Das Frontzahntrauma - Aktuelle diagnostische und therapeutische

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Das Frontzahntrauma - Aktuelle diagnostische und therapeutische Aspekte
Einleitung
von PD Dr. Herbert L. W. Deppe, PD Dr. Dr. Manfred Zimmermann, PD Dr. Dr. Robert Sader, PD Dr. Dr.
H.-F. Zeilhofer
Fundierte Kenntnisse in der zahnärztlichen Chirurgie stellen eine unabdingbare Voraussetzung für die
erfolgreiche Akutversorgung traumatisch geschädigter Zähne und benachbarter anatomischer Strukturen
dar. Gravierende Verletzungsmuster wie Wurzelfrakturen und Luxationen sind auch unter Ausschöpfung
aller therapeutischer Hilfsmittel häufig nur mittelfristig beherrschbar und bedingen umfangreiche
implantologische, prothetische oder kieferorthopädische Folgebehandlungen. Die Prognose nach
Frontzahntrauma ist von zahlreichen Faktoren, wie der Richtung und Stärke der Gewalteinwirkung, der
extraoralen Verweildauer und dem gewählten Lagerungsmedium, der Regenerationsfähigkeit von Pulpa und
Desmodontalfibroblasten abhängig. Nachfolgend werden die aktuell gültigen diagnostischen und
therapeutischen Prinzipien dentoalveolärer Traumata dargestellt.
Andreasen (4) stützte sich in seinen Arbeiten zur Frontzahntraumatologie auf eine 1978 von der WHO
vorgestellte systematische Einteilung, die nach Verletzungen der Zahnhartsubstanz und Pulpa, des
Parodontiums, des periradikulären Knochens sowie der Gingiva und oralen Mukosa differenziert. Nentwig et
al. (12) definierten das schwere Frontzahntrauma unter therapeutischen Gesichtspunkten als eine derartig
starke Strukturschädigung der betroffenen Zähne, dass ohne sofortige Behandlungsmaßnahmen deren Verlust
droht.
Hierzu zählen die intraalveolären Frakturen der Zahnhartsubstanz, welche topographisch dem zervikalen,
dem mittleren oder dem apikalen Wurzeldrittel zugeordnet werden können (4, 8). Bei den Luxationsformen
kann man eine partielle periphere Luxation mit Dislokation von einer totalen peripheren Luxation
(Totalluxation) sowie eine zentrale Luxation (Intrusion) unterscheiden.
Neben der Richtung und Intensität der Gewalteinwirkung beeinflussen das Alter des Patienten, der
Mineralisationsgrad des periradikulären Knochens sowie der Entwicklungsgrad des Wurzelwachstums die
Traumafolgen entscheidend. Bei analogem Entstehungsmechanismus treten daher in der ersten Dentition und
während des Zahnwechsels vermehrt Zahnluxationen, im permanenten Gebiss hingegen häufiger
Wurzelfrakuren auf. Darüber hinaus begünstigt eine indirekte, weiche Krafteinleitung über die
Weichteilpolster intraalveoläre Brüche und Luxationen, während ein direktes, hartes Trauma meist eine
Schädigung der Zahnkronen nach sich zieht. Zentrale oberere Inzisivi sind auf Grund ihrer exponierten
Stellung etwa zehnmal stärker betroffen als ihre Antagonisten. Als ursächliche Faktoren sind
Sturzverletzungen bei Sport und Spiel, Verkehrsunfälle sowie Roheitsdelikte zu nennen (8).
