahlen veröffentlicht, und seine Besprechung wurde von Mathematikprofessoren gelobt. Aber, nein, Mathematik sei nicht seine Stärke. Und Musik. Gut, er könne zahlreiche Instrumente spielen, aber Musik, doch, doch, da habe er Lücken.“ Mit Googles Hilfe erfährt man leicht, dass fragliche Rezension dem neuen populärwissenschaftlichen Buch des Oxforder Glamour-Mathematikers“2 Marcus du Sautoy (dt. Ausgabe: Die ” Musik der Primzahlen, Beck 2004) gilt. Der Mathematiker Stacy Langton schrieb in seiner MAA-Rezension3 vor einem Jahr über Sautoys Buch: Some readers may find du Sautoy’s account entertaining, in which case I ” suppose that there are less productive ways of spending their time.“ Angesichts dieses sowie weiterer Verrisse stellt sich die Frage, was ein hochgebildeter Literat, Semiotikprofessor und Nichtmathematiker wie Eco denn Lobenswertes zu dem Buch zu sagen habe? Nun, hier ist sein Text in der Übertragung aus dem Italienischen von Paola Bozzi. (FB) Wer hat denn gesagt, dass man im Urlaub nur leichte Literatur lesen sollte? Die Gelegenheit ist doch gut, sich in den Schatten zu setzen und auf neue intellektuelle Abenteuer einzulassen. Versuchen Sie es mit der Musik der Primzahlen von Marcus du Sautoy. Ich war schon immer eine Null in Mathematik, aber da ich mich mit Philosophie beschäftige, habe ich versucht, die Grundgedanken und Hauptprobleme der Mathematik zu erfassen. Nun ist es allerdings eine Sache, sich die Existenz eines Problems, vielleicht sogar seine Lösung vorstellen, eine andere, es auch erklären zu können. Und da fiel mir neulich dieses höchst faszinierende Buch in die Hände: Ich werde zwar nie im Stande sein, die nächste Primzahl zu finden, habe aber schwindelnd in metaphysische Abgründe blicken dürfen. Primzahlen sind jene Zahlen, die nur durch sich selbst teilbar sind. Wenn Sie aber glauben, dass keine gerade Zahl Primzahl sein kann, sitzen Sie schon in der Patsche, denn 2 ist z. B. nur durch sich selbst teil- bar. Sei es, dass die Zahlen irgendwo nur als platonische Entitäten existieren, sei es, dass sie Absonderungen unseres Hirns sind, ihre Reihe bleibt endlos. Auch wenn man annimmt, die höchste erdenkbare Zahl zu kennen, könnte ein Kind eine noch höhere entdecken, indem es einfach 1 hinzufügt (erinnern Sie sich an plus eins!“ im Film Das Wunder von Mai” land ?). Endlos sind aber auch die Primzahlen, das hatte schon Euklid gesagt, als er begriff, dass sie sozusagen die Atome des Zahlenuniversums bilden, weil jede andere Zahl sich aus Primzahlen ergibt (probieren Sie es aus, Sie werden es selbst sehen). Wer mit den niedrigeren Primzahlen (2, 3, 5, 7, 11, usw.) zu tun hat, kann sich mit dem Sieb des Eratosthenes behelfen: Listen Sie Zahlen auf, und zwar ab 2 bis zu, sagen wir einer Milliarde, und bedenken Sie dabei, dass das Vielfache einer gegebenen Zahl keine Primzahl sein kann, weil es durch jene Zahl teilbar ist. Streichen Sie jedes Vielfache von 2 durch, nehmen Sie dann die erste Zahl, die Sie nicht durch- 1 La bustina di minerva, L’Espresso #32, 2004 2 Ulrich Kühne in der SZ vom 12. 10. 2004. Er erbost sich in seiner Rezension: Die Mathematik, muss der Leser unweigerlich ” glauben, führt die Geschwätzigkeit zur höchsten Verfeinerung.