Lena Simon Universität Potsdam Zu Gast in der Humboldt Universität zu Berlin Institut für Philosophie Wintersemester 2006/07 Hausarbeit zum Hauptseminar: Feyerabends Naturphilosophie Dozent: Helmut Heit Die Geburt der Vernunft als Urteilsinstanz Parmenides’ Einfluss auf die Denkweise der nachfolgenden Philosophie anhand von Paul Feyerabends „Einführung in die Naturphilosophie“ nice try nice nice try nice nice try nice nice nice try nice nice try nice try nice try nice nice try nice Matrikelnummer: nice try nice Die Geburt der Vernunft als Urteilsinstanz – Parmenides’ Einfluss auf die Denkweise der nachfolgenden Philosophie anhand von Feyerabends „Einführung der Naturphilosophie“ Autorin: Lena Simon EINLEITUNG...........................................................................................................2 1. GRUNDLAGEN...................................................................................................3 2. DAS ARGUMENT DES PARMENIDES:............................................................5 Die Epische Schreibweise: Wagenfahrt zur Göttin......................................................................................5 Die kontradiktorische Suche nach dem richtigen Weg................................................................................7 Konflikt der Urteilsinstanzen und Erhaltungssatz........................................................................................8 Der Dritte Weg...........................................................................................................................................10 3. AUSWIRKUNGEN DER PARMENIDEISCHEN LEHRE AUF DIE DENKWEISE DER NACHWELT..........................................................................11 Prägung der Denkweise..............................................................................................................................11 Parmenides als Anfang des „eigentlichen Philosophierens“......................................................................13 Fortentwicklung des parmenideischen Gedankenguts...............................................................................15 Der Erhaltungssatz und die moderne Wissenschaft...................................................................................16 KONKLUSION......................................................................................................17 LITERATURANGABEN........................................................................................19 2 Die Geburt der Vernunft als Urteilsinstanz – Parmenides’ Einfluss auf die Denkweise der nachfolgenden Philosophie anhand von Feyerabends „Einführung der Naturphilosophie“ Autorin: Lena Simon Einleitung In seinem Manuskript zu dem bisher unveröffentlichten Buch „Einführung in die Naturphilosophie“1 betont Paul Feyerabend die große Bedeutung der Philosophie des Parmenides für die gesamte folgende Philosophieentwicklung. Parmenides’ Philosophie habe einen unverzichtbaren Schritt vom Urteil durch Wahrnehmung zum Urteil durch die Vernunft geleistet. Diese Entwicklung sei beispielsweise unverzichtbar für die Entwicklung zur Dialektik und zur Begriffsanalyse gewesen. Das Wichtige an Parmenides ist, dass es mit ihm erstmals vorkommt, „daß sich ein Mensch voll und ganz auf seinen logischen Gedankengang verlässt, so daß ihn nicht einmal die Sinneserfahrung zu erschüttern vermag.“2 Diese Neuheit und die erstmalige Einführung des Verstandes als Urteilsinstanz möchte ich in dieser Arbeit genauer untersuchen. Dabei interessiere ich mich insbesondere für Feyerabends Argument, dass Parmenides für die nachfolgende Philosophie unverzichtbar war. Hierzu möchte ich neben der Passage zu Parmenides aus Feyerabends „Einführung in die Naturphilosophie“ und den Originalfragmenten von Parmenides auch die Einführungen von Uvo Hölscher und Hans von Steuben, sowie Kommentare späterer Denker heranziehen. 1. Grundlagen Um Parmenides diskutieren zu können müssen zunächst einige Grundlagen erklärt werden. Parmenides gilt nicht nur als der Begründer der Ontologie, sondern auch als Vater der Disjunktion und der begriffsanalytischen und argumentierenden Philosophie. Er grenzte wahrscheinlich erstmals eine logisch konstruktive Vorgehensweise gegen die sich auf „Erfahrung und geistiger Naturanschauung […] gründende Kosmologie der Milesier“ 3ab. Außerdem legte er den Grundbaustein für die sophistische und platonische Dialektik. 1 Paul Feyerabend: Einführung in die Naturphilosophie (Fey). Skirbekk: Geschichte der Philosophie (Skir) S. 27. 3 Hölscher: Parmenides: Vom Wesen des Seienden (Höl.) S. 61. 