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Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V., Sektion Thüringen
Referate
anlässlich der 17. Ernährungsfachtagung zum Thema:
„Altersassoziierte Erkrankungen –
Prävention durch Ernährung“
am 5. November 2009 in Jena
unter der Schirmherrschaft des Thüringer Ministeriums
für Soziales, Familie und Gesundheit
INHALT
Seite
Vorwort
3
Sponsoren
7
Grußwort des Thüringer Ministeriums für Soziales,
Familie und Gesundheit
Heike Taubert, Erfurt
8
Kann der Alterungsprozess durch Ernährung beeinflusst werden?
PD Dr. Marc Birringer, Jena
Arteriosklerose: Was kann die Ernährungsforschung von der
Wirkstoffforschung lernen?
Prof. Dr. Stefan Lorkowski, Jena
Krebsprävention - Was kann die Ernährung leisten?
PD Dr. Michael Glei, Jena
11
22
34
Einfluss von Ernährungsfaktoren auf die Krankheitsaktivität
entzündlich-rheumatischer Erkrankungen
Dipl. Troph. Christine Dawczynski, Jena
44
Makuladegeneration - Ist eine Sehverbesserung durch gezielte
Ernährung möglich?
PD Dr. Jens Dawczynki, Jena
59
Ist Multiple Sklerose durch Ernährung beeinflussbar?
Chefarzt Dr. med. Rainer Stange, Berlin
68
Muskelfunktion im Alter und Prävention der Sarkopenie
Prof. Dr. Jürgen Bauer, Nürnberg
83
Warum sind die Japaner die ältesten Menschen der Welt?
Prof. Dr. Motoi Nishi, Sapporo, Japan
90
2
Vorwort
Sehr geehrte Damen und Herren,
die 17. Ernährungsfachtagung der DGE-Sektion Thüringen beschäftigte sich mit der
sehr aktuellen Thematik zum Bedeutung der Ernährung bei der Krankheitsgenese. Die
Tagung folgt somit dem Gesundheitsziel der Thüringer Landesregierung, das lautet:
Kontinuierliche Verbesserung des Gesundheitszustandes der Bevölkerung des Freistaats. Speziell das Ziel 1: „Gesund alt werden - eine Herausforderung für jedes Lebensalter, Gesundheitliche Kompetenzen stärken - Risikofaktoren vorbeugen und
rechtzeitig erkennen“ stand im Fokus der Ernährungsfachtagung.
Die öffentliche Diskussion zum Thema Ernährung beschäftigte sich im Jahre 2009 besonders mit den Lebensmittelimitaten und mit den publizierten Erkenntnissen der EFSA
(European Food Safety Authority). Letztere haben besonders die Lebensmittelproduzenten bewegt. Was haben diese beiden Diskussionspunkte mit dem Tagungsthema zu
tun. Mit Sicherheit sind Imitate keine Lösung, wenn es um eine präventive Ernährung
und die Vermeidung von ernährungsmitbedingten Erkrankungen geht.
Beispiele für Imitate, die in letzten Monaten angeboten wurden
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
Gepresstes Fischeiweiß in Garnelenform (Täuschend echt!)
Meeresfrüchtecocktail ohne Meeresfrüchte
Putenfleischsalat ohne Putenfleisch
Analogkäse
Schinkenimitate
Schokoladenkekse ohne Schokolade
Fruchtjoghurt ohne Früchte
Anbieter möchten mit diesen Produkten beim Einsatz teurer Rohprodukte sparen bzw.
hochwertige Zutaten vortäuschen. Diese hochverarbeiteten Lebensmittel enthalten oft
kein einziges Gramm an Früchten, Nüssen oder Fleischsorten, stattdessen werden
Aromastoffe eingesetzt. „Natürliches Aroma“ bedeutet nicht, dass der entsprechende
Rohstoff enthalten ist; lediglich die Grundstoffe naturidentisch. Ein als „Milchmischgetränk – Erdbeerdrink“ deklariertes Erzeugnis müsste folglich als Milchmischgetränk mit
Aroma, Typ Erdbeere gekennzeichnet werden.
