Musikphysiologie und Musikermedizin 2010, 17. Jg., Nr. 2 53 Musizieren und Schmerz – Wie kann die moderne Schmerztherapie helfen? A. Steinmetz, W. Seidel (Berlin-Sommerfeld) Abstract Schmerzen gehören zu den häufigsten Problemen, die Musiker in einer Musikersprechstunde beklagen. Da Schmerz durch seinen Einfluss auf die Muskelfunktion die Feinmotorik und Koordination einschränken kann, gefährden Schmerzen im Bewegungssystem schnell die Aufführungsqualität von Musikern. Wenn Schmerz über einen längeren Zeitraum bestehen bleibt, droht die Gefahr, dass aus einem akuten Schmerz ein chronischer Schmerz wird. Innerhalb des biopsychosozialen Schmerzkonzepts sind verschiedenste Risikofaktoren für eine Chronifizierung bekannt. Moderne Schmerztherapiekonzepte ziehen diese Chronifizierungsfaktoren mit in die Therapie ein. Bei Musikern müssen zusätzlich instrumentenspezifische Einflussfaktoren im Rahmen der Diagnostik erhoben und in das Behandlungskonzept mit einbezogen werden. Schmerz führt zu dysfunktionellen Bewegungsmustern beim Musizieren. Ein wichtiger Punkt in der Musikerbehandlung ist daher die funktionelle Wiederherstellung der ursprünglich physiologischen Bewegungsmuster. Keywords Akuter und chronischer Schmerz, Chronifizierungsfaktoren, musikerspezifische Einflussfaktoren, biopsychosoziales Schmerzkonzept. musikerspezifisches Behandlungskonzept Abstract Pain is a very common problem in musicians. Pain influences muscle function, fine motor tuning and coordination. Therefore musicians with pain are at risk to suffer a decrease of performance quality. Sustaining pain for a longer period can become chronic. Within the biopsychosocial pain concept various risk factors are known and need to be implemented in therapy concepts. The treatment of musicians has to be supplemented with strategies addressing instrument specific risk factors. Pain changes movement patterns during playing a musical instrument. A crucial aim is therefore to restore the original physiological movements. Keywords Acute and chronic pain, risk factors for chronic pain, specific risk factors of musicians, biopsychosocial pain concept, specific treatment concept for musicians Musiker als Schmerzpatienten Schmerzen im Bereich des Bewegungssystems gehören zu den häufigsten Beschwerden, weswegen Musiker eine spezielle Musikersprechstunde aufsuchen. Untersuchungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass bis zu 80% der Orchestermusiker unter berufsspezifischen Erkrankungen, insbesondere Schmerzen, leiden. Schon 1988 hat Fishbein et al. [1] in Amerika bei einer Befragung von über 2000 Berufsmusikern festgestellt, dass fast 50% dieser Beschwerden im Bewegungssystem liegen. Ähnliche Untersuchungen aus Deutschland (1995) [2] und Spanien (2000) [3] an jeweils weit über 1000 Berufsmusikern ergaben vergleichbare Ergebnisse. Die Situation an den Musikhochschulen zeigt leider deutlich, dass sich die Beschwerden nicht erst im Laufe des späteren Berufslebens entwickeln. Die an Musikstudenten durchgeführten Studien ergeben ähnliche Daten [4-7]. Das bereits in diesem Alter erbrachte Übungspensum ist durchaus mit dem Trainingsumfang von Hochleistungssportlern vergleichbar. So hat z.B. ein Studienanfänger an einer Musikhochschule im Alter von 20 Jahren im Durchschnitt über 10000 Stunden am Instrument geübt [8]. Einflussfaktoren auf die Musikergesundheit Die Entwicklung von Überlastungsbeschwerden bei Musikern stellt ein komplexes multifaktorielles Geschehen dar. Neben den anatomischen, muskulären und psychischen Gegebenheiten spielen instrumentaltechnische und –ergonomische Aspekte als Prädisposition eine wichtige Rolle. Zusätzlich können auch Übegewohnheiten sowie Stress und 54 A. Steinmetz & W. Seidel – Musizieren und Schmerz Lampenfieber die Entstehung körperlicher Beschwerden begünstigen. Diesen