M E D I Z I N DIE ÜBERSICHT Hans-Christoph Steinhausen Psychosoziale Aspekte bei chronischen Krankheiten im Kindes- und Jugendalter Die psychosoziale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen mit chronischen Krankheiten wird modellhaft unter dem Begriff der Adaption beschrieben. Zu den Bedingungsfaktoren der psychosozialen Adaption werden die Bedingungen der Krankheiten, lebensgeschichtliche Ereignisse und Belastungen, Merkmale der Person des Kinie in anderen entwickelten Industrieländernleidetauch in Deutschland gegenwärtig etwa jedes zehnte Kind an einer chronischen Krankheit. Dieser relativ hohe Anteil ist sicher nicht unabhängig von den medizinischen und technischen Fortschritten in der Behandlung von bestimmten Krankheitsbildern. Zugleich hat der relative Anstieg von chronischen Krankheiten vielfältige Auswirkungen auf die medizinische Versorgung. Berührt sind in erster Linie der Bereich der Primärversorgung, also die Pädiatrie, aber auch weitere medizinische Disziplinen – wie zum Beispiel Orthopädie, Ophthalmologie, Neurologie und Kinder- und Jugendpsychiatrie. Angesichts des beträchtlichen Rehabilitationsbedarfs sind aber auch nicht medizinische Disziplinen berührt. Zu nennen ist hier besonders die Physiotherapie, die Sozialarbeit ebenso wie die Pädagogik, die Rechtsprechung und die Administration. Die Beiträge der beteiligten Disziplinen für die Lebensbewältigung chronisch kranker Kinder dienen letztlich dem Ziel der Lebensbewältigung oder psychosozialen Adaption. W Psychosoziale Adaption Der Begriff der psychosozialen Adaption (5–8) soll als zentraler Bestandteil der Entwicklung chronisch kranker Kinder und Jugendlicher in den Mittelpunkt der folgenden Darstellung gestellt werden. Das in der Grafik dargestellte Modell der psychosozialen Adaption des sowie Reaktionen der Familie und der sozialen Umwelt gerechnet. Das empirisch nachgewiesene erhöhte Risiko für die Entwicklung einer psychischen Störung wird auf der Basis dieses Modells nachvollziehbar. Integrierte medizinisch-psychosoziale Rehabilitationsansätze sind für Kinder mit chronischen Krankheiten unverzichtbar. berücksichtigt fünf zentrale Determinanten, von denen drei in einer Wechselwirkung konzipiert sind, zumal die psychosoziale Adaption auf diese, nämlich die Person des Kindes, die Familie und die soziale Umwelt auch zurückwirken kann. Hingegen wird die psychosoziale Adaption einseitig von Krankheitsbedingungen einerseits sowie lebensgeschichtlichen Ereignissen und Belastungen andererseits beeinflußt. Die Vielfalt der verschiedenen Krankheitsbedingungen reicht, wie aus Tabelle 1 deutlich wird, von allgemeinen Merkmalen der Krankenrolle bis zu sehr spezifischen Krankheitsmerkmalen. Neben diesen Krankheitsbedingungen wirken ebenfalls in vielfältiger Form lebensgeschichtliche Ereignisse und Belastungen auf chronisch kranke Kinder ein. Entsprechende Erfahrungen können ganz allgemein bei der Entstehung kinder- und jugendpsychiatrischer Störungen im Rahmen eines in der Regel multikausalen Geschehens eine Rolle spielen. Beispiele können von dem Verlust einer wichtigen Bezugsperson über einschneidende Veränderungen des Familienlebens durch den Arbeitsplatzverlust des Vaters bis hin zum Scheitern in der Schule oder zur Aufkündigung einer Freundschaft reichen. Die Wertigkeit der drei in der Grafik und Tabelle 1 dargestellten Faktoren Person, Familie und soziale Umwelt ist neben der bereits erwähnten Wechselwirkung mit der psychosozialen Adaption insofern spezifisch, als jeder dieser Faktoren bipolar angelegt ist. Die Person des Kindes wie die Familie und die soziale Umwelt