Schmerztherapie bei Nierenkranken - CME

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Zertifizierte schriftliche Fortbildung
Schmerztherapie bei Nierenkranken.
Autorin:
Prof. Dr. Heide Sperschneider
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Schmerztherapie bei Nierenkranken
Prof. Dr. med. Heide Sperschneider
KfH Nierenzentrum Jena
Zur Lämmerlaide 1
07751 Jena-Drackendorf
1. Einleitung
Mehr als 50% aller Prädialysepatienten
mit chronischer Nierenerkrankung
und etwa 60-70% der Dialysepatienten
leiden an chronischen Schmerzen
[Nayak-Rao 2011]. Trotz der hohen
Prävalenz chronischer Schmerzen
erhalten Nierenkranke häufig keine
adäquate Schmerztherapie. Grund hierfür ist zum einen die Multikausalität
der Schmerzen, die häufig eine
Kombination verschiedener Analgetika
erfordert. Zum anderen resultiert die
unzureichende Behandlung aus der
Niereninsuffizienz-bedingten veränderten Pharmakokinetik und der daraus
resultierenden Sorge vor Überdosierung
bzw. weiterer Nierenschädigung durch
das Schmerzmittel. Dies gilt vor allem
für die Behandlung starker chronischer Schmerzen. Die dafür erforderlichen Opioide werden aus Furcht vor
schwerwiegenden Nebenwirkungen
oder einer Suchtentwicklung meist
zu zögerlich und zu spät angewendet
[Sperschneider 2007].
Unzureichend behandelte chronische
Schmerzen sind jedoch häufig mit psychischem Stress, einer Beeinträchtigung
der sozialen Beziehungen und der
Arbeitsfähigkeit verbunden [Davison
2005]. Zudem leben Schmerzpatienten
in ständiger Erwartung weiterer
Schmerzen, so dass sich das Leben auf
den Schmerz fokussiert [Horlemann
und Zieglgänsberger 2009]. Nicht sel-
ten gerät der Betroffene mit der Zeit in
einen Teufelskreis aus zunehmenden
physischen Beschwerden und emotionalem Leiden [Davison 2005].
Anliegen dieser Fortbildung ist
es, über die Besonderheiten der
Schmerztherapie bei nierenkranken Patienten zu informieren und
Unterstützung bei der Auswahl geeigneter Opioide zur Behandlung starker
chronischer Schmerzen zu bieten.
nische, chemische, thermische oder
elektrische Gewebeschädigung von
Schmerzrezeptoren (Nozizeptoren)
registriert und über verschiedene
Nervenbahnen an das Gehirn weitergeleitet, wo die Wahrnehmung „Schmerz“ ausgelöst wird. Demgegenüber sind bei neuropathischen Schmerzen die schmerzleitenden Bahnen selbst geschädigt, so dass
es zu einer fehlerhaften Schmerzleitung
und -verarbeitung kommt.
Der akute physiologische Schmerz stellt
eine lebensnotwendige Warn- und
Schutzfunktion für den Körper dar. Ist
die Ursache – z.B. eine Verletzung oder
eine Entzündung – beseitigt, klingt der
Schmerz wieder ab. Bei chronischen
Schmerzen handelt es sich hingegen um
länger andauernde Schmerzen, die sogar
ohne adäquaten Schmerzreiz und häufig
ohne physiologische Funktion persistieren können. Chronischer Schmerz, der
den ganzen Menschen betrifft (physisch,
psychisch und sozial), wird daher heute,
unabhängig von der Ursache, als eigenständige „Schmerzkrankheit“ definiert
[Sperschneider 2007].
Hält ein ursprünglich akuter
Schmerz länger an, kann es zur
Chronifizierung und zur Ausbildung
eines Schmerzgedächtnisses kommen. Starke und länger andauernde
Schmerzsignale führen zu biochemischen Veränderungen der Nozizeptoren
sowie der schmerzleitenden Fasern
im peripheren Nervensystem und im
Rückenmark. Dadurch kommt es zu
einer Senkung der Schmerzschwelle
[Kürten 2001]. Zusätzlich führt jede
Schmerzerfahrung zu biochemischen
und strukturellen Veränderungen im
Gehirn, so dass sich nach wiederholten Schmerzerfahrungen mit der Zeit
ein „Schmerzgedächtnis“ ausbildet, das
den Betroffenen immer schmerzempfindlicher werden lässt [Horlemann und
Zieglgänsberger 2009].
Nach ätiopathogenetischen Gesichtspunkten können nozizeptive, neuropathische und gemischte Schmerzformen
unterschieden werden. Beim nozizeptiven Schmerz wird eine mecha-
Ziel der modernen Schmerztherapie
ist daher die Verhinderung der
Entstehung oder die Rückbildung des
Schmerzgedächtnisses (Re-Learning)
durch eine möglichst frühzeitig einset-
2. Grundlagen des Schmerzes
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zende adäquate Schmerzbehandlung
[Kürten 2001]. Dies wird mit Analgetika
erreicht, deren Wirksamkeit über längere Zeit konstant bleibt, ergänzt durch
rasch wirkende Bedarfsmedikamente
zur Kupierung von Durchbruchschmerzen [Horlemann und Zieglgänsberger 2009].
überhaupt keine Analgetika [Bailie
et al. 2004]. Für die unzureichende
Schmerzbehandlung bei Nierenkranken
wurden vor allem folgende Ursachen
ermittelt [Nayak-Rao 2011, Pflughaupt et
al. 2010, Salisbury 2009, Davison 2005]:
• Mangelnde Problemerkennung, schlech-
te Arzt-Patienten-Kommunikation
• Multikausale, chronische und komple-
3. Welche Bedeutung haben
starke chronische Schmerzen
in der Nephrologie?
Während in der Allgemeinbevölkerung
die Prävalenz chronischer Schmerzen
zwischen 2 und 45% variiert, liegt die
Schmerzprävalenz bei Nierenkranken
zwischen 50 und 70% [Nayak-Rao 2011,
Davison 2003]. In einer prospektiven
kanadischen Kohortenstudie litten beispielsweise 103 von 205
Hämodialysepatienten an Schmerzen.
Von diesen beurteilten 82,5% ihre
Schmerzen als mittelgradig bis schwer.
