©Mauritius Der geriatrische Patient Unter dem Begriff „vier Giganten der Geriatrie“ werden die alterstypischen Symptome Immobilität, das erhöhte Sturzrisiko, die Inkontinenz und kognitive Beeinträchtigung zusammengefasst. Bei der Behandlung ist es wichtig, Schwerpunkte zu setzen, denn nicht jede Erkrankung des geriatrischen Patienten ist behandlungsbedürftig. Von Monika Lechleitner* 34 › österreichische ärztezeitung ‹ 12 ‹ 30. juni 2007 D ie Anzahl älterer Patienten nimmt entsprechend der demographischen Entwicklung deutlich zu. Der Anteil der über 60-Jährigen in Österreich wird von 22 Prozent im Jahr 2004 auf rund 33 Prozent im Jahr 2050 ansteigen. Dem Lebensalter entsprechend unterscheidet man zwischen jungen Alten (60 bis 75 Jahre), Alten (75 bis 85 Jahre), Hochbetagten (über 85 Jahre) und langlebige Menschen (um 100 Jahre; siehe Tab. 1). Laut den Daten des aktuellen Österreichischen Gesundheitsberichts beträgt die mittlere Lebenserwartung für Frauen derzeit rund 81 Jahre, für Männer rund 77 Jahre. Im höheren Alter nimmt die Anzahl an Gebrechen zu. Im Alter zwischen 65 und 69 Jahren weisen neun Prozent der Bevölkerung sieben oder mehr körperliche Gebrechen auf, bei den über 80-Jährigen sind es bis zu 30 Prozent. Dementielle Erkrankungen sind in der Altergruppe über 65 Jahre bei drei Prozent der Bevölkerung anzutreffen, bei über 85-Jährigen bei 30 Prozent. Dementsprechend steigt die Pflegebedürftigkeit mit zunehmendem Lebensalter kontinuierlich an und beträgt im Alter über 85 Jahre nahezu 80 Prozent. Ein geriatrischer Patient ist grundsätzlich durch sein biologisches Alter gekennzeichnet; darüber hinaus durch sein Leiden an mehreren Krankheiten, eine veränderte oft unspezifische klinische Symptomatik, einen verlängerten Krankheitsverlauf und eine verzögerte Genesung (Tab. 2). Charakteristisch für den älteren Patienten ist auch die veränderte Reaktion auf Medikamente sowie das mögliche Vorliegen von Demobilisierungs- und psychosozialen Symptomen. Die Multimorbidität des älteren Patienten bedeutet, dass mit zunehmendem Alter häufig mehrere Krankheiten gleichzeitig auftreten. In der Behandlung ist es deshalb wichtig, Schwerpunkte zu setzen, denn nicht jede Erkrankung beim geriatrischen Patienten ist behandlungsbedürftig, und die Anzahl an verordneten Medikamenten sollte so gering wie möglich sein. Unter dem Begriff „vier Giganten der Geriatrie“ werden die alterstypischen Symptome Immobilität, das erhöhte Sturzrisiko, die Inkontinenz und kogni- tive Beeinträchtigung zusammengefasst. Sie haben einen wesentlichen Einfluss auf die Selbstständigkeit und damit Lebensqualität des geriatrischen Patienten. Anstelle einer rein organbezogenen Diagnostik und Therapie erfordert die Betreuung des geriatrischen multimorbiden Patienten eine ganzheitsmedizinische Beurteilung. Der eingehenden Anamnese kommt im Hinblick auf die Erfassung vorbestehender geriatrischer Symptome und der Medikation eine zentrale Bedeutung zu, erfordert jedoch einen entsprechenden Zeitaufwand, der in Akutabteilungen häufig fehlt. Im Krankenhaus erhöht sich durch die Immobilisierung sowie durch die beeinträchtigte Adaptationsfähigkeit des geriatrischen Patienten und die häufige soziale Isolierung das Risiko für weitere Komplikationen. Der geriatrische Patient sollte so früh wie möglich mobilisiert werden, um in seine gewohnte Umgebung zurückkehren zu können. Abteilungen für Akutgeriatrie/Remobilisation sind in besonderem Maß an die Bedürfnisse des geriatrischen Patienten angepasst. Die Indikation zur Aufnahme an eine Akutgeriatrie besteht beim älteren Patienten bei somatischer oder