Schmerzkonzepte: Von der Glocke zum Netzwerk Der französische Philosoph René Descartes bestimmt nach wie vor unsere Vorstellung von Schmerz, obwohl die moderne Schmerzforschung sein Modell längst weiterentwickelt und neue Möglichkeiten der Beeinflussung aufgezeigt hat. Nicht nur „cogito, ergo sum“, – ich denke, also bin ich – der berühmteste Satz des französischen Philosophen und Begründer des Rationalismus, René Descartes, überdauerte die Jahrhunderte, sondern auch seine Gedanken zur Schmerzentstehung und -weiterleitung. Nur wenige wissen, dass der Jurist, Soldat, Physiker, Fechter, Reiter und Tänzer René Descartes bereits 1644 ein Schmerzmodell beschrieb, das heute immer noch in Teilen Gültigkeit besitzt. Schon damals ging er von „kleinen beweglichen Teilchen“ aus, die den Schmerz weiterleiten, das heißt, die Orte der Schmerzregistrierung und der Schmerzempfindung sind verschieden. Dies gilt nach wie vor. Neu hingegen ist die Erkenntnis, dass ein Schmerz nicht einfach mittels eines Seiles oder Kabels weitergeleitet wird, ähnlich einem Strick, der eine Glocke zum Tönen bringt, wie es bei Descartes heißt. Weiterleitung in Millisekunden Nach neuerem Wissen gibt es in der Schmerzweiterleitung Umschaltstellen von einer Nervenzelle auf die andere. In diesen Umschaltstellen – Synapsen genannt – veranlassen Nervenimpulse die Ausschüttung von chemischen Botenstoffen, sogenannten Neurotransmittern, die den Spalt zwischen einer Nervenzelle und einer anderen (synaptischer Spalt) quasi schwimmend durchqueren. So wird die Information „Schmerz“ in Millisekunden auf die nächste Nervenzelle übertragen. Von dort aus wird sie wiederum weitergeleitet. Alle beteiligten Nervenzellen sind nicht nur mit der einen nachfolgenden, sondern mit einem ganzen Netzwerk verbunden. Somit ist die Schmerzleitung und Schmerzverarbeitung Aufgabe von ganz vielen miteinander vernetzten Nervenzellen. Dieses Wissen um Übertragung und Vernetzung hat für die Therapie eine herausragende Bedeutung. Auch Seele empfindet Schmerz So wird nachvollziehbar, warum auch seelische Befindlichkeiten Auswirkungen auf die Schmerzempfindung haben. Auch wenn Descartes nicht alle seine menschlichen Erfahrungen und sein Wissen umfassend in seine Theorie vom Schmerz einfließen lassen konnte, wusste er um die seelische Dimension des Schmerzes, als er anlässlich des Todes seiner fünfjährigen Tochter schrieb: „Dies ist der größte Schmerz meines Lebens.“ Viele Einflüsse gegen Schmerz Wenn also Schmerz sich nicht nur abspielt an zwei Orten und in einem isolierten Kabel dazwischen, gibt es viele Möglichkeiten der Schmerzbeeinflussung. Wir alle wissen, dass Kinder, die im Spiel versunken sind, auch ein aufgeschlagenes Knie locker klaglos wegstecken, während das kleinste „Aua“ wahre Dramen auslösen kann, wenn die Stimmung ohnehin schlecht ist. Wir trösten sie dann, indem wir „das Aua wegpusten“, um dann zu behaupten, es sei weggeflogen. Im Kern werden so durchaus Elemente der modernen Schmerztherapie umgesetzt, nämlich mechanische Erregung benachbarter Nervenzellen und damit Aktivierung der Vernetzung und Ablenkung. Das wiederum ermöglicht eine weitere Vernetzung und damit Einflussnahme auf den Schmerz. Bei Unfallverletzten ist immer wieder zu beobachten, dass sie selbst bei schweren Verletzungen unmittelbar nach dem Unfall vergleichsweise wenig Schmerzen haben. Ursache ist die Freisetzung von Endorphinen, also kör per eigenen „Glückshormonen“, die die Schmerzrezeptoren blockieren. Leider sind unsere Endorphinspeicher nicht unendlich, sodass wir später dann doch Schmerzen bekommen. Nicht ohne Medikamente Die Einnahme von Medikamenten ist trotzdem oft unumgänglich. Diese wirken auf verschiedenen Ebenen der Schmerzweiterleitung. Medikamente wie Ibuprofen oder Diclofenac wirken mehr im (geschädigten) Gewebe, Valoron oder Opioide im Gehirn, Amitryptilin verändert hingegen die Schmerzwahrnehmung. Das Beispiel des Fakirs zeigt, dass eine willentliche Schmerzbeeinflussung prinzipiell möglich ist. Bewegung übrigens fördert ebenfalls die Endorphinfreisetzung bei chronischen Schmerzen. Was heißt eigentlich „chronisch“? Chronische Schmerzen treten oft auch auf, wenn kein akuter Organschaden vorliegt, bei Phantomschmerzen beispielsweise Jahre nach einer Amputation. Dieser Schmerztyp ist nicht mehr in das Schmerzmodell von Descartes integrierbar. Denn ihm liegt ein „Schmerzgedächtnis“ zugrunde, das wir durchaus beeinflussen können. Chronische Schmerzen sind heute weit verbreitet, unter anderem bei Fibromyalgie oder chronischem Rückenschmerz. Die Einnahme von Schmerzmedikamenten reicht meist nicht aus. Therapie auf mehreren Ebenen Hier helfen am ehesten „multimodale“ Schmerztherapien, also eine Schmerzbehandlung auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig. Dazu gehören neben einer medikamentösen Behandlung die psychologische Schmerzbeeinflussung durch erlernbare Techniken, beispielsweise zur Entspannung, zum positiven Denken und zur Ablenkung, ebenso wie ein Erfahrungsaustausch von Betroffenen in der Gruppe. Darüber hinaus ist Bewegungstherapie, also Vermittlung eines Ausdauersports, Bestandteil dieser umfangreichen Therapie. An einer solchen Schmerztherapie ist immer ein ganzes Therapeutenteam beteiligt, das in sich vernetzt ist. Studien legen den Schluss nahe, dass multimodale Therapien in stationären Aufenthalten bessere Ergebnisse bringen als lediglich eine ambulante Teilnahme an einem solchen Konzept. Wichtig ist jedoch, dass eine Therapieform gewählt wird, bei der möglichst viele Aspekte der Patientenpersönlichkeit Berücksichtigung finden. Dr. Martin Quarz, Chefarzt der orth pädischen Klinik am Median-Reha-Zentrum Bernkastel-Kues und ärztlicher Berater mobil Quelle: mobil 05/2010, Mitgliederzeitschrift der Deutschen Rheuma-Liga