Krankheit als Stigma – Metaphern und Moral am Beispiel sexuell ­übertragbarer Krankheiten Gisela Badura-Lotter1 1. Einleitung Die sozialen und ethischen Dimensionen von Krankheit, insofern es um die statusverleihende Funktion der Anerkennung der Betroffenen „als Kranke“ geht, sind vielschichtig, zeit- und kulturabhängig und für jede Krankheit (oder Krankheitsgruppe) potentiell unterschiedlich. Die Anerkennung als Kranker entlastet in vielen, wenn nicht gar den meisten, Fällen von Pflichten oder Verantwortlichkeiten, die zu erfüllen durch die Krankheit erschwert oder unmöglich wurde. Die Betroffenen werden von ‚normalen‘ Erwartungshaltungen und Ansprüchen befreit, dabei wird Ihnen ein erweiterter Schutzraum zugesprochen – sie müssen z. B. nicht zur Arbeit und haben Anspruch auf besondere Fürsorge. Ihr (temporäres) Anderssein bekommt – häufig – eine rationale Legitimation, die sie von jeglicher Schuld bezüglich der nicht erbrachten Leistungen freispricht.2 In diesem Artikel soll es jedoch um die andere, häufig vernachlässigte Dimension des statusverleihenden Effekts von Krankheit gehen: den der Stigmatisierung und Ausgrenzung. Stigmatisierung und Ausgrenzung benötigt Kriterien, die es ermöglichen, eine Person als anders zu kennzeichnen. Krankheit kann ein solches Kriterium sein. Das Pathologische stellt eine der vielen möglichen Gegenkategorien zum ‚Normalen‘ dar. Ein Verständnis von Krankheit und Gesundheit kann, folgt man George Canguilhems’ zentraler These in seinem einflussreichen Werk ‚Le normal et le pathologique‘3, nur angemessen als ein Diskurs über Normalität, Normen und Werte erreicht werden (Canguilhem 2005). Die sogenannten Geschlechtskrankheiten sind, neben psychischen Störungen, wohl eines der eindrucksvollsten Beispiele dafür, wie vielgestaltig 1 2 3 Die wesentlichen Gedanken dieses Aufsatzes sind erschienen unter: Badura-Lotter (2012). In Abgrenzung zu Parsons Charakterisierung der Krankenrolle, die im Wesentlichen eine vierteilige Funktionsgliederung vornimmt (Pflichtenbefreiung, keine Schuldzuschreibung, Pflicht zur aktiven Wiederherstellung der Gesundheit und Pflicht zur Inanspruchnahme professioneller Hilfe), soll in diesem Aufsatz ein Bereich hervorgehoben werden, in dem sehr wohl eine Schuldzuschreibung bzgl. der Entstehung der Krankheit an den Kranken stattfindet, was gravierende Auswirkungen auf seinen sozialen Status haben kann, da er – um in Parsons strukturfunktionalistischem Modell zu bleiben – in diesem Moment eben nicht mehr die Voraussetzung zur vollumfänglichen Anerkennung seiner Rolle erhält und die Funktion des Kranken dann auch im weiteren nicht ausfüllen kann (Parsons 1951). ‚Le normale et le pathologique‘ wurde 1943 als Doktorarbeit akzeptiert, das Buch später reeditiert und vielfach aufgelegt und übersetzt. 128 Gisela Badura-Lotter Krankheiten und Kranke im Geflecht der Zuschreibungen von normal – unnormal (verschärft: abartig), eigen und fremd, Freund – Feind eingewoben sind. Dabei ist klar: das krankheitsbedingte Leid entsteht zu einem wesentlichen Teil durch eben jene Veränderungen im sozialen und moralischen Status, die durch die Krankheit verursacht werden. Ohne die Berücksichtigung dieser ‚Nebeneffekte‘, so die These, können Krankheiten nicht angemessen behandelt werden, das mit ihnen verbundene Leid wird nicht nachhaltig gemildert. Als Beispiel sollen in diesem Aufsatz sexuell übertragbare Krankheiten, insbesondere AIDS herangezogen werden. Die nachfolgenden Reflektionen über Metaphern und Realitäten im Kontext sexuell übertragbarer Krankheiten sollen als Anregung dienen, auch in Bezug auf weniger ‚auffällige‘ Krankheiten über diese im medizinischen Kontext eher verborgenen Seiten von Krankheit und Kranksein nachzudenken.4 2. Sexuell übertragbare Krankheiten Sexuell übertragbare Krankheiten sind ein Knotenpunkt für viele normativ geprägte Felder: Gesundheit, Natur, Moral und andere. Das enorme politische Potential der Debatten über Geschlechtskrankheiten liegt unter anderem in der verführerischen Möglichkeit, die verschiedenen hier zusammenlaufenden Konzepte von Normalität zu vermischen bzw. nicht