Schwindel und Unsicherheit - Österreichische Ärztezeitung

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Originalarbeit
Schwindel und Unsicherheit
In nahezu allen Fällen ist es mittlerweile möglich, bei Schwindel eine korrekte Diagnose zu
stellen und auch eine dauerhafte Besserung oder sogar Beschwerdefreiheit zu erzielen. Eine
Übersicht über die häufigsten Krankheitsbilder und die Abklärung von Schwindelbeschwerden bietet dieser Beitrag. Von Bela Büki*
Benigner paroxysmaler
Lagerungsschwindel
E
r stellt die häufigste Ursache für
Drehschwindel dar. Die Anfälle
dauern zwischen zehn und 20
Sekunden, werden durch Lagewechsel ausgelöst (zum Beispiel nach vorne
bücken oder nach oben schauen, beim
Hinlegen, Aufsitzen oder Umdrehen
im Bett).
© picturedesk.com
Der Schwindel ist anfangs – für eine
Stunde oder ein bis zwei Tage – sehr
stark und wird durch die kleinsten
Kopfbewegungen provoziert. Die
Beschwerden sind nach einigen Tagen in der Früh beim Aufstehen am
schlimms­ten; der Patient kann nur
langsam und schrittweise aufstehen,
tagsüber werden die Beschwerden
leichter. Gelegentlich kann der Patient
monatelang nicht auf der betroffenen
Seite liegen.
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Die Beschwerden werden durch
Kalziumkarbonat-Kristalle
hervorgerufen, welche in die Bogengänge
geraten beziehungsweise dort auskris­
tallisieren. In Kopfhängelage oder
seitlicher Kopflage zeigt sich ein transienter Nystagmus, welcher durch den
betroffenen Bogengang ausgelöst wird.
Durch gezielte Bewegungen können
die Kristalle aus den Bogengängen
herausbefördert werden. Durch das
Epley-Manöver können beispielsweise die posterioren Bogengänge sogar
in der Ordination eine Allgemeinmediziners leicht von den Ablagerungen
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befreit werden. Beim Epley-Manöver
handelt es sich um einen „Purzelbaum“ nach rückwärts, der in zwei
Phasen über die Kante der Untersuchungsliege durchgeführt wird.
Neuronitis vestibularis
Dabei handelt es sich um einen
starken, einmaligen Drehschwindel
mit Erbrechen. Die Beschwerden beginnen plötzlich und dauern tagelang
an. Die Welt dreht sich, auch wenn
der Kopf völlig unbeweglich ist. Jede
Kopfbewegung verstärkt die Beschwerden. Es zieht den Patienten stark auf
eine Seite, er kann aber ohne Hilfe stehen. Die Beschwerden werden durch
den (wahrscheinlich viral bedingten)
einseitigen Ausfall der Gleichgewichtsfunktion verursacht. Es zeigt sich ein
starker Spontan-Nystagmus mit der
schnellen Phase zur gesunden Seite.
Die Therapie ist symptomatisch, man
muss nur die begleitende „Seekrankheit“ (Übelkeit, Erbrechen) bekämpfen.
Der Kopf-Impuls-Test dient zur Differenzierung gegenüber dem (selteneren)
Kleinhirninfarkt, der gelegentlich völlig
ähnlich abläuft, aber durch Einklemmung tödlich enden kann. Der KopfImpuls-Test kann im Bett durchgeführt
werden. Dabei wird geprüft, ob der
Patient das Blickfeld während schneller, unerwarteter, passiver, horizontaler
Kopfbewegungen fixieren kann. Beim
Kleinhirninfarkt gelingt das in beiden
Richtungen, während der Betroffene
beim Vestibularisausfall, wenn der Bogengang nicht funktioniert, das Blickfeld in die Richtung der betroffenen
Seite nicht stabilisieren kann. Bei Verdacht auf einen Kleinhirninfarkt sollte
der Patient wegen der Gefahr der Einklemmung observiert werden.