Am häufigsten wurden nozizeptive
muskuloskelettale Schmerzen beobachtet (63,1%). An Schmerzen aufgrund
einer peripheren Polyneuropathie litten
12,6% der Teilnehmer und bei 9,7% lag
eine periphere vaskuläre Erkrankung
als Schmerzauslöser vor. Bei 18,4%
wurden die Schmerzen durch andere Ursachen (Traumata, polyzystische Nierenerkrankung, Malignität,
Kalziphylaxie) hervorgerufen [Davison
2003].
Obgleich chronische Schmerzen
bei Nierenkranken so häufig vorkommen, geht aus zahlreichen
Untersuchungen hervor, dass diese oft
nicht angemessen behandelt werden
[Salisbury 2009, Barakzoy und Moss
2006, Davison 2003]. In der Dialysis
Outcomes and Practice Patterns Study
(DOPPS) mit 3.749 Patienten wurde die
Schmerzbehandlung beispielsweise
nicht an den Verlust der Nierenfunktion
angepasst und drei Viertel der Patienten
mit starken Schmerzen erhielten
2
xe Natur der Schmerzen
• Veränderte Pharmakokinetik und Phar-
makodynamik bei eingeschränkter
Nierenfunktion
• Nicht ausreichende Kenntnisse der
behandelnden Ärzte
4. Was ist bei der Schmerztherapie in der Nephrologie zu
beachten?
Da bei einer chronischen Nierenerkrankung die Pharmakokinetik und
-dynamik von Medikamenten beeinträchtigt sein kann, ist bei Nierenkranken
von besonderer Wichtigkeit, die
Medikamentenapplikation der individuellen Nierenfunktion anzupassen [Munar
und Singh 2007]. Die Einstufung der
Nierenfunktion anhand der geschätzten glomerulären Filtrationsrate (eGFR = estimated
glomerular filtration rate) in die CKD-Stadien
1 bis 5/5D (CKD = Chronic Kidney Disease)
der National Kidney Foundation bildet die
Grundlage zur Auswahl und Dosisanpassung
geeigneter Medikamente (Tabelle 1).
4.1 Medikamentenauswahl
Grundsätzlich sollten bei Nierenkranken
nur Medikamente angewendet werden,
die nicht noch zusätzlich nephrotoxisch
wirken. Bei Prädialysepatienten in den
CKD-Stadien 2 bis 5 ist bei der Auswahl
und Dosierung von Medikamenten
eine mögliche Akkumulation aufgrund
der verminderten renalen Clearance zu
beachten (Tabelle 1). Um sicherzustellen, dass auch Dialysepatienten eine ausreichende Schmerzlinderung erhalten,
muss bei CKD 5D-Patienten der Aspekt
der Dialysierbarkeit von Medikamenten
mit einbezogen werden. Bei älteren
Patienten sind zudem die alternden
Eliminationsorgane und häufig auch eine
Polypharmakotherapie zu berücksichtigen [Sperschneider 2007].
Die in der Medizin bekannte Beeinflussung von Pharmakodynamik,
Pharmakokinetik
und
Metabolisierungsrate von Analgetika durch
genetische Dispositionen gilt ohne
Prävalenzunterschied gleichermaßen
für nephrologische Patienten. So kann
z.B. eine genetisch bedingte unterschiedliche Metabolisierungskapazität
des Enzyms CYP2D6 zur Wirkungsverstärkung (Poor Metabolizer [PM]),
Wirkungsabschwächung (Extensive
Metabolizer [EM]) oder zum Wirkungsverlust (Ultrarapid Metabolizer [UM])
eines Medikaments führen [Leppert 2011,
Sperschneider 2007].
Tabelle 1: Stadien der Niereninsuffizienz (National Kidney Foundation) [modifiziert nach
Niscola et al. 2010, Munar und Singh 2007]
CKD-Stadium
Beschreibung
eGFR
[ml/min/1,73 m²]
1
Nierenschädigung mit normaler oder erhöhter eGFR
≥ 90
2
Nierenschädigung mit leicht eingeschränkter eGFR
60-89
3
Mittelgradige Einschränkung der eGFR
30-59
4
Starke Einschränkung der eGFR
15-29
5
5D
Nierenversagen
Dialysestadium
< 15
oder Dialyse
eGFR = estimated glomerular filtration rate
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4.2 Strategien zur Dosisanpassung
Zur Dosisanpassung ist eine Reduzierung
der Dosis, eine Verlängerung des
Dosierungsintervalls oder beides möglich. Wird die Dosis bei normalem
Dosierungsintervall reduziert, ist eine
konstante Medikamentenkonzentration gewährleistet, es besteht jedoch
ein erhöhtes Toxizitätsrisiko, wenn das
Dosierungsintervall nicht der renalen Eliminationsgeschwindigkeit entspricht. Bei einem verlängerten
Dosierungsintervall und normaler Dosis
ist das Toxizitätsrisiko geringer, allerdings kann es hier – vor allem gegen
Ende des Dosierungsintervalls – zu
subtherapeutischen Medikamentenkonzentrationen kommen. Dosierungsempfehlungen für einzelne
Medikamente und für verschiedene
Stadien der Niereninsuffizienz werden
in „Drug Prescribing in Renal Failure:
Dosing Guidelines for Adults“ gegeben. Die Empfehlungen basieren
auf 3 Kategorien der eGFR (< 10 ml/
min/1,73 m², 10–50 ml/min/1,73 m² und
> 50 ml/min/1,73 m²), die nicht mit der
Stadien-Einteilung CKD 1 bis 5/5D der
National Kidney Foundation in Tabelle
1 übereinstimmen. Die Empfehlungen
können somit zur Findung der
Initialdosierung genutzt werden,
anschließend ist jedoch eine individuelle Anpassung entsprechend dem
Ansprechen des Patienten und den
Serumkonzentrationen erforderlich
[Munar und Singh 2007].
ner und wasserlöslicher ein Molekül ist
und je geringer die Proteinbindung,
desto höher ist die Clearance während des Dialysevorgangs. Daher
kann bei ausgeprägter Dialysierbarkeit eine ausgleichende ergänzende
Medikamentengabe
zur
Aufrechterhaltung der Analgesie erforderlich sein [Swann und Bennett 1992].
Zu den Analgetika der Stufe 1 gehören
• traditionelle nicht-steroidale Anti-
rheumatika (tNSAR),
• spezifische COX2-Hemmer (COXIBe),
• nicht-saure antipyretische Analgetika
wie Paracetamol und Metamizol
• und Analgetika ohne antipyretische
Wirkung wie Flupirtin.
5. Wie ist das WHO-Stufenschema für den Nephrologen
Paracetamol, Metamizol und Flupirtin
umsetzbar?