Befundung und Diagnostik
Die Behandlung frisch verunfallter Patienten orientiert sich an den in der Notfallmedizin gültigen
Grundregeln. Demzufolge ist bezüglich des diagnostischen und therapeutischen Vorgehens zwischen
polytraumatisierten Patienten und solchen mit isolierten Verletzungen des Zahnsystems zu unterscheiden. Bei
primär nicht ansprechbaren Patienten hat die Beurteilung der kardialen, pulmonalen und neurologischen
Gesamtsituation sowie die Sicherstellung der Vitalfunktionen durch einen entsprechend ausgebildeten Arzt
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Vorrang. Vor einer erforderlichen Intubation ist eine kurze intraorale Inspektion zu empfehlen, um
Verlagerungen von Zähnen oder Zahnanteilen in die Atemwege zu vermeiden. Zudem können
Blutungsquellen, offene Frakturen, Hartsubstanzdefekte, Zahnverluste und -fehlstellungen sowie
Okklusionsstörungen sicher erkannt werden. Auf Grund der hohen Aspirationsgefahr müssen totalluxierte
Zähne, die eventuell durch die Wucht des Unfallgeschehens in den Rachenraum verlagert sein können sowie
stark dislozierte Zähne umgehend entfernt werden.
Die Untersuchung primär ansprechbarer Patienten beginnt mit der Anamneseerhebung, wobei
Erinnerungslücken, Bewusstseinsstörungen oder Übelkeit mit Brechreiz den Verdacht einer zerebralen
Mitbeteiligung nahe legen. Diese erfordern eine sofortige fachärztliche Abklärung. Neben möglichen
Risikofaktoren ist der Impfstatus zu erfragen und gegebenenfalls eine Tetanusprophylaxe durchzuführen.
Nach sorgfältiger Entfernung von Verunreinigungen und Blutkrusten werden Weichteilwunden unter
Lokalanästhesie mittels stumpfer Sonde genau exploriert, um Tiefe und Ausdehnung der Gewebeschädigung
zu erfassen und eventuell eingedrungene Fremdkörper zu lokalisieren.
Bei allen im traumatisierten Areal vorhandenen Zähnen wird manuell die Perkussionsempfindlichkeit und der
Lockerungsgrad überprüft. Als zusätzliche Untersuchungsmethoden können die Kaltlichtdiagnostik sowie ein
elektrischer oder thermischer Sensibilitätstest zur Anwendung kommen. Letztere sind jedoch bisweilen nur
bedingt aussagekräftig. Der posttraumatische Schockzustand des pulpalen Gewebes mit unterschiedlich
ausgeprägter Funktionseinbuße der nervalen Elemente - bedingt durch ein reversibles Ödem in deren
Markscheiden - kann trotz erhaltener Vitalität bis zu einem halben Jahr eine negative Sensibilität bedingen.
Andererseits lässt sich auch bei bereits nekrotisch zerfallenem Markorgan gelegentlich ein fälschlicherweise
positiver Befund erheben.
Zusätzlich wird eine radiologische Untersuchung durchgeführt, um einerseits das Ausmaß der
Hartgewebetraumatisierung exakt zu erfassen und andererseits klinisch unauffällige Wurzelfrakturen nicht zu
übersehen. Zur Orientierung im Frontbereich haben sich Aufbissaufnahmen als nützlich erwiesen. Die
genauere Evaluation erfolgt üblicherweise mit Zahnfilmen in Rechtwinkel-, Steil- oder Flacheinstellung bzw.
in mesial- oder distalexzentrischer Projektionsrichtung, wobei sich bei queren und schrägen Wurzelfrakturen
häufig ein elliptischer Spalt mit einer deutlichen apikalen und koronalen Begrenzung darstellt. Zudem sind
Röntgenaufnahmen in zwei senkrecht zueinander stehenden Ebenen zum Ausschluss von Kieferfrakturen
anzufertigen.
Da nicht selten Versicherungen oder Gerichte Auskünfte einholen, müssen alle erhobenen Befunde und
durchgeführten Manipulationen möglichst auf einem standardisierten Erhebungsboden schriftlich
niedergelegt werden (4, 8, 12).
Therapeutische Prinzipien
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Bereits am Unfallort ist auf eine möglichst kurze extraorale Verweildauer
sowie eine richtige Lagerung totalluxierter Zähne zu achten, wobei die
Aufbewahrung idealerweise in einer Zahnrettungsbox erfolgen sollte (9) (s.
