5 r e t s o P 2 1 Institut für Rechtsmedizin der Universität Hamburg Albertinen-Haus Hamburg. Zentrum für Geriatrie Ursachenzusammenhänge der Dekubitusentstehung Dekubitus und Medikation Fragestellungen Im Rahmen der Studie wurden für 100 Fälle (Dekubitus $Grad III) und 100 Kontrollen (Dekubitus #Grad II) retrospektiv potenzielle Risikofaktoren für Dekubitus ermittelt. Die Patienten wurden nach Geschlecht, Alter, Ernährungszustand und Grad der Immobilität im Verhältnis 1:1gematcht. Die Medikation als eigenständiger Risikofaktor rückte schnell in den Fokus, da sie in der Literatur und den Zusatzbefragungen des Projektes wenig thematisiert wird, aber statistisch auffällig war. 1. Ist die Anzahl der Medikamente ein Risikofaktor für die Entstehung (höhergradiger) von Dekubitus? 2. Werden bestimmte Medikamentengruppen (z.B. Sedativa) vermehrt bei Fällen verabreicht? 3. Wie ist das Thema Medikation, insbesondere die Verordnung von Sedativa, im Problembewusstsein von Pflegekräften und Ärzten verankert? Stichprobe und Methoden Kategorisierung der Medikation (Beispiel) Für die 200 Patienten der Fall-Kontroll-Gruppe wurde die Medikation dokumentiert. Dazu zählten alle ärztlich verordneten Arzneimittel. Angaben über die tatsächliche Einnahme bzw. Verabreichung und die Dosierung der Medikamente konnten aufgrund des retrospektiven Ansatzes nicht ermittelt werden. Die Medikamente wurden in Wirkstoffgruppen sowie nach den gewünschten bzw. unerwünschten Haupt- und Nebenwirkungen klassifiziert. Die Stichprobe weist einen Frauenanteil von 80% aus, einDurchschnittsalter von 85,7 Jahren, 86% der Patienten waren immobil, 66% wurden als kachektisch eingestuft. Generikum Wirkstoff Wirkstoffgruppe gewünschte Wirkung unerwünschte Wirkung* ACC® Acet-Aminoderivat Sekretolytikum 0 = keine Spasmolytikum Muskelrelaxans Baclofen® Acetylcystein Baclofen Adumbran® Oxazepam Benzodiazepin Decortin® (Salbe) Prednison Corticosteroid 1 = zentralnervös (mindert Reaktionsvermögen) Anxiolyse 2 = zentralnervös (sedierend) Antiphlogistikum, 3 = nicht zentralnervös Hormonersatz (verzögerte Wundheilung) *im Sinne der Förderung von Risikofaktoren für die Dekubitusgenese Ergebnisse 1. Häufigkeit von Medikamenten und Vergleich von Medikamentengruppen Die Anzahl der Medikamente weist die gesamte Stichprobe aus pharmakologischer Sicht als Risikogruppe aus (vgl. Tab. 1). Nur 26% der Patienten bekamen weniger als 5 Medikamente, nur 7% keine Medikamente mit zentralnervöser Haupt-oder Nebenwirkung. Im univariaten Vergleich zeigt nur die Gruppe der zentralnervös dämpfend wirkenden Medikamente einen signifikanten Unterschied zwischen Fällen und Kontrollen. Tab. 1: Medikamentenanzahl (n=200 Patienten) Anzahl der Medikamente (0) Standardabweichung Minimum-Maximum Fälle 6,0 3,0 0 - 18 Kontrollen 6,7 3,2 0 - 17 Gesamt 6,3 3,1 0 – 18 Tab. 2: Medikamentengrupen im Fall-Kontroll-Vergleich Medikations-Kategorie Kontrollen % ZNS-wirksame dämpfende Medik. 56 ZNS-wirksame aktivierende Medik. 