Das WHO (World Health Organization)Stufenschema wurde ursprünglich als
Orientierungshilfe für die Behandlung
von Tumorschmerzen entwickelt und
später auf alle chronischen Schmerzen
übertragen. Die 2001 überarbeitete
Version gilt noch heute (Abbildung
1), wird jedoch nicht mehr als starres
Schema betrachtet. Früher wurde oft
zu lange mit Medikamenten der Stufe 1
ohne wirksame Schmerzlinderung
behandelt. Mittlerweile wird empfohlen,
bei mittleren oder starken Schmerzen
frühzeitig mit Opioiden der Stufe 2 oder
3 zu beginnen [Sperschneider 2007].
In einer kanadischen Studie wurde
unter Anpassung des WHO-Schemas
auf Nierenerkrankungen bei 95% der
Hämodialysepatienten eine angemessene Schmerzkontrolle erreicht
[Barakzoy und Moss 2006].
4.3 Dialysierbarkeit von Medikamenten
Bei Dialysepatienten sind die
Dialysierbarkeit des Medikaments sowie
die Eigenschaften der Dialysegeräte und
des Dialyseverfahrens (z.B. intermittierende oder kontinuierliche Dialyse) zu
berücksichtigen. Die Dialysierbarkeit
wird vor allem vom Molekulargewicht,
der Wasserlöslichkeit und dem Ausmaß
der Proteinbindung bestimmt. Je klei-
5.1 Nicht-opioide Analgetika der
WHO-Stufe 1
STUFE 3
können auch bei eingeschränkter
Nierenfunktion verwendet werden (Tabelle
2, Seite 4). Die National Kidney Foundation empfiehlt Paracetamol beispielsweise
zur Behandlung leichter bis mittelgradiger
Schmerzen bei ESRD-Patienten (End Stage
Renal Disease) [Nayak-Rao 2011, Barakzoy
und Moss 2006]. Die Substanzklassen
tNSAR und COXIBe sind für die
Anwendung in der Nephrologie dagegen
nur sehr begrenzt geeignet, da es bei beiden Klassen zu allergischen Reaktionen
der Niere (interstitielle Nephritis) und
zu Toxizitäten (chronische interstitielle
Nephritis, Analgetikanephropathie) kommen kann. Diese Substanzklassen sollten
daher nur in Ausnahmefällen bei entzündungsbedingten Schmerzen in der niedrigsten wirksamen Dosis über die kürzest
mögliche Behandlungsdauer von etwa 8
bis 10 Tagen angewendet werden [NayakRao 2011, Sperschneider 2007].
Starke Opioide + Nicht-Opioide
Adjuvante Medikation:
z.B. Morphin, Hydromorphon, Oxycodon,
• Antiernetika
• Laxanzien
Buprenorphin, Fentanyl
STUFE 2
Starke Opioide + Nicht-Opioide
Ko-Analgetika:
z.B. Codein, Dihydrocodein, Tilidin/Naloxon, Tramadol
• Antidepressiva
• Antikonvulsiva
• Glukokortikoide
• Bisphosphonate
Nicht-Opioide
1. Paracetamol, Metamizol, Flupirtin
STUFE 1
2. COXIBe
3. tNSAR (ASS, Ibuprofen, Diclofenac)
Abbildung 1: Stufenschema der WHO [modifiziert nach Sperschneider 2007]
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5.2 Schwache Opioide der WHOStufe 2
Als Analgetika der WHO-Stufe 2 stehen schwache Opioide zur Verfügung,
die bei Bedarf mit nicht-opioiden
Analgetika der Stufe 1 und adjuvanten
Medikamenten kombiniert werden
können. Codein und Dihydrocodein
spielen heute eine untergeordnete
Rolle. Meist werden Tilidin/Naloxon
und Tramadol verwendet (Tabelle 3)
[Sperschneider 2007].
Derzeit wird auch diskutiert, ob die
Opioide der Stufe 2 noch erforderlich
sind, da diese Präparate weniger gut
verträglich sind und zudem ein CeilingEffekt besteht. In einer kontrollierten
Studie wurde bei Patienten, die sofort
mit Opioiden der Stufe 3 behandelt wurden, eine bessere Schmerzlinderung und
eine höhere Zufriedenheit beobachtet
als bei Patienten, die zuerst Opioide
der Stufe 2 erhalten hatten. Wird eine
rasche Schmerzprogredienz erwartet,
sollte daher frühzeitig eine Behandlung
mit Opioiden der Stufe 3 vorgenommen
werden [Höffler et al. 2007].
5.3 Starke Opioide der WHO-Stufe 3
Kann mit den schwachen Opioiden
der Stufe 2 keine ausreichende
Schmerzlinderung erzielt werden oder
sind deren Nebenwirkungen zu stark,
kommen starke Opioide zunächst in
niedriger Dosierung in der Regel
in Kombination mit Analgetika der
WHO-Stufe 1 und einer geeigneten
Komedikation zur Anwendung. Zu den
am häufigsten verwendeten Substanzen
gehören Hydromorphon, Morphin,
Oxycodon, Tapentadol, Fentanyl und
Buprenorphin, die in verschiedenen
Darreichungsformen und Dosierungen
zur Verfügung stehen (Tabelle 4,
Seite 5). Die pharmakologischen
Eigenschaften der einzelnen Opioide
werden im Abschnitt 6 ausführlich
erläutert.
5.4 Fehler bei der Opioidverordnung
Aufgrund mangelnder Kenntnisse,
Angst vor möglichen Nebenwirkungen
und wegen Befürchtungen einer
Suchtentwicklung werden Opioide oft
zu spät und zu zögerlich eingesetzt.
Zu den häufigsten Fehlern gehören die
Unterdosierung und die Medikation
nach Bedarf [Pflughaupt et al. 2010].
Während die Unterdosierung zu einer
nicht ausreichenden Schmerzkontrolle
führt, fördert eine ausschließliche
Bedarfsmedikation die Entwicklung
einer psychischen Abhängigkeit. Bei
einer regelhaften Opioid-Therapie mit
retardierten Präparaten ist dagegen
aufgrund der langsamen, gleichmäßigen Medikamenten-Anflutung und des
konstanten Wirkspiegels nicht mit einer
anregenden Wirkung und der damit
verbundenen Suchtentwicklung zu
rechnen [Sperschneider 2007].
6. Welche Opioide sind bei starken chronischen Schmerzen zu
verwenden?