Abb.). Alternativ eignet sich auch pasteurisierte, homogenisierte H-Milch,
sowie eingeschränkt 0,9 prozentige NaCl-Lösung (1, 17, 18). Die ältere
Empfehlung, die speichelfeuchte Wangentasche des Patienten als
"physiologisches Milieu" zum Transport exkorporierter Zähne zu nutzen,
gilt als überholt, da bei plötzlicher Eintrübung des Verletzten
lebensbedrohliche Komplikationen durch Verschlucken oder Aspiration
auftreten können (8).
Ziel jeder Wundbehandlung ist es, durch Wundrevision, Reposition und Fixation der betroffenen Gewebe in
anatomisch korrekter Lage optimierte Bedingungen für die körpereigenen Reparations- und
Regenerationsprozesse zu schaffen. Insbesondere bei Zahnverletzungen spielt auf Grund der trophisch
ungünstigen Situation von Pulpa, Parodontium und Hartgeweben der Zeitfaktor eine wesentliche Rolle, so
dass deren initiale Versorgung dem Management akzessorischer Weichteilverletzungen zeitlich möglichst
vorangestellt werden sollte (3). Zur schonenden Wundreinigung und -desinfektion haben sich physiologische
Kochsalzlösung, dreiprozentiges Wasserstoffperoxid und zweiprozentiges Chlorhexidindigluconat bewährt.
Als wichtigstes therapeutisches Hilfsmittel bei der Behandlung wurzelfrakturierter oder luxierter Zähne ist
der stabilisierende Schienenverband anzusehen. Dieser darf weder die statische bzw. dynamische Okklusion
noch die Mundhygienefähigkeit beeinträchtigen. Als praktikable Varianten haben sich einfache oder
drahtbügelverstärkte, parodontalfreie Komposit-Schienen sowie aus der Kieferorthopädie übernommene
Bracket-Schienen erwiesen. Die in der konservativen Kieferbruchversorgung üblichen
Metall-Kunstsstoff-Schienen, die mit Drahtligaturen unterhalb des Zahnäquators befestigt werden, sind auf
Grund der Extrusionswirkung ungeeignet. Zum Schutz vor übermäßiger okklusaler Krafteinleitung sowie bei
ungenügenden Retentionsflächen im Milch-, Wechsel- oder Lückengebiss kann zusätzlich eine abnehmbare,
zwei Millimeter starke Tiefziehschiene eingegliedert werden (3, 6, 8).
Auf die Notwendigkeit eines ausreichenden Tetanusschutzes sowie einer antibiotischen Infektionsprophylaxe
bei umfangreicher Weichgewebsbeteiligung sei hingewiesen.
Nachfolgend werden diejenigen dentoalveolären Verletzungsformen, die einer zahnärztlich-chirurgischen
Intervention bedürfen, systematisch abgehandelt und die aktuell empfohlenen Therapierichtlinien dargestellt.
Kronenfrakturen
Traumatogene Schmelz- oder Dentinfrakturen können ohne oder mit Eröffnung des Pulparaums vorliegen.
Therapeutisch ist zur Vitalerhaltung des Markorgans umgehend eine direkte bzw. indirekte Überkappung
durch lokale Applikation von Calciumhydroxid-Präparaten angezeigt. Die Wiederherstellung der
geschädigten Zahnkrone in Funktion und Ästhetik erfolgt anschließend über Aufbaufüllungen aus
lichthärtendem Kunststoff, Inlays oder Veneers aus Keramik sowie Verblendmetallkeramikkronen. Die
Prognose ist in der Regel als sehr günstig anzusehen. Routinekontrollen der Pulpasensibilität über vier bis
acht Wochen werden allerdings angeraten (4).