Morbus Ménière
Der M. Ménière ist gekennzeichnet
durch anfallsartigen Drehschwindel,
Ohrensausen und Hörverminderung,
begleitet von Übelkeit und Erbrechen.
Es können mehrere kurze oder längere
Anfälle pro Woche auftreten; manche
dauern einige Minuten, andere maximal zwei Stunden. Gelegentlich kommt
es zu Stürzen, wenn der Patient plötzlich die Muskelkraft verliert und bei
vollem Bewusstsein auf den Boden
fällt. Die Patienten können bereits vor
dem Anfall einen Druck im betroffenen Ohr verspüren. Die Beschwerden
werden durch erhöhten Flüssigkeitsdruck im Endolymphraum ausgelöst;
die Ursache für die Druckerhöhung
ist nicht bekannt. Es ist möglich, den
erhöhten Endolymphdruck mittels
Elektrokochleographie nachzuweisen.
Das Summationspotential wird größer,
wenn die Basilarismembran mechanisch
nach außen gedrückt wird. Eine wirksame, ursächliche medikamentöse Therapie, welche die Druckerhöhung oder
die Dysfunktion des Gleichgewichtsorganes verhindern würde, gibt es nicht.
Als potentiell wirksam ist lediglich eine
leichte Entwässerung für einige Monate
beschrieben.
Nachdem die Diagnose mittels Elektrokochleographie bestätigt wurde, ist
es möglich, den Drehschwindel mittels
einer einzigen Gentamycin-Injektion
nachhaltig auszulöschen (gelegentlich
ist nach einigen Monaten eine zweite,
oder noch später eine dritte Injektion
notwendig). Durch die vestibulotoxische Nebenwirkung von Gentamycin
werden die Aktivitätsveränderungen
des Gleichgewichtsorganes ausgeschaltet. In den vergangenen Jahren haben
wir diese Methode in der Gleichgewichtsambulanz am Krankenhaus
Krems an 28 Patienten erfolgreich eingesetzt.
Migräneschwindel
Die Basilaris-Migräne wurde 1962
beschrieben. Die starken okzipitalen
Kopfschmerzen werden von Schwindel,
Erbrechen, Gesichtsfelddefekte, Dysarthrie, Diplopie begleitet. Erst in den
letzten Jahren hat man entdeckt, dass
Migräne auch ohne Kopfschmerzen
wiederkehrende Drehschwindelanfälle
auslösen kann. Der Schwindel dauert
in den meisten Fällen ein oder zwei
Tage, die Patienten sind lichtscheu und
reagieren überempfindlich bei schnellen Kopfbewegungen. Es gibt kein
spezifisches Nyatagmusmuster; den
Anfall kann sowohl ein peripherer als
auch ein zentraler Nystagmus begleiten. Frauen sind öfter betroffen, meist
in den Wechseljahren und vor allem
dann, wenn sie bereits früher schon typische Migräneanfalle gehabt :
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Elektrokochleographie bei Morbus Ménière rechts (das Summationspotential ist rechts erhöht) Abb. 3.
: haben. Meistens ist das Gehör beidseits normal. Eine Migräneprophylaxe
mit Propranolol oder mit Antiepileptika wie Lamotrigin oder Topiramat
kann die Beschwerden überraschend
gut ausschalten.
Vertebrobasiläre
Durchblutungsstörungen
Der typische Patient mit vertebrobasilären TIAs ist über 55 Jahre
alt und hat vaskuläre Risikofaktoren
(Rauchen, Hyperlipidämie, Hypertonie oder Diabetes mellitus). Heute
scheint erwiesen zu sein, dass ein isolierter Drehschwindel durch vertebrobasiläre Durchblutungsstörungen nur
sehr selten verursacht wird. Meist erscheinen auch andere Symptome des
vertebrobasilären Stromgebiets (Diplopie, Drop-Attacken, Sprachstörung,
Hörverminderung). Bei isolierten
Drehschwindelanfällen, die länger als
sechs Monate dauern, ist eine TIA als
Ursache extrem unwahrscheinlich. Bei
dieser Anamnese kommt eher Migräne
in Frage. Das Schädel-MR zeigt meist
kleine, ältere Infarkte oder Zeichen einer zerebralen Angiopathie. Durch die
Gabe von Thrombozytenaggregationshemmern kann die Wahrscheinlichkeit
eines Infarktes gesenkt werden.
