Kopfschmerz-Klassifikation 1 Aufbau und Struktur der

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Aufbau und Struktur der IHSKopfschmerz-Klassifikation
1 Aufbau und Struktur der
IHS-Klassifikation
1.1
Entwicklung der Kopfschmerzklassifikationen
Die Klassifikation und die Diagnostik von Kopfschmerzen krankten lange Jahre daran, dass es keine international verbindlichen Kriterien gab. Dies
hatte auch die Konsequenz, dass für die Erforschung von pathophysiologischen Zusammenhängen und die Etablierung von neuen Therapien keine
vergleichbaren Patientenpopulationen herangezogen werden konnten.
Noch am häufigsten wurde die Klassifikation des Ad-hoc-Komitees von
1962 bzw. die spätere Überarbeitung durch die World Federation of Neurology aus dem Jahr 1970 benutzt. Eine international breit akzeptierte
Klassifikation war erst die 1988 von der Internationalen Headache Society (IHS), der Dachvereinigung aller nationalen Kopfschmerzfachgesellschaften, vorgestellte Klassifikation.
In dieser Klassifikation wurden in insgesamt zwölf Kapiteln alle primären, kryptogenen (Teil 1 der Klassifikation) und sekundären, symptomatischen (Teil 2) Kopfschmerzformen sowie die Gesichtsneuralgien
(Teil 3) definiert. Dabei wurde besonderes Augenmerk darauf gelegt,
möglichst einfache, aber genau zu erhebende klinische Parameter zur
Definition heranzuziehen. Um eine möglichst weite Einsetzbarkeit zu
gewährleisten, wurde bewusst ein Kompromiss zwischen Sensitivität
und Spezifität eingegangen. Die Internationale Klassifikation von Kopfschmerzerkrankungen ist bei den primären Kopfschmerzen symptomatisch und bei den sekundären Kopfschmerzen ätiologisch orientiert. Die
Fortschritte im pathophysiologischen Verständnis, aber auch verbesserte Kenntnisse der klinischen Charakteristika von Kopfschmerzerkrankungen und Neuralgien machten eine Überarbeitung der Klassifikation
erforderlich. So wurde 2004 die zweite, überarbeitete Auflage der Klassifikation vorgelegt. Sie ist sowohl für die Wissenschaft wie für die klinische Praxis gedacht.
Der Aufbau der Klassifikation ist hierarchisch. Alle Kopfschmerzerkrankungen werden zunächst in 14 Hauptgruppen unterteilt. Die Hauptgruppen
werden weiter in Kopfschmerztypen, -subtypen und -unterformen untergliedert. So stellt z. B. Migräne eine Hauptgruppe dar, die aus einem einzigen
Kopfschmerztyp (Migräne) besteht. Die Subtypen der Migräne wie die
Migräne mit Aura bilden die nächste Stufe. Die Migräne mit Aura wiederum
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1.1 Entwicklung der KS-Klassifikationen
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16 1 Aufbau und Struktur der IHS-Klassifikation
wird auf Stufe 3 der Klassifikation in weitere Unterformen unterteilt wie
z. B. die typische Aura mit Migränekopfsschmerzen. Im Praxisalltag reicht
es in der Regel aus, nur die Hauptgruppe bzw. die nächste Ebene zu klassifizieren.
1.2
Wie benutze ich die IHS-Klassifikation?
1.2 Wie benutze
Die Kopfschmerzen werden anhand von operationalisierten Kriterien, die
sich auf die Kopfschmerzcharakteristik, klinische Untersuchungsbefunde
und deren Ätiologie beziehen, eingeordnet. Diese diagnostischen Kriterien
sind äußerst präzise und mit wenig Raum zur Interpretation formuliert,
damit die Diagnosen weitgehend untersucherunabhängig gestellt werden
können. Für eine bestimmte Diagnose müssen alle geforderten Kriterien
erfüllt sein. Für jedes Kriterium wiederum wird ein Mindestmaß an zu
erfüllenden Merkmalen angegeben: z. B. gilt für die Migräne, dass von
Kriterium D während des Kopfschmerzes mindestens eines der Merkmale,
nämlich Übelkeit und/oder Erbrechen oder Photophobie und Phonophobie,
vorliegen muss.