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Wurzelfrakturen
Auf Grund der vergleichsweise geringen Traumatisierung der Desmodontalarchitektur sowie des
Gefäß-Nervenbündels am Foramen apicale konsolidieren nicht oder nur mäßig dislozierte intraalveoläre
Frakturen häufig komplikationslos. Wenngleich eine Restitutio ad integrum analog der Knochenheilung
ausgeschlossen ist, kann eine Überbrückung des Bruchspaltes durch Sekundärdentin und Osteozement bzw.
die Einlagerung von derbem Bindegewebe oder von spongiösem Knochengewebe dennoch eine langfristig
uneingeschränkte Funktionstüchtigkeit des betroffenen Zahnes ermöglichen. Entscheidend für den
Therapieerfolg ist eine exakte Reposition und funktionsstabile Immobilisation der Wurzel durch einen
Schienenverband über acht bis zwölf Wochen unter regelmäßigen Sensibilitätstests. Bei sicher
nachgewiesener Devitalität der Pulpa ist rechtzeitig eine wandständige, bakteriendichte Wurzelfüllung zur
Vermeidung endzündlicher Granulationsgewebereaktionen im Bereich des Frakturspalts, des parodontalen
Ligaments sowie des periradikulären Kieferknochens vorzunehmen. Hierbei haben sich besonders Systeme
zur endodontalen Kompressionsverschraubung als nutzbringend erwiesen (2-5, 8, 12-14).
Bei stärkerer axialer Abweichung der Wurzelfragmente resultiert meist eine großflächige Zerreissung des
Zahnhalteapparats und ein vollständiger Pulpaabriss. Ohne endodontische Maßnahmen sind konsekutiv eine
Nekrose des Markorgans sowie eine progressive Resorption von Dentin, Zement und alveolärem Knochen im
Bruchspaltbereich zu erwarten (1-4, 14). Verläuft die Frakturlinie im zervikalen Wurzeldrittel, bietet sich als
definitive prothetische Versorgung eine mittels Stiftaufbau fixierte Krone an, wobei nach Extraktion des
peripheren Segments häufig primär noch eine modellierenden Osteotomie zirkulär um den verbliebenen
Wurzelanteil oder sogar dessen kieferorthopädische Extrusion notwendig ist. Bei einem Bruch der Wurzel in
der Apikalregion kann eine Wurzelspitzenresektion vorgenommen werden. Hierbei wird nach operativer
Entfernung des proximalen Fragments das Kanallumen mittels einer biokompatiblen Wurzelfüllmasse
versiegelt und gegebenenfalls im Bereich des Neoapex ein konischer Verschlussstift aus Titan oder
Al2O3-Keramik inseriert.
Auf Grund der topographischen Lage gestaltet sich die Behandlung von Quer- oder Schrägfrakturen im
mittleren Wurzelbereich am schwierigsten. Zur Wiedervereinigung der beiden Wurzelanteile sind die
intradentale Schienung mit individuell gegossenen oder präfabrizierten Metallstiften sowie die intrakanaläre
Verschraubung mit speziell genormten Kompressionssystemen. Soll der apikale Wurzelrest operativ entfernt
werden, bieten sich als Methoden der Wahl die Stiftverbolzung und die orthograde transdentale Fixation an.
Während bei ersterer der transkanalär eingebrachte Stabilisator die Wurzel lediglich überragt und ein
Fixierungseffekt erst durch dessen allmähliche knöcherne Einmauerung stattfindet, erfolgt bei letzterer eine
transneoapikale Verankerung im gegenüberliegenden Knochenlager (Abb. 2 - 6). Alternativ kann auch eine
Replantation mit retrograd einzementiertem Al2O3- oder Titanstift durchgeführt werden, womit sich ebenfalls
eine sofortige Stabilisierung und in Folge auch rasche Funktionalisierung erzielen lässt (4, 8, 12).
Wurzellängs- und Splitterfrakturen sind prinzipiell nicht therapierbar und bedingen die Extraktion der noch
vorhandenen Zahnfragmente.