Von der EFSA werden erstmalig Referenzwerte erarbeitet:
3
Teil 1: Makronährstoffe - Empfehlungen zu Fetten und Kohlenhydraten (2009)
Teil 2: Mikronährstoffe - Vitamine und Mineralstoffe (2010)
Die bereits erschienen Empfehlungen zu den Makronährstoffen enthalten keine wesentlich neuen Erkenntnisse:
1. Aufnahme von Kohlenhydraten: 45 bis 60 % der Energieaufnahme
2. Unzureichende Datenlage für Zucker (insgesamt oder zugesetzt) ĺ keine Empfehlungen der EFSA
3. Normale Darmtätigkeit im Erwachsenenalter: 25 g Ballaststoffe pro Tag sind ausreichend.
4. Die Bedeutung von glykämischem Index und glykämischer Last bzgl. Aufrechterhaltung des Körpergewichts und der Prävention von ernährungsmitbedingten
Krankheiten nicht eindeutig belegt.
Speziell zu Fetten gibt die EFSA Empfehlungen:
Die Aufnahme von Fetten sollte 20 bis 35 % der Energieaufnahme betragen (außer
Säuglinge), wobei die Aufnahme von gesättigten Fettsäuren und trans-Fettsäuren minimiert werden sollte. Da die gesättigten Fettsäuren (SFA) vom menschlichen Körper
synthetisiert werden können, besteht kein Bedarf. Die SFA-Aufnahme ist mit dem LDLCholesterol assoziiert (im Vergleich zu Kohlenhydraten). Ein Austausch von SFA durch
n-6-PUFA mindert das Risiko für koronare Herzkrankheiten. Die EFSA nennt kein upper
limit für die SFA-Aufnahme; empfiehlt aber eine Einschränkung im Verzehr im Rahmen
einer normalen Diät.
Auch die einfach ungesättigten Fettsäuren (MUFA; cis-Konformation) werden vom Körper synthetisiert, so dass auch dafür kein Bedarf besteht. Es gibt keinen Hinweis für
eine Eignung der MUFA in der Prävention von ernährungsmitbedingten Erkrankungen.
Die Kommission verzichtet deshalb auf die Angabe von dietary reference values.
Die mehrfach ungesättigte Fettsäure (PUFA) Linolsäure kann von Säugern nicht synthetisiert werden (essentielle Fettsäure). Es existiert eine negative Korrelation zwischen
Linolsäure und LDL-Cholesterol bzw. eine positive zum HDL-Cholesterol. Ein Schwellenwert für eine minimale Aufnahme von Linolsäure zur Prävention von koronaren
Herzkrankheiten kann nicht definiert werden. Die Kommission empfiehlt als adequate
intake für Linolsäure 4 En%, setzt aber kein upper limit für n-6-PUFA. Auch die alphaLinolensäure (ALA) kann nicht vom Menschen synthetisiert werden (essentielle Fettsäure). Deshalb empfiehlt die Kommission als adequate intake für ALA 0,5 En%. Ein upper
4
limit für ALA definiert sie nicht. Die so genannten Fischölfettsäuren Eicosapentaensäure
(EPA) und Docosahexaensäure (DHA) können vom menschlichen Körper aus ALA gebildet werden. Physiologische Effekte werden bei > 1 g ALA/Tag beobachtet (TriacylglycerideĻ, PlättchenaggregationĻ, Blutdruck Ļ). Die Kommission empfiehlt als adequate intake 250 mg/d EPA + DHA für die Primärprävention der koronaren Herzkrankheit.
Da auch Cholesterol vom Körper synthetisiert wird, besteht kein Bedarf. Obwohl es
eine positive Korrelation zwischen der Cholesterolaufnahme und Serum-LDLCholesterol gibt, hängt die Serumkonzentration des Cholesterols hauptsächlich von der
Aufnahme an gesättigtem Fett ab. Aus diesem Grunde gibt die Kommission keine zusätzlichen Empfehlungen zur Cholesterolaufnahme neben denen für SFA.