BogengangDehiszenz-Syndrom
Der Patient hört seine eigene Stimme, seine Kaubewegungen, gelegentlich
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© Zoltan Bodor
© Zoltan Bodor
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Der Kopf-Impuls-Test bei rechtsseitigem Vestibularisausfall. Bild a
und b: Während einer unerwarteten, schnellen, passiven Kopfdrehung nach links kann die Patientin den Blick fixieren, der linke horizontale Bogengang funktioniert gut. Bild c und d: Während einer
Kopfdrehung nach rechts ist es für die Patientin nicht möglich, die
schnellen, kompensatorischen Augenbewegungen einzuleiten, sie
kann nicht fixieren. Nach der Bewegung sucht sie das Ziel mit den
Augen, es entsteht eine kompensatorische Sakkade (Bild e) Abb. 2.
sogar die Geräusche seiner Augenbewegungen sehr laut. Pressen (etwa beim
Stuhlgang) oder laute Töne verursachen
einen kurzen plötzlichen Drehschwindel. Die Ursache dafür – hat man erst
in den letzten Jahren entdeckt: Es besteht als anatomische Variante ein drittes
Fenster am knöchernen Labyrinthblock
im Bereich des superioren Bogengangs.
Durch diese knöcherne Dehiszenz öffnet
sich der perilymphatische Raum in den
Liquorraum der mittleren Schädelgrube. Dadurch ist es möglich, dass Druckerhöhungen im äußeren Gehörgang
oder laute Töne Flüssigkeitsströmungen
im Innenohr und dadurch vestibuläre
Reize (Drehschwindel) auslösen. Die
wichtigste Methode zum Nachweis einer Bogengang-Dehiszenz ist eine diagonale Schläfenbein-CT-Untersuchung
in dünnen Schichten in der Ebene des
superioren Bogengangs. Die Dehiszenz
kann neurochirurgisch behandelt werden. In Fällen mit Hörverminderung
oder leichten Schwindelbeschwerden
wird darauf verzichtet. Bei schweren
Schwindelbeschwerden, welche die Lebensqualität stark beeinträchtigen, ist es
aber möglich, den Bogengang abzudecken oder zu verschließen.
Phobischer Schwindel
Dieser äußert sich in Unsicherheit,
Angstgefühl und Herzklopfen in größeren Menschenmengen, in größeren
Räumen, bei eintöniger Fahrt. Stürze
oder starker Drehschwindel mit Übelkeit kommen nie vor. Im Sitzen oder
Liegen treten meist keine Beschwerden
auf. Auch wenn der Patient abgelenkt:
: ist – etwa beim Sport – gibt es meist
keine keine Probleme. Oft geht es den
Patienten in der Früh besser (im Gegensatz zum Lagerungsschwindel, welcher gleich nach dem Aufstehen am
stärksten auftritt), tagsüber kommen
die Beschwerden. In den letzten Jahren
wurden der phobische Schwindel in der
Wissenschaft als eigenes Krankheitsbild definiert. Oft finden sich Zeichen
eines Ereignisses, welche die Beschwerden ausgelöst haben, zum Beispiel ein
einseitiger Vestibularisausfall, der in
der Vergangenheit einen tagelangen,
starken Drehschwindelanfall verursacht
hat. Als Therapie genügt oft ein ausführliches Gespräch, wenn der Patient
dem untersuchenden Arzt vertraut.