Zur Behandlung starker chronischer
Schmerzen stehen zahlreiche Opioide mit
unterschiedlichen pharmakologischen
Eigenschaften und Darreichungsformen
zur Verfügung. Die meisten Opioide
werden in der Leber verstoffwechselt,
Muttersubstanz und Metaboliten werden
jedoch häufig über die Nieren eliminiert.
Daher kann bei signifikant eingeschränkter Nierenfunktion eine Akkumulation
von Opioiden oder aktiven Metaboliten
zu lebensbedrohlichen Zuständen führen. Um eine wirksame und zugleich verträgliche Schmerzlinderung zu erzielen,
ist die genaue Kenntnis der Opioide und
ihrer Metaboliten erforderlich [Niscola et
al. 2010].
Tabelle 2: Nicht-opioide Analgetika der WHO-Stufe 1 [modifiziert nach Höffler et al. 2007]
Wirkstoff
Darreichungsform
Tageshöchstdosis[mg]
Wirkdauer
[Stunden]
Empfehlung bei eingeschränkter
Nierenfunktion/Hämodialyse
Paracetamol
Nicht-Retard
4.000
4-6
Dosisreduktion bei stark eingeschränkter
Nierenfunktion
Metamizol
Nicht-Retard
4.000
4-6
Dosisreduktion
Flupirtin
Nicht-Retard
600
6-8
Dosisreduktion oder Verlängerung des
Dosierungsintervalls
Tabelle 3: Schwache Opioide der WHO-Stufe 2 [modifiziert nach Höffler et al. 2007]
Darreichungsform
Tageshöchstdosis[mg]
Wirkdauer
[Stunden]
Tilidin/Naloxon
Retard
600
8-12
Normale Dosis
Tramadol
Retard
400
8-12
Dosisreduktion
Wirkstoff
4
Empfehlung bei eingeschränkter
Nierenfunktion/Hämodialyse
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Tabelle 4: Starke Opioide der WHO-Stufe 3 [modifiziert nach Höffler et al. 2007]
Darreichungsform
Wirkdauer
[Stunden]
Hydromorphon
OROS-Retard
Retard
Morphin
Wirkstoff
Empfehlung bei:
CKD 2-3 (4)
CKD 5D
24
12
Dosisreduktion
Dosisreduktion
Nicht-Retard
Retard
4
12-24
Dosisreduktion
Dosisreduktion
Oxycodon
Retard
8-12
Dosisreduktion
Dosisreduktion
Tapentadol
Retard
12
Normale Dosis bis CKD 3,
für CKD 4 nicht bekannt
Nicht bekannt
Fentanyl
TTS
72
Dosisreduktion, wenn nötig
Dosisreduktion, wenn nötig
Buprenorphin
TTS
48-96
Normale Dosis
Normale Dosis
OROS = Osmotic Controlled Release Oral Delivery System; TTS = Transdermales therapeutisches System
6.1 Grundsätze der Opioidauswahl
6.2 Opioide bei Nierenkranken
Bei der Entscheidung für ein individuell geeignetes Opioid zur Basistherapie
bei Nierenkranken mit chronischen
Schmerzen sollten folgende Aspekte
berücksichtigt werden:
In der Nephrologie werden Medikamente mit guter Steuerbarkeit hinsichtlich eventueller Dosisanpassungen
oder Intervallveränderungen, gleichmäßigen Wirkstoffspiegeln, fehlender
weiterer Nephrotoxizität und möglichst geringer Akkumulationsgefahr
bevorzugt, die dem Schmerz ohne
Dosisbegrenzung angepasst werden können [Sperschneider 2007]. Im
Folgenden werden spezifische pharmakologische Eigenschaften und
die therapeutischen Auswirkungen
der gebräuchlichsten Opioide bei
Nierenpatienten beschrieben. Tabelle 7
(Seite 8) gibt einen Überblick über die
Empfehlungen zur Anwendung der einzelnen Substanzen bei eingeschränkter
Nierenfunktion und bei Hämodialyse.
• Dosisanpassung notwendig/nicht not-
wendig
• Dialysierbarkeit
• Bildung analgetisch aktiver Meta-
boliten:
àJe weniger analgetisch aktive Metaboliten entstehen, desto günstiger
ist das Sicherheitsprofil.
• Ausmaß der Plasmaproteinbindung:
àJe niedriger die Plasmaproteinbindung, desto geringer ist das Interaktionspotenzial und umso größer die
Dialysierbarkeit (Tabelle 5, Seite 6).
• Eliminationshalbwertszeit:
àJe kürzer die Eliminationshalbwertszeit, desto besser ist das Opioid steuerbar (Tabelle 6, Seite 6).
• Keine Maximaldosierung; der Schmerz
bestimmt die Dosis:
àPräparate
ohne Ceiling-Effekt
können dem Schmerz ohne
Dosisbegrenzung angepasst werden. Außer bei Tilidin, Tramadol und
Buprenorphin tritt bei keinem der
hier genannten Opioide ein CeilingEffekt auf [Sperschneider 2007].
6.2.1 Opioide der WHO-Stufe 2
Tilidin
Bei Tilidin handelt es sich um ein analgetisch nicht wirksames Prodrug. Der
analgetisch aktive Metabolit Nortilidin
entsteht erst in der Leber. Die analgetische Potenz von Tilidin liegt bei 0,1
bis 0,2 im Vergleich zu Morphin. Die
orale Retardformulierung wirkt ca. 12
Stunden [Jage et al. 2008]. Ab einer
Tagesmaximaldosierung von 600 mg
kann keine Wirkungsverstärkung
mehr erzielt werden (Ceiling-Effekt).
Aufgrund der Metabolisierung über
CYP2D6 kann die genetische Disposition
die Wirksamkeit von Tilidin beeinflussen. Die Kombination mit Naloxon verhindert eine relevante Obstipation. Aus
Studien geht hervor, dass bei Patienten
mit Niereninsuffizienz und auch bei
Dialysepatienten keine Dosisanpassung
erforderlich ist. Tilidin und Naloxon sind
nicht dialysabel [Sperschneider 2007].
Tramadol
Tramadol ist strukturell verwandt mit
Morphin und Codein. Die relative analgetische Wirksamkeit liegt bei 0,1 im
Vergleich zu Morphin. Nur ein kleiner
Teil von Tramadol wirkt unmittelbar
analgetisch, mehr als zwei Drittel der
Substanz werden in der Leber in den
M1-Metaboliten O-Demethyltramadol
umgewandelt. Die analgetische Wirkung von M1 ist sechsmal stärker als
die der Muttersubstanz. Retardiertes
Tramadol ist über einen Zeitraum von
8 bis 12 Stunden wirksam. Ab einer
Tagesdosis von 600 mg kommt es zum
Ceiling-Effekt [Sperschneider 2007].