Diese Kriterien waren im Wesentlichen schon für die erste Klassifikation entwickelt worden. Internationale Therapiestudien haben gezeigt, dass
die Anwendung der Kriterien länderübergreifend eine hohe diagnostische
Übereinstimmung gewährleistet und erlaubt, homogene Entitäten zu beschreiben. Dies gilt insbesondere für die Migräne, den Clusterkopfschmerz
und die Gesichtsneuralgien.
Da sich die Klassifikation am aktuellen klinischen Bild der Kopfschmerzen orientiert, ist es möglich, dass zu einem bestimmten Termin die eine
und Jahre später eine andere Diagnose gestellt wird. Das wäre bei einer
genetisch orientierten Klassifikation so nicht möglich. Da bisher nur für
drei relativ seltene Migräneformen ein monogenetischer Erbgang identifiziert wurde, entspricht dieses Vorgehen auch der klinischen und wissenschaftlichen Realität. Hat ein Patient mehrere Diagnosen, so werden diese
in der Reihenfolge ihrer Bedeutung für das jetzige Krankheitsbild aufgeführt. Diagnosen, bei denen alle Kriterien erfüllt sind, werden vor denen
genannt, die nur als wahrscheinlich klassifiziert werden können, z. B. 1.
episodischer Kopfschmerz vom Spannungstyp und 2. wahrscheinliche
Migräne ohne Aura. Tritt ein Kopfschmerz im zeitlichen Zusammenhang
mit einer Ursache für sekundäre Kopfschmerzen auf, so ist er primär als
sekundärer Kopfschmerz zu klassifizieren, auch wenn der ursächliche
Zusammenhang meist erst retrospektiv z. B. durch die Beseitigung der
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ich die IHS-Klassifikation?
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1.2 Wie benutze ich die IHS-Klassifikation?
Ursache untermauert werden kann. Ähnlich verhält es sich auch mit der
Beurteilung des zeitlichen Verlaufs. Ob ein Kopfschmerz episodisch, primär
chronisch oder sekundär chronisch verläuft, kann häufig erst retrospektiv
sicher entschieden werden.
Das Buch hält sich an die 2. Auflage der IHS-Klassifikation.
Tab. 1.1: Übersicht über die Kopf- und Gesichtsschmerzen gemäß der IHS-Klassifikation von 2004.
Teil 1: Primäre Kopfschmerzerkrankungen
1. Migräne
2. Kopfschmerz vom Spannungstyp
3. Clusterkopfschmerz und andere trigemino-autonome Kopfschmerzerkrankungen
4. Andere primäre Kopfschmerzerkrankungen
Teil 3: Kraniale Neuralgien, zentraler und primärer Gesichtsschmerz und
andere Kopfschmerzen
13. Kraniale Neuralgien und zentrale Ursachen von Gesichtschmerzen
14. Andere Kopfschmerzen, kraniale Neuralgien, zentrale oder primäre
Gesichtsschmerzen
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Teil 2: Sekundäre Kopfschmerzerkrankungen
5. Kopfschmerz zurückzuführen auf ein Kopf- und/oder HWS-Trauma
6. Kopfschmerz zurückzuführen auf Gefäßstörungen im Bereich des
Kopfes oder des Halses
7. Kopfschmerz zurückzuführen auf nicht-vaskuläre intrakraniale
Störungen
8. Kopfschmerz zurückzuführen auf eine Substanz oder deren Entzug
9. Kopfschmerz zurückzuführen auf eine Infektion
10. Kopfschmerz zurückzuführen auf Störungen der Homöostase
11. Kopf- oder Gesichtsschmerzen zurückzuführen auf Erkrankungen des
Schädels sowie von Hals, Augen, Ohren, Nase, Nasennebenhöhlen, Zähnen, Mund oder anderen Gesichts- oder Schädelstrukturen
12. Kopfschmerzen zurückzuführen auf psychiatrische Störungen
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2
Kopfschmerzdiagnostik
2 KS-Diagnostik
Auf der CD enthaltene Materialien für die Therapie:
• Kopfschmerzfragebogen
• Kopfschmerztest (Migräne, Spannungskopfschmerz, chronischer Kopfschmerz)
• Kopfschmerzkalender (Cluster-Kopfschmerz, Migräne, Trigeminusneuralgie)
Die wichtigsten Bausteine in der Diagnostik von Kopfschmerzen sind die
Anamnese und der körperliche Untersuchungsbefund. Sie erlauben in aller
Regel bereits die diagnostische Einordnung. Dies gilt insbesondere für die
primären Kopfschmerzformen, die mit ca. 92 % die Mehrzahl aller Fälle
ausmachen. Apparative Untersuchungen sind in der Regel nur bei Verdacht
bzw. zum Ausschluss eines sekundären/symptomatischen Kopfschmerzsyndroms indiziert.