2 3 Die Geburt der Vernunft als Urteilsinstanz – Parmenides’ Einfluss auf die Denkweise der nachfolgenden Philosophie anhand von Feyerabends „Einführung der Naturphilosophie“ Autorin: Lena Simon Die so genannten Naturphilosophen erster Generation4 beschäftigten sich mit der Suche nach dem unveränderlichen Element. Da die Suche nach dem unveränderlichen Element ohne Veränderung nicht notwendig wäre, setzten sie diese als selbstverständliche Prämisse voraus. Heraklit und Parmenides, die Naturphilosophen zweiter Generation, stellten daraufhin die Frage nach dieser Prämisse. Gibt es Veränderung? Dabei bezogen sie gegensätzliche Stellung. Während Heraklit zu dem Schluss kam, dass „Alles fließt“5 fand Parmenides heraus, dass es überhaupt keine Veränderung gibt. Zu diesem Schluss kam er durch rein logisches Denken, was ihn nicht nur in seiner Überzeugung bestärkte, sondern zugleich für die nachfolgende Welt weitreichende Konsequenzen hatte. Wie Feyerabend feststellt, gibt es kaum fundierte Informationen über Parmenides. So kann man über Geburtsort und –jahr kaum sichere Aussagen treffen. Wissen daraus lässt sich nur über Chronographien und Schriften aus anderen Zusammenhängen ableiten. Ähnlich verhält es sich mit dem Originaltext seiner Lehre. Feyerabend bemerkt, dass man sich diesen „Märchen“6 dennoch widmen sollte, statt sich aufgrund von mangelnder Information gar nicht damit zu beschäftigen. Wichtig dabei sei, dass man sich darüber bewusst bleibe, wie dünn die Informationslage ist. „Jeder historische Bericht […] formt das Material nach Belieben um, ist sich aber dieser umformenden Tätigkeit nur selten bewusst.“7 Dementsprechend möchte ich zunächst versuchen ein möglichst wahrheitsgetreues Bild von Parmenides zusammenzustellen. Parmenides wurde wahrscheinlich im italienischen Elea geboren. Sein Geburtsjahr kann über die Stadtchronographie auf etwa 520 vor Christus vermutet werden. Die Schriften von Heraklit und Platon können hier sowohl zur Bestätigung, als auch zur Entkräftung dieser Vermutung herangezogen werden. So beschreibt Platon in seinem Dialog „Parmenides“ eine, wahrscheinlich fiktive, Begegnung von Parmenides und Sokrates. In der Tatsache, dass Platon seinen Sokrates besonders jung und Parmenides schon recht alt schreibt könnte man den Versuch erkennen, die Begegnung realistisch erscheinen zu lassen. Das schließt jedoch nicht die Möglichkeit aus, dass Parmenides zu Sokrates’ Zeit bereits gestorben war.8 4 Thales, Anaximander, Anaximenes Philosophiegeschichte Vgl. Skir S. 24, Heraklit Frag. 49a und 91 zit nach Skir. 6 Fey S. 203. 7 Ebd. 8 Vgl Höl. 5 4 Die Geburt der Vernunft als Urteilsinstanz – Parmenides’ Einfluss auf die Denkweise der nachfolgenden Philosophie anhand von Feyerabends „Einführung der Naturphilosophie“ Autorin: Lena Simon Ebenso verhält es sich mit der Schrift des Heraklit. Manche verstehen Parmenides Schrift als Antwort auf die Lehren des Heraklit. Hierzu müsste Parmenides nach hinten datiert werden. Auch hier rüber kann man nur spekulieren.9 Ähnliche Probleme ergeben sich mit der Datierung seines Werks. In der Begegnung die Parmenides in seinem Gedicht beschreibt wird der Ich-Erzähler als „Jüngling“10 dargestellt. Neben der Tatsache, dass die Bezeichnung als ‚Jüngling’ stark interpretierbar ist, bedeutet das darüber hinaus noch lange nicht, dass er die Schrift auch als junger Mann verfasst hat. Es ist zu vermuten, dass das Gedicht um die Jahrhundertwende oder vorher entstanden ist.11 Ein weiteres Problem bei der Lektüre des Gedichts von Parmenides ist der Umstand, dass es nicht vollständig überliefert ist. Die Originalschriften sind im Laufe der Geschichte verloren gegangen. Uns blieb nur erhalten, was Anfang des 6. Jahrhunderts Simplicius zitierte, als er das Gedicht des Parmenides explizit „wegen der Seltenheit des Buches“12 in einer seiner Schriften bespricht. Diese Fragmente, über deren Reihenfolge ebenfalls kein Konsens besteht, sind alles, was uns heute als Primärquelle zur Verfügung steht. Darüber hinaus verfügen wir nur noch über das, was Zeitgenossen oder Nachfolger über Parmenides schrieben. Das Gedicht trägt den Titel „Vom Wesen des Seienden“. Selbst die Ursprünglichkeit des Titels ist unsicher. Πε ρ ι Φ υ σ ε ω σ , Im Altertum trug die Schrift den Titel “Über die Natur“. Der altgriechische Begriff ‚Natur’ bezieht sich auf das gesamte Wesen einer Sache, hier also das Wesen des Seienden. Ob Parmenides seiner Schrift diese Überschrift selbst gegeben hat ist nicht sicher, Simplicius ist jedoch davon überzeugt.13 Das Gedicht gliedert sich in zwei Teile. Vom ersten Teil, der so genannten Rede von der Wahrheit ist uns der größte Teil erhalten. Darin entfaltet er sein Argument vom Sein und vom Nichtsein. Vom Zweiten Teil sind uns nur wenige Fragmente bewahrt geblieben. Darin geht es um den Schein, die Meinungen der Sterblichen, also die doxa. Auch in Anbetracht der Unvollständigkeit dieses Teils der Schrift gibt es hier ebenfalls große Meinungsverschiedenheiten, wie dieser Teil mit dem ersten zu vereinbaren sei. 9 Vgl. Höl Parmenides (Par) Fr.1, aus Höl. S 13. 11 Vgl. Höl. 12 Höl. S. 65. 13 Simpl. De caelo 556.25, zit. nach Hölscher. 10 5 Die Geburt der Vernunft als Urteilsinstanz – Parmenides’ Einfluss auf die Denkweise der nachfolgenden Philosophie anhand von Feyerabends „Einführung der Naturphilosophie“ Autorin: Lena Simon 2. Das Argument des Parmenides: Die Epische Schreibweise: Wagenfahrt zur Göttin Zu Beginn seines Gedichts beschreibt Parmenides seine Wagenfahrt zur Göttin. Mit vielen Metaphern schildert er den Weg dort hin. Die unterschiedlichen Interpratationen der Metaphern sind für meine Auseinandersetzung weniger von Bedeutung und sollen hier nicht bearbeitet werden. Bei der Göttin angekommen, erklärt sie ihm die Wahrheit und die doxa. „Du darfst alles erfahren, sowohl der runden Wahrheit unerschütterliches Herz wie auch das Dünken der Sterblichen, worin keine wahre Verläßlichkeit ist.