Der analgetisch aktive Metabolit (M1)
wird renal eliminiert. Somit kann eine
Akkumulierung bei eingeschränkter Nierenfunktion zu unerwünschten
Wirkungen führen. Bei Patienten mit
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Tabelle 5: Plasmaproteinbindung bei Opioiden (Niedrige Bindung
= niedriges Interaktionspotenzial, dialysabel) [modifiziert nach
Sperschneider 2007]
Wirkstoff
Plasmaproteinbindung
Tilidin
nicht bekannt
Tabelle 6: Eliminationshalbwertszeit (EHWZ) von Opioiden (Kurze
Halbwertszeit = gute Steuerbarkeit, keine Gefahr der Kumulation)
[modifiziert nach Sperschneider 2007]
Wirkstoff
Tilidin
Darreichungsform
EHWZ
[Stunden]
Retard
3-5
Tramadol
20%
Tramadol
Retard
6
Hydromorphon
8%
Hydromorphon
Retard
2,6
Morphin
30%
Morphin
Retard
1,7-4,5
Oxycodon
40%
Oxycodon
Retard
4,5
Tapentadol
Tapentadol
Fentanyl
Buprenorphin
20%
79-87%
96%
Retard
4
Fentanyl
TTS
17
Buprenorphin
TTS
30
TTS = Transdermales therapeutisches System
einer eGFR < 30 ml/min sind deshalb
eine Dosisverringerung und ein verlängertes Dosierungsintervall erforderlich. Bei der Hämodialyse werden 7%
einer Tramadol-Dosis innerhalb von 4
Stunden entfernt [Niscola et al. 2010].
6.2.2 Opioide der WHO-Stufe 3
Hydromorphon
Bei Hydromorphon handelt es sich um
einen halbsynthetischen Agonisten,
der bei leichten sowie mittelstarken bis
starken Schmerzen angewendet werden kann. Hydromorphon ist oral etwa
5- bis 8-mal so wirksam wie Morphin
[Davison 2005]. Hydromorphon steht
zur langfristigen Behandlung als
Retardkapsel mit einer Wirkdauer von 12
Stunden und in einer OROS-Retardform
(OROS = Osmotic Controlled Release
Oral Delivery System) zur Verfügung.
Aus diesem OROS-Hydromorphon wird
das Opioid in einer gleichmäßigen Rate
über einen Zeitraum von 24 Stunden
freigesetzt und führt somit zu einer
gleichmäßigen Analgesie [Carter und
Keating 2010]. OROS-Hydromorphon ist
für das Management starker Schmerzen
zugelassen, bei denen rund um die Uhr
und über einen längeren Zeitraum eine
Analgesie erforderlich ist [Guay 2010].
Hydromorphon wird vorwiegend in der
Leber metabolisiert und bildet keine
6
analgetisch aktiven Metaboliten. Die
Metabolisierung erfolgt weitgehend
unabhängig vom CYP-Enzymsystem.
Im Gegensatz zu Morphin ist der
Hauptmetabolit des Hydromorphon
(H3G) analgetisch nicht aktiv, was bei
eingeschränkter Nierenfunktion keine
zusätzlichen unerwünschten zentralnervösen Arzneimittelwirkungen
erwarten lässt. So konnte in Studien
die zuverlässige Anwendung bei
Patienten mit Niereninsuffizienz und
bei Dialysepatienten gezeigt werden
[Niscola et al. 2010]. Bei Patienten mit
mäßig eingeschränkter Nierenfunktion
(Kreatinin-Clearance: 30-60 ml/min)
wird eine Reduzierung der Dosis empfohlen [Guay 2010]. Durch eine Hämodialyse
wird der Medikamentenspiegel um etwa
40% reduziert [Nayak-Rao 2011]. Das
macht vor allem bei CDK 5D-Patienten die
Verabreichung einer Bedarfsmedikation
erforderlich.
Morphin
Morphin dient mit einer definierten
analgetischen Potenz von 1 als internationale Referenzsubstanz zum Vergleich
der Wirksamkeit anderer Opioide. Die
retardierte Darreichungsform ist über
einen Zeitraum von 8 bis 12 Stunden
wirksam. Der Agonist Morphin wird in
der Leber zu Morphin-3-Glukuronid
(M3-G, 55%), Morphin-6-Glukuronid
(M6-G, 10%) und Normorphin (4%)
metabolisiert [Nayak-Rao 2011]. M6-G
ist analgetisch wirksamer als die
Muttersubstanz [Niscola et al. 2010].
Alle Metaboliten werden zusammen
mit 10% der Muttersubstanz über die
Niere eliminiert [Nayak-Rao 2011].
M3-G und M6-G akkumulieren bei
Niereninsuffizienz [Salisbury 2009].
Bei Patienten mit eingeschränkter
Nierenfunktion wurden aufgrund der
Metabolitenakkumulation schwerwiegende zentralnervöse Nebenwirkungen
wie Krämpfe, schwere Sedierung und
Atemdepression beobachtet [NayakRao 2011]. Für Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion ist Morphin
daher nicht geeignet [Nayak-Rao 2011,
Sperschneider 2007].
Oxycodon
Oxycodon ist ein halbsynthetisches
Opioid mit agonistischer Aktivität und
einer analgetischen Potenz von ca.
2,5 im Vergleich zu Morphin. Bei der
Retard-Formulierung tritt die schmerzstillende Wirkung nach etwa einer
Stunde ein und dauert etwa 8 bis 12
Stunden an. Aufgrund der biphasischen
Resorptionsgalenik (erstes rasches
Anfluten, anschließend retardierte
Freisetzung) besteht die Gefahr einer
euphorisierenden Wirkung. Oxycodon
steht auch als Kombinationspräparat
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mit Naloxon zur Verfügung, das der
Obstipation entgegenwirken soll,
so dass keine oder weniger zusätzliche Gabe von Laxantien erforderlich
sein sollte [Sperschneider 2007]. Der
größte Anteil von Oxycodon wird in
der Leber (CYP3A) abgebaut und der
Rest mit dem Urin ausgeschieden. Bei
Niereninsuffizienz verlängert sich die
Halbwertszeit der Muttersubstanz und
die Ausscheidung der Metaboliten
ist erheblich beeinträchtigt, so dass
diese akkumulieren und zu toxischen
ZNS-deprimierenden Wirkungen führen können. Bei eingeschränkter
Nierenfunktion sollte Oxycodon daher
vorsichtig und bei einer eGFR < 60 ml/
min gar nicht angewendet werden.