Abb. 2:
Komplexes Frontzahntrauma mit Zahnluxationen und
Wurzelfrakturen
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Abb. 3:
Darstellung einer transdentalen Fixation
Abb. 4:
Reposition des transdental fixierten Zahnfragments
Abb. 5:
Behandlungsergebnis nach Abschluss der Wundheilung
5
Abb. 6:
Luxationsverletzung mit Dislokation an den Zähnen 12 und 11
Kontusionen
Sie stellt von allen traumatischen Frontzahnverletzungen den geringsten Schädigungsgrad dar. Dabei liegt
eine Stauchung oder Zerrung des parodontalen Ligaments und der Pulpa vor. Es treten weder
Stellungsanomalien noch eine abnorme Zahnbeweglichkeit auf, vereinzelt werden jedoch eine starke
Mineralisation des Pulpakavums bis zur vollständigen Obliteration sowie Nekrosen des Markorgans
beobachtet. Therapeutisch ist eine vorübergehende Schonung des zunächst meist aufbissempfindlichen
Zahnes während der Nahrungsaufnahme ausreichend. Gegebenenfalls ist eine circa zweiwöchige
Ruhigstellung mit einer Komposit-Schiene und bei starkem okklusalem Kontakt eine Einschleifmaßnahme
indiziert. Die posttraumatische Reaktion der Pulpa muss durch regelmäßige Sensibilitäts- und
Röntgenkontrollen über mindestens sechs Monate überwacht werden. Sobald sich Symptome einer Pulpitis
oder eine beginnende Verfärbung im Kronenbereich abzeichnen, ist unverzüglich eine endodontische
Versorgung vorzunehmen (4, 8, 12).
Luxationen ohne Dislokation (Subluxation)
Das klinische Bild ist dadurch gekennzeichnet, dass der traumatisierte Zahn keine fixierte Positionsänderung,
jedoch eine unterschiedlich stark ausgeprägte Lockerung aufweist. Durch die einwirkende Kraft werden
größere Anteile der Sharpeyschen Faserbündel zerrissen. Gleichzeitig kommt es zu einer Dehnung bzw.
Stauchung des knöchernen Alveolarfachs sowie einem Kontinuitätsverlust des gingivodentalen Attachments.
Der unter Schmerzen bewegliche, aber nicht dislozierte Zahn wird für vier bis sechs Wochen mit einem
Schienenverband ruhiggestellt. Zusätzlich sind über einen Zeitraum von sechs bis zwölf Monaten regelmäßig
klinische und radiologische Nachuntersuchungen erforderlich. Beginnende Aufbiss- oder
Klopfempfindlichkeit sowie Farbveränderungen der Krone sind deutliche Anzeichen einer Pulpanekrose und
erfordern eine endodontische Therapie (3, 12, 14).
Partielle periphere Luxationen mit Dislokation
Die traumatogene Auslenkung der Wurzel, die in den meisten Fällen mit einer Fraktur der Alveolarwände
einhergeht, bewirkt einen nahezu vollständigen Abriss der parodontalen Faserbündel und der marginalen
Gingivamanschette sowie eine komplette Durchtrennung des Gefäß-Nervenstrangs am Foramen apicale. Die
Primärversorgung beinhaltet die vorsichtige Reposition des in abnormer Lage fixierten Zahnes sowie die
6
funktionsstabile Ruhigstellung in anatomisch korrekter Position über sechs bis acht Wochen (Abb. 7 und 8).
Abb. 7:
Reposition der luxierten Zähne und Fixierung mit einer
aus der Kieferorthopädie übernommenen
Bracket-Schienung
Abb. 8:
Behandlungsresultat nach Entfernung der Schiene
Da bei abgeschlossenem Wurzelwachstum in der Regel mit einem Absterben des Markorgans zu rechnen ist,
sollte frühzeitig eine Wurzelkanalbehandlung eingeleitet werden. Damit kann endzündlich bedingten
periradikulären Osteolysen und externen Wurzelresorptionen, die therapeutisch nicht beeinflussbar sind,
vorgebeugt werden (1, 5, 8, 12, 14).