können grundsätzlich sowohl im SinTabelle 1 Determinanten der psychosozialen Adaption bei chronischer Krankheit im Kindes- und Jugendalter Krankheitsbedingungen Art der Krankheit, Krankheitsdauer, Schweregrad, Verlaufstyp, Hospitalisierungsbedarf, Funktionsbeeinträchtigungen, Versorgungsabhängigkeit Lebensgeschichtliche Ereignisse und Belastungen Veränderungen, Verlusterfahrungen, Beziehungskrisen in den Bereichen Familie, Schule und Gleichaltrige Person des Kindes Alter und Entwicklungsstand, kognitives Niveau, Verhaltensstil, psychosozialeKompetenzen,Bewältigungsfertigkeiten, geschlechtsspezifische Aspekte Adaption der Familie Verunsicherung, Krise, Konflikt, Vernachlässigung der Krankenversorgung und Erziehung versus Aktivierung von Ressourcen, gemeinschaftliches Handeln, Funktionstüchtigkeit Soziale Umwelt Psychiatrische Universitäts-Poliklinik für Kinder und Jugendliche (Ärztlicher Direktor: Prof. Dr. med. Dr. phil. Hans-Christoph Steinhausen) der Universität Zürich Isolierung, Entsolidarisierung, Stigmatisierung versus Integration, Unterstützung, Anteilnahme Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 40, 4. Oktober 1996 (53) A-2553 M E D I Z I N DIE ÜBERSICHT ne von Risikofaktoren wie auch als Schutzfaktoren wirksam werden. So können Persönlichkeitsfaktoren wie der individuelle Verhaltensstil und die Verfügbarkeit von psychosozialen Kompetenzen, Problemlösefertigkeiten und Bewältigungsstrategien allgemeiner Art sowohl negativ zu einem allgemeinen Muster der Vulnerabilität und Risikobelastung wie auch positiv zu Widerstand und Kompensationsfähigkeit beitragen. Die Familie durchläuft dabei selbst einen Prozeß der Adaption. Insbesondere die Eltern erleben initial bei der Manifestation der Krankheit ihres Kindes eine seelische Krise mit Gefühlen von Schock, Trauer, Irri- Prozeß der psychosozialen Adaption des chronisch kranken Kindes gefährden oder positiv stützen. Dieser Prozeß, von dem nicht nur das kranke Kind, sondern auch seine Eltern und Geschwister mitbetroffen sein können, spielt sich zwischen den Polen von Isolation und Integration ab. Psychosoziale Auffälligkeiten Trotz einer in der Literatur nicht immer widerspruchsfreien Befundlage belegen zahlreiche Studienergebnisse sowohl aus umfangreichen epidemiologischen Erhebungen wie auch aus UntersuGrafik chungen klinischer Stichproben die Lebensgeschichtliche markant erhöhKrankheitsbedingungen Ereignisse/Belastungen te psychopathologische Vulnerabilität chronisch kranker Kinder und Jugendlicher Psychosoziale (1–8). Sie ist in der Adaption Regel um das Drei- bis Fünffache höher als bei Kindern ohne eine Person des Kindes Familie Soziale Umwelt chronische KrankRisikofaktoren Belastung Isolation heit und steigt versus versus versus deutlich an, sofern Schutzfaktoren Schutz Integration in dem jeweiligen Krankheitsbild eiModell der psychosozialen Adaption bei chronischer Krankheit und Behinderung ne Komponente einer zentralnerim Kindes- und Jugendalter vösen Schädigung tation oder Ärger, welche ihre Hand- oder Funktionsstörung enthalten ist. lungs- und Funktionstüchtigkeit be- Tabelle 2 faßt eigene Untersuchungsträchtlich einschränken kann. Psychi- ergebnisse zusammen. Insofern unsche Stabilität und Handlungsfähig- terstreichen die empirisch ermittelten keit als Voraussetzungen einer Stüt- Raten psychischer Störungen bei zung der Krankheitsverarbeitung des Tabelle 2 Kindes müssen auch von den Eltern und gegebenenfalls den Geschwistern Prävalenzraten für psychische Störungen bei erst in einem Prozeß der Bewältigung verschiedenen Gruppen chronisch kranker wiedergewonnen werden. Dieser