Kontrovers wird augenblicklich der Health Claim für omega-3-Fettsäuren diskutiert. Die
EFSA hält ihn bei einer Zufuhr von 250 mg EPA und/oder DHA sowie 2 g ALA (dietary
reference
value)
für
erfüllt.
Dagegen
protestiert
eine
22köpfige
Omega-3-
Expertengruppe, die fordert, dass mindestens 500 mg Omega-3-Fettsäuren (n3-LCPUFA) pro Tag aufgenommen werden müssen und sieht im Vorschlag der Kommission
eine Begünstigung der pflanzlichen n-3-Quellen (ALA). Die Konversionsrate von ALA zu
den Fischölfettsäuren ist niedrig und zu DHA zu vernachlässigen, so dass kein gesundheitliches Benefit zu erwarten ist. Außerdem berücksichtigt die EFSA mit diesem Vorschlag nicht die hohen Omega-6-Aufnahmen mit der üblichen Western Diet.
Das Thema der Tagung beinhaltet prinzipiell auch die Frage nach der Verzögerung des
Alterungsprozesses durch gezielte Ernährung. Diese Frage ist mindestens genau so alt,
wie die Menschheit selbst. Bis jetzt gibt es keine bemerkenswerten Fortschritte. Die
einzige Möglichkeit besteht in der energiereduzierten Ernährung. Bei Versuchstieren
(Ratten, Mäuse, Affen) konnte die Lebenserwartung bis 50 % erhöht werden, wenn
mind. 30 bis 50 % weniger Energie aufgenommen wurde und eine möglichst erhöhte
Nährstoffdichte für die Aufrechterhaltung der Körperfunktionen zur Verfügung stand. Die
Energiereduktion vermindert offensichtlich die altersassoziierte Akkumulation von oxidativ geschädigten Proteinen, Lipiden und von DNA. Bei Menschen fehlt die erforderliche
Compliance, so dass sich folgende Fragen ergeben:
1. Welcher Mechanismus liegt zugrunde?
2. Kann dieser imitiert werden ohne zu hungern?
5
Aus den bisherigen Ergebnissen kann geschlussfolgert werden, dass eine Leicht hypokalorische Ernährung bei ausreichender Nährstoffzufuhr positiv auf die Lebenserwartung auswirkt.
Ein herzliches Dankeschön gilt allen Vortragenden, die anlässlich unserer 17. Ernährungsfachtagung referierten. Bei Frau Ministerin Heike Taubert sowie bei den Mitarbeitern des Thüringer Ministeriums für Soziales, Familie und Gesundheit, Herrn Dr. Gisbert
Paar, Herrn Wilfried Gaide und Frau Ursula Lehmann, möchten wir uns herzlich für die
Übernahme der Schirmherrschaft bzw. für die Unterstützung der Sektion Thüringen der
Deutschen Gesellschaft für Ernährung bedanken. Die Mitarbeiter des Ministeriums haben sich dafür eingesetzt, dass wir diese Ernährungsfachtagung durchführen und dieses Sonderheft erstellen konnten.
Prof. Dr. G. Jahreis,
Jena, im November 2009
Leiter der Sektion Thüringen der DGE
6
Die Sektion Thüringen dankt den Sponsoren für die Unterstützung der
17. Ernährungsfachtagung
Herzgut Landmolkerei Rudolstadt-Schwarza
Humana Milchindustrie GmbH, Werk Erfurt
Südthüringer Frischdienst GmbH, Obermaßfeldt
Käserei Altenburger Land, Lumpzig
Ostthüringer Backwaren GmbH, Jena
Thüringer Waldquell Mineralbrunnen GmbH, Schmalkalden
Nestlé Professional GmbH, Frankfurt a. M.
Yakult Deutschland GmbH, Neuss
Globus, Isserstedt
Gutena WHG Weißenfelser Handelsgesellschaft mbH, Weißenfels
Gönnataler Putenspezialitäten GmbH, Altengönna
Thüringer Sozialakademie GmbH, Chefkoch Herr Melchert, Jena
Verbraucherzentrale Thüringen eV und STEP-Studenten der FSU
Chefkoch Lutz Melchert Thür. Sozialakademie und STEP
Verbraucherzentrale: Info-Mobil, Ausstellung
7
Grußworte des Leiters des Referates Verbraucherschutz im Thüringer Ministerium für Soziales, Familie und Gesundheit, Herrn Wilfried Gaide, anlässlich der 17.