“14 Parmenides verwendet für die Erzählung seiner Geschichte epische Hexameter. Seine Verkündung der Wahrheit ist eingebettet in eine mythische Erzählung. Es ist erstaunlich, dass Parmenides für seine völlig neuen Aussagen mit völlig neuer Denkart auf eine derart traditionelle Schreibform zurückgreift. Der rationale Charakter scheint sich nicht gut mit der klassischen Schreibweise des Homer oder Hesiod vereinbaren zu lassen. Parmenides gibt dem Mythos jedoch „eine geänderte Funktion“15. Die Rückkehr zur homerischen Schreibweise zielt nicht auf eine Darstellung der „grundlegenden Kategorien der Tradition“16 sondern ist Träger für die Vermittlung einer „neuen Ideologie, neuer Ordnungsprinzipen, einer neuen Welt-anschauung“17. Parmenides’ Gedicht gehört auch nicht zu der „Gattung der religiösen Berufungs- und Offenbarungstheorie“18 des Hesiod. Der Unterschied liegt jedoch nicht nur in der Zielsetzung des Werks, sondern auch in der Argumentationsweise. Parmenides lässt sein Argument von der Göttin darstellen. Seine Lehre schildert die Wahrheit, die einzig mögliche Erkenntnis vom Sein. Denn schließlich hat er diese Eingebung direkt von der göttlichen Muse19 erfahren. Derartige Autoritätsargumente finden sich auch vor seiner Zeit häufiger. So zieht „Hesiods Verkündung [ihren] Anspruch auf Wahrheit“20 allein aus der Autorität der Göttinnen. Parmenides’ Argument wird zwar auch von einer Göttin dargestellt, ist jedoch nicht von 14 Par Fr. 1, Höl. S. 13 f. Fey S. 207 16 Ebd. 17 Ebd. 18 Höl. S. 74 19 Vgl. Höl. 20 Höl. S. 74. 15 6 Die Geburt der Vernunft als Urteilsinstanz – Parmenides’ Einfluss auf die Denkweise der nachfolgenden Philosophie anhand von Feyerabends „Einführung der Naturphilosophie“ Autorin: Lena Simon ihrer Autorität abhängig. Das Argument ist für Parmenides bereits durch seine logische Struktur überzeugend. Der Mythos dient hier lediglich als sprachliches Kleid um den neuen Gedanken einen Raum zu geben. „Der Weg des Dichtens wird zum Weg des Denkens.“21 Die kontradiktorische Suche nach dem richtigen Weg Über den „Umwege der Elimination von ganz Unanschaulichem“22 kommt Parmenides zu seinem Erhaltungssatz. Parmenides stellt zwei23 unterschiedliche „Wege des Suchens“24 nach der Wahrheit auf, denen der Verstand folgen könne, und sucht dann nach dem richtigen. Der erste Weg lautet: „daß (etwas ist und daß nicht zu sein unmöglich ist“ 25, der Zweite Weg: „daß (etwas) nicht ist, und daß nicht zu sein richtig ist“26. Für ein besseres Verständnis lohnt es sich ebenfalls die Übersetzung in die englische Sprache zu betrachten. 27 Der erste Weg, „(it) is and […] (it) cannot not be“28 führt, wie in der deutschen Übersetzung, zu dem Ergebnis: Das Seiende ist und kann unmöglich nicht sein. Der zweite Weg bedeutet schlicht: Das Nichtseiende ist möglich. Die englische Übersetzung „(it) is not and […] (it) needs must not be“29 entspricht der deutschen nicht, weil sie dazu führt, dass das Nichtseiende unmöglich ist. Da Parmenides zu dieser Aussage später erst kommen möchte, indem er den zweiten Weg verwirft möchte ich mich hier auf die deutsche Übersetzung stützen. Denn um diesen Weg zu verwerfen muss er ihn zunächst positiv (also letztlich falsch) formulieren. Parmenides argumentiert kontradiktorisch. Nur einer der Wege kann der Richtige sein. Eine Annahme hat die Negation ihres Gegenteils zur Folge. So stellt Parmenides letztlich im Ausschlussverfahren fest, dass ‚es ist’. 21 Höl. S. 70. Fey S. 206. 23 Für Feyerabend sind es drei Wege. Dazu siehe bei „Der Dritte Weg“. 24 Par Fr. 2, Höl. S.15, [sic]. 25 Ebd. 26 Ebd. 27 Man bedenke, dass ein folgenschwerer Übersetzungsfehler wie bei Sokrates’ „Ich weiß dass ich nichts weiß“ im englischen „I know, that i do not know“ nicht vorkommt. Der Unterschied zwischen nicht und nichts ist diesem Fall von großer Bedeutung. Anm. d. Autorin. 28 Par. Fr. 2, Gallop S.55. 29 Ebd. 22 7 Die Geburt der Vernunft als Urteilsinstanz – Parmenides’ Einfluss auf die Denkweise der nachfolgenden Philosophie anhand von Feyerabends „Einführung der Naturphilosophie“ Autorin: Lena Simon Zunächst schließt er den zweiten Weg, dass Nichtsein möglich ist, aus. Was nicht ist, kann nicht wahrgenommen werden. Deshalb gibt es an dem Nichts auch „nichts zu erkennen“30 und man kann keine grundsätzliche Aussage darüber treffen. „Das Nichts für das Wahre zu halten ist der ‚Weg des Irrtums’“31 Hier muss kurz auf eine Problematik eingegangen werden, die bei der Übersetzung aus dem Altgriechischen entsteht. Das von Parmenides an dieser Stelle verwendete altgriechische Wort ν ο ε ι ν 32 für ‚erkennen’ bedeutet sowohl ‚bemerken’ als auch ‚bedenken’. Aus der griechischen Bedeutungsdopplung für dieses Wort ergibt sich logisch: Was man nicht bemerken kann, kann man auch nicht bedenken. „Because the same thing is there for thinking and for being.“33 Das Wort ν ο ε ι ν wird von den Griechen mit der Bedeutung ‚Denken vom Sein’ verwendet. Demnach kann nur Seiendes erkannt werden. Die Anschauung begrenzt sich auf das Seiende, das ‚Nichtsein’ kann nicht betrachtet werden. Somit wird das Sein zur Bedingung der Erkenntnis. Diese Prämisse bildet für Hölscher das Grundaxiom der parmenidischen Philosophie. „Was nicht ist kannst du wohl weder wahrnehmen noch aufzeigen.