Oxycodon ist wasserlöslich und somit
dialysierbar, sollte jedoch im Rahmen
einer Dialyse nur mit großer Vorsicht
eingesetzt werden, da hier nach
Mehrfachdosierungen lebensbedrohliche Nebenwirkungen wie Sedierung,
Blutdruckabfall und Atemdepression
beobachtet wurden [Niscola et al. 2010].
Tapentadol
Tapentadol ist ein zentral wirksames Analgetikum mit einem
dualen Wirkmechanismus. Zum
einen wirkt es als Agonist und
zum anderen als NorephedrinWiederaufnahmehemmer. In Phase-IIIStudien hat sich Tapentadol bei Patienten mit Schmerzen im Zusammenhang
mit chronischer Osteoarthritis und
bei Rückenschmerzen sowie bei
der Behandlung von Schmerzen in
Verbindung mit diabetischer peripherer
Neuropathie als vergleichbar wirksam
erwiesen wie retardiertes Oxycodon.
Die retardierte Darreichungsform
hat eine Wirkdauer von 12 Stunden.
Die analgetische Aktivität beschränkt
sich auf die Muttersubstanz, die
Metaboliten sind analgetisch nicht
wirksam. Tapentadol wird vorwiegend über UGT1A9 und UGT2B7 (UGT
= Uridindiphosphat-GlucuronosylTransferase) und nur zu einem geringen
Anteil über CYP2D6 verstoffwechselt.
Nach der oralen Applikation werden
99% der Muttersubstanz und ihrer
analgetisch inaktiven Metaboliten über
die Nieren ausgeschieden. Bei leichter
bis mittelgradiger Einschränkung der
Nierenfunktion ist keine Dosisanpassung
erforderlich. Der Hersteller weist
jedoch darauf hin, dass Tapentadol bei
schwerer Niereninsuffizienz derzeit
nicht angewendet werden sollte, da
zu dieser Patientengruppe noch keine
Daten aus kontrollierten Studien vorliegen [Vadivelu et al. 2011].
Fentanyl
Fentanyl ist ein synthetisches, hoch
fettlösliches, agonistisches Opioid, das
etwa 80-mal stärker analgetisch wirkt
als Morphin und meist in retardierter
Form als transdermales Pflaster verwendet wird. Die Substanz ist vor allem für
Patienten mit dauerhaften Schmerzen
geeignet, denen das Schlucken schwer
fällt. Da nur ein geringer Teil von Fentanyl
unverändert über den Urin ausgeschieden wird und keiner der Metaboliten
pharmakologisch aktiv ist, beeinflusst
eine eingeschränkte Nierenfunktion
die therapeutischen Eigenschaften nur
wenig, so dass bei Nierenkranken (auch
bei Dialysepatienten) bei normaler Dosierung prinzipiell ein sicheres Management
möglich ist. Dennoch sollte, wenn
Patienten mit Nierenfunktionsstörung
ein transdermales Fentanylpflaster
erhalten, sorgfältig auf Anzeichen einer
Fentanyl-Toxizität geachtet und die
Dosis, wenn nötig, vermindert werden.
Aufgrund des hohen Molekulargewichts,
der starken Proteinbindung und der
geringen Wasserlöslichkeit ist Fentanyl
nur geringfügig dialysierbar [Niscola et
al. 2010].
Buprenorphin
Buprenorphin ist ein halbsynthetisches, hoch lipophiles Opioid mit partiell agonistischer Wirkung, wodurch es
zu einem Ceiling-Effekt kommt. Es ist
etwa 30-mal so wirksam wie Morphin
und bietet ein breites analgetisches
Profil. Buprenorphin ist in transdermaler retardierter Form als Pflaster verfügbar. Die Schmerzlinderung setzt
erst nach 12 bis 24 Stunden ein, hält
dann allerdings über 72 Stunden an.
Buprenorphin wird vorwiegend über die
Leber (CYP3A4) zu Norbuprenorphin,
Buprenorphin-3-Glukuronid
und
Norbuprenorphin-3-Glukuronid verstoffwechselt, die renal eliminiert
werden und bei Niereninsuffizienz
akkumulieren. Aufgrund einer geringen oder fehlenden analgetischen
Aktivität dieser Substanzen spielt
dies bei der Behandlung jedoch keine
Rolle [Niscola et al. 2010]. Bei eingeschränkter Nierenfunktion ist daher
keine Dosisanpassung erforderlich
[Jage et al. 2008]. Unverändertes
Buprenorphin wird vorwiegend über
die Leber ausgeschieden und daher
bei der Dialyse nicht entfernt. So kann
auch während der Dialyse eine wirksame Schmerzbehandlung aufrechterhalten werden. Der Patient sollte jedoch
sorgfältig überwacht werden [Niscola
et al. 2010].
6.3 Richtige Anwendung von Opioiden bei starken nicht-tumorbedingten Schmerzen
Mit Opioiden kann bei neuropathischen Schmerzformen wie diabetischer Neuropathie, bei nozizeptiven Schmerzen aufgrund von
Arthrose oder rhematoider Arthritis
und bei Rückenschmerzen eine
Schmerzlinderung
erzielt
werden [Sorgatz et al. 2009]. Bei primären Kopfschmerzen, sekundären
Kopfschmerzen und attackenartigen Schmerzen sowie bei krampfartigen kolikartigen Schmerzen,
Muskelverspannung oder psychosomatischer Komorbidität sind Opioide
dagegen wirkungslos und kontraindiziert [Sorgatz et al. 2009, Sperschneider
2007].
Schmerztherapie bei Nierenkranken
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Tabelle 7: Empfehlungen zur Anwendung von Opioiden bei eingeschränkter Nierenfunktion und bei Hämodialyse [modifiziert nach Niscola
et al. 2010]
Wirkstoff
Metabolismus und Dialysierbarkeit
Empfehlungen
Opioide der WHO-Stufe 2
Tilidin
Analgetisch aktiver Metabolit Nortilidin wird in der Leber
gebildet. Tilidin ist nicht dialysierbar.