Ernährungsfachtagung am 5. November 2009 in Jena.
Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Jahreis, meine sehr geehrten Damen und Herren,
ich freue mich heute hier in den Räumen der Friedrich-Schiller-Universität zu sein, um
an der 17. Ernährungsfachtagung der Sektion Thüringen der Deutschen Gesellschaft
für Ernährung teilzunehmen. Ich überbringe Ihnen die herzlichen Grüße von Thüringens
neuer Sozialministerin Frau Heike Taubert, die erst gestern von Frau Ministerpräsidentin Lieberknecht zur Thüringer Ministerin für Soziales, Familie und Gesundheit ernannt
wurde. Frau Ministerin Taubert wünscht dieser Veranstaltung einen guten Verlauf. Sie
wäre sicherlich gern hier in Jena gewesen, aber sie haben sicherlich Verständnis dafür,
dass Frau Ministerin gerade zu Beginn ihrer Amtszeit in Erfurt präsent sein muss.
Ich persönlich freue mich, dass ich heute in meiner neuen Funktion als Referatsleiter
Verbraucherschutz im Thüringer Sozialministerium erstmals an einer von der DGE veranstalteten Ernährungsfachtagung teilnehmen kann. Die heute zu behandelnden Themenschwerpunkte Ernährung, Älterwerden und altersassoziierte Krankheiten erscheinen mir nicht nur interessant sondern auch in einem gewissen Maße vertraut, da sie
doch enge Berührungspunkte mit meinem vorangegangenen Fachgebiet, der Seniorenpolitik haben.
Jeder von uns will alt werden und sicherlich will jeder von uns den Alterungsprozess
verlangsamen. Keiner von uns möchte in der ihm verbleibenden Lebenszeit krank oder
gar pflegebedürftig werden. Wie also können wir älter werden, alt sein und dabei den
körperlichen Abbauprozess verlangsamen, Krankheiten verhindern oder bestehende
Leiden mindern?
Die Beantwortung dieser Frage ist sicherlich wichtig für einen jeden von uns. Sie ist
aber auch von großer Bedeutung für unser Gemeinwesen, für den Staat, für die Krankenkassen, für die Pflegekassen um nur einige Institutionen zu nennen, da sie entsprechende Strukturen und vor allen Dingen Finanzmittel bereitstellen müssen.
Doch zurück zur Kernfrage:
Wie können die jüngeren Menschen in Thüringen, vorzeitiger Alterung und Krankheiten
vorbeugen?
8
Wie können sich vor allem die über 600 000 in Thüringen lebenden älteren Menschen
länger gesund erhalten?
Schon seit dem Altertum ist sich die Fachwelt darin einig, dass die Ernährung hier eine
wichtige Rolle spielt. Nicht von ungefähr wird Hippokrates der Satz zugeschrieben
„Lass die Nahrung dein Heilmittel sein.“
Heute wissen wir sehr viel konkreter, dass zum Beispiel bei der Bewältigung des oxidativen Stresses die genetischen Kontrollmöglichkeiten der Älteren abnehmen und die
Ernährung eine besondere Bedeutung gewinnt. Wir wissen, dass mit Hilfe einer energieärmeren Kost, welche trotzdem alle Mikronährstoffe enthält, die Lebensspanne verlängert werden kann.
Forschungsergebnisse der letzten Jahre zeigen, dass Lebensmittel die mentalen kognitiven Hirnfunktionen positiv beeinflussen können. Eine wichtige Rolle hierbei spielen die
Vitamine B1 und B12 und Folsäure. Wir wissen auch, wie schädlich in vielen Bereichen
der Genuss von Alkohol ist.