“34 Es ist also auch kein Seiendes. Nichtsein zu denken ist daher unmöglich. Damit hat Parmenides den zweiten Weg ausgeschlossen. Nichtseiendes ist nicht. „Kann denn etwas, was nicht ist, eine Eigenschaft sein? Oder prinzipieller gefragt: kann denn etwas, was nicht ist, sein? Die einzige Form der Erkenntnis aber, der wir sofort ein unbedingtes Vertrauen schenken und deren Leugnung dem Wahnsinne gleichkommt, ist die Tautologie A=A.“35 Somit bleibt nur noch der erste Weg. Das Seiende ist. Und das Nichtseiende ist nicht. Konflikt der Urteilsinstanzen und Erhaltungssatz Hiermit hat Parmenides einen streng logischen Beweis geführt, dessen Konklusion der Auffassung der bisherigen primären Urteilsinstanz, der Anschauung, widerspricht. „Damit verband sich die Dialektik, daß das Veränderliche keine Wahrheit habe; denn wenn man diese Bestimmungen nimmt, wie sie gelten: so kommt man auf 30 Fey S. 206. G.W.F. Hegel zit. nach von Steuben (Steu) S 43. 32 ν ο ε ω : 1 ) wahrnehmen im Sinne von erkennen, bemerken, einsehen, verstehen 2) denken, bedenken, überlegen (aus Wörterbuch Langenscheid) 33 Par Fr. 3, Gallop S. 57 34 Par. Fr. 2, Höl. S.17. 35 F.W. Nietzsche zit Steu. S 45. 31 8 Die Geburt der Vernunft als Urteilsinstanz – Parmenides’ Einfluss auf die Denkweise der nachfolgenden Philosophie anhand von Feyerabends „Einführung der Naturphilosophie“ Autorin: Lena Simon Widersprüche.“36 Veränderung setzt die Existenz von Nichtseiendem voraus. Das würde bedeuten, dass es keine Veränderung gibt. Das Urteil der Anschauung teilt uns jedoch mit, dass es Veränderung gibt. Dies führt zu dem Angelpunkt seiner Lehre, mit dem Parmenides das Denken seiner Zeit revolutionierte: Parmenides führt durch seinen streng logischen Beweis das „Urteil des Denkens“37 ein. Nun können zwei Instanzen herangezogen werden, um über das Seiende zu urteilen. Die Anschauung und die Vernunft. Diese beiden Instanzen werden erwartungsgemäß irgendwann in Konflikt geraten. Bei einem Widerspruch zwischen Anschauung und Vernunft gerät das Fundament aus bisher für verlässlich gehaltenem Wissen ins Wanken. Das intuitive Erkenntnisverhalten via Anschauung wird durch die Vernunft erweitert und führt zu einer Loslösung des Menschen aus der ihn umgebenden Welt.38 Der offensichtlichste Widerspruch zwischen den Instanzen findet sich in Parmenides’ Erhaltungssatz. Zu diesem gelangt Parmenides durch die Untersuchung der „allgemeinste[n] Qualität“39, dem Seienden. Die allgemeinste Eigenschaft des Seienden ist die Eigenschaft zu sein. Feyerabend bestreitet, dass sich hinter dieser Aussage eine Tautologie verbirgt. Da das Seiende lückenlos über die Eigenschaft des Seins verfüge, werde es dadurch auch in erster Linie definiert.40 Die Bedeutung dieser Aussage (die sie vom Vorwurf der Tautologie befreit) ergibt sich durch die Bestätigung seiner kontradiktorischen Vorgehensweise: Wenn etwas ‚ist’, dann kann es nicht zum Teil auch nicht sein. Das Seiende ist immer gänzlich seiend, während das Nicht-Seiende stets gänzlich nicht-seiend ist. Schließlich gebe es kein Seiendes, das mehr über die Eigenschaft des Seins verfügt als ein anderes Seiendes. Ebenso wenig kann etwas weniger seiend sein als etwas anderes. Somit könne es innerhalb des Seienden (ebenso innerhalb des Nichtseienden) weder Werden noch Vergehen geben. Denn das würde eine Übergangsphase zwischen Sein und Nichtsein voraussetzen. Etwas Werdendes ist später seiender als vorher. Aus der Feststellung, dass „das Seiende ist“41 kommt Parmenides zu dem Ergebnis, dass das Seiende „zusammenhängend, überall gleichartig, ungeboren, unvergänglich, 36 Hegel zit. nach Steu. S. 44. Fey. S. 207. 38 Vgl Fey. S. 207. 39 Fey. S. 205. 40 Vgl. Fey. S. 206. 41 Fey. S. 205. 37 9 Die Geburt der Vernunft als Urteilsinstanz – Parmenides’ Einfluss auf die Denkweise der nachfolgenden Philosophie anhand von Feyerabends „Einführung der Naturphilosophie“ Autorin: Lena Simon unbeweglich, eines, kugelförmig“42 sein müsse. „Veränderung, Entwicklung, Degeneration“ können daher logisch im Urteil des Denkens nicht vorkommen. Aus dem Urteil der Anschauung meinen wir jedoch zu Wissen, dass es Veränderung, Werden, Vergehen, Geburt und Tod gibt. Die eine Urteilsinstanz bestreitet die Existenz von Übergängen, die andere bestätigt sie. Parmenides entscheidet sich für das Urteil des Denkens und sucht nach einer Erklärung für den Widerspruch.43 Er findet ihn in der „Mischung und Entmischung der Grundstoffe“44. Die Grundstoffe selbst sind unveränderlich. Die unterschiedliche Vermischung der Grundstoffe lässt unsere Wahrnehmung glauben, dass es Veränderung gäbe. Vertrauen sollen wir nur dem Urteil des Denkens schenken. Parmenides leistet eine Kritik an der Wahrnehmung, die von großer Bedeutung ist. „Dieser Anfang ist freilich noch trübe und unbestimmt; es ist nicht weiter zu erklären, was darin liegt; aber gerade dieses Erklären ist die Ausbildung der Philosophie selbst, die hier noch nicht vorhanden ist.