12 Medikamente mit ZNS-Nebenwirkung 86 Medik. mit Wundheilungsstörungen 8 COX-Hemmer 27 Med. ohne Wirkung bzgl. Fragestellung 89 48 Multi-Medikation ($6 Präparate) Fälle % 71 16 83 13 33 89 38 p* 0,04 ns ns ns ns 1. Dekubitus und Medikation in der pflegerischen und ärztlichen Wahrnehmung Im Rahmen der Studie wurden auch Pflegekräfte (n=256) und Hausärzte (n=245) zu den Gründen für die Entstehung von Dekubitus befragt. Bekannte Risikofaktoren wie Immobilität, unzureichende Lagerung und Mangelernährung wurden häufig genannt. Der Einsatz von sedierender Medikation, aber auch eine schlechte Patienten-Compliance, beides signifikante Faktoren im Fall-Kontroll-Vergleich, sind scheinbar kaum im Problembewusstsein verankert (vgl. Abb. 1). Kritisch bei der Befragung von Pflegekräften war auch die Nennung von Faktoren, die kausal nicht mit der Dekubitusgenese verknüpft oder sehr unspezifisch sind (z.B: Hautzustand: 12,5% oder Allgemeinzustand: 16,8%). Es fand sich weiter, dass Kommunikation und Kooperation zwischen Ärzten und Pflegekräften Verbesserungspotenzale aufweisen, die durch die Befragungen identifiziert werden konnten. Es geht also nicht nur um die Wechselwirkungen der Medikation mit anderen dekubitusbezogenen Risikofaktoren, sondern auch um das interprofessionelle Versorgungs-Management bei Dekubitus. Abb. 1: Gründe für die Entstehung von Dekubitus in % (Auswahl) ns ns 60,2 Immobilität 70,9 *McNemar-Test, ns=nicht signifikant Lagerung 2. Fall-Kontroll-Vergleich Im Fall-Kontroll-Vergleich haben sich nur fünf Faktoren als signifikant erwiesen, die mit Entstehungsmechanismen von Dekubitus verbunden sind (pAVK) oder die Gradmesser für Pflegebedürftigkeit (Pflegestufe/ Kontrakturen/Compliance) sind (vgl. Tab. 3). Die Faktoren interkorrelieren miteinander; dies macht die Komplexität der Ursachen für Dekubitus deutlich und unterstreicht die Bedeutung sedierender Medikamente bei dekubitusgefährdeten Patienten. Tab. 3: Signifikante Faktoren im Fall-Kontroll-Vergleich (n=200) Pflegestufe 3 (n=198) pAVK Kontrakturen Compliance eingeschränkt ZNS-wirksame dämpfende Medikamente 30,1 26,6 Kontrollen % 33,0 7,0 28,0 76,0 56,0 Fälle % 51,0 19,0 44,0 89,0 71,0 p* 0,01 0,02 0,02 0,02 0,04 47,3 Ernährung 25,8 . . . . . 12,5 Hautzustand 1,2 5,5 Compliance 0,4 0,0 Sedativa 0,4 0 10 20 30 40 Pflegekräfte 50 60 70 80 Ärzte *McNemar-Test Zusammenfassung / Schlußfolgerungen Die Fall-Kontroll-Stichprobe weist sich aus pharmakologischer Sicht als ausgesprochene Risikogruppe aus: - Durchschnittlich erhielten die Patienten 6,3 Medikamente (SD=3,1) - 66% der Patienten erhielten Medikamente mit ZNS-Hauptwirkung - Nur 7% der Patienten erhielten keine Medikamente mit zentralnervöser Haupt- oder Nebenwirkung. - Medikamente mit Hauptwirkung aufs ZNS wurden signifikant häufiger bei Fällen angetroffen. - Der Einsatz von Medikamenten mit Wirkung auf das ZNS sollte kritisch hinterfragt werden. - Die Wechselwirkungen zwischen Dekubitus-Riskikofaktoren (z.B: Compliance - Medikamente - Neurologische Erkrankungen) sollten näher untersucht werden. - Im Rahmen der Weiter- und Fortbildung sollte die Medikation vermehrt thematisiert werden. Albertinen-Haus Zentrum für Geriatrie Sellhopsweg 18-22 22459 Hamburg [email protected] 1 T. Krause, J. Anders, H.P. Meier-Baumgartner Das Projekt wird gefördert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und der Robert Bosch Stiftung GmbH 2 A. Heinemann, K. Püschel