deutlich auszuweisen, worüber man gerade spricht: über ‚normales‘ Sexualverhalten in biologischer, politischer, moralischer oder epidemiologischer Hinsicht, über Krankheit oder über die conditio humana allgemein. Die besondere Bedeutung von Metaphern in der Kommunikation von unterschwellig in Anschlag gebrachten Nomen und Werturteilen im Kontext von Krankheit und Gesundheit wurde eindrucksvoll von Susan Sonntag in ihren Aufsätzen „Illness as metaphor“ und „AIDS and its metaphors“ dargelegt (Sontag 1991). Sie zeigt, dass im scharfen Gegensatz zu einem rein körperbasierten oder wissenschaftlichen Verständnis, unsere Haltungen gegenüber Krankheiten, insbesondere gegenüber Geschlechtskrankheiten, hochgradig von Mythen und Metaphern geprägt sind, die nicht nur unsere früheren sondern auch unsere aktuellen Verständnisse der Krankheiten, ihr ‚Image‘, prägen. Menschen, die wissen, dass sie eine sexuell übertragbare Krankheit haben, leiden an der weitgehenden Tabuisierung, der immensen moralischen und metaphorischen Überfrachtung ihrer Krankheit und der daran ge- 4 Die Assoziation von Krankheit und Stigma ist spätestens seit Erving Goffmans’ einflussreichen Studien zur Entstehung, Bedeutung und Bewältigung von Stigma fester Bestandteil der sozialwissenschaftlichen Forschung (Goffman 1963). Wesentliche Impulse aus der sog. LabelingTheorie, insbesondere von Thomas Scheff in Bezug auf psychische Störungen weiter entwickelt, erweiterten die sozialwissenschaftlichen Methoden der Stigmaforschung (s. z. B. Link et al. 1989). AIDS und andere sexuell übertragbare Krankheiten sind für die Stigmaforschung insbesondere interessant, da mehrere stigmatisierende Merkmale vereint sind – physische (Krankheit) und charakterliche/moralische Abweichung (Homosexualität), Minderheiten und Kriminalität (Drogenkonsum). Entsprechend zahlreich sind Studien zu Stigma und AIDS (s. z. B. Stürmer und Salewksi 2009; Mahajan et al. 2008) 146 Gisela Badura-Lotter Der medizinische Diskurs über sexuell übertragbare Krankheiten wird, wie gezeigt wurde, von verschiedenen Gruppen dafür benutzt, Einfluss auf moralische und soziale Normen auszuüben, die medizinische, politische, gesellschaftliche und andere Lebensbereiche umfassen können. Eine durchaus verwandte, wenn auch vielleicht weniger gravierende Entwicklung kann im Zusammenhang mit der Politisierung des Rauchens beschrieben werden. Die Grenzen der Sphären der privaten Lebensführung werden eingeschränkt und das Verhalten öffentlich reguliert, Menschen aufgrund ihres Verhaltens diskriminiert. Diskurse über den Zusammenhang von Fettleibigkeit und gewünschtem, ‚normalen‘ Verhalten können hier sicher ebenfalls Parallelen aufweisen, die Entwicklung ist offen. Durch die Auswirkungen von Stigmatisierungen sind im Zusammenhang mit sexuell übertragbaren Krankheiten Fragen des Patienten- und Datenschutzes besonders relevant, da der Staat über verschiedene Institutionen, ebenso wie Arbeitgeber und Versicherungen, auf intime Informationen zugreifen kann, was weitreichende und diskriminierende Konsequenzen haben kann. Das hier besonders zu schützende Recht auf Nichtwissen muss jedoch auf der anderen Seite mit dem Recht auf Information und dem Zugang zu Gesundheitsversorgung abgewogen werden. Es scheint notwendig, bei der Suche nach Hilfsangeboten für kranke Menschen den Blick nicht ausschließlich auf die medizinisch-wissenschaftliche Forschung zu fokussieren, sondern die komplexen Lebenswirklichkeiten der Betroffenen in ihren jeweiligen sozialen und politischen Umfeldern in den Blick zu nehmen, die eben auch von anderen Werten und Normen bestimmt sind, als gesundheitsbezogenen. Scheinbar irrationale Überzeugungen und Verhaltensweisen sind häufig tief verwurzelt in Kultur und Geschichte und sollten anerkannt werden, um sie, beispielsweise in gesundheitspolitischen Aufklärungskampagnen, angemessen zu berücksichtigen. Literaturverzeichnis Annas, George J. (2004) ‚Legal Issues in Medicine: Informed consent, cancer, and truth in prognosis‘, New England Journal of Medicine 330(3): 223–225. 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