Einflussfaktoren gegenüber steht die individuelle Adaptations- und Kompensationsfähigkeit des Körpers, welche im Idealfall der Entstehung körperlicher Beschwerden ausreichend entgegenwirkt. Außergewöhnliche physische und psychische Belastungssituationen (Prüfungen, wichtige Konzerte...) führen jedoch oft zur Dekompensation bestehender Störungen und somit zum Auftreten von Schmerzen. In dieser Situation ist der auftretende Schmerz, der die körperliche Überlastung signalisiert, als Warnsignal zu verstehen. Was ist Schmerz ? Dieses Warnsignal des Körpers ist eine sinnvolle Körperreaktion, die dem Menschen in früheren Zeiten das Überleben sicherte. Heute wird Schmerz als unangenehmes Sinnes- oder Gefühlserlebnis definiert, dass mit aktueller oder drohender Gewebeschädigung verknüpft ist. Schmerz kann, muss aber nicht mit morphologischen Veränderungen verbunden sein. Der Schmerzreiz wird von einem Rezeptor aufgenommen und über das Rückenmark weiter zur Großhirnrinde geleitet. Erst dort wird er bewusst als Schmerz wahrnehmbar. Hier findet neben der Schmerzverarbeitung auch das Bewerten und Einordnen von Schmerzen statt. Außerdem werden unbewusste und bewusste Reaktionsmuster als Schmerzantwort in verschiedenen Hirnarealen und auf Rückenmarksebene generiert. In der Aufnahme, Weiterleitung und Verarbeitung schmerzauslösender Signale können folgende Schmerzkomponenten unterschieden werden: - sensorisch-diskriminative Komponente (Schmerzqualität wie Brennen, Stechen o.ä., Schmerzlokalisation) - affektiv-emotionale Komponente (Gefühlsempfindungen wie Furcht, Angst, Trauer, Depression) - vegetative Komponente (Reaktion des Autonomen Nervensystems wie Schweißausbrüche, Pulsund Blutdruckerhöhung, Übelkeit, Durchfall u.a.) - motorisch-reflektorische Komponente (wie z.B. der Wegziehreflex) Wie entsteht nun aus dem akuten ein chronischer Schmerz? Bei einer akuten Überlastung bringen Schonung, physikalische Maßnahmen wie Wärme oder Kälte und gegebenenfalls auch der kurzfristige Einsatz eines Schmerzmittels meist Linderung und der Schmerz klingt nach einigen Tagen wieder ab. Trotzdem gelingt es nicht immer, den Schmerz mit diesen Maßnahmen zu besiegen. Manchmal kommen die Schmerzen nach kurzer Zeit wieder oder persistieren. Häufig breiten sie sich dann in immer größere Körperbereiche aus, obwohl sich der betroffene Musiker kaum noch belastet. Der Schmerz droht sich zu verselbstständigen und chronisch zu werden. Zwischen akutem und chronischem Schmerz wird hauptsächlich über die Zeitdauer des Bestehens unterschieden. Halten Schmerzen länger als 3-6 Monate an, so spricht man in der Regel von chronischen Schmerzen. Die Schmerzstärke entspricht nicht mehr der Größe und dem Ausmaß der eigentlichen Schädigung. Häufig liegt der schmerzauslösende Reiz nicht mehr vor, so dass man von einem verselbstständigtem Schmerzsyndrom spricht. Aus dem Warnsignal Schmerz ist somit eine eigenständige Erkrankung geworden. Bei diesem Prozess spielt das sogenannte „Schmerzgedächtnis“ eine wesentliche Rolle. Die Entwicklung eines Schmerzgedächtnisses geht mit neuroplastischen Veränderungen auf verschiedenen Ebenen einher. Das bedeutet, dass sich Nervenverschaltungen bilden, die die Schmerzwahrnehmung aufrecht erhalten. Auf der Ebene der Nozizeptoren (Rezeptoren, die auf Schmerzreize reagieren) kommt es zu einer Verminderung der Reizschwelle. Infolgedessen werden immer kleinere Reizstärken benötigt, um den Schmerz zu aktivieren bzw. zu unterhalten. Außerdem werden ursprünglich inaktive Schmerzrezeptoren angeregt, so dass letztlich eine wesentlich größere Anzahl an Nozizeptoren durch den Reiz aktiviert wird. Sowohl auf Rückenmarksebene als auch im Großhirn resultiert eine Vergrößerung der schmerzabbildenden Areale. Im Ergebnis dieses extrem komplizierten pathophysiologischen Vorganges kommt es zu einer