Totale periphere Luxationen (Totalluxation, Exartikulation)
Diese schwerwiegendste und prognostisch überaus problembehaftete Form traumatischer Zahnschäden ist
dadurch charakterisiert, dass die Gewalteinwirkung den betroffenen Zahn unter vollständiger Abtrennung der
Pulpa sowie des parodontalen und gingivalen Ligaments in toto aus seinem knöchernen Alveolarfach
herausgelöst hat. Entscheidend für den Erfolg der Reintregrationsbemühungen ist die Vitalität des
Wurzelhautüberzugs auf der Zementoberfläche. Diese wird von der primären mechanischen
Gewebeschädigung, dem Zeitraum zwischen Trauma und Wiedereinpflanzung sowie dem für die extraorale
Zwischenlagerung gewählten Medium bestimmt (1, 3, 14). Während bei trockener Aufbewahrung die
Überlebensspanne der Desmodontalfibroblasten lediglich 30 Minuten beträgt, erhöht sich diese in
0,9-prozentiger Kochsalzlösung auf 60 bis 90 Minuten und unter Verwendung von H-Milch auf 120-180
Minuten (1, 17, 18).
Die an der Gießener Poliklinik für Zahnärztliche Chirurgie entwickelte Zahnrettungsbox kann durch ein
Zellkulturmedium mit antibiotisch-antimykotischen Zusätzen eine extraalveoläre Verweildauer von bis zu 48
Stunden ermöglichen (9). Sie ist in jeder Apotheke erhältlich.
Therapeutisch kommen die Replantation des totalluxierten Zahnes, der kieferorthopädische oder prothetische
Lückenschluss sowie bei abgeschlossenem Kieferwachstum die verzögerte Sofortimplantation in Frage (7, 8,
7
15, 16). Bei jugendlichen Zähnen mit noch weit offenem Foramen apicale und nach kurzer extraoraler Phase
kann nach vorsichtiger Reposition und Schienungsbehandlung eine Revaskularisierung des Markorgans
eintreten. Im Erwachsenenalter ist dagegen mit einer Reanastomosierung der Gefäß-Nervenversorgung nicht
mehr zu rechnen und daher eine simultane endodontische Behandlung angezeigt. Trotz Verschmutzung und
Keimbelastung darf die Wurzeloberfläche aber lediglich gründlich mit körperwarmer physiologischer
NaCl-Lösung abgespült werden. Eine mechanische Reinigung oder chemische Desinfektion ist unter der
Prämisse, alle anhängenden Desmodontalzellen strikt zu schonen, kontraindiziert (8, 12). Lassen die äußeren
Umstände hingegen vermuten, dass das Parodontalgewebe bereits komplett zu Grunde gegangen ist,
empfiehlt Andreasen (4) die radikale Kürettage der nekrotischen Wurzelhaut und eine konsekutive
Natriumfluorid-Touchierung, um resorptive Prozesse am Zahnhartgewebe zumindest zu verlangsamen.
Klinisch gut bewährt haben sich neben der konventionellen Wurzelfüllung mit plastischen Materialien
besonders die Verfahren der orthograden transdentalen Fixation sowie der autoalloplastischen Replantation
mit von retrograd mittels innengekühlter, normierter Schaftlochbohrer eingebrachter Al2O3- oder Titanstifte.
Diese geschlossenen Implantate, die zugleich eine interne Schienung der Wurzel sicherstellen, überragen die
ursprüngliche Wurzellänge um mehrere Millimeter. Damit wird eine ausreichende ossäre Verankerung des
Replantats sichergestellt, so dass häufig auf zusätzliche Schienungsmaßnahmen verzichtet und der Zahn
frühzeitig wieder kaufunktionell belastet werden kann. Dies wirkt einer unerwünschten ankylotischen
Einheilung entgegen.
Die verwendeten Transfixations- und Replantationsstifte dienen bei fortschreitender Wurzelresorption als
Ersatzwurzel und können nach endgültigem Zahnverlust auf Grund ihrer bindegewebigen Einscheidung
wieder relativ leicht explantiert werden (9, 11, 12).