psychischer Multimorbidität, die eine stationäre Akutbehandlung erfordert, bei einer Einschränkung der Selbstständigkeit durch den Verlust funktioneller und kognitiver Fähigkeiten beziehungsweise psychischer Probleme im Rahmen einer Erkrankung. Die Notwendigkeit für funktionsfördernde, funktionserhaltende oder reintegrierende Maßnahmen stellt eine weitere Indikation zur Betreuung an einer Abteilung für Akutgeriatrie/Remobilisation dar. In Bezug auf die Qualitatskriterien gelten als Mindeststandards einer akutgeriatrischen Einheit die Ausstattung durch ein multidisziplinäres, geriatrisch ausgebildetes Team (Medizin, Pflege, Physio- und Ergotherapie, Logopädie, Sozialarbeit und Psychologie), die Betreuung durch geriatrisch fortgebildete beziehungsweise erfahrene Fachärzte (Additivfacharzt für Geriatrie), durch Konsiliarfachärzte unterschiedlicher Fachrichtungen sowie der Zugang zu diagnostischen Einrichtungen (bildge- › österreichische ärztezeitung ‹ 12 ‹ 30. juni 2007 bende Verfahren, Labor, Endoskopie, Intensivstation). Die Durchführung eines geriatrischen Basis-Assessments mit darauf aufbauender Planung und Anpassung der Behandlung gilt als eine Grundvoraussetzung in der Betreuung geriatrischer Patienten. Das geriatrische Assessment wird als ein multidimensionaler, interdisziplinärer Prozess definiert. Es ermöglicht anhand der unterschiedlichen Testabläufe das Erkennen von medizinischen, psychosozialen und funktionalen Problemen und Defiziten, aber auch von bestehenden Kapazitäten des Patienten. Klinische Studien konnten belegen, dass bei Patienten, die einem geriatrischen Assessment unterzogen wurden, neben einer Reduktion der Wiederaufnahmebedürftigkeit und einer Verbesserung der Mobilität und kognitiven Funktion eine Senkung der Mortalität beobachtet werden konnte. Die österreichische Gesellschaft für Geriatrie und Gerontologie hat einen standardisierten Ablauf für das geria-: Definition des Alters Alter Junge Alte Alte Hochbetagte Langlebige Menschen 60 – 75 Jahre 75 – 85 Jahre 85+ um 100 Allgemeinzustand • Selbstständige ältere Menschen • Gebrechliche Patienten ohne typisch geriatrische Probleme • Extrem beeinträchtigte Patienten mit fortgeschrittener Demenz, terminalen Erkrankungen Tab. 1 Charakteristika des geriatrischen Patienten • • • • Höheres Lebensalter Multimorbidität Unspezifische Symptome Verlängerter Krankheitsverlauf und verzögerte Genesung • Veränderte Reaktion auf Medikamente • Demobilisierungssymptome • Psychosoziale Symptome Quelle: Füsgen I, „Der ältere Patient“, 3. Auflage, Urban-Fischer 2000 Tab. 2 35 : trische Basis-Assessment definiert (www.geriatrie-online.at). So erfolgt zur Beurteilung der Mobilität der Test nach Tinetti. Dieser Test beurteilt Bewegungsfunktionen wie Stand, Balance, Aufstehen, Drehen auf der Stelle und Hinsetzen. Zur Einschätzung des Gehvermögens werden das Gangbild, die Schrittlänge und Schritthöhe, die Symmetrie, Kontinuität, Abweichung, Schrittbreite und die Rumpfstabilität erfasst. Werden weniger als 20 der 28 möglichen Punkte erreicht, besteht ein signifikant erhöhtes Sturzrisiko. Beim „Timed Up and Go“ Test nach Richardson und Podsiadlo wird die Zeit in Sekunden angegeben, die der Patient benötigt, um nach Aufforderung aufzustehen, mit einem sicheren Gang bis zu einer drei Meter vom Sessel entfernten Linie zu gehen, sich umzudrehen, zurückzugehen und wieder hinzusetzen. Eine alltagsrelevante Mobilitätseinschränkung besteht bei einer benötigten Zeitdauer von länger als 20 Sekunden. Mit dem standardisierten Handkrafttest wird auf die Muskelkraft rückgeschlossen. Weitere Testverfahren des geriatrischen