148 r Verhaltensbiologie 10 Genetisch bedingte Verhaltensweisen 10.1 Methoden und Fragestellungen der Verhaltensforschung Eines der sechs Kennzeichen des Lebens ist neben Wachstum, Bewegung, Stoffwechsel, Fortpflanzung und dem zellulären Aufbau die Reizbarkeit, d. h. die Fähigkeit der Organismen auf Reize zu reagieren. Beispiele • Eine Schnecke zieht den Fühler ein, wenn man ihn kurz berührt. • Ein Regenwurm versucht wieder in die Erde zu kriechen, wenn er von Lichtstrahlen getroffen wird. • Jeder Mensch zuckt „automatisch“ zurück, wenn er mit der Hand eine heiße Herdplatte berührt. • Auch Pflanzen zeigen Reaktionen auf Reize, z. B. das Schließen der Blüten bei Nacht oder die Klappbewegungen der Blätter einer gereizten Mimose. Das letzte Beispiel zeigt, dass auch Pflanzen eigentlich in den Bereich der Verhaltensforschung einbezogen werden müssten. Vor allem im Bereich der Einzeller ist eine Grenzziehung zwischen Tier und Pflanze problematisch, weil es nicht nur Tiere mit Geißeln gibt, sondern auch einzellige Algen, die sich mithilfe von Geißeln auf das Licht (als Reiz) zubewegen können. Im Bereich der höher entwickelten Pflanzen ist eine Abgrenzung leichter möglich, da Pflanzen und Tiere einen grundsätzlich verschiedenen Bauplan aufweisen. So besitzen Pflanzen kein Nervensystem. Bei ihnen findet daher auch keine Erregungsleitung, sondern nur eine Reizleitung statt, und die Bewegungen kommen nicht durch Muskelkontraktionen zustande, sondern aufgrund von Turgordruckunterschieden in speziellen Zellen. Vor allem wegen dieser prinzipiellen Unterschiede von Pflanzen und Tieren in den anatomischen Strukturen und den physiologischen Vorgängen wird der Begriff „Verhalten“ auf Tiere und den Menschen bezogen. Zum Verhalten tierischer Organismen zählen neben den eingangs beschriebenen Bewegungen auch Gebärden, Lautäußerungen, Duftabsonderungen infolge äußerer Reize sowie Aktionen aufgrund eines inneren Antriebs. Unter Verhalten versteht man alle äußerlich wahrnehmbaren Aktionen und Reaktionen eines tierischen Lebewesens. Verhaltensbiologie r 149 Um das Verhalten eines Tieres oder des Menschen zu verstehen, muss es zuerst genau beobachtet und beschrieben werden. Ein Katalog aller beobachtbaren Verhaltensweisen einer Tierart wird als Ethogramm bezeichnet. Zur Untersuchung einzelner Verhaltensaspekte und zur Überprüfung von Hypothesen führen die Verhaltensforscher häufig Freiland- und Laborversuche mit Tieren durch (Attrappenversuche, Lernexperimente), setzen moderne technische Hilfsmittel ein (tragbare Funksender, Radar) oder wenden molekularbiologische Untersuchungen an (genetischer Fingerabdruck, biochemische Analysen von Pheromonen oder Hormonen). Erst dann lässt sich die Frage nach dem Warum einer Verhaltensweise beantworten. Beispiel Warum quakt ein Frosch? Diese – wie es scheint – einfache Frage kann auf ganz unterschiedliche Weise beantwortet werden: • Ein Frosch quakt, weil im Frühjahr die Konzentration bestimmter Hormone im Körper eines männlichen Frosches ansteigt. Darauf reagieren Nervenzellen, die die Schallblasen steuern. • Ein Frosch quakt, weil es ihm angeboren ist. Seine Gene steuern die Entwicklung der körperlichen Strukturen, die Voraussetzung für die Lauterzeugung und das Instinktverhalten sind. Diese Antworten beziehen sich auf die Mechanismen des Verhaltens hinsichtlich der Steuerung und Entwicklung. Diese Mechanismen werden auch als proximate Wirkursachen bezeichnet. Andere Antworten auf dieselbe Frage können auf die Funktion des Verhaltens, also auf die ultimaten Zweckursachen, eingehen: Beispiel Warum quakt ein Frosch? • Ein Frosch quakt, um ein fortpflanzungsbereites Weibchen anzulocken und andere Männchen von sich fernzuhalten. • Ein Frosch quakt, um bei der Fortpflanzung erfolgreicher zu sein. • Ein Frosch quakt, weil es sich im Laufe der Evolution als Selektionsvorteil erwiesen hat. 150 r Verhaltensbiologie 10.2 Unbedingte Reflexe Reflexe sind die einfachsten Formen von Verhalten infolge eines bestimmten Reizes. Ein Reflex läuft auf den gleichen auslösenden Reiz hin unter gleichen Bedingungen immer in derselben Form ab, auch wenn er wiederholt nacheinander ausgelöst wird. Die Reaktion erfolgt schnell und „automatisch“, z. B. wenn beim versehentlichen Berühren einer heißen Herdplatte die Hand blitzschnell zurückgezogen wird. Das Bewusstsein und der Wille sind nicht beteiligt. Reflexartiges Verhalten ist immer dann sinnvoll, wenn es in einer Gefahrensituation eher nachteilig wäre, lange zu überlegen und abzuwägen. Bei einem Reflex erfolgt auf einen bestimmten auslösenden Reiz hin unter gleichen Bedingungen immer dieselbe Reaktion. Die Reaktion ist schnell, unbewusst, unwillkürlich und beliebig oft wiederholbar. Die Bedeutung von Reflexen liegt vor allem in ihrer Schutzfunktion für das Lebewesen. Beispiele Die bereits dem Säugling angeborenen Reflexe dienen zum Überleben in den ersten Lebenswochen und -monaten. Neugeborene können saugen und schlucken, ohne dies lernen zu müssen, da diese Reflexe für ihre Ernährung lebenswichtig sind. Da ihre Hirnrinde noch nicht so weit ausgebildet ist, um Lernvorgänge zu bewältigen, übernehmen Stammhirn und Rückenmark die Steuerung von Reflexen. Pupillenreflex beim Menschen ⇒ Schützt das Auge vor zu starkem Lichteinfall. Lidschlussreflex beim Menschen, bei Annäherung eines Gegenstandes an das Auge wird das Lid geschlossen. ⇒ Schützt vor Verletzungen des Auges. Kniesehnenreflex beim Menschen, beim Schlag auf die Sehne unterhalb der Kniescheibe schnellt der Unterschenkel unwillkürlich nach vorne. ⇒ Schützt beim Stolpern vor dem Hinfallen, da der Unterschenkel vorschnellt und somit das Gleichgewicht besser gehalten werden kann. Husten- und Niesreflex beim Menschen ⇒ Befördert eingedrungene Fremdkörper aus der Luftröhre und Nase. Totstellreflex von Insekten ⇒ Schützt vor weiteren Angriffen.