“45 Der Dritte Weg Feyerabend nennt in seinen Ausführungen drei Wege. Bei dem dritten Weg handelt es sich um den Weg mit dem sich Parmenides im zweiten Teil seines Gedichtes auseinandersetzt, den menschlichen Irrweg: „es ist, und es ist nicht“46. Dieser dritte Weg soll hier nicht ausführlich diskutiert werden. Allerdings wird Parmenides an dieser Stelle häufig kritisiert. Wozu noch die Meinung, die doxa diskutieren, wenn im ersten Teil des Buches bereits die Wahrheit mitgeteilt wurde? Parmenides wird dafür kritisiert, dass sich seine Ausführungen in den beiden Teilen widersprechen. Seine Diskussion der doxa ist jedoch keineswegs unsinnig. Wenn man sich ein Weltbild geschaffen hat, das derartig von der Wahrnehmung (auch der eigenen) abweicht, benötigt man ein System in dem diese untergebracht werden kann. Die schlichte Feststellung, dass die Wahrnehmung trügt, ist für einen wahrnehmenden Denker nicht befriedigend. Selbstverständlich folgt die Erklärung, wie die Wahrnehmung trügt und die Diskussion, wozu das führt. Zuletzt 42 Ebd. Vgl. Fey S. 208. 44 Fey S. 208. 45 Hegel zit. nach Steu. S. 44. 46 Fey S. 206. 43 10 Die Geburt der Vernunft als Urteilsinstanz – Parmenides’ Einfluss auf die Denkweise der nachfolgenden Philosophie anhand von Feyerabends „Einführung der Naturphilosophie“ Autorin: Lena Simon bleibt jedoch die Feststellung, dass die Wahrnehmung trügt, weil es logisch unmöglich ist, dass etwas gleichzeitig ist und nicht ist. Es macht durchaus Sinn, dass Feyerabend diesen Irrweg als dritten Weg bezeichnet. Er verdeutlicht damit gleichzeitig die kontradiktorische Vorgehensweise des Parmenides. Denn die logische Regel, dass die Annahme einer Prämisse die Negation ihres Gegenteils zur Folge hat, taucht hier erstmals nachvollziehbar auf.47 Parmenides entwickelt damit sozusagen den Ursprung der Reductio ad Absurdum und den Satz vom Widerspruch. 3. Auswirkungen der parmenideischen Lehre auf die Denkweise der Nachwelt Die Ideen und die Methoden, die ein Denker einführt, kann man erst dann richtig beurteilen, wenn man zusieht, wie sie sich im Laufe der Zeit entwickeln, und wenn man die Entdeckungen untersucht, zu denen sie führen.48 Nun stellt sich die Frage, was an Parmenides’ Erkenntnis, dass das Seiende ist und somit nicht nicht sein kann, so umwälzend ist. Auch die Überlegung, dass die Vernunft zu einem besseren Urteil kommen kann als die Anschauung scheint – insbesondere aus heutiger Sicht – geradezu primitiv. Es sind jedoch gerade die einfachen Erkenntnisse, auf denen folgende Gedankengänge aufbauen. Vielleicht ist es sogar genau Parmenides zu verdanken, dass uns seine Erkenntnisse heute so simpel und fast tautologisch vorkommen. „Sehen wir also zu, wie Parmenides das Denken seiner Zeitgenossen und seiner Nachfolger beeinflusst hat, und was wir von ihm lernen können!“49 Prägung der Denkweise Mit Parmenides beginnt die Epoche der begriffsanalytisch und logisch argumentierenden Philosophie. Auf seiner Erkenntnis baut die spätere Herangehensweise an Probleme auf. Die Lehre des Parmenides, so Feyerabend, lenke „die Naturphilosophie in gänzlich neue 47 ~(A & ~A) Fey. S. 208 f. 49 Fey. S. 209. 48 11 Die Geburt der Vernunft als Urteilsinstanz – Parmenides’ Einfluss auf die Denkweise der nachfolgenden Philosophie anhand von Feyerabends „Einführung der Naturphilosophie“ Autorin: Lena Simon Bahnen“50. Mit der Einführung der Vernunft („Urteil des Denkens“51) als Instanz zur Wahrheitsfindung ebnet Parmenides den Weg in die Begriffsanalyse und die Loslösung des Menschen aus der Dogmatik des Wissens durch Wahrnehmung. Die Suche nach Wahrheit bekommt eine ganz neue Qualität. „Die Anschauung verliert überall an Autorität, der Mensch entfernt sich in zunehmendem Maße von der Natur, die ihn umgibt, auch der Mitmensch wird ‚rational’ betrachtet, und der natürliche Eindruck durch Konstruktionen des Verstandes ersetzt.“52 Viele Denker widersprechen den Konklusionen und damit auch dem Inhalt der Lehre von Parmenides. So bestreiten viele, dass es weder Bewegung und Veränderung, Werden und Vergehen, noch aufleben und sterben geben kann. Andere bewerten die Lehre schlicht als tautologisch.53 Gorgias verfasste beispielsweise eine deutlich ironisch konnotierte Schrift, in der er durch Aufgreifen von Parmenides’ logischer Argumentationsweise nachweist, dass gar nichts ist. In seiner Schrift „Über das Nichtseinde“54 leitet er logisch her, dass das Nichtseiende ist und demzufolge das Seiende nicht ist. Das Seiende kann „weder eins noch vieles und weder ungeworden noch geworden“55 sein. Durch den Mangel an Alternativen, sei also gar nichts seiend. Hier soll jedoch nicht diskutiert werden, was nachfolgende Denker an Parmenides kritisierten. Für diese Arbeit ist von Interesse, welchen Einfluss Parmenides auf seine Nachwelt gehabt hat. So soll dargestellt werden, dass viele späteren Philosophen auch wenn sie inhaltlich nicht mit ihm übereingestimmt haben, dennoch seine Weltanschauung übernommen, bzw. weiterentwickelt und weitergetragen haben. „Das Denken oder Vorstellen, dem nur ein bestimmtes Sein, das Dasein, vorschwebt, ist zu dem erwähnten Anfange der Wissenschaft zurückzuweisen, welchen Parmenides gemacht hat, der sein Vorstellen und damit auch das Vorstellen der Folgezeit zu dem reinen Gedanken, dem Sein als solchem, geläutert und erhoben und damit das Element der Wissenschaft erschaffen hat.“56 50 Fey. S. 203. Fey. S. 207. 52 Fey. S. 216. 53 Vgl. Nietzsche zit. nach Steu. S. 46, „tautologische Erkenntnis“. 54 Gor. Fr.3, Buchheim. 55 Ebd. 56 Hegel zit. nach Steu. S. 43. 