Keine Dosisanpassung erforderlich, auch nicht
bei Dialysepatienten.
Tramadol
Der Hauptmetabolit M1 wird renal eliminiert.
Akkumulation kann zu unerwünschten Wirkungen
führen. Während der Hämodialyse findet eine
Medikamentenreduzierung statt.
Sorgfältiges Monitoring. Dosisreduzierung und
Intervallverlängerung in den Stadien CKD 3-5. Im
Stadium CKD 5D maximal 50 mg alle 12 Stunden
oral.
Opioide der WHO-Stufe 3
Hydromorphon
Kein analgetisch aktiver Metabolit. Hydromorphon ist
dialysierbar.
Dosisanpassung erforderlich ab 30-60 ml/min
Kreatinin-Clearance. Zuverlässige Anwendung.
Morphin
Metaboliten (Glukuronide) können akkumulieren und
zu Wirkungsverstärkung und schweren zentralnervösen Nebenwirkungen führen. Muttersubstanz und
Metaboliten sind dialysierbar. Nach der Dialyse kann es
zu Rebound-Schmerzen kommen.
Dosisanpassung und Anwendung mit äußerster Vorsicht. Bei stärker eingeschränkter
Nierenfunktion zu vermeiden.
Oxycodon
Muttersubstanz und aktive Metaboliten können akkumulieren und zu ZNS-Symptomen führen. Zu Oxycodon
und Metaboliten in der Hämodialyse stehen keine ausreichenden Daten zur Verfügung.
Vorsichtige Anwendung mit sorgfältigem Monitoring. Anpassung von Dosis und
Applikationsintervall.
Tapentadol
Keine analgetisch aktiven Metaboliten. Dialysierbarkeit
ist bisher nicht bekannt.
Bei leichter bis mittlerer Einschränkung der
Nierenfunktion keine Dosisanpassung erforderlich. Bei schwerer Niereninsuffizienz sollte die
Anwendung derzeit vermieden werden.
Fentanylpflaster
Keine aktiven Metaboliten. Nur geringfügig dialysierbar.
Sorgfältig beobachten, ggf. Dosis reduzieren.
Buprenorphinpflaster
Zwei inaktive Hauptmetaboliten werden renal eliminiert.
Nicht dialysierbar.
Bei eingeschränkter Nierenfunktion keine
Dosisanpassung erforderlich.
Bei der Auswahl sind Opioide mit
retardierter Galenik oder langer
Wirkungsdauer zu bevorzugen und nach
einem festen Zeitplan anzuwenden.
Die Dosierung sollte individuell angepasst werden, bis das beste Verhältnis
zwischen unerwünschten Wirkungen,
verbesserter Funktionsfähigkeit und
einer für den Patienten akzeptablen
Schmerzlinderung erreicht ist. Es wird
empfohlen, die Behandlung mit niedrigen Dosierungen zu beginnen und
innerhalb von 3 Wochen bis zur wirksamsten Dosis bei tolerierbaren unerwünschten Wirkungen zu steigern
[Sorgatz et al. 2009].
8
7. Welche Applikationsform ist Eine Alternative zur oralen
bei Nierenkranken zu bevor- Opioidtherapie sind transdermale Opioidanwendungen, wobei sich
zugen?
Nicht-retardierte Formulierungen sind
aufgrund des raschen Wirkeintritts vor
allem zur Dosisfindung und/oder zur
Behandlung von Durchbruchschmerzen
geeignet. Angesichts des erhöhten
Suchtpotenzials sollten sie möglichst
selten angewendet werden. Orale
Retardformulierungen dienen der
Langzeittherapie, da sie eine kontinuierliche Wirkstoff-Freisetzung über
einen langen Zeitraum gewährleisten.
Die intravenöse Applikation erfolgt nur,
wenn eine orale Gabe nicht möglich ist.
für Nierenkranke und hier insbesondere für CKD 5D-Patienten mit
stabilen Schmerzzuständen, bei
Schluckstörungen und gastrointestinalen Beschwerden vor allem Fentanyl
(nach Titration mit Hydromorphon)
eignet. Dabei sollten folgende Aspekte
in die Entscheidung mit einbezogen
werden:
• Evtl. schwierigere Handhabung für
ältere Menschen.
• Langsamer Wirkeintritt (erst nach
13 bis 17 Stunden), hohe Eliminationshalbwertszeit und damit trägere
Steuerbarkeit.
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Tageszeitlich
unterschiedliche
Schmerzverläufe könnten dadurch
nicht flexibel genug beeinflusst werden. Deshalb sollten transdermale Opioidanwendungen erst zum
Einsatz kommen, wenn eine stabile
Schmerzsituation besteht.
8. Welche Medikamente sind
bei Nierenkranken zur adjuvanten Therapie geeignet?
Eine adjuvante Therapie mit
Antikonvulsiva, Antiepileptika oder
Antidepressiva kann bei Nierenkranken
auf allen Stufen des WHO-Schemas
angewendet werden. Sie dient der
Verstärkung der Analgesie oder zum
Management von Nebenwirkungen
wie Übelkeit oder Konstipation
(Antiemetika, Laxantien) [Sperschneider
2007, WHO 1996].
Antikonvulsiva und Antiepileptika
sollten aufgrund der Kumulationsgefahr
einschleichend dosiert werden. Hierbei
sind Medikamente zu bevorzugen,
bei denen der therapeutische Bereich
mit Bestimmungen des Blutspiegels
überprüft werden kann. Dazu gehören Carbamazepin, Gabapentin und
Valproinsäure [Sperschneider 2007].
Trizyklische Antidepressiva entfalten ihre analgetische bzw. schmerzdistanzierende Wirkung bereits innerhalb weniger Tage bis hin zu zwei
Wochen. Die antidepressive Wirkung
tritt dagegen erst nach einigen
Wochen ein. Aktivierende Wirkstoffe
wie Clomipramin und Imipramin kommen bevorzugt am Morgen, dämpfende Medikamente wie Amitriptilin und
Trimipramin entsprechend am Abend
zum Einsatz. Trizyklische Antidepressiva
sind für die Anwendung bei peripheren
Neuropathien und insbesondere bei der
diabetischen Polyneuropathie geeignet. Tetrazyklische Antidepressiva wie
Mirtazapin führen bei Nierenkranken
häufig zu Ödemen und bieten keinen
Vorteil im Vergleich zu trizyklischen
Antidepressiva [Sperschneider 2007].