2.1
Die Anamnese
2.1 Die Anamnese
Praxistipp: Klären Sie zu Beginn der Anamnese, ob verschiedene Kopfschmerzarten vorliegen. Ggf. empfiehlt es sich den ersten Teil des Fragebogens für jeden
Kopfschmerz-Typ gesondert zu erfassen.
Allein anhand der Kopfschmerzcharakteristika kann meist eine Verdachtsdiagnose gemäß der IHS-Klassifikation formuliert werden. Jeder Kopfschmerz, der nicht die Kriterien der IHS-Klassifikation für ein primäres
Kopfschmerzsyndrom erfüllt, ist zunächst verdächtig, ein symptomatischer
Kopfschmerz zu sein.
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Ein Ziel der Anamnese ist, das Kopfschmerzsyndrom im Detail zu erfassen.
Die einzelnen Punkte können in einem strukturierten Anamnesegespräch
zügig erfasst werden. Ein standardisierter Kopfschmerzfragebogen kann
hierbei hilfreich sein (vgl. Material auf der CD-ROM).
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2.1 Die Anamnese
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2.1.1 Beginn der Kopfschmerzen
Man unterscheidet einen apoplektiformen Beginn (innerhalb von Sekunden),
einen akuten (innerhalb von Minuten), einen subakuten (innerhalb von
30–120 Minuten) sowie einen chronischen (allmählich zunehmenden)
Beginn über Tage oder Wochen. Typische Ursachen für einen apoplektiformen Beginn sind die Subarachnoidal-Blutung, der idiopathische Donnerschlagkopfschmerz und der gutartige stechende Kopfschmerz; für einen
akut beginnenden Kopfschmerz eine Hirnblutung, eine hypertensive Krise,
eine chronische paroxysmale Hemikranie oder ein Clusterkopfschmerz; für
einen subakuten Beginn eine Migräne, ein episodischer Spannungskopfschmerz und eine Meningitis; für einen chronischen Beginn eine Arteriitis
temporalis, ein chronisch subdurales Hämatom oder ein Hirntumor.
10
Schmerzintensität (NRS)
5
5
1
1
Zeit in Stunden
Zeit in Tagen
10
10
Schmerzintensität (NRS)
Chronischer Spannungskopfschmerz
Schmerzintensität (NRS)
Subarachnoidalblutung
5
1
5
1
Zeit in Tagen
Zeit in Stunden
Schlaf
Unbehandelte Migräne
Gespräch
Essen
Clusterkopfschmerz
Schmerzintensität (NRS)
10
5
1
Zeit in Stunden
Trigeminusneuralgie
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Abb. 2.1: Zeitliches Profil verschiedener
Kopfschmerzsyndrome.
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Schmerzintensität (NRS)
10
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20 2 KS-Diagnostik
2.1.2 Dauer und Periodizität der Kopfschmerzen
Alle periodisch auftretenden Kopfschmerzen sind, wenn nicht andere
Symptome dagegen sprechen, zuerst als primäre Kopfschmerzsyndrome
zu klassifizieren. Das klassische Beispiel für einen Kopfschmerz mit besonderer Periodizität ist der episodische Clusterkopfschmerz, bei dem es zu
Wochen bis wenigen Monaten anhaltenden Episoden mit täglichen Attacken
kommt, die z. T. sogar regelhaft zu einer bestimmten Uhrzeit beginnen. Bei
der menstruellen Migräne findet man eine klare Abhängigkeit zum Zyklus.
