Leseprobe - Inkontinenz DRUCK AUF BLASE UND SEELE Wen Inkontinenz trifft, leidet besonders seelisch. Die meisten Betroffenen empfinden ungewollten Harnabgang als schweren Schlag für ihr Selbstwertgefühl – als peinvollen Kontrollverlust. Aus Scham den Kopf in den Sand zu stecken, bessert die Lebenssituation garantiert nicht. Inkontinenz lässt sich fast immer so behandeln, dass sie verschwindet oder die Freiheit im Alltag kaum noch einschränkt. WEIT MEHR ALS EIN MEDIZINISCHES PROBLEM Erwachsenen schlagen wenig gesundheitliche Störungen so auf das Gemüt wie Inkontinenz. Erwachsene streben nach Kontrolle. Wir haben gelernt, dass sich der Wert von Personen auch danach bemisst, wie gut man sein Leben und „sich im Griff“ hat. Unkontrollierbare Situationen im Alltag, in Beruf, auf Reisen sind aufregend, spannend, lästig oder ärgerlich. Kommt drauf an. Sie gehen vorüber, und zudem sind daran andere Menschen oder andere unwägbare Umstände beteiligt. Niemand trägt allein die Verantwortung für solche Momente. Voll zuständig sind wir jedoch für unseren Körper. Ihn sollen wir kontrollieren. Möglichst perfekt soll er sein. Die glänzende Welt der Stars und Models, Werbung und Medien erhöhen zunehmend den Druck, nach außen hin makellos zu erscheinen. Schon kleine Fehler gelten vielen als „unschicklich“, als Zeichen dafür, keine ausreichende Macht über die eigenen Bedürfnisse zu haben. Den eigenen Körper nicht beherrschen? Noch schlimmer! Das, so glaubt die Mehrheit der Betroffenen, ist höchstens bei Babys und Schwerkranken geduldet. Darum löst Inkontinenz häufig persönliche Krisen aus. Der Verlust an Kontrolle bedeutet für viele zugleich einen Verlust an Selbstwertgefühl, Attraktivität, Gesellschaftsfähigkeit – an eigener Identität. Wer dagegen nichts tut, läuft Gefahr, massiv Lebens freude einzubüßen. Manche Personen mit Inkontinenz ziehen sich völlig aus dem gesellschaftlichen Leben zurück. Sie isolieren sich sozial. Ihr Leben verarmt und führt nicht selten in tiefe Depressionen. DAS MENSCHLICHE „ABWASSERSYSTEM“ Am häufigsten entsteht Inkontinenz durch Störungen im Harnsystem. Aber auch die Geschlechtsorgane und Nervenschäden können dazu führen. Wer in Grundzügen weiß, wie der Unterleib aufgebaut ist und funktioniert, kann eher nachvollziehen, wodurch und wann dort Schwierigkeiten auftreten. Damit wird auch verständlicher, welchen Sinn verschiedene Behandlungen und die Vorbeugung haben. Der Weg des Harns Die mit Abstand meisten Ursachen für Inkontinenz finden sich im unteren Abschnitt des Beckens. Hier liegen die Harnblase und Harnröhre. Wenn sie nicht richtig funktionieren oder sich entzünden, können Probleme beim Wasserlassen bis hin zu Inkontinenz auftreten. In unmittelbarer Nähe zum Harnapparat befinden sich die Geschlechtsorgane. Zwischen beiden bestehen viele Verbindungen. Deshalb können Störungen an den Geschlechtsorganen ebenfalls zu Inkontinenz führen – genauso wie Schäden im Nervensystem, das auch an der komplizierten Steuerung von Blasenfüllung und -entleerung beteiligt ist. Weil Frauen und Männer bei der Fortpflanzung andere Funktionen erfüllen, hat die Natur sie zum Teil mit verschiedenen Eigenschaften und Organen ausgestattet. Einige dieser Unterschiede bedingen, dass Frauen öfter Inkontinenz entwickeln und sich ihre Harnwege häufiger entzünden. Dieses Kapitel beschreibt den Aufbau des weiblichen Unterleibs, einschließlich der Geschlechtsorgane. Es geht kurz auf den Weg des Harns von seiner Entstehung in den Nieren bis zum Austritt aus dem Körper am Ende der Harnröhre ein. Den männlichen Unterleib beschreibt Kapitel neun (Seite 139). Großes Becken, kleines Becken, Nierenbecken Auf seinem Weg durchläuft der Harn mehrere Bereiche im Unterleib, in deren Namen „Becken“ auftaucht: Becken: So heißt der Abschnitt des Körpers zwischen dem Bauch und den Beinen. Manchmal ist mit „Becken“ auch nur das knöcherne Becken, der Beckengürtel, gemeint. In seiner Mitte befindet sich das Kreuzbein, ein unterer Abschnitt der Wirbelsäule, an den sich noch das Steißbein anschließt. Das Kreuzbein ist auf beiden Seiten über Gelenke mit dem rechten und linken Hüftbein verbunden. Die Hüftbeine bestehen aus je drei Knochen, die in der Jugend zu einem verwachsen. Die Darmbeine bilden seinen oberen Teil, die Beckenschaufel. Sie ist bei schlanken Frauen gut sichtbar. Darunter schließen sich die Sitzbeine an. Diese formen die Sitzbeinhöcker, die unter dem Polster der Pobacken fühlbar sind. Das knöcherne Becken setzt sich nach vorne mit den Schambeinen fort. Sie laufen an der Körpervorderseite zur Schambeinfuge zusammen, die man ertasten kann. Das weibliche Becken ist größer als das männliche, damit Embryonen genug Platz haben, um heranzuwachsen. Doch mehr Raum bedeutet weniger