Assessments sind die Beurteilung des Barthel-Index beziehungsweise des Activity Daily Life Index. Dabei wird die Selbstständigkeit der Absolvierung von Aktivitäten wie Nahrungsaufnahme, Waschen, Toilettengang, Gehen auf Flurebenen oder Fahren mit dem Rollstuhl, Treppensteigen, sowie Anund Auskleiden beurteilt, einschließlich möglicher Inkontinenzsymptome. Zum geriatrischen Assessments zählt auch die Prüfung der Sinnesfunktionen (Hörminderung, Visuseinschränkung), die Erfassung depressiver Störungen durch die Geriatrische Depressionsskala und die Beurteilung der kognitiven Funktion anhand des Mini-Mental State Examination Tests. Der Geldzähltests nach Nikolaus erfasst die manuellen Fähigkeiten, den Nahvisus und die kognitive Leistung. Auch die Beurteilung des Essverhaltens, der Gewichtsbewegung und des Ernährungszustandes (Body Mass Index, eventuell Körperfettmessung, 36/37 Oberarm- und Wadenumfang) zählt zu den Messparametern des geriatrischen Assessments. Ernährungszustand im Alter Im höheren Lebensalter kommt es häufig zu einer Reduktion des Body Mass Index (BMI). Eine deutliche Gewichtsabnahme, körperliche Schwäche und Inaktivität werden auch als „Frailty“ bezeichnet, die Gebrechlichkeit erhöht das Risiko für Stürze und weitere Behinderungen. Unabhängig vom BMI kann aber auch bei normal- oder übergewichtigen Patienten eine Malnutrition mit einem Protein- und Vitaminmangel vorliegen. Die europäische SENECA (Survey in Europe on Nutrition and the Elderly Concerted Action) Study hat nachgewiesen, dass bei rund zehn Prozent der zu Hause lebenden älteren Menschen eine Unterernährung vorliegt. Dieser Prozentsatz steigt bei in Alters- und Pflegeheimen betreuten älteren Menschen auf bis zu 60 Prozent an. Dem Ernährungszustand älterer Menschen wird grundsätzlich zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Vielfältige und komplexe Mechanismen tragen zur Mangelernährung beim geriatrischen Patienten bei, wie eine Verminderung von Appetit, Geschmack, Geruchsvermögen und Durstgefühl, aber auch Zahnprobleme, Schluckstörungen, die Immobilität, sozioökonomische Faktoren und Nebenwirkungen von Medikamenten. Diese verschiedenen Einflussfaktoren werden im Rahmen des geriatrischen Assessments erfasst. Nahrungssupplemente, Trink- und Zusatznahrungen können helfen, Defizite wie eine Hypoproteinämie, einen Calcium-, Folsäure- oder Eisenmangel auszugleichen. Bei Schluckstörungen mit Aspirationsgefahr ist die Anlage einer PEG-Sonde (Percutane Endoskopische Gastrotomie) zu erwägen. Atypische Krankheitssymptome Während die klassischen klinischen Symptome von Infektionen oder Herz- Kreislauferkrankungen abgeschwächt oder gänzlich fehlen können, findet man als Begleitreaktion akuter Erkrankungen beim geriatrischen Patienten häufig eine Verschlechterung des Allgemeinzustandes, Schwäche, Verwirrtheit, verstärkte Sturzneigung und das Auftreten einer Inkontinenz. Bei einer akuten Verschlechterung des Allgemeinzustandes sollten deshalb abklärende Untersuchungen auf das Vorliegen von Infekten (Harnwegsinfekt, Diverticulitis), kardiovaskulären Erkrankungen (stummer Herzinfarkt) oder metabolischen Erkrankungen (Hypo- oder Hyperglykämie bei Diabetes mellitus) durchgeführt werden. Auch funktionelle Störungen wie die Obstipation oder Blasenentleerungsstörungen können beim älteren Patienten mit Allgemeinsymptomen wie mit einer Verschlechterung der Befindlichkeit und Verwirrtheit einhergehen. Differentialdiagnostisch sind auch Nebenwirkungen und Interaktionen von Medikamenten zu berücksichtigen. Medikamentöse Therapie Aufgrund altersbedingter Organ-Veränderungen, vor allem