Bei primären Kopfschmerzen ist meist auch die Dauer einzelner Attacken
charakteristisch: Bei der Migräne des Erwachsenen sind es 4–72 Stunden,
beim Clusterkopfschmerz 30–180 Minuten, bei der chronisch paroxysmale Hemikranie 5–30 Minuten, beim SUNCT-Sndrom 30–120 Sekunden
und beim idiopathischen stechenden Kopfschmerz 1–120 Sekunden. Nur
die Dauer des episodischen Kopfschmerz vom Spannungstyp ist sehr variabel (30 Minuten bis 7 Tage)
Die Kopfschmerzintensität variiert bei den einzelnen Syndromen stark und
kann auch beim Einzelnen von Attacke zu Attacke variieren. Generell gilt,
dass der Clusterkopfschmerz eine höhere Schmerzstärke hat als der Migränekopfschmerz und dieser stärker ist als der Spannungskopfschmerz.
Bei der Migräne nimmt der Schmerz bei Belastung zu und wird pulsierend
oder stechend. Er ist bei etwa zwei Drittel einseitig oder einseitig betont.
Der Clusterkopfschmerz geht mit einer motorischen Unruhe einher; Bewegungen werden eher als schmerzlindernd erlebt. Der Schmerz wird fast
immer als temporal, periorbital oder retroorbital und drückend, bohrend,
aber auch stechend beschrieben. Der Spannungskopfschmerz bleibt bei
Ruhe und körperlicher Belastung gleich intensiv. Er ist fast immer holozephal und wird mit den Worten drückend (wie ein zu enger Hut) bzw. dumpf
beschrieben. Ein gutes Maß für die Schmerzintensität ist die Arbeitsfähigkeit: während einer Clusterattacke besteht immer Arbeitsunfähigkeit,
gleiches gilt für schwere Migräneattacken. Patienten mit Spannungskopfschmerz bleiben in aller Regel arbeitsfähig. Um die Schmerzintensität genauer zu definieren, kann auch eine numerische oder visuelle Skala herangezogen werden. Hier ordnet der Patient die Intensität der Schmerzen auf
einer Skala zwischen dem Punktwert 0 = schmerzfrei und 100 = maximal
vorstellbarer Schmerz ein (vgl. Abb. 2.2).
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2.1.3 Schmerzstärke und Lokalisation
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2.1 Die Anamnese
10 cm
☺
0= kein Schmerz
10= maximal
vorstellbarer Schmerz
Abb. 2.2: Visuelle Rating Skala. Der Patient markiert die Intensität der Schmerzen mit
einem Stift auf der Skala. Die Intensität wird dann in mm (0 = kein Schmerz,
100 = maximal vorstellbarer Schmerz) ausgemessen.
2.1.4 Begleitsymptome
Ein wichtiger Punkt bei der Unterscheidung der verschiedenen primären
Kopfschmerzformen voneinander sind die Begleitsymptome.
Tab. 2.1: Übersicht über die wichtigsten klinischen Charakteristika primärer Kopfschmerzen.