übersteigerten Schmerzempfindlichkeit und zur Ausweitung der ursprünglichen Schmerzregionen. Musikphysiologie und Musikermedizin 2010, 17. Jg., Nr. 2 Chronifizierungsfaktoren Wichtige Faktoren, die zu einer Schmerzchronifizierung beitragen können, sind eine vegetative Labilität und eine affektivemotionale Schmerzverarbeitung. Wissenschaftliche Studien konnten zeigen, dass Patienten mit ausgeprägten vegetativen Symptomen (z.B. mit Temperaturregulationsstörungen der Hände und Füße) eine höhere Schmerzempfindlichkeit aufwiesen [9]. Vegetative Symptome und Schmerzen können bei dieser Patientengruppe durch Bewegungsentzug noch verstärkt werden [10]. Depressionen und Angststörungen sind häufig mit Chronifizierungsprozessen von Schmerzen verbunden [11,12]. Auch Vermeidung von Bewegung aus Angst vor Schmerzen (FearAvoidance-Beliefs) und „Katastrophisieren“ sind als Risikofaktoren für eine Schmerzchronifizierung bekannt. Poulsen et al. [13] konnten zeigen, dass sogar 60% der chronischen Schmerzpatienten eine klinisch relevante Angst und Depression aufwiesen. Anhaltender Stress kann ebenfalls als schmerzverstärkender Faktor wirken. Stress führt zu einer Störung der neurophysiologischen Wahrnehmungs- und Verarbeitungsprozesse, in deren Folge häufig keine ausreichende Unterscheidung von Angst und Schmerz möglich ist. Die Betroffenen fühlen sich hilflos und verunsichert. Es resultiert ein Circulus vitiosus aus Schmerz, Angst und Depression mit dem Ergebnis einer gestörten Schmerzverarbeitung [14]. Es lassen sich unterschiedliche Schmerzverarbeitungstypen beschreiben: „Vermeider“ inaktives Schmerzverhalten, Vermeidung von Bewegung und Beanspruchung, Angst vor Schmerz „Durchhalter“ Schmerzunterdrückung, Leistungsorientierung, Störung der Entspannungsfähigkeit „Fatalist“ depressiv-fatalistische Schmerzverarbeitung, passives Schmerzverhalten „Hypochonder“ aufmerksamkeitsfokussierte Schmerzverarbeitung, ängstliche Körperbeobachtung, Angst vor Krankheit „Somatisierer“ 55 keine ausreichende Wahrnehmung für Gefühle und Probleme, scheinbar „alles in Ordnung“, Schmerzintensität (auf der Visuellen Analogskala) hoch, emotional betontes Beeinträchtigungserleben, Schmerzausdruck passt nicht zur Schilderung [15]. Muskelfunktion und Schmerz In Folge muskulärer Überlastungen entstehen im Muskelgewebe kleine Mikrotraumen und Mikroläsionen, durch welche schmerzauslösende Substanzen freigesetzt werden. Dieser Mechanismus tritt häufig bei einseitig wiederholten Bewegungen auf. Aber auch länger andauernde statische Belastungen, wie sie im Rahmen der „Haltearbeit“ von Instrumenten vorkommen, können zu Schmerzen führen. Bei derartigen tonischen Muskelkontraktionen, also einer länger andauernden Muskelanspannung ohne Bewegung, wird die Durchblutung des Muskels gestört. Schon 5-30% der maximalen Kontraktionskraft sind dazu ausreichend. Die resultierende Ischämie setzt ebenfalls die Schmerzkaskade in Gang. Bisherige Erkenntnisse gingen davon aus, dass Muskelschmerz zu weiterer Verspannung und somit zur Schmerzverstärkung führt. Dieses so genannte Schmerz-SpasmusSchmerz-Konzept konnte wissenschaftlich jedoch nicht bestätigt werden. Untersuchungen zeigten, dass, bis auf eine kurzzeitige reflektorische Anspannung, genau das Gegenteil geschieht. Der Muskel wird durch den Schmerz gehemmt, weshalb andere Muskeln seine Funktion unterstützen müssen [16]. Diese Muskeln sind aber dafür in der Regel nicht konzipiert, so dass es auch hier zu einer Überlastung kommt. Es entsteht eine Kettenreaktion, in der immer mehr Muskeln zu Hilfe geholt werden. In der überforderten Muskulatur bilden sich häufig Triggerpunkte. Dabei handelt es sich um lokale Verspannungsknötchen, welche neben dem lokalen Druckschmerz auch ein spezifisches Schmerzareal in entfernteren Regionen besitzen. So kann z.B. durch einen Triggerpunkt in