51 12 Die Geburt der Vernunft als Urteilsinstanz – Parmenides’ Einfluss auf die Denkweise der nachfolgenden Philosophie anhand von Feyerabends „Einführung der Naturphilosophie“ Autorin: Lena Simon Hierzu ist es zunächst notwendig, die Konklusionen, die kritisierbar sind, von denen zu differenzieren, die zu einer neuen Denkweise geführt haben. Natürlich ist es von großer Bedeutung, ob es Veränderung gibt oder nicht. Der Erhaltungssatz ist jedoch genau eine der Lehren, die diskutabel und deren Wahrheitswert hier nicht von Belang ist. Außerdem wurde die Frage nach der Veränderung nicht zuerst von Parmenides aufgeworfen. Sie gehört daher nicht zu den Neueinführungen für die Weltanschauung. Umso relevanter ist die Vorgehensweise des Parmenides. Sein logisches Vorgehen, seine „begründet Fortschreitende Überlegung, [s]ein richtiges Denken“57 und sein Satz vom Widerspruch leiten einen Umbruch in der Denkweise ein. Derart wichtig ist auch die Erkenntnis, dass die Wahrnehmung trügen kann, und die Einführung der Vernunft als Urteilsinstanz. Ein Beispiel dafür, wie Parmenides auf die nachfolgenden Denker gewirkt hat, ohne dass dabei seine Lehre inhaltlich übernommen wurde, sind die sokratischen Dialoge des Platon. Sokrates argumentiert nicht mit den parmenideischen Prämissen oder kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Parmenides hat jedoch eine Weltanschauung eingeführt, ohne die die Vorgehensweisen der folgenden Philosophen nur schwer zu denken sind. So basiert beispielsweise die aporetische Argumentationsweise des Sokrates letztlich auch nur auf der parmenideischen Einführung der Vernunft als Urteilskraft. Sokrates leitet häufig einen Widerspruch zwischen Vernunft und Wahrnehmung her und kommt zu dem Schluss, dass er die Antwort auf die Anfangsfrage nicht wissen kann. 58 Ohne die Vernunft als Urteilsinstanz fehlt ein bedeutender Teil auf dem Weg zu der Erkenntnis, wie schwer wahres Wissen erlangt werden kann. Wenn man auch Parmenides’ Konklusionen nicht in nachfolgenden Schriften findet, so findet man dort eindeutig die „Folgen einer neuen Einstellung, einer neuen Welterfahrung“59. Parmenides als Anfang des „eigentlichen Philosophierens“ Während der Antike wurde Parmenides nicht sehr häufig diskutiert. Wie kommt es dann, dass wir gerade ihn als den Umstürzer des Denkens bezeichnen? Woher nimmt 57 Höl. S. 75. Vgl. Platon: Sämtliche Werke 59 Fey. S. 210. 58 13 Die Geburt der Vernunft als Urteilsinstanz – Parmenides’ Einfluss auf die Denkweise der nachfolgenden Philosophie anhand von Feyerabends „Einführung der Naturphilosophie“ Autorin: Lena Simon Feyerabend seine Annahme, dass es Parmenides war, der die neue Weltsicht eingeführt hat? Feyerabend steht mit seiner These nicht allein da. So kommentiert Uvo Hölscher: „Die geringe Verbreitung des Werks des Parmenides steht im Gegensatz zu der außerordentlichen Wirkung seines Gedankens. Was von Sokrates gesagt wird: daß von ihm alle späteren philosophischen Schulen bestimmt sind, das gilt mindestens ebenso von Parmenides. Daß das Seiende ist und nicht nicht sein kann: diesem Satz haben sich alle Folgenden so wenig entziehen können, daß er die griechische Philosophie, ja das rationale Denken der Menschheit in ein vor- und ein nachparmenideisches Zeitalter scheidet.“60 Auch Hegel ist von der umwälzenden Wirkung des Parmenides überzeugt. „Mit Parmenides hat das eigentliche Philosophieren angefangen, die Erhebung in das Reich des Ideellen ist hierin zu sehen.“61 So sollen beispielsweise die Sophisten auf Parmenides aufgebaut haben, als sie folgerten: „‚Alles ist Wahrheit, es gibt keinen Irrtum; denn Irrtum ist das Nichtseiende, das nicht zu denken ist.’“62 Mit Parmenides habe „zum ersten Male“63 eine Hinwendung zum logisch-vernünftigen stattgefunden. Friedrich Nietzsche schreibt Parmenides sogar seine eigene Epoche zu. Er habe derart nachhaltigen Einfluss gehabt, dass sich das „vorsokratische Denken in zwei Hälften, deren erste die anaximandrische, deren zweite geradezu die parmenideische genannt werden mag“ einteilen ließe.64 Dabei spielt es keine Rolle, dass Parmenides nicht viel diskutiert wurde. „Was das Erste in der Wissenschaft ist, hat sich müssen geschichtlich als das Erste zeigen.“65 Das Ausmaß des Einflusses des parmenideischen Gedankens auf die Nachwelt kann man erst in späteren Schriften feststellen. Erst „die Zeitgenossen, die sie [die Ideen des Parmenides Anm. d. Autorin] aufgreifen und weiter entwickeln erklären uns, was sie im historischen Zusammenhang bedeuten und führen ihr Potential klar vor Augen.“66 60 Höl. S. 65 f. Hegel zit nach Steu. S. 44. 62 Ebd. 63 Hegel zit nach Steu. S. 41. 64 Nietzsche zit. nach Steu. S. 45. 65 Hegel zit nach Steu. S. 41. 66 Fey S. 209. 61 14 Die Geburt der Vernunft als Urteilsinstanz – Parmenides’ Einfluss auf die Denkweise der nachfolgenden Philosophie anhand von Feyerabends „Einführung der Naturphilosophie“ Autorin: Lena Simon Philosophiegeschichtlich suchen wir nach dem ersten, der die Frage nach der unwidersprüchlichen Wirklichkeit stellt. „Und das eleatische Eine oder Sein haben wir für das Erste des Wissens vom Gedanken anzusehen“67 Parmenides Einfluss ist unabhängig davon, ob seine Lehre inhaltlich von nachfolgenden Philosophen aufgegriffen wurde, prägend. Die Zeitgenossen und Nachfolger greifen die Denkweise der parmenideischen Lehre auf und arbeiten sie in ihre Weltbilder ein.68 „Schon bei den unmittelbaren Nachfolgern, wie Xenophanes, Melissos, Zenon wird das neue Spielzeug der rein gedanklichen Überlegung mit Begeisterung und Faszination aufgenommen, und sogleich viel ungezwungener verwendet.