Prodromalsymptome
Aura
Vegetative
Symptome
Migräne
Bei bis zu 70 %:
Unruhe, Harndrang, Hunger,
Reizbarkeit,
Müdigkeit,
Gähnen
Bei bis zu 30 % der
Patienten. Dauer
5–60 min. visuelle,
sensorische, aphasische und vestibuläre Symptome. Sehr
selten Paresen,
Bewusstseinsstörungen oder psychische Symptome
Appetitlosigkeit, Sehr selten:
Tränen
Übelkeit bis
Erbrechen,
Ruhebedürfnis,
Lärm-, Licht-,
Geruchsüberempfindlichkeit,
seltener Durchfälle oder
Polyurie
Cluster-Kopfschmerz
In der Regel
Sehr selten visuelle
keine. Selten:
Aura
Unruhe,
manchmal
persistierender
ipsilateraler
Nackenschmerz
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Stehen nicht im
Vordergrund,
selten Übelkeit,
Lärm- und
Lichtempfindlichkeit
Zeichen der Sympathikus- oder
ParasympathikusDysfunktion
Regelhaft, ipsilateral: Lakrimation,
Miose, Ptose,
Schwitzen, Rhinorrhö und/oder
konjunktivale
Injektion
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Diagnose
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22 2 KS-Diagnostik
Diagnose
Prodromalsymptome
Aura
Vegetative
Symptome
Zeichen der Sympathikus- oder
ParasympathikusDysfunktion
Episodische/
chronische
paroxysmale
Hemikranie
Nicht typisch
Nein
Stehen nicht im
Vordergrund,
untypisch
Häufig, etwas
geringer als beim
Clusterkopfschmerz
SUNCT
Nein
Nein
Nein
Typischerweise
Augentränen und
konjunktivale
Injektion, z. T. auch
Rhinorrhö
Spannungskopfschmerz
Untypisch
Nein
Allenfalls geringgradige
Übelkeit und
sensorische
Überempfindlichkeit
Nein
Autonome Symptome im Gesicht sind ein spezifisches Zeichen für sogenannte trigemino-autonome Kopfschmerzen (Cluster-Kopfschmerz, paroxysmale Hemikranie, SUNCT). Da jedoch für alle Unterformen – insbesondere für das SUNCT-Syndrom – in der Literatur zahlreiche symptomatische
Formen beschrieben wurden, empfiehlt es sich, bei erstmaligem Auftreten
immer eine entsprechende bildgebende Diagnostik durchzuführen.
Beim erstmaligen Auftreten von so nicht bekannten Kopfschmerzen ist besondere Sorgfalt auf die Anamneseerhebung und Untersuchung zu verwenden (vgl. hierzu auch Kapitel 3). Klinische Warnsymptome für das Vorliegen
eines sekundären Kopfschmerzes sind in Tabelle 2.2 zusammengefasst.
Tab. 2.2: Klinische Warnsymptome für symptomatische Kopfschmerzen.
Symptom/Befund
Differentialdiagnose
Plötzlich, innerhalb von Sekunden einsetzender,
extrem heftiger Vernichtungskopfschmerz
→ Blutung
Sich rasch entwickelnder Kopfschmerz mit
Fieber, eventuell Vigilanzstörungen
→ Meningitis/Enzephalitis
Vorangegangenes Trauma
→ Subduralhämatom
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2.1.5 Warnzeichen für symptomatische Kopfschmerzen
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2.1 Die Anamnese
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Symptom/Befund
Differentialdiagnose
Herdneurologische Ausfälle, Wesensänderung,
epileptische Anfälle, Vigilanzstörung
→ Tumor/Blutung/Enzephalitis/
Sinus-Venen-Thrombose
Akuter Beginn, Horner-Syndrom, periorbitaler
Schmerz
Akuter Beginn, okzipitaler Schmerz
→ Carotisdissektion
Neu aufgetretener Kopfschmerz bei Patienten
über 50 Jahre
→ z. B. Tumor, Arteriitis
temporalis
Ungewöhnliches Alter bei Erstmanifestation
→ z. B. zerebrale Ischämie
mit Kopfschmerzen
Kopfschmerzen ausgelöst durch Husten, Valsalva-Manöver, körperliche Anstrengung
→ Tumor oder Anlagestörung
in der hinteren Schädelgrube, Tonsillentiefstand
Karzinom in der Vorgeschichte
→ Metastase, Meningeosis
karzinomatosa
Bekannte HIV-Infektion/Immunsuppression
→ Opportunistische Infektion
• Bewusstseinsstörungen treten praktisch ausschließlich bei symptomatischen Kopfschmerzformen auf und erfordern daher stets sofortige Diagnostik. Einzige Ausnahme sind extrem seltene Formen der Migräne
mit Aura, bei denen es im Rahmen der Attacken zu quantitativen oder
qualitativen Einschränkungen des Bewusstseins kommen kann.
