Neurologische Betreuung von Patienten mit körperlichen und mentalen Behinderungen Demografie, Ursachen und diagnostische Prinzipien Thomas Mayer Sächisches Epilepsiezentrum Radeberg Wachauerstr. 30 01454 Radeberg Email: [email protected] Zur Epidemiologie von Intelligenzminderung und Epilepsien Prävalenz leichter intellektueller Minderbegabung 1 – 3 % (WHO, 1986; Munro D.J. 1986; Grossmann H.J., 1983; Hagberg B.H. et al., 1981) Prävalenz schwerer intellektueller Minderbegabung 3 – 4 ‰ (Roeleveld N., Zielhuis G.A., Gabreels F., 1997) Prävalenz von Epilepsien bei Intelligenz-geminderten Menschen 16,1 bei Erwachsenen mit mind. mittelgradiger Intelligenzminderung (Morgan et al: Am J Ment Retard. 2003 108(5):293-300) 35,4% bei mittelgradig minderbegabten Kindern (Singhi et al. J Child Neurol. 2003 , 18(3):174-9) Zunehmend mit Ausprägung der geistigen Behinderung und zusätzlicher zentral motorischer Störung (Singhi et al. 2003, Coulter,1997) Epilepsie-Diagnostik bei behinderten MmE Keine Unterschiede zu nichtbehinderten Menschen Liegt Epilepsie vor ? Anamnese, Fremdanamnese, Video, EEG Falls ja: MRT (in Narkose, falls nötig) Diagnostik der Behinderung: Genetisch, metabolisch, entzündlich, hypoxisch u.a. Besonderheiten im Rahmen spezieller Syndrome Tuberöse Sklerose Komplex - Genetik Chromosom 9q34 (TSC 1) Genprodukt: Harmatin Chromosom 16p13 (TSC 2) Genprodukt: Tuberin Diagnostische Kriterien: Epilepsie, Minderbegabung, periventrikuläre Kalzifizierung Adenoma seaceum, Bindegewebsnävi (Chagrain-Leder) Diagnosekriterien für TSC Sichere klinische Symptome für TSC – 1 Kriterium ausreichend Angiofibrome subunguale Fibrome fibröse Plaques der Stirn Kortikale Tuber Subependymale Verkalkungen Multiple retinale Harmatome Unsichere Symptome (mindestens 2 Kriterien für TSC erforderlich) Zerebrale Anfälle besonders BNS –Epilepsie “Ash leaf spots” - weiße Flecken Chagrin-Flecken Rhabdomyome des Herzes Multilokuläre bilaterale Zysten und Angiomyolipome der Nieren Lymphangiomatose der Lunge Grübchenförmige Zahnschmelzdefekte Nachweis von Symptomen bei einem Familienmitglied Tuberöse Sklerose: Epilepsien Häufigkeit von Epilepsien: 85% insgesamt 100% bei Intelligenzminderung Epilepsiechirurgie möglich und effektiv (bis zu 60% Anfallsfreiheit) Häufigkeit von geistiger Behinderung 45% Tuberöse Sklerose: Therapie der Epilepsien Epilepsiechirugie falls epileptogene Zone eindeutig identifizierbar ist Cave Salami-Therapie Medikamentös Prinzipien der Leitlinien bei fokalen Epilepsien OXC – LEV (Cave Verhaltensprobleme)-LTG Kombinationstherapie OXC-VPA, VPA LTG Vagusnervstimulator: Erst nach sicherer Ausschluß Chirurgie Bei ausgepräger Verhaltensstörung Risperidon, Olanzapin Rapamycin gegen Tuberwachstum ?! Sturge-Weber-Syndrom Kongenitale angiomatöse Fehlbildung des 1.(2.) Trigeminus-Astes Genetik: Autosomal-dominant inkomplete Penetranz Diagnostische Kriterien: Naevus flammeus (98 %) fokale Epilepsie (85%) Hemiparese Minderbegabung, Glaukom mit Buphtalmus (60%) homonyme Hemianopsie, Fehlbildungen innerer Organe Körpernävus (52 %) Sturge Weber Syndrom: Therapie der Epilepsien Epilepsiechirugie falls epileptogene Zone identifizierbar ist Cave funktionelller Verlust U.U. Hemispherektomien (Kossoff E etal JM, Neurology 2002, 10; 59: 1735-8) Medikamentös Prinzipien der Leitlinien bei fokalen Epilepsien OXC – LEV (Cave Verhaltensprobleme)-LTG Kombinationstherapie OXC-VPA, VPA LTG Vagusnervstimulator: Erst nach sicherer Ausschluß Chirurgie Bei ausgepräger Verhaltensstörung Risperidon, Olanzapin Angelman-Syndrom: Happy puppet syndrom Diagnostische Kriterien: Minderbegabung, Fröhlichkeit mit leicht provozierbarem Lachen