der Nieren- und Leberfunktion, ist die Pharmakokinetik von Medikamenten beim älteren Patienten eingeschränkt, und damit das Risiko für potentielle Nebenwirkungen erhöht. Die Nierenzellmasse nimmt von circa 250 Gramm beim 50-Jährigen mit zunehmendem Alter kontinuierlich auf rund 180 Gramm im Alter von 90 Jahren ab. In der Folge kommt es zu einer Reduktion der glomerulären Filtrationsrate um etwa ein Milliliter pro Jahr nach dem 40. Lebensjahr. Der Serumkreatininwert bleibt jedoch aufgrund der altersbedingten Abnahme der Skelettmuskulatur (Sarkopenie) stabil und kann damit zu einer Fehlinterpretation der Nierenfunktion führen; deshalb ist die Berechnung der glomerulären Filtrationsrate von Vorteil. Auch die Leberzellmase und der hepatische Blutfluß nehmen mit zunehmendem Lebensalter ab. Aufgrund der großen Reserve zeigt sich jedoch keine relevante Funk- : › österreichische ärztezeitung ‹ 12 ‹ 30. juni 2007 : tionseinschränkung. Allerdings können beim älteren Patienten zusätzliche Stressfaktoren wie Akuterkrankungen und deswegen erforderliche Therapiemaßnahmen die hepatische Funktionskapazität beeinträchtigen. Dies betrifft die Metabolisierung von Medikamenten über das Cytochrom P450-System, das mit zunehmendem Lebensalter eine verminderte Aktivität aufweist. Bei der Verabreichung von mehreren Medikamenten sind vor allem potentielle Interferenzen in der Metabolisierung zu berücksichtigen. Weitere Involutionsvorgänge, die den Wirkspiegel von Pharmaka beim älteren Patienten beeinflussen können, sind die Verminderung des Wassergehalts im Organismus, die Verminderung der Muskelmasse (Sarkopenie) und Zunahme der Fettmasse, sowie eine veränderte gastrointestinale Kinetik (Obstipationsneigung). Häufige klinische Syndrome beim geriatrischen Patienten Sturzneigung Jährlich stürzen circa 30 Prozent aller über 65-jährigen Menschen. Etwa 18 Prozent dieser Stürze haben eine schwerere Verletzung, bis zu zwölf Prozent eine Fraktur zur Folge. Die Einjahresmortalität nach einer Hüftfraktur beträgt bis zu 30 Prozent. Die Inzidenz der Stürze im eigenen Haushalt erreicht bei über 80-jährigen 40 Prozent, in Altenund Pflegeheimen liegt sie noch höher. Sturzgefahren und mögliche Ursachen müssen deshalb rechtzeitig erkannt werden, um präventive Maßnahmen zu treffen. Ursachen für Stürze können altersbedingte Erkrankungen darstellen wie cerebro- und kardiovaskuläre Erkrankungen, eine Beeinträchtigung des Seh- oder Hörvermögens, die Sarkopenie und Osteoporose mit Veränderungen in der Balance und eine Neuropathien (diabetische Neuropathie). Medikamente wie psychotrope Pharmaka, Antihypertensiva, Diuretika oder Antiparkinsonmedikamente tragen ebenfalls zum 38/39 Sturzrisiko bei. Die Sturzerfahrung für den älteren Patienten selbst kann zur Entwicklung des sogenannten „PostfallSyndroms“ führen. Das Sturzereignis stellt ein einschneidendes und beängstigendes Erlebnis dar, das einen Rückzug aus dem aktiven Leben, Perspektivlosigkeit und Depressionen zur Folge hat. Akute Verwirrtheit Eine akute Verwirrheit entwickelt sich innerhalb einer Zeitspanne von Stunden oder Tagen und geht mit einer Bewusstseinsstörung, das heißt einer reduzierten Klarheit der Umgebungswahrnehmung einher. Störungen des Neugedächtnisses, der Orientierung, der Sprache und/oder die Entwicklung einer Wahrnehmungsstörung sind somit typische Symptome, ebenso auch Veränderungen der Psychomotorik (rascher, nicht vorhersehbarer Wechsel zwischen Hypo- und Hyperaktivität, vermehrter oder verminderter Redefluss, verstärkte Schreckreaktion) und Veränderungen des Schlaf-Wachrhythmus. Zu den häufigsten Ursachen für eine