“69 So wird zumindest die neue Weltanschauung aufgegriffen und weiterentwickelt. Und bereits die nächste Generation arbeitet sie fast selbstverständlich schon und meist ohne Verweis auf Parmenides in ihre Lehre ein. Damit nimmt Parmenides an der Philosophie eine Veränderung vor, die viel tiefgreifender ist, als die schlichte Einführung eines neuen Gedankens. Er prägt das Weltbild so tief an der Basis, dass sein Einfluss nicht mehr wahrgenommen wird, weil diese Denkweise Allgemeingültigkeit bekommt. Fortentwicklung des parmenideischen Gedankenguts Aus Parmenides’ Ansatz entwickelt sich die Dichotomie und der indirekte Beweis, eine „Liebe zu Paradoxien“70 und nicht zuletzt eine sich immer weiter auf die „Anschauung als einer Quelle des Wissens“71 einschränkende Methode heraus. Hier erschwert sich die Methode der Philosophie. Gleichzeitig schlägt das Denken einen neuen, auf die Vernunft spezialisierten Weg ein. Die auf Parmenides folgenden Naturphilosophen (unter anderem Empedokles, Anaxagoras, Leukipp und Demokrit) entwickeln aus seinem Ansatz die Konzeption der unveränderlichen Stoffe heraus, die bis heute im Gesetz der Erhaltung der Kraft gültig ist.72 67 Hegel zit nach Steu. S. 41. Vgl. Höl. S. 65. 69 Fey. S. 209. 70 Fey. S. 210. 71 Ebd. 72 Vgl Höl. S. 66. 68 15 Die Geburt der Vernunft als Urteilsinstanz – Parmenides’ Einfluss auf die Denkweise der nachfolgenden Philosophie anhand von Feyerabends „Einführung der Naturphilosophie“ Autorin: Lena Simon Die Relevanz und Überzeugungskraft der Logik wird deutlich und die Ontologie wird zum Leben erweckt. Der Charakter der Philosophie ändert sich mit Parmenides grundlegend. Seine Methode bemüht sich um eine einheitliche Betrachtung der Welt. Waren Widersprüche bisher nicht weiter störend, beginnt mit Parmenides das Bestreben, das „Chaos der Eindrücke“ 73 in ein einheitliches Gesamtbild bringen zu wollen. „Erst jetzt wird das im Wasser gebrochene Ruder ein entscheidendes Argument gegen die Brauchbarkeit der Wahrnehmung.“ 74 Zuvor waren derartige Widersprüche kein Hindernis. Vieles wurde listenweise erklärt. Widersprach die Erklärung des einen Phänomens der Erklärung eines anderen, war das nicht weiter irritierend.75 Ab nun befasst sich die Philosophie „mit Dingen, die in der Anschauung nicht vorkommen, und paradoxe Eigenschaften haben.“76 Somit ebnet Parmenides mit seinem Satz vom Widerspruch und der kontradiktorischen Methode die Grundlage der Logik. Daher wirkt Parmenides bis in die logische Ontologie Platons.77 „Seither ist der Satz des Parmenides in der Form des Satzes vom Widerspruch die Grundlage der Logik und aller wissenschaftlichen Erkenntnis“78 Mit seiner Einteilung der Welt in Erscheinung und Wirklichkeit führt er darüber hinaus ein dualistisches Weltbild ein. Mit seiner unumstößlichen Wahrheit ‚(es) ist’ setzte Parmenides außerdem das erste Axiom. Damit hat er nicht nur die Philosophie, sondern auch die Mathematik, und damit die moderne Wissenschaft nachhaltig geprägt.79 Der Erhaltungssatz und die moderne Wissenschaft Feyerabend betont mehrmals, dass Parmenides mit seinem Erhaltungssatz und seiner „Menschentheorie“80 weit in der Zeit voraus gegriffen habe und „die heutige Forschung antizipiert, die versucht, eine naturalistische Erklärung selbst unserer Erkenntnis zu 73 Fey. S. 210. Ebd. 75 Vgl. Fey Kap. 1-4. 76 Fey. S. 211. 77 Vgl. Höl. S. 66. 78 Höl. S. 66. 79 Vgl. Fey. S. 212. 80 Fey. S. 209. 74 16 Die Geburt der Vernunft als Urteilsinstanz – Parmenides’ Einfluss auf die Denkweise der nachfolgenden Philosophie anhand von Feyerabends „Einführung der Naturphilosophie“ Autorin: Lena Simon geben“81. Und tatsächlich finden wir in der heutigen Naturwissenschaft sehr ähnliche Erklärungsansätze wie bei Parmenides. Auch heute versuchen wir für alles Geschehen auf der Welt eine physikalische Erklärung zu finden. Wir erklären die Stoffe und deren Veränderung durch die (Um-)Gruppierung von Elementen. Selbst Emotionen, Gefühle, Gedanken und Erinnerungen werden heute physikalisch bzw. chemisch erklärt. Parmenides’ Erhaltungssatz findet sich im Massenerhaltungssatz wieder, der heute nicht nur immer noch gültig, sondern sogar der erste Chemische Grundsatz nach Antoine Laurent de Lavoisier82 ist. Er und Daniel Sennert, ein weiterer Mitbegründer der modernen Atomtheorie83 griffen in ihren Arbeiten auf Aristoteles und damit letztlich auf Parmenides zurück. Feyerabend geht sogar noch einen Schritt weiter und behauptet, Parmenides sei der heutigen Forschungsweise „sogar voraus“84. Die moderne Forschung beschränke sich auf die „präzise und klare Darstellung bereits erreichten Wissens“85 und verzichte darauf, Verfahrensweisen für den Umgang mit bruchstückhaftem Wissen oder die Erreichung neuen Wissens zu entwickeln. Neue Argumentationsformen innerhalb der Debatte zu finden und damit eine andere Ebene der Wissenserlangung zu erreichen, also zu einer „Form des informellen Denkens“86 zu finden, sei nicht Ziel der modernen Wissenschaft. Parmenides, der das Denken seiner Zeit revolutionierte und auf eine neue Ebene brachte habe der modernen Wissenschaft in dieser Form sogar etwas voraus. Tatsächlich begnügt sich die heutige Wissenschaft weitgehend mit ihrer momentanen Denkweise.87 Konklusion Feyerabends These, Parmenides habe die Philosophie entscheidend bestimmt hat durchaus ihre Berechtigung. 