Selektive Serotonin-NoradrenalinWiederaufnahmehemmer bewirken
einen verlängerten Aufenthalt von
Serotonin und Noradrenalin im synaptischen Spalt und blockieren die
Schmerzwahrnehmung im Gehirn.
So wird das Schmerzempfinden
reduziert und die Schmerzschwelle
erhöht. Serotonin und Noradrenalin
haben sowohl eine Bedeutung in der
Biochemie der Depression als auch in
der zentralen Schmerzverarbeitung.
Eine Komedikation mit Antidepressiva
ist daher vor allem bei depressiven
Patienten mit chronischen Schmerzen
wirkungsvoll [Sperschneider 2007].
Auch bei Antidepressiva ist meist eine
Dosisanpassung bei Nierenkranken
erforderlich. Duloxetin ist bei Patienten
mit einer Kreatinin-Clearance < 30 ml/
min zu meiden [Nayak-Rao 2011].
9. Empfehlungen für die tägliche Praxis
Bei den meisten Nierenkranken kann
mit der Auswahl geeigneter Analgetika
und einer der Nierenfunktion angepassten Dosierung eine effektive
Schmerzlinderung erzielt werden.
Von den Analgetika der WHO-Stufe 1
sollten aufgrund der Nephrotoxizität
tNASR vermieden werden, während
Paracetamol, Metamizol und Flupirtin
bei Nierenkranken angewendet werden
können. Bei der Auswahl geeigneter
Medikamente ist generell auf eine CYPNeutralität zu achten. Diese Bedingung
erfüllen Paracetamol, Metamizol
und Flupirtin (WHO-Stufe 1), Tilidin/
Naloxon und Tramadol (WHO-Stufe 2),
Hydromorphon und Tapentadol (WHOStufe 3) sowie Gabapentin (adjuvante
Medikation) [Sperschneider 2007].
Bei Patienten mit chronischer
Niereninsuffizienz und Dialysepatienten
sollte Morphin möglichst vermieden
werden, da die Metaboliten M3-G und
M6-G akkumulieren und schwerwiegende zentralnervöse Nebenwirkungen wie
Sedierung und Atemdepressionen auftreten können. Für diese Patienten ist
Tilidin/Naloxon zur Behandlung schwacher Schmerzen geeignet. Als verträglichere Alternative kann bei leichten Schmerzen auch Hydromorphon
in geringen Wirkstärken angewendet
werden. Zudem ist Hydromorphon
ebenso wie Fentanyl bei Patienten
mit chronischer Niereninsuffizienz
zur Behandlung starker Schmerzen
besonders geeignet [Niscola et al.
2010, Sperschneider 2007]. Bei der
diabetischen und der urämischen
Polyneuropathie haben sich Tilidin und
Hydromorphon als wirksam erwiesen
und können gut mit Antidepressiva
und/oder Antikonvulsiva kombiniert
werden. Ein plötzliches Absetzen von
Opioiden ist wegen der Gefahr körperlicher Entzugserscheinungen zu vermeiden [Sperschneider 2007].
Die allgemeinen Grundregeln der
Schmerztherapie sind insbesondere bei
Nierenkranken mit größter Sorgfalt zu
beachten:
• Möglichst orale Gabe
• Gabe nach Uhr und Zeitplan, nicht auf
den Schmerz warten
• Individuelle Dosis festlegen (Titration)
• Exakte Einnahmeanleitung schriftlich
erstellen und dem Patienten mitgeben
Prophylaxe
von
Nebenwirkungen
• Zusatzmedikation bei Durchbruchschmerzen
• Regelmäßiger Kontakt zum Patienten
[Sperschneider 2007, WHO 1996]
• Dem Patienten muss erklärt werden,
welches Behandlungsziel realistisch
ist, mit welchen Nebenwirkungen
er rechnen muss und was dagegen
unternommen werden kann
• Rechtzeitige
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• Führen eines Schmerzpasses
• Führen eines Schmerztagebuchs (spä-
ter Aktivitätstagebuch)
10. Fazit und Ausblick
Viele Nierenkranke leiden unter chronischen Schmerzen, die aus der renalen Grunderkrankung, dem Verlust der
Nierenfunktion oder aus Komorbiditäten
resultieren können. Durch die eingeschränkte Nierenfunktion verändern
sich
Pharmakokinetik,
Pharmakodynamik und Metabolisierung
von Medikamenten. Daher sind
Dosierung und Applikationsintervall
von Medikamenten entsprechend dem
Ausmaß der Niereninsuffizienz anzupassen. Zur Schmerzbehandlung stehen
Nicht-Opioid-Analgetika der WHOStufe 1, schwache Opioide der WHOStufe 2 sowie starke Opioide der WHOStufe 3 zur Verfügung. Bei der Auswahl
eines geeigneten Opioids sollten die
Nephrotoxizität, die Dialysierbarkeit,
die Bildung aktiver Metaboliten, das
Ausmaß der Plasmaeiweißbindung,
die Eliminationshalbwertszeit, die
Akkumulation bei Niereninsuffizienz
und die mögliche tägliche Maximaldosis
(Ceiling-Effekt) berücksichtigt werden.
Von den Medikamenten der Stufe 1 sind
Paracetamol, Metamizol und Flupirtin
empfehlenswert, während sich von den
Opioiden bei schwachen Schmerzen
Tilidin oder Hydromorphon (in geringen
Wirkstärken) und bei starken Schmerzen
Hydromorphon oder Fentanyl sehr eignen. Bei allen drei WHO-Stufen können Antikonvulsiva, Antiepileptika,
trizyklische Antidepressiva und
selektive Serotonin-NoradrenalinWiederaufnahmehemmer als adjuvante Medikation zur Verstärkung der
Analgesie eingesetzt werden.
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with a guide to opioid availability. 2nd Edition. Genf,
World Health Organization 1996
Impressum
Autor:
Prof. Dr. Heide Sperschneider
KfH Nierenzentrum Jena,
Jena-Drackendorf
Eine Fortbildung der Janssen-Cilag GmbH
© 2012
10
Schmerztherapie bei Nierenkranken
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06.09.12 14:57
Autorin:
Prof. Dr. Heide Sperschneider
KfH Nierenzentrum Jena
Zur Lämmerlaide 1
07751 Jena-Drackendorf
Janssen-Cilag GmbH
Johnson & Johnson Platz 1
41470 Neuss
www.janssen-cilag.de
130312_Umschlag_Schmerztherapie.indd 4
Gesundheit braucht
12.03.13 12:58
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