ProKinder und Jugendlicher*) (in Prozent) zeß kann wiederholt krisenhaft ablaufen und gleichermaßen die direkte A. Zystische Fibrose 52,7 Krankheitsversorgung wie die gesamB. Asthma bronchiale 28,0 te Entwicklung des chronisch kranken C. Kontrollgruppe zu A und B 16,7 Kindes gefährden. D. Morbus Crohn 60,0 Schließlich können die nähere E. Colitis ulcerosa 57,1 soziale Umwelt in Form von VerF. Kontrollgruppe zu D und E 11,8 wandten, Bekannten und Freunden, aber auch die erweiterte Gemein*) nach Steinhausen 1984 schaft und Gesellschaft allgemein den A-2554 (54) Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 40, 4. Oktober 1996 chronisch kranken Kindern und Jugendlichen die Aussage des oben dargestellten Modells, daß mit einer chronischen Krankheit bestimmte existentielle Formen der Belastung verbunden sind, denen nur mit Aktivierung von Ressourcen erfolgreich begegnet werden kann. Betrachtet man die Art der psychischen Störung bei chronisch kranken Kindern und Jugendlichen, so stehen emotionale Störungen in Form von depressiver Verstimmung, Ängstlichkeit und sozialem Rückzug deutlich im Vordergrund. Störungen des Sozialverhaltens mit regelverletzendem, aggressivem und sozial schädlichem Verhalten sind hingegen bei dieser Gruppe von Kindern deutlich seltener anzutreffen. In jedem Fall kann sowohl eine emotionale Störung etwa über Pessimismus und Ängstlichkeit wie auch eine dissoziale Störung über mangelnde Compliance die Krankheitsadaption beeinträchtigen. Neben psychischen Störungen, aber häufig auch mit ihnen verknüpft, liegen weitere Hinweise auf eine Gefährdung der sozialen Entwicklung bei chronisch kranken Kindern und Jugendlichen vor. Krankheitsbedingt bestehen Risiken für eine erhöhte Rate von Beziehungsschwierigkeiten mit Gleichaltrigen, die bis zur Isolation reichen können, für eine geringere Beteiligung bei sozialen Aktivitäten, für Defizite hinsichtlich sozialer Fertigkeiten und schließlich auch für eine Beeinträchtigung des Schulverlaufs. Grundzüge der Rehabilitation Angesichts der aufgezeigten Risiken für die psychosoziale Adaption und Entwicklung von Kindern und Jugendlichen mit einer chronischen Krankheit und Behinderung kann sich eine umfassende Betreuung und Rehabilitation dieser Klientel nicht auf eine somatische Behandlungsstrategie beschränken. Vielmehr ist eine integrierte somatische und psychosoziale Behandlung erforderlich (5–8). Deren Grundzüge sollen abschließend in ihren zentralen Bestandteilen skizziert werden. Jeder Rehabilitationsplan sollte sowohl von allgemeinen wie von spezifischen, individuell für M E D I Z I N DIE ÜBERSICHT/FÜR SIE REFERIERT den Patienten Ziele der Rehabilitation bei chronischen Krankheiten angepaßten Zielen ausgehen. 1 medizinische Krisenprävention und Symptomkontrolle Die allgemeinen 1 Entwicklung und Durchführung von BehandlungsZiele sind im plänen Textkasten zu1 Prävention und Rehabilitation psychischer Störungen sammengefaßt. und sozialer Isolation Eine diesen 1 psychosoziale Adaption an wechselnde KrankheitsZielen verpflichverläufe und Belastungen durch Selbst-Akzeptanz und tete Rehabilikrankheitsbezogene Kompetenz tationsstrategie verlangt eine 1 sozioökonomische und materielle Sicherung nicht nur die medizinischen Teildisziplinen übergreifende Kooperati- Ärztlich-psychologische Betreuung on, sondern auch die Integration der bedeutet in diesem Zusammenhang klinischen Psychologie und So- die Wahrnehmung eines breiten Spekzialarbeit. Die Kinder- und Jugend- trums von Maßnahmen, die von der Informationsvermittlung über die Beratung, Schulungsprogramme, psyAufgaben der ärztlich-psychologichologische