81 Ebd. Frz. Chemiker; Begründer der modernen organischen Chemie durch seine Elementaranalysen (dtvLexikon) 83 Dtv- Lexikon 84 Fey. S. 209. 85 Ebd. 86 Ebd. 87 So begnügt sich beispielsweise die Gesellschaftswissenschaft mit der Feststellung, dass alle bekannten und erprobten Alternativen zur derzeitigen Regierungs- oder Wirtschaftsform unvorteilhafter wären. Den Antrieb, eine gänzlich neue Regierungs-, Gesellschafts- oder Wirtschaftsform zu suchen findet man in der ernst genommenen Wissenschaft nicht. Anm. d. Autorin. 82 17 Die Geburt der Vernunft als Urteilsinstanz – Parmenides’ Einfluss auf die Denkweise der nachfolgenden Philosophie anhand von Feyerabends „Einführung der Naturphilosophie“ Autorin: Lena Simon Viele andere Denker, wie Hegel, Nietzsche, Hölscher, von Steuben oder Lavoisier und Sennert bestätigen diese These. Mit Feyerabend wurde tatsächlich erstmals die Vernunft als verlässlichere Urteilsinstanz eingeführt. Die Vernunft ist in der Philosophiegeschichte nicht erst seit Kant nicht mehr wegzudenken. Deshalb ist es besonders interessant, dass logisches Denken und der Versuch ganzheitlich widerspruchsfrei zu Argumentieren vor Parmenides quasi nicht vorkamen. Dieser Umstand ist freilich schwer zu belegen. Der Vorwurf, dass die Vernunft von Parmenides zu stark gemacht würde, mag berechtigt sein. Allerdings sind es meist die Extremansichten, die eine Denkweise hervorrufen, die sich mit der Zeit mäßigt. Es ist natürlich angebracht, nicht an dieser Stelle stehen zu bleiben. Genau dies kritisiert Feyerabend ja an der modernen Wissenschaft. Heute neigt man dazu die Vernunft wesentlich wichtiger einzustufen, als die Wahrnehmung. Das emotionale Erfahrungsgedächtnis, das hirnorganisch sehr viel schneller und meist im Unbewussten arbeitet, wird als Wahrnehmung und Gefühle als individuelle Empfindungen und damit nicht als allgemein zutreffend bewertet. Vernunft bekommt einen objektiven und damit legitimierbaren Stellenwert. Damit gilt heute reine Vernunft als wesentlich erstrebenswerter, als beispielsweise eine feine Wahrnehmung. Ich bin überzeugt, dass es lohnenswert ist, eine Inklusion von beidem vorzunehmen. Die Philosophie (als allübergreifende Disziplin) bekommt hier die Aufgabe zu verbinden und nicht zu trennen. Insgesamt ist es sehr schwer Parmenides’ Wirkung zu bewerten. Eine grundlegende Weltbildänderung lässt sich nur schwer an konkreten Referenzen und Zitaten nachweisen. Und erst recht nicht, wer oder was genau die Ursache für den Wandel einer Weltauffassung war. Betrachtet man die Argumentationsweise des Parmenides fallen jedoch viele Aspekte auf, die in Thesen späterer Denker (und seien sie auch sehr abweichend von Parmenides’ Feststellungen) wiederkehren. Die Feststellung, dass das Seiende ist ist ebenso nachhaltig, wie die Einführung einer streng logischen Argumentationsweise. Daher ist Feyerabends These durchaus stichhaltig. Als einer der großen Denker der frühen europäischen Philosophie hat Parmenides das Denken nachhaltig in seine Bahnen geleitet. Dies kann man freilich von den meisten frühen Denkern behaupten. Parmenides 18 Die Geburt der Vernunft als Urteilsinstanz – Parmenides’ Einfluss auf die Denkweise der nachfolgenden Philosophie anhand von Feyerabends „Einführung der Naturphilosophie“ Autorin: Lena Simon hat jedoch gewiss einen sehr bedeutenden Stellenwert für das Denken bis in die heutige Zeit. Literaturangaben Paul Feyerabend: Einführung in die Naturphilosophie, bisher unveröffentlichtes Manuskript, verwaltet von Uvo Hölscher (Hg.): Parmenides: Vom Wesen des Seienden – Die Fragmente, griechisch und deutsch, Herausgegeben, übersetzt und erläutert von Uvo Hölscher, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1969 Parmenides von Elea: Fragments – A text and translation with an introduction by David Gallop (Hg.), University of Toronto Press, Toronto 1984 Hans von Steuben (Hg.): Parmenides – Über das Sein, griechisch und deutsch, mit einem einführenden Essay von Hans von Steuben, Reclam, Ditzingen 1981 Gunnar Skirbekk, Nils Gilje: Geschichte der Philosophie – Eine Einführung in die europäische Philosophiegeschichte, Band 1, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1993 Thomas Buchheim (Hg.): Gorgias von Leontinoi: Reden, Fragmente und Testimonien, griechisch – deutsch, Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1989 Ursula Wolf (Hg.): Platon – Sämtliche Werke, Band 3, übersetzt von Friedrich Schleiermacher und Hieronymus und Friedrich Müller, Rohwolts Enzyklopädie, Reinbek bei Hamburg 1994 Dtv-Lexikon in 20 Bänden, Brockhaus , Mannheim, und Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1995 19 Die Geburt der Vernunft als Urteilsinstanz – Parmenides’ Einfluss auf die Denkweise der nachfolgenden Philosophie anhand von Feyerabends „Einführung der Naturphilosophie“ Autorin: Lena Simon Hermann Menge (Hg.): Langenscheidts Taschenwörterbuch Griechisch, Langenscheidtsche Verlagsbuchhandlung, Berlin-Schöneberg 1910 20