“ 3 http://www.maa.org/reviews/musicprimes.html 268 DMV-Mitteilungen 12-4/2004 Unauthenticated Download Date | 10/20/17 10:43 PM Vom Glück der Primzahlen gestrichen haben, das heißt die 3, streichen Sie dann jedes Vielfache von 3 durch – und fahren Sie so fort. Die Zahlen, die am Ende übrig bleiben, sind Primzahlen. Der Haken bei der Sache: Wenn man nur eine Zahl pro Sekunde ausspricht (und zwar 24 Stunden lang pro Tag), braucht man etwa 33 Jahre, um bis zur Milliarde zu zählen; um die Zahlen aufzuschreiben – und dann jedes Vielfache zu streichen – braucht man viele Sekunden, so dass man am eigenen Lebensende ganz wenige Primzahlen herausgefunden haben wird. Aber damit nicht genug. Sollte man eine Primzahl gefunden haben, muss man sich sicher sein, dass sie tatsächlich eine solche ist, und daher auch beweisen, dass sie nicht durch irgendeine andere verdammte Zahl teilbar ist. Nehmen Sie beispielsweise 30 131: Nach Augenmaß würde man meinen, es handle sich um eine Primzahl. Wenn Sie es aber überprüfen, werden Sie feststellen, dass man diese Zahl durch 59 und 509 teilen kann. Im vergangenen Mai hat man die bislang größte Primzahl entdeckt. Sie hat sieben Millionen Stellen. Aber was soll man damit anfangen? Einmal ganz abgesehen von den vielen Lösungsversuchen der letzten 2 500 Jahre (von denen du Sautoy unter Anekdoten und Überraschungen berichtet): Heutzutage sind Tausende von Rechnern (suchen Sie mal prime num” bers“ im Internet) miteinander vernetzt. Man hofft, in gemeinsamer Arbeit könnten sie eine Primzahl mit zehn Millionen Stellen ausfindig machen. Darauf steht eine Prämie von $ 100 000. Das Problem ist, dass man trotz vieler Lösungsversuche noch nicht weiß, nach welcher Gesetzmäßigkeit die Primzahlen aufeinander folgen. Warum gibt es unter den 100 Zahlen, die vor 10 000 000 kommen, neun Primzahlen und unter den 100, die auf 10 000 000 folgen, nur zwei? Nun höre ich aber auf, den Mathematiker zu spielen, und gehe zur Metaphysik über. Stellen wir uns vor, es gibt einen göttlichen Geist (für Freunde: Gott), http://www.maths.ox.ac.uk/~dusautoy/nonflashindex.htm der dank seiner Unendlichkeit im Nu die unbegrenzte Reihe der Zahlen erfasst – wie er das schafft, entzieht sich unserem Verstand. Ich wage sogar, leichtsinnigerweise, die Hypothese aufzustellen, es könnte eine kurvenförmige Mathematik geben, was etwa folgendermaßen aussähe: Gehen wir von einer Phantastillion aus und, damit nicht genug, erheben wir sie zur phantastillionsten Potenz; nehmen wir an, die darauffolgende Zahl implodierte und reduzierte sich zur Einheit – Gott, eins und endlos, wäre dann nur die endlose Reihe der Primzahlen im Kreis. So würde Gott auch die (endliche oder unendliche) Reihe der Primzahlen kennen. Entweder entspricht ihre Folge einer festen Regel – wir kennen sie nicht, aber Gott schon, und somit wäre alles in Ordnung, zumindest für Gott; oder die Primzahlen treten rein zufällig auf, dann würde Gott vor dem Zufall stehen und wäre das Ergebnis des Zufalls bzw. dessen nicht allmächtiges Opfer (bzw. Gott und der Zufall wären dasselbe). So wäre das Auffinden einer Gesetzmäßigkeit, die es erlaubte, die Folge der Primzahlen zu bestimmen, der einzige Weg, um wenigstens die Möglichkeit, wenn nicht sogar die Existenz Gottes zu beweisen. Nicht schlecht für eine Sommerlektüre, oder? 269 DMV-Mitteilungen 12-4/2004 Unauthenticated Download Date | 10/20/17 10:43 PM