Ataxie Mikrobrachycephalie Genetischer Defekt 15q11-13 Epilepsien Vorkomen bei > 95 % Altergipfel 2 L.J. 90% der Epilepsien vor 5.L.J. Median-Alter bei Diagnose 6,5 J. Anfälle: myoklonisch, atonisch, generalisiert tonisch-klonisch Atypische Absencen Therapie: VPA (CLP) (n.Galvan-Manso et al, Epileptic dis. 2005, 7: 19-25) Down-Syndrom Diagnostische Kriterien: Minderbegabung, Kleinwuchs, Hypotonie Brachycephalie Gesichtsdysmorphie 4-Fingerfurche multiple Organdefekte Häufigkeit von Epilepsien: alle Altersstufen: ca. 10% ca. 50% bei > 50-Jährigen (zu ca. 65% Myoklonien) (McVicker R.W. et al., 1994; Evenhuis H.M., 1990) 3 Altersgipfel bei Epilepsiebeginn 1. Lebensjahr perinatale hypoxisch-ischämische Läsionen neuronale Entwicklungsstörung 20. – 30. Lj. kardiovaskuläre Komplikationen ? > 45. Lj. Demenz vom Alzheimer Typ (Puri B.K. et al., 2001;Pueschel S.M. et al., 1991; Evenhuis H.M., 1990) Down Syndrom: Therapie der Epilepsien Epilepsiechirurgie nicht indiziert Medikamentös Prinzipien der Leitlinien bei generalisierten Epilepsien VPA – LEV (Cave Verhaltensprobleme)-LTG Kombinationstherapie VPA- LTG Vagusnervstimulator: Selten nötig Bei ausgepräger Verhaltensstörung Risperidon, Olanzapin Nicht selten refelktorische Anfälle (schreck) Guerrini et al. Epilepsia. 1990 Jul-Aug;31(4):406-17. Reflex seizures are frequent in patients with Down syndrome and epilepsy Übergänge in LGS beschrieben (Ferlazzo et al: Epilepsia. LennoxGastaut syndrome with late-onset and prominent reflex seizures in trisomy 21 patients 2009 Jun;50(6):1587-95. Epub 2009 Jan 31) Rett-Syndrom Diagnostische Kriterien: Normale Entw. im 1. LJ schwere geistige Retardierung, Verlust des Handgebrauchs Microcephalie fehlende Sprachentwicklung Gangataxie Skoliose Genetisch: MeCP2-Mutation im X-Chromosom Überschneidungen mit Angelmann-Syndrom beschrieben (Laan et al, Epilepsia 43, 1500-2) Rett-Syndrom: Epilepsien Häufigkeit: Bei bis zu 84 % der Pt. : Anfälle: sek.GTKA u.a. fokale Anfälle EEG: Verlangsamt, uncharakteristisch(Segawa, Curr. Opin. Neurol, 2005, 18, 97-104) Therapie der Wahl: CBZ oder: LEV (Specchio et al: Epilepsy Res. 2010 Feb;88(2-3):112-7. Epub 2009 Nov 14) Dosierungen mit 45 mg/kgKG Eigene Erfahrungen: Keine Therapie_Resistenz zu erwarten Fragiles X-Syndrom Häufigkeit • 1:1.200 bei Männern 1:2500 bei Frauen, • Ursache: Mutation des FMR1 Gens in Region Xq27.3 Frauen sind milder betroffen Leitsymptome Intelligenzminderung abstehende Ohren vorspringende Stirn, hervorstehendes Kinn schmales Gesicht Hodenvergrößerung autistisches Verhalten (12%) abgehakte Sprache Echolalie Epilepsien Häufigkeit: 20-25% Beginn: 3 -9. L.J. Anfälle: PSM, fokal motorisch sek. GTKA EEG: unspezifisch rhythm. gen. Theta Therapie: unkompl. mit z.B. CBZ n. Musumeci SA et al. , Epilepsia 1999, 40: 1092-9 Sabaratnam M et al. Seizure 2001, 10 60-3 Chromosomale Erkrankungen und Epilepsie Battaglia A., Guerrini Epil. Dis. 7, 181-192, 2005 Syndom Inzidenz Auftreten von Anfälle Del 1p36 1:5000 (f:m= 5:1) Ca 50% der Pt. Del 4p (WolfHirschhorn) 1:50 000 (f:m: 2:1) 50-100% der Pt. Trisomie 12p 1:50 000 (f:m=1:1) Very scant (gen) Ring Chr. 14 30 publ. Pt. 100 % ? Inv-dup 15 /Idic 15 1.30 000 (f:m=1:1) 50% ? (LGS) Ring Chr. 20 < 50 publ. Pt. 100 % (nonconv. Status) Klinefelter Syndrom (XXY) 1,2:1000 2-10 % der Pt. (gen. Anfälle) Dravet Syndrom (SCN1A-Mutation Normale Entwicklung bis zur Erstmanifestation (99% der Fälle) Beginn febriler und/oder afebriler GTCS noch im 1. LJ (96%) Auftreten von Hemi-Grand-Mal (73%) Auftreten von myoklonischen Anfällen (75%) Temperatursensibilität (74%) Therapieresistenz (89%) Entwicklung einer Ataxie im Verlauf (70%) Mentale