Beidseitiger
Vestibularisausfall
Beim Ausfall beider peripherer
Gleichgewichtsorgane entstehen Bewegungen des Blickfeldes bei schnellen
Kopfbewegungen und eine ständige
Unsicherheit vor allem im Dunkeln
sowie beim Gehen auf unebenem oder
weichem Boden. Heutzutage tritt diese chronische vestibuläre Insuffizienz
manchmal nach einer Meningitis auf.
Am häufigsten wird sie aber durch die
systemische Verabreichung von Aminoglykosiden – meist Gentamycin - verursacht. Gentamycin ist vestibulotoxisch.
Das Gehör wird zwar nur selten geschädigt, daher wird bei der Messung der :
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: ototoxischen Wirkung von Gentamycin mit Hilfe der Audiometrie meist
die potenziell vestibulotoxische Nebenwirkung übersehen. Sogar in der normalen therapeutischen Dosierung, in
der Gentamycin im Fall einer Sepsis gegeben wird, kann es leicht zu einem totalen oder partiellen beidseitigen Vestibularisausfall kommen. Offensichtlich
gibt es keine sichere untere Grenze, was
die Vestibularorgane betrifft. Als Therapie können spezielle Übungen für die
Rehabilitation empfohlen werden. Das
Prinzip der Rehabilitation besteht darin, dass der Patient eine Vorprogrammierung von Bewegungsabläufen übt.
Er soll sich viel bewegen, viel Gehen,
möglichst auf weichem Grund und soll
aktive Kopfbewegungen üben.
Schwannom
des Nervus vestibularis
Dieser gutartiger Tumor löst keinen
Drehschwindel aus, weil sein langsames
Wachstum die vestibuläre Funktion nur
langsam zerstört und genügend Zeit
bleibt für eine zentrale Kompensation.
Meist besteht eine einseitige Hörverminderung, Ohrensausen und Unsicherheit – vor allem bei schnellen Kopfbewegungen. Man sollte daher bei allen
Patienten mit einseitiger Innenohrläsion
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Das Epley-Manöver bei der Kanalolithiasis des linken posterioren
Bogengangs. Das Manöver fängt in der linkseitigen Kopfhängelage an. Abb. 1
oder Ohrensausen zumindest die Leitgeschwindigkeit des Hörnervs (Hirnstammaudiometrie) messen, oder wenn diese Untersuchung pathologische Werte
zeigt, ein Schädel-MR durchführen.
Normopressure
hydrocephalus
Die Symptome schwere Gangunsicherheit, Gedächtnisstörungen und
Harn-Inkontinenz bei älteren Patienten
werden dabei durch transiente Erhöhungen des Liquordrucks ausgelöst.
Viele Patienten profitieren von Liquorpunktion oder permanenter Ableitung
des Liquors (ventriculo-peritonealer
Shunt). Neben den genannten Krankheitsbildern gibt es einige Erkrankungen,
bei denen die Schwindelbeschwerden als
fast obligate Begleiterscheinungen anzusehen sind: zum Beispiel bei Multipler
Sklerose, heredodegenerativer und epi-
sodischen zerebellären Ataxien, extrapyramidalen Störungen, orthostatischem
Tremor, Arnold-Chiari-Syndrom und
Epilepsie. Bei Schwindel sollte immer
das Trommelfell untersucht werden, um
ein symptomarmes Cholesteatom auszuschließen. Der „zervikogene Schwindel“
wird nicht als eigenes Krankheitsbild
abgegrenzt. Es scheint ziemlich sicher
zu sein, dass Veränderungen der Halswirbelsäule keinen längeren, isolierten
Drehschwindelanfall auslösen können.
Bei schmerzhaften (etwa posttraumatischen)
Halswirbelsäulen-Veränderungen können fallweise Perioden von
Unsicherheit auftreten. 9
Dr. Bela Büki, Landesklinikum Krems/Abteilung für HNO-Krankheiten, Mitterweg 10,
3500 Krems/Donau;
Tel.: 02732/804/2370;
E-Mail: hno.schwindelambulanz@krems.
lknoe.at
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