• Fokale neurologische Ausfälle: Neurologische Herdsymptome, die über
mehr als 60 Minuten persistieren, sind hoch suspekt auf eine symptomatische Ursache (z. B. Tumor, Blutung). Im Rahmen primärer Kopfschmerzerkrankungen treten neurologische fokale Symptome nur im Rahmen von
Migräneauren (extrem selten auch beim Cluster Kopfschmerz) auf und
halten in der Regel weniger als 60 Minuten an. Typisch für eine Aura ist
die Entwicklung der Symptome über Minuten und mit einer Abfolge von
Reizphänomen und nachfolgenden Ausfallssymptomen (z. B. erst Blendgefühl, danach kurzzeitiges Skotom). Typischerweise kommt es zu einer
visuellen Aura, seltener sind zusätzliche, nachfolgende somatosensorische,
motorische, psychische und vestibuläre Symptome.
Klinisches Beispiel: Bei der Abgrenzung einer Migräne mit Aura von einer zerebralen Ischämie mit Kopfschmerzen ist auf die genaue zeitliche Abfolge der
Symptome, die betroffenen Gefäßterritorien, das Alter und vaskuläre Risikoprofil der Patienten zu achten: Eine Migräneaura beginnt fast ausnahmslos mit
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→ Vertebralisdissektion
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24 2 KS-Diagnostik
Sehstörungen in Form eines allmählich immer größer werdenden Flimmerskotoms (kortikale Funktionsstörung im Versorgungsgebiet der A. cerebri posterior). Weitere neurologische Reiz- oder Ausfallsymptome (sich ausbreitende
Sensibilitätsstörungen an der Hand und im Gesicht oder Sprachstörungen/
kortikale Funktionsstörung im A. cerebri media Stromgebiet) können im weiteren Verlauf dazukommen. Aurasymptome halten typischerweise nicht länger als 30 bis maximal 60 Minuten an. Kopfschmerzen entwickeln sich meist
erst nach, seltener noch während der Aurasymptome.
Bei der zerebralen Ischämie setzen die neurologischen Ausfallsymptome dagegen fast schlagartig ein und sind in aller Regel auf ein einziges Gefäßstromgebiet zu beziehen. Begleitende Kopfschmerzen treten oft bereits zusammen
mit den Herdsymptomen auf. Zerebrale Ischämien im hinteren Stromgebiet
gehen häufiger mit Kopfschmerzen einher als Ischämien im Versorgungsgebiet der Arteria cerebri media. Gerade bei älteren Patienten mit vaskulären
Risikofaktoren ist beim erstmaligen Auftreten von Halbseitenkopfschmerzen
und Sehstörungen schon allein auf Grund des Alters eine sich erstmals manifestierende Migräne mit Aura eine Ausschlussdiagnose!
2.1.6 Weitere Aspekte der Anamnese
In der Anamnese sollten auch Informationen zur allgemeinen Vorgeschichte, Medikation und Familienanamnese erfragt werden, da sie wichtige
Hinweise auf das Vorliegen eines sekundären Kopfschmerzsyndroms liefern
könnten. Der tatsächliche Analgetikakonsum muss gezielt ermittelt werden.
Kopfschmerzen bei Medikamentenübergebrauch machen weltweit in Spezialsprechstunden einen Anteil von ca. 15–30 % aus, in der Gesamtbevölkerung liegt die Prävalenz bei 1–2 %. Die weitere Medikamentenanamne-
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• Epileptische Anfälle: Sie sind immer ein Zeichen für eine symptomatische
Ursache. Ausnahme ist die sogenannte benigne Epilepsie mit okzipitalen
Spikes in der Kindheit.
• Fieber muss immer an eine Meningitis oder Enzephalitis denken lassen.
Extrem selten kommt es im Rahmen einer Migräne zu Temperaturerhöhungen (Ausschlussdiagnose!).
• Meningismus: Ist immer Zeichen einer symptomatischen, vital bedrohlichen Ursache (Subarachnoidalblutung, Meningitis, Enzephalitis).
• Perakut einsetzender Kopfschmerz ungewöhnlicher Heftigkeit: Hier
muss bis zum Beweis des Gegenteils von einer Subarachnoidalblutung
ausgegangen werden.
• Kopfschmerzen, die lang anhaltend sind und progredient zunehmen,
sind untypisch für primäre Kopfschmerzen und sollten kritisch hinterfragt werden.
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