der Wade ein Schmerz im Bereich des Iliosakralgelenkes (KreuzDarmbein-Gelenk) ausgelöst werden. Für den Musiker sind diese muskulären Reaktions- und Kompensationsmuster deshalb so bedeutsam, weil Schmerzen das Potential haben, die feinmotorischen Bewegungsmuster 56 A. Steinmetz & W. Seidel – Musizieren und Schmerz beim Musizieren zu stören. Sobald ein Muskel schmerzbedingt gehemmt und ein Hilfsmuskel „zugeschaltet“ wird, ist die Koordination gefährdet. Erkenntnisse aus der Sportmedizin zeigen, dass schon Ermüdung die koordinativen Bewegungsmuster stark verändert und unpräzise werden lässt. Dieser Effekt – nur meist noch ausgeprägter – tritt beim Musizieren mit Schmerzen ebenso auf, worauf wissenschaftliche Erkenntnisse hinweisen. Fry et al. [17] konnten in einer Studie zeigen, dass Pianisten mit Overuse bereits bei einfachen 5-Finger-Übungen in CDur deutliche Inkoordinationszeichen aufwiesen. Multimodale interdisziplinäre Therapiekonzepte bei chronischen Schmerzen Die Behandlung chronischer Schmerzen stellt eine besondere Herausforderung an das Behandlungsteam dar. Im Gegensatz zur Akutschmerzbehandlung ist für die Therapie chronischer Schmerzen ein interdisziplinäres Therapiekonzept notwendig. Um die dafür notwendige Qualifikation zu gewährleisten, gibt es seit 1996 in Deutschland die Zusatzbezeichnung „Spezielle Schmerztherapie“. Eine frühzeitige umfassende Schmerzdiagnostik und effektive Schmerztherapie ist insbesondere auch zur Vermeidung von Chronifizierungsprozessen von besonderer Wichtigkeit. Die moderne Schmerzmedizin baut auf dem biopsychosozialen Schmerzmodell auf. Dieses beinhaltet nicht nur die körperlichen Befunde des Patienten, sondern bezieht auch psychische und soziale Faktoren mit ein. Sie modulieren das Erleben und Verhalten des Schmerzpatienten und stellen damit aufrechterhaltende und verstärkende Bedingungen für das Schmerzgeschehen dar. Ihre Erfassung ist daher unmittelbar für die Diagnostik und Therapieplanung nützlich und notwendig. Ausgangspunkt der Schmerzdiagnostik ist die Schmerzanamnese, welche Schmerzintensität, -lokalisation, -charakteristik, auslösende und verstärkende Faktoren sowie zeitliche Veränderungen erhebt. Speziell entwickelte Schmerzfragebögen, wie der Deutsche Schmerzfragebogen der Deutschen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (DGSS), erlauben eine standardisierte Schmerzanamnese. Sie ermöglichen außerdem die unmittelbare Wertung der schmerzbedingten Beeinträchtigung, be- gleitender depressiver und Angststörungen sowie weiterer psychologischer/psychiatrischer Komorbiditäten wie beispielsweise Somatisierungsstörungen. Die Einschätzung der körperlichen Befunde bedarf neben der üblichen apparativen Struktur- und Funktionsdiagnostik unbedingt auch einer manuellen Funktionsdiagnostik. Störungen der Muskulatur, der Gelenke und des Bindegewebes führen häufig schon vor dem Entstehen von strukturellen Veränderungen zu Schmerzen, welche mit den Methoden der Manuellen Medizin, der Physiotherapie und Maßnahmen der Physikalischen Therapie (Elektro-, Hydro- und Massagetherapie) gut beeinflussbar sind [18, 19]. Bei Hinweisen auf begleitende psychologische/psychiatrische Komorbiditäten, sollte sich an das psychologische Screening durch Schmerzfragebögen und die ärztliche Erstanamnese unbedingt eine fachgerechte psychologische oder psychiatrische Diagnostik anschließen. Auf die Wechselwirkung somatisch-struktureller, somatischfunktioneller, psychologischer und sozialer Einflussfaktoren muss in der Therapie besonders eingegangen werden. Dazu ist eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit verschiedener Therapeutengruppen und Disziplinen (Ärzte, Psychologen, Physiotherapeuten, Sporttherapeuten, Ergotherapeuten, Sozialdienst, medikamentöse und invasive Schmerztherapie) in einem gemeinsamen Team notwendig. Bei