Fast genauso wichtig wie dieses Wissen ist aber die Antwort auf die Frage, wer bringt
die gewonnen wissenschaftlichen Erkenntnisse der Bevölkerung näher, wer hilft bei der
Umsetzung dieser Erkenntnisse?
Hier übernimmt die Deutsche Gesellschaft für Ernährung eine wichtige Funktion. Schon
seit mehreren Jahren nehmen sie sich meine Damen und Herren von der DGE auch
dem Themenkreis „Ältere Menschen und Ernährung“ an. So befassen sie sich zum
Beispiel mit der Umsetzung von vollwertiger Ernährung für Seniorinnen und Senioren.
Sie fördern die interdisziplinäre Zusammenarbeit der Fachkräfte in der Seniorenverpflegung - um nur einige Inhalte des bundesweiten Projektes „fit im Alter- Gesund essen,
besser leben“ zu nennen. Besonders freue ich mich, dass sich die DGE mit ihrem
Fachwissen auch einem Personenkreis zugewandt hat, der unser aller Fürsorge in besonderem Umfang bedarf. Der Gruppe der Pflegebedürftigen in Heimen.
Die im Ernährungsbericht 2008 veröffentlichten Ergebnisse der ErnSTES-Studie zeigen, dass in diesem Bereich Handlungsbedarf besteht. Vor diesem Hintergrund werden
die vor Kurzem in Bonn vorgestellten Qualitätsstandards der DGE für die Verpflegung
in den Pflegeheimen vom Thüringer Ministerium für Soziales, Familie und Gesundheit
äußerst positiv bewertet. Wir werden versuchen, gemeinsam mit ihnen und unseren
Partnern auf Seiten der Leistungserbringer, diese Maßstäbe in die Praxis der Heime
umzusetzen.
9
Meine Damen und Herren,
die Problematik der Prävention durch Ernährung im Alter wird durch die Sektion Thüringen über diese bundesweiten Projekte hinaus auf verschiedene Art und Weise den
Menschen im Lande nähergebracht. Gesundheitstage, Vortragsreihen in Seniorenheimen, Weiterbildungsmaßnahmen für Fachpersonal und Veranstaltungen wie die heutige Fachtagung sind nur einige Formen, die ich hier nennen möchte.
Für dieses Engagement Herr Professor Jahreis, Herr Maichrowitz darf ich ihnen im
Namen der Thüringer Landesregierung recht herzlich danken. Ich darf Ihnen versichern, dass das Fachreferat die Arbeit der Sektion Thüringen der DGE auch im nächsten Jahr nach besten Kräften unterstützen wird.
10
Kann der Alterungsprozess durch Ernährung beeinflusst werden?
PD Dr. Marc Birringer, Lehrstuhl für Humanernährung, Institut für Ernährungswissenschaften, Dornburger Str. 29, 07743 Jena
Abstract
Einer der ersten Altersforscher, der Weimarer Arzt Christoph Wilhelm Hufeland formulierte im 18. Jahrhundert in seinem Buch "Makrobiotik oder Die Kunst das
menschliche Leben zu verlängern" erste Ansätze zur Beeinflussung des Alterungsprozesses. Er proklamierte, dass neben körperlicher Arbeit, die Ernährung des Menschen einen wesentlichen Einfluss auf ein gesundes Altern haben kann. Viele seiner
Thesen haben auch Heute noch Bestand und sind Gegenstand aktueller Forschung.
Moderne Thesen machen reaktive Sauerstoffspezies (ROS) für das Altern im Allgemeinen sowie altersbedingte Erkrankungen wie Krebs oder Atherosklerose verantwortlich. Aus diesem Grund hat sich ein ganzer Industriezweig entwickelt, der Nahrungsergänzungsmittel produziert die diesem Stress entgegenwirken sollen, so genannte Antioxidantien. In den letzten Dekaden haben eine Reihe von Humanstudien
mit diesen Substanzen jedoch keinerlei positive Effekte auf die Entstehung der oben
erwähnten Krankheitsbilder gezeigt, im Gegenteil, in einem Teil der Studien konnten
sogar nachteilige Effekte von Supplementen nachgewiesen werden. In unserer Abteilung haben