Präventionsmaßnahmen schen Betreuung chronisch kranker bis zu Elterngruppen und verschiedeKinder, Jugendlicher und ihrer Fanen Formen der Psychotherapie reimilien chen. Letztlich sind diese vielfältigen Informationsvermittlung, AufMaßnahmen der Überzeugung verklärung pflichtet, daß durch eine ganzheitliche Rehabilitation der Entwicklung psyBeratung der Familie und sozialen chosozialer Störungen begegnet und Umwelt die Lebensqualität von Kindern und Schulungs- und Jugendlichen mit einer chronischen Behandlungsprogramme Krankheit gefördert werden kann. 1 medizinische Komponente 1 psychologische Komponente Zitierweise dieses Beitrags: Psychologische Prävention Dt Ärztebl 1996; 93: A-2553–2555 1 Angstreduktion bei diagno[Heft 40] stisch-therapeutischen Maßnahmen durch Vorbereitung und Aufklärung Literatur Elterngruppen und Elterntrainung 1. Lavigne J V, Faier-Routman J: Psychological adjustment to pediatric physical disorPsychotherapie ders: A meta-analytic review. J. Pediatric 1 Einzelpsychotherapie für Psychology 1992; 17: 133–137 das Kind oder die Eltern 2. Lavigne J V, Faier-Routman J: Correlates of psychological adjustment to pediatric 1 Gruppentherapie für physical disorder: A meta-analytic review Kinder oder Jugendliche and comparison with existing models. De1 Partnertherapie velopmental and Behavioral Pediatrics 1993; 14: 117–123 1 Verhaltenstherapie 3. Seiffge-Krenke I, Brath K: Krankheitsver1 Familientherapie arbeitung bei Kindern und Jugendlichen. psychiatrie hat dieses Tätigkeitsfeld als einen speziellen Arbeitsauftrag im Sinne der Liaison-Psychiatrie übernommen. Im Bereich der klinischen Psychologie hat sich ein analoges Verständnis entwickelt und zur Etablierung der sogenannten Verhaltenspädiatrie geführt. Die umfangreichen Aufgaben bei der Umsetzung dieser Ziele sind im Textkasten abschließend skizziert. Forschungstrends und Ergebnisse. In: Seiffge-Krenke I (Hrsg.): Krankheitsverarbeitung bei Kindern und Jugendlichen (Jahrbuch der medizinischen Psychologie, Bd. 4). Berlin: Springer, 1990; 3–22 4. 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München: Urban & Schwarzenberg, 1996 Anschrift des Verfassers: Prof. Dr. med. Dr. phil. Hans-Christoph Steinhausen Psychiatrische UniversitätsPoliklinik für Kinder und Jugendliche Freiestraße 15 Postfach 8028 Zürich PEG besser als Nährsonde Nach einem akuten Schlaganfall klagen bis zu 45 Prozent aller Patienten über Schluckstörungen. Die Letalität der Patienten, die nicht mehr normal Nahrung aufnehmen können, liegt nach sechs Wochen bei rund 50 Prozent. Die Autoren führten eine randomisierte prospektive Studie an 30 Patienten durch, die auch 14 Tage nach dem akuten Schlaganfallereignis noch über Schluckstörungen klagten. Die eine Hälfte der Patienten wurde mit einer Nährsonde ernährt, bei der anderen Hälfte wurde eine perkutane endoskopische Gastrostomie (PEG) angelegt. In der Gastrostomiegruppe lag die Letalität nach sechs Wochen signifikant niedriger (12 Prozent) als in der Gruppe, die mit einer Nährsonde behandelt wurde (57 Prozent). Auch die Ernährungssituation war bei den über eine PEG ernährten Patienten deutlich besser. Patienten mit einer PEG konnten früher entlassen werden als die über eine Nasensonde ernährten Patienten. w Norton B, Homer-Ward M, Donelly MT, Long RG, Holmes GKT: A randomised prospective comparison of percutaneous endoscopic gastrostomy and nasogastric tube feeding after acute dysphagic. Brit Med J 1996; 312: 13–16 Derbyshire Royal Infirmary, Derby DE1 2QY, Großbritannien Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 40, 4. Oktober 1996 (55) A-2555