Die an Replantaten häufig beobachteten resorptiven Vorgänge unterscheiden sich in Schweregrad und
Progredienz grundlegend voneinander (12, 13). Als günstigste Variante ist die Oberflächenresorption mit
Ausbildung eines normalen Desmodontalspalts anzusehen, wobei die entstehenden Resorptionsbuchten
sekundär mit zellhaltigem Osteozement ausgefüllt werden. Die Substitutionsresorption mit Ankylosierung ist
durch eine über Jahre langsam fortschreitende lakunäre Resorption der Zahnwurzel mit konsekutivem Ersatz
der abgebauten Areale durch alveolären Knochen gekennzeichnet. Vor allem im jugendlichen Alter fällt
dagegen die progressiv entzündliche Resorption durch eine foudroyant verlaufende lakunenförmige
Zerstörung der Wurzeloberfläche und des umgebenden Alveolarfachs auf und weist somit eine überaus
schlechte Langzeitprognose auf (1, 4, 8, 14).
Grundsätzlich ist zu bedenken, dass die vorgenannten Resorptionstypen sogar gleichzeitig am selben Zahn in
unterschiedlicher Lokalisation vorkommen können und vor allem die beiden letzteren in nicht voraussagbarer
zeitlicher Abfolge ineinander übergehen können. Eine postreplantäre Überlebenszeit von mehr als fünf
Jahren ist die Ausnahme und allgemein gelten derartig vorgeschädigte Zähne lediglich als temporärer
Lückenhalter bis zur endgültigen prothetischen oder implantologischen Versorgung (5, 7, 8, 12).
Zentrale Luxationen (Intrusion)
Durch die traumatische Eintreibung des Zahnes in den alveolären Knochen kommt es zu einer ernsthaften
Schädigung von Pulpa und Zahnhalteapparat. Die klinische Krone erscheint verkürzt oder verschwindet im
Extremfall vollständig unter der Schleimhaut, die Wurzel ist fest im umgebenden Hartgewebe verkeilt. Im
frühen Wechselgebiss ist diese Verletzungsform differentialdiagnostisch immer von im Druchbruch
befindlichen Zähnen zu unterscheiden. Auf eine spontane Wiedereinstellung darf nur bei nicht
abgeschlossenem Wurzelwachstum vertraut werden. Auch in diesen Fällen kann es rasch zu einer massiven
Ankylosierung mit konsekutiv persistierender Infraposition kommen. Initial ist eine chirurgische
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Dekompression und ausreichende Retention durchzuführen, um die Ausbildung einer pseudodesmodontalen
Bindegewebsschicht zwischen Wurzelzement und knöchernem Lager zu begünstigen (ausgenommen ist
hiervon das Milchgebiss, siehe unten). Anlässlich der erforderlichen Nachkontrollen muss regelmäßig die
Vitalität der Pulpa verifiziert und bei Ausbleiben der Spontaneruption eine kieferorthopädische
Extrusionstherapie eingeleitet werden. Trotz aller therapeutischer Bemühungen ist das Auftreten von
Wurzelresorptionen wahrscheinlich und die Prognose für den geschädigten Zahn somit fraglich (6, 8, 10, 12,
13).
Alveolarfortsatzfrakturen
Klinisch imponiert hierbei eine Gruppe von mehreren Zähnen, die gegeneinander nicht beweglich sind,
jedoch gegenüber der Umgebung eine abnorme Mobilität und/oder deutliche Dislokation erkennen lassen.
Dem Verlauf der Frakturlinien gehorchend, liegen die Wurzeln entweder vollständig im Knochenfragment
eingebettet oder sind im Bereich der Apices verlagert, was konsekutiv stets einen Abriss der Pulpa bedingt.
Wie in der allgemeinen Frakturlehre beschrieben, ist für die ossäre Regeneration eine sorgfältige Reposition
und drei- bis vierwöchige Ruhigstellung der Bruchstücke über dental fixierte Schienenverbände notwendig.