akute Verwirrtheit zählen neurologische, internistische und psychiatrische Erkrankungen, Nebenwirkungen von Medikamenten, aber auch psychosoziale Belastungssituationen. Reizdeprivationen und Perzeptionsstörungen, wie der Verlust einer Brille, des Hörgeräts oder der Zahnprothese, sowie Dunkelheit und Einsamkeit können über illusionäre Fehlinterpretationen zur Verwirrtheit führen. Depression Die Altersdepression stellt eine wegen des hohen Suizidrisikos große Gefährdung für den alten Menschen dar. Im Vordergrund der Symptomatik der Altersdepression steht typischerweise die gedrückte Stimmung mit ausgeprägter Losigkeits-Symptomatik und Antriebshemmung. Vegetative Veränderungen wie Tachykardien, Hypo- oder Hypertonie, Obstipation oder Diarrhoe führen häufig zum Arztbesuch. Kognitive Defizite bei Depression können zum Bild der Pseudodemenz führen mit einer Verlangsamung der Denkprozesse, Konzentrationsstörungen, Wahrnehmungsbeeinträchtigungen und einer gestörten Gedächtnisleistung. Ein weiteres häufiges Symptom einer depressiven Störung im Alter ist Angst, mit Trennungsängsten und sozialen Ängsten. Auch ein Verarmungswahn oder hypochondrischer Wahn können im Rahmen einer Depression auftreten. Demenz Rund 55 Prozent aller Patienten mit Demenz leiden an der Alzheimer Erkrankung, zehn bis 15 Prozent an einer vaskulären Demenz und rund 15 Prozent an einer Kombination beider Formen. Degenerative motorische, zerebelläre beziehungsweise spinale Systemerkrankungen können ebenfalls zur einer Demenz führen. Die Prävalenz der Alzheimer-Erkrankung steigt ab dem 65. Lebensjahr kontinuierlich an. In der Bevölkerungsgruppe über 85 Jahre weisen rund 35 Prozent Anzeichen eines dementiellen Syndroms auf. Häufige Erkrankungen beim geriatrischen Patienten Koronare Herzerkrankung und Herzinsuffizienz Pectanginöse Beschwerden als typische klinische Symptome einer myokardialen Mangeldurchblutung bei koronarer Herzerkrankung können beim älteren Patienten fehlen, aufgrund einer Neuropathie kann sogar ein Myokardinfarkt stumm verlaufen. Als sogenannte KHK-Äquivalente gelten ventrikuläre Extrasystolien, Vorhofflimmern, Palpitationen, Dyspnoe, Kollaps beziehunsgweise Synkopen. Eine häufige Folge einer KHK ist die Herzinsuffizienz. Die chronische Herzinsuffzienz findet sich typischerweise beim älteren : › österreichische ärztezeitung ‹ 12 ‹ 30. juni 2007 : Menschen. Die Inzidenz beträgt in der Gesamtbevölkerung rund zwei Prozent und steigt bei über 65-Jährigen auf zehn Prozent an. Die Notwendigkeit für eine stationäre Bertreuung und die Mortalität nimmt in der höheren Altersgruppe deutlich zu. Pathophysiologisch führt der Alterungsprozess am Herzen zu einer zunehmenden Steifigkeit des linken Ventrikels. Eine diastolische Funktionsstörung stellt im höheren Lebensalter mit bis zu 50 Prozent die grundlegende Funktionsstörung des Herzens dar. Auch die klinische Symptomatik der Herzinsuffizienz ändert sich im höheren Lebensalter. Anstelle der typischen Anzeichen einer Herzinsuffizienz, wie Leistungsknick, Dyspnoe und Ödemneigung zeigen geriatrische Patienten cerebrale Funktionsstörungen, wie Agitiertheit, Verwirrtheit, sowie Appetitlosigkeit und Adynamie. Diabetes mellitus In den Industriestaaten liegt die Prävalenz des Typ 2-Diabetes in der Altersgruppe von über 70 Jahren bei 20 bis 25 Prozent. Lebensstilmaßnahmen stellen auch beim älteren Patienten die Grundlage in der Therapie des Diabetes mellitus dar. Die Ernährungsempfehlungen für den Diabetiker gelten altersunabhängig. Der bei über 70-Jährigen zu beobachtende altersassoziierte Gewichtsverlust ist dabei jedoch zu berücksichtigen, um