ambulant erfolgloser Behandlung hochchronifizierter Patienten bedarf es hierzu häufig des stationären Settings einer Schmerzklinik. In der Klinik für Manuelle Medizin Sommerfeld (Akutkrankenhaus für nicht-operative Orthopädie und Schmerzmedizin) erfolgt die Diagnostik unter Einbeziehung des Sommerfelder Diagnostiksystems [20, 21]. Durch dieses System werden strukturelle und funktionelle körperliche Befunde sowie psychologische und soziale Einflussfaktoren bereits in der Eingangsdiagnostik durch einen Arzt und Psychologen erhoben und gewertet (Abb.1 und Abb. 2). Musikphysiologie und Musikermedizin 2010, 17. Jg., Nr. 2 57 Therapieschwerpunkte. Diese werden individuell an die Therapiebedürfnisse des einzelnen Patienten angepasst (Abb. 3) Diagnostikphase Basistherapie Schmerz Basistherapie Vegetative Regulation Pfad 1: Manualmedizinisch-orthopädischer (physiotherapeutischer) Behandlungspfad Therapieschwerpunkt Stabilisation + Psychosomatische Schmerztherapie Therapieschwerpunkt Mobilisation + Psychosomatische Schmerztherapie Therapieschwerpunkt ATL + Psychosomatische Schmerztherapie Therapieschwerpunkt Vegetative Regulation Pfad 2: Manualmedizinisch psychotherapeutischer Behandlungspfad Therapieschwerpunkt Psychotherapeutisch-funktionell orientierte Behandlung Therapieschwerpunkt Psychotherapeutisch-vegetativ orientierte Behandlung Pfad 3: Intensiv-schmerztherapeutischer Behandlungspfad Funktionell orientierte Behandlung + Psychosomatische Schmerztherapie Pfad 4: Erweiterte Verlaufsdiagnostik Therapieschwerpunkt Funktionell orientierte Behandlung Therapieschwerpunkt Vegetativ orientierte Behandlung Abb. 1: Sommerfelder Diagnostiksystem Abb. 3: Behandlungsschwerpunkte chronischen Schmerzerkrankungen bei Schmerztherapiekonzepte bei Musikern Abb. 2: Einordnung von Komplexbefunden In einem anschließenden Teamgespräch werden die Behandlungsschwerpunkte festgelegt und mit dem Patienten besprochen. Je nach Befundwertung sind unterschiedliche Behandlungsstrategien (physiotherapeutischmanualmedizinisch, physiotherapeutischpsychosomatisch, invasive Schmerztherapie oder erweitere Diagnostik) mit wiederum unterschiedlichen Schwerpunkten möglich. Insgesamt ergeben sich daraus je nach Befundkonstellation 9 unterschiedliche Bei einem akuten Schmerzgeschehen ist der erste und wichtigste Schritt, die Überlastung zu stoppen, um Musizieren unter Schmerzen zu vermeiden. Begleitend sollten Funktionsstörungen (Triggerpunkte, Verspannungen, gestörte Bewegungsmuster und Gelenkblockierungen) mit Hilfe der Manuellen Medizin oder der Physiotherapie behandelt werden. Zeigen sich infolge von Überlastungen Entzündungszeichen wie Überwärmung, Rötung oder Schwellung, sollten gegebenenfalls auch entzündungshemmende Schmerzmedikamente eingesetzt werden. Im Falle bereits eingetretener Chronifizierung, wenn also Schmerzen über einen längeren Zeitraum persistieren, ist es wichtig, insbesondere auch die affektiv-emotionale und vegetative Schmerzkomponente in die Therapiestrategie einzubeziehen. Die Therapieprinzipien der Akutschmerzbehandlung sind daher um eine psychologische Mitbehandlung und ein psychoedukatives Training zur Schmerz- und 58 A. Steinmetz & W. Seidel – Musizieren und Schmerz Stressbewältigung zu ergänzen. Im Rahmen der psychologischen Therapie wird mit dem Patienten ein Schmerzmodell erarbeitet. Unter Einbeziehung der unterschiedlichen Schmerzverarbeitungstypen werden Schmerzbewältigungsstrategien vermittelt. Ein wichtiges Ziel ist die Verbesserung der Wahrnehmungs- und Affektregulation (z.B. Angst), was durch eine Schulung der Körperwahrnehmung und den Einsatz von Entspannungstechniken unterstützt wird. Im psychologischen Kontakt kann außerdem eine weiterführende Psychotherapie gebahnt werden. Zur Ausbalancierung des Vegetativums bietet sich ein aerobes Ausdauertraining an (z.B. Jogging oder Nordic Walking). Ergänzend sind hydrotherapeutische Anwendungen (Wechselduschen, Güsse und Wickel) einzusetzen. Da auch die Ernährung sowie ausreichender regelmäßiger Schlaf das vegetative Nervensystem in hohem Maße beeinflussen, sind eine regelmäßige ausgewogene Ernährung sowie Schlafhygiene ein wichtiger Bestandteil einer vegetativ orientierten Therapie. Neben einer suffizienten Schmerzmedikation, welche in einem festen Zeitschema eingenommen werden sollte, ist eine Komedikation zur Beeinflussung des „Schmerzgedächtnisses“ sinnvoll. Hier eignet sich insbesondere das als Antidepressivum bekannte Amitryptilin, welches in einer niedrigen (nicht antidepressiv wirksamen) Dosis Einfluss auf die Schmerzschwelle und die Schmerzwahrnehmung hat und gleichzeitig schlaffördernd wirkt. Zusätzlich zu diesen in der Schmerztherapie etablierten Therapiekonzepten ist es bei Musikern wichtig, die musikerspezifischen Einflussfaktoren (Instrumentaltechnik, Instrumentenergonomie, Lampenfieber, Stress und Übegewohnheiten) in den Therapieprozess mit einzubeziehen. Nur so kann die Belastung des Instrumentalspiels auf das Bewegungssystem so weit wie möglich reduziert werden. Hierzu sind ergonomische Beratungen, Informationen zu Lampenfieber/ Aufführungsangst oder die Vermittlung von Übetechniken notwendig. Schmerz führt zu automatisierten dysfunktionellen Bewegungsmustern während des Musizierens. Ein wichtiger Aspekt der Musikerbehandlung ist deshalb die funktionelle Wiederherstellung der ursprünglichen physiologischen Bewegungsabläufe. Gelingt dies nicht, fällt der Musiker beim Instrumentalspiel immer wieder in die alten Überlastungsmuster zurück. Neben einer (teilweise videogestützten) Bewegungsanalyse am Instrument, können hier Biofeedbackverfahren eingesetzt werden. Zur Erleichterung dieses schwierigen und die Musikerbehandlung herausfordernden Prozesses, sollte auch das aus dem Sport bekannte Mentale Training in die Therapie integriert werden. Körperwahrnehmungstechniken wie Alexander-Technik, Feldenkrais, Dispokinesis aber auch Qi Gong, Yoga etc. helfen, das Körpergefühl wieder zurückzugewinnen und zu verfeinern. Häufig kann so die Adaptationsund Kompensationsfähigkeit des Körpers wiederhergestellt werden. Das Institut für Musikermedizin BerlinBrandenburg bietet ein entsprechendes schmerztherapeutisches Behandlungskonzept für Musiker an. Bei chronischen oder chronifizierungsgefährdeten Schmerzsyndromen ist auch eine Behandlung in der Klinik für Manuelle Medizin Sommerfeld möglich, in der dieses Musikermedizinkonzept stationär umgesetzt wird. Indikationen für eine stationäre Musikerbehandlung sind erfolglose ambulante Diagnostik und Therapie (> 6 Wochen), Arbeitsunfähigkeit über 6 Wochen sowie Risikofaktoren für Chronifizierung (yellow flags). Die so genannten yellow flags (erfolglose ambulante Therapie, unklare Diagnose, mehrfache Operationen, starke psychische und soziale Belastungen, Arbeitsunfähigkeit/geringe Arbeitsplatzzufriedenheit, verminderte Lebensqualität) wurden 1999 von Main & Watson [22] als psychosoziale Risikofaktoren beschrieben. Rückenschmerzpatienten mit diesen Risikofaktoren zeigten ein deutlich schlechteres Therapieergebnis als eine Vergleichsgruppe ohne yellow flags. Da die Erfahrungen der Schmerzmedizin zeigen, dass bei frühzeitiger multimodaler Schmerzbehandlung eine Chronifizierung vermeidbar ist bzw. Chronifizierungsprozesse unterbrochen werden können, sollte bei Vorliegen der genannten Indikationen eine stationäre Komplexbehandlung erfolgen. Literatur 1. Fishbein M, Middlestadt SE. Medical problems among ICSOM musicians. Med Probl Perf Art 1988;3:1-8 2. Blum J. Das Orchester als Ort körperlicher und seelischer Harmonie ? Eine medizinische Musikphysiologie und Musikermedizin 2010, 17. 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