Alternativ kann eine operative Stabilisierung unter Einbringen von Osteosyntheseplatten erfolgen. Offene
Frakturen sind generell zu revidieren. Bei Trümmerfrakturen werden alle periostgestielten Knochensegmente
belassen und anatomisch korrekt reponiert. Im Falle von Wurzelfrakturen oder Pulpanekrosen muss
rechtzeitig extrahiert oder endodontisch interveniert werden, um den knöchernen Heilungsverlauf nicht durch
eine odontogene Infektion zu beeinträchtigen (8, 12).
Milchzahntrauma
Hier haben die bisher gegebenen Therapieempfehlungen nur beschränkt Gültigkeit. Therapeutisch steht die
Integrität der Zahnkeime der permanenten Dentition im Vordergrund. Da die Milchschneidezähne keine
Platzhalterfunktion erfüllen, ist ihre Replantation nach starker peripherer oder totaler Luxation nicht
angezeigt. Bei Subluxationen und mäßigen Dislokationen sollte reponiert und geschient werden, wobei auf
Grund der geringen Retentionsflächen an den Milchzähnen häufig auf kompromissbehaftete Tiefzieh- oder
Kunststoff-Kappen-Schienen zurückgegriffen werden muss. Nach Intrusionen kann zunächst die spontane
Eruption abgewartet werden. Andernfalls ist die baldige Entfernung indiziert, um eine Beeinträchtigung des
regelrechten Zahndurchbruchs durch Ankylosen zu verhindern. Lediglich bei gesicherter direkter Schädigung
der bleibenden Zahnanlagen ist sofort zu extrahieren und eine kieferorthopädische Extrusionstherapie zu
veranlassen. Wurzelfrakturen an Milchzähnen sind außerordentlich selten, bedingen aber stets die schnelle
Entfernung des koronalen Fragments. Der proximale Teil kann belassen werden, da dieser im Zuge des
Zahnwechsels resorbiert oder abgestoßen wird und jede operative Manipulation die Unversehrtheit des
Zahnsäckchens gefährden könnte (6, 8, 12).
Fazit
In klinischen Studien zu den Spätfolgen nach Frontzahntrauma finden sich wiederholt Hinweise auf eine
erhebliche Komplikationsrate, die sich aus der Schwere der Verletzung, aber auch aus den oftmals limitierten
therapeutischen Möglichkeiten erklärt (1-5, 8, 10, 12). Die für eine reizlose, langfristige Reintegration dieser
Zähne obligate Regenerationsfähigkeit der Desmodontalstrukturen und des Markorgans ist anlässlich der
Akutversorgung in der Regel nicht eindeutig beurteilbar. Erschwerend kommen häufig die Mitbeteiligung der
umgebenden Gewebe, eine gestörte Trophik sowie lokoregionäre Infektionen hinzu.
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Trotzdem sollte im Erwachsenenalter auch bei unsicherer Prognose nach eingehender Aufklärung des
Patienten immer versucht werden, derartig traumatisierte Zähne primär zu erhalten. Die Therapiekaskade
reicht von der sachgerechten präoperativen Zwischenlagerung nach totaler peripherer Luxation (9, 17, 18),
über die chirurgische Wundrevision, exakte Reposition und funktionsstabile Fixierung bis zur
Infektionsprophylaxe (Tetanusschutz, orale Antibiose) (8). Regelmäßige Kontrollen dienen der Überwachung
des Heilungsverlaufs und der Früherkennung von Komplikationen, die nicht nur das dentale Gewebe,
sondern auch die marginale Gingiva sowie das periradikuläre Knochenlager betreffen können (1, 2, 10, 13,
14). In solchen Fällen sind die rechtzeitige Entfernung des betreffenden Zahnes und nachfolgend
implantologische (15), prothetische (7) oder kieferorthopädische (16) Rehabilitationsmaßnahmen indiziert.
Korrespondenzadresse:
PD Dr. Dr. habil. Herbert Deppe
Klinik und Poliklinik für Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie der Technischen Universität München
Klinikum rechts der Isar
Ismaninger Straße 22
81675 München
PD Dr. Dr. habil. Manfred Zimmermann
Kirchmairstr. 46
80686 München
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