Stabilität. Zudem strapazieren Schwangerschaften und Geburten die Bänder und Muskeln enorm, die alle Organe im Unterleib in ihrer Lage halten. Großes Becken: Es liegt im oberen, weiten Teil des Beckens über der Beckeneingangslinie und zählt zum Bauchraum. Kleines Becken: Das kleine Becken ist der Bereich unterhalb der Beckeneingangslinie, wo das Becken etwas trichterförmig zuläuft. Hier sitzen Organe wie der untere Abschnitt des Enddarms (Mastdarm, Rektum), Harnblase, Eierstöcke (Ovarien), Gebärmutter (Uterus) und Scheide (Vagina). Nierenbecken: Die zwei Nieren befinden sich oberhalb des Beckens auf beiden Seiten der Wirbelsäule. Der Ausdruck „Nierenbecken“ bezeichnet die oberen Enden der Harnleiter, wo sie sich an den Nieren zu einer Art Sammeltrichter für den Urin erweitern. TRAINING, TIPPS UND WISSEN Training kann ungünstiges Verhalten abstellen und Muskeln stärken. Dadurch verschwindet Inkontinenz häufig. Wenn nicht, gibt es aber hilfreiche Strategien, die das Leben enorm erleichtern. Vor - bereitung, kluge Planung und ein paar Kniffe können für Betroffene viele Situationen im Alltag, Beruf und auf Reisen beherrschbar machen und so helfen, ihre Ängste zu verringern. WAS HEILT UND HILFT OHNE MEDIKAMENTE? Nicht allein Medikamente und Operationen können Inkontinenz beheben oder deutlich bessern. Dazu sind auch Beckenbodengymnastik, Toilettentraining und ähnliche Therapien in der Lage, oft begleitend zu anderen Behandlungen. Teils unterstützen Apparate die Muskel- und Verhaltensübungen, etwa beim Biofeedback oder der Elektrostimulation. Sie verbessern meist die Wirkung. Trotzdem gelingt es leider nicht in jedem Fall, Inkontinenz abzustellen. Diese Personen müssen sich zwangsläufig an ein Leben mit Inkontinenz gewöhnen. Vielen fällt das verständlicherweise schwer. Inkontinenz schürt oft Selbstzweifel und Ängste – bereitet seelische Qualen. Zudem befürchten dauerhaft Betroffene extreme Verluste an ihrer Bewegungsfreiheit zu Hause, in Beruf und Freizeit. Doch der Alltag muss sich durch Inkontinenz nicht drastisch verändern. Viele mögliche Einschränkungen fallen durch sorgfältige Planung, Organisation und Hilfsmittel (Seite 115) weg oder viel schwächer aus. Um das zu erreichen, sollte man über einige Grundlagen Bescheid wissen: Welches Training, welche Hilfsmittel eignen sich für mich und wann? Wie hängen Inkontinenz und mein Lebensstil zusammen? Welches Verhalten ist günstig, welches ungünstig? Was ist in besonderen Situationen, etwa auf Veranstaltungen oder Reisen, zu beachten? Fachlich informieren statt ungezielt experimentieren Ein solides Kontinenztraining an Fachinstitutionen geht auf alle diese Punkte und weitere Fragestellungen ein. Fachliches Wissen führt schneller zum geeigneten Training, zur Genesung, zu den nützlichen Hilfsmitteln und besten Strategien für ein weitgehend unbeschwertes Dasein mit Inkontinenz. Betroffene, die auf Informationen und Schulungen verzichten, handeln sich fast immer Nachteile ein: Meistens kennen sie weder alle therapeutischen Möglichkeiten, noch alle Hilfsmittel und Tricks, die sie weiterbringen könnten. Worin bestehen die Unterschiede? Wo liegen mögliche Nachteile? Unwissende müssen experimentieren und viel Glück beim Ausprobieren haben, um voranzukommen. Häufig erleiden sie Rückschläge, steigen betrübt auf andere Möglichkeiten um, die oft erneut ins Leere laufen. Ein ausführliches Kontinenztraining beinhaltet in der Regel Schulungen, Gespräche, Therapien und viele Informationen, die eine Heilung begünstigen. Ebenso umfasst es Anleitungen, Ratschläge und Hinweise, die ein Leben mit Inkontinenz deutlich erleichtern. Die wichtigsten Informationen dazu enthalten auch die folgenden Abschnitte. Weil sie unweigerlich nur allgemeine Angaben präsentieren können, sind sie kein vollwertiger Ersatz für ein fachliches Kontinenztraining: Dies schließt auch individuelle Gespräche und Beratungen mit ein. Darin kommt etwa zur Sprache, wie einzelne Personen Kontinenz in ihrer speziellen Situation am schnellsten und besten erlangen und aufrechterhalten. Oder welche der zahlreichen Varianten von Einlagen, Pants, Kathetern und anderen Hilfsmitteln unter besonderen Umständen sinnvoll sind, wenn Inkontinenz andauert. NIE AUF EIGENE FAUST Nehmen Sie fachlich qualifizierte Kurse in Anspruch! Niemand sollte versuchen, sich auf eigene Faust Verfahren wie Beckenbodenübungen oder Verhaltenstherapien aus Broschüren, Büchern oder Videoclips anzueignen. Zu groß ist die Gefahr, sich falsche Dinge anzugewöhnen, die im ungünstigsten Fall sogar eine Genesung oder Besserung behindern können. Nachfolgende Abschnitte stellen die Grundprinzipien vor. Beispiele für Übungen sind hauptsächlich dazu gedacht, die Darstellung der Verfahren anschaulicher zu machen.