einen ungewollten iatrogenen Gewichtsverlust zu vermeiden. Eine einseitige und strikte Diabeteskost ohne Anpassung an die Bedürfnisse älterer Menschen ist grundsätzlich abzulehnen. Generell gelten für den älteren Diabetiker die gleichen Stoffwechselziele wie für den jüngeren (besonders bei biologische jungen, aktiven und selbstständigen Personen), wenn diese unter Lebensstilführung und medikamentöser Therapie bei Aufrechterhaltung einer guten Lebensqualität erreichbar sind. Bei Nichterreichen der glykämischen Zielwerte unter alleinigen Lebens- 40/41 stilmaßnahmen wird der Einsatz von oralen Antidiabetika beziehungsweise Insulin empfohlen. Bei Metformin ist bei älteren Patienten die strikte Kontraindikation einer eingeschränkten Nierenfunktion zu beachten. Die appetithemmende Wirkung von Metformin ist bei kachektischen älteren Patienten ungünstig. Aufgrund einer Neigung zur Flüssigkeitsretention unter Glitazonen gilt die Herzinsuffizienz als Kontraindikation, dies bedeutet eine weitere Begrenzung der Behandlungsoptionen beim älteren Diabetiker. Bei einer Therapie mit Insulinsekretagoga (Sulfonylharnstoffderivate, Repaglinid) besteht bei inadäquater Ernährung beziehungsweise Dosierung die Gefahr einer Hypogly-kämie. Bei einer Indikation für eine Insulintherapie (Sekundärversagen oraler Antidiabetika, Akuterkrankungen) ist ein auf die Bedürfnisse des geriatrischen Patienten angepasstes Therapieregime zu wählen, mit einer eventuellen Insulinverabreichung durch Angehörige beziehungsweise mobile Hilfsdienste. Perioperatives Managment Für den geriatrischen Patienten kann sich typischerweise die Indikation für eine akute abdominalchirurgische (Appendicitis, Cholecystitis, Diverticulitis, obstruktive Tumore), eine gefäßchirurgische (Extremitätenischämie, Aneurysma, diabetisches Fusßsyndrom) oder eine unfallchirugisch/orthopädische Interventionen (Schenkelhalsfraktur) ergeben. Wichtig ist die sorgfältige internistische Untersuchung und Vortherapie, die Infektionsprophylaxe, der Einsatz von Cellsaver und Eigenblutspende bei elektiven Eingriffen, und vor allem die Frühmobilisierung und Thromboseprophylaxe. Zusammenfassung Hinsichtlich der vorliegenden Zusammenfassung von Charakteristika des geriatrischen Patienten soll grundsätzlich die Notwendigkeit der patientenund funktionsorientierten Medizin betont werden. Der geriatrische Patient ist durch sein höheres Lebensalter durch sein Leiden an mehreren Erkrankungen, eine häufig unspezifische klinische Symptomatik und eine verzögerte Genesung charakterisiert. Die Lebensqualität und die Wertvorstellungen älterer Menschen müssen bei der Planung der differentialdiagnostischen Abklärung und der Therapiemaßnahmen Berücksichtigung finden. Gespräche mit dem Patienten, seinen Angehörigen und Betreuern sind dafür eine wichtige Voraussetzung, wie auch das geriatrische Assessment und ein optimiertes Nahtstellenmanagment bei einer Entlassung aus dem Kranken9 haus. Literatur bei der Verfasserin Univ. Prof. Dr. Monika Lechleitner, Landeskrankenhaus Hochzirl/Anna-DengelHaus, 6170 Zirl; Tel: 05238/501; Fax-DW 55; E-Mail: [email protected] Berücksichtigung der physiologischen Veränderung der Vitalparameter im Alter • • • • • • • Anstieg des systolischen Blutdrucks Abfall der maximalen Herzfrequenz Orthostatische Dysregulation beeinträchtigte Thermoregulation (niedrigere Basistemperatur) beeinträchtigte Fieberreaktion abnorme Pulsoxymetrie <95 Prozent (bei ca. 25 Prozent) beeinträchtigte hepatische und renale Metabolisierung (Medikamenteninteraktion bzw. Nebenwirkung) Tab. 3 › österreichische ärztezeitung ‹ 12 ‹ 30. juni 2007