Entwicklungsverzögerung (92%) Anm: vermutlich die meisten Impfschäden !!! Antiepileptika-Therapie bei schwer- und mehrfachbehinderten Patienten Die pharmakologische Therapie der Anfälle unterscheidet sich nicht von der Therapie aller Epilepsiekranken. Prinzipiell ist eine Monotherapie mit dem Ziel der Anfallsfreiheit anzustreben. Eine Kombinationstherapie bei geistig behinderten Patienten nicht häufiger notwendig als bei nicht behinderten Menschen (Wolf & Czuczwara 1989, Mattson 1996). Absetzen einer Substanz aus einer Kombinationstherapie führt oft zu einer Verbesserung der Anfallskontrolle und zu einer Verringerung von Nebenwirkungen (Coulter 1988). Antiepileptika-Therapie bei schwer- und mehrfachbehinderten Patienten Bei Substanzauswahl besonders beachten: Verhaltensstörungen, Sedierung, kognitive Störungen etc. Kein AE sollte prinzipiell ausgeschlossen werden. LTG scheint eher positive Begleiterscheinungen zu zeigen, unabhängig vom antiepileptischen Effekt (Huber et al ,1998, McKee et al. 2003,Besag 1998). Beachtet werden müssen Applikationsformen: fest, flüssig, rectal, nasal, Gabe durch Sonde Substanzen mit erhöhtem Nebenwirkungsrisiko bei Patienten mit geistiger Behinderung Substanz erhöhtes Nebenwirkungsrisiko in Bezug auf: Clonazepam Hyperaktivität (Kinder), Reizbarkeit, ”Aggressivität”, Irritierbarkeit; Verschlechterung der motorischen Koordination; bronchiale Hypersekretion (Kinder) Phenobarbital/ Primidon Verlangsamung, Hyperaktivität (Kinder), Reizbarkeit, ”Aggressivität”, Irritierbarkeit Phenytoin paroxysmale Hyperkinesen; ”Encephalopathie” mit Pseudodemenz (selten); Gingivahyperplasie (bei eingeschränkten Pflegemöglichkeiten) Zonisamid Psychosen, Verhaltensstörungen Mögliche Nebenwirkungen von Antiepileptika bei Patienten mit geistiger Behinderung Substanz erhöhtes Nebenwirkungsrisiko in Bezug auf: Vigabatrin Hyperaktivität, ”Aggressivität”, selten ”Encephalopathie” mit Vigilanzminderung und EEG-Verlangsamung Gabapentin Verhaltensprobleme (Kinder): Hyperaktivität, ”Aggressivität” Topiramat Verhaltensprobleme, kognitive Einschränkungen, Psychosen Valproinsäure höheres Risiko einer Hepatotoxizität bei mehrfachbehinderten Kindern unter sechs Jahre Levetiracetam Sedierung, Verhaltensauffälligkeiten, Psychosen Substanzen mit günstigem Profil bei Patienten mit geistiger Behinderung Substanz Günstig, weil Valproinsäure Wenig sedierend, breit wirkend, stimmungsausgleichend Lamotrigin Antriebsfördernd, wenig sedierend, Oxcarbazepin Wenig sedierend, gering interagierend Carbamazepin Stimmungsausgleichend, gering sedierend Levetiracetam Wenig intergierend, Sedierung häufig nur passager, sehr effektiv (Gibson, Epil. Behav.2002, 3: 280-4) Epilepsiechirurgie bei behinderten MmE 16 Pt mit unterschiedlichen fokalen Resektionen IQ's <85 , Alter >13 Jahren zum OP-Zeitpunkt 1 Jahr postoperativ: 9/16 (64%) anfallsfrei Kognitive Fähigkeiten und sozioökonomischer Status waren unverändert, z.T. sogar verbessert Anfalls-Outcome korrelierte nicht mit IQ level, Schlußfolgerung: auch Pt mit niedrigem IQ kommen für eine Operation infrage Gleissner U et al. Epilepsia. 1999 May;40(5):553-9. Diagnostik und Therapie bei behinderten MmE Zusammenfassung Diagnostik und Therapie prinzipiell nicht unterschiedlich zu Menschen ohne Behinderung Behinderungen sollten nicht als naturgegeben akzeptiert werden, daher weitere Klärung bei unauffälligem MRT Sedierende Substanzen sind zu vermeiden Monotherapie, wenn möglich Paradoxe Wirkungen und Nebenwirkungen bedenken Ziel: Anfallsfreiheit nicht außer Acht lassen Auch an nichtmedikamentöse Therapie denken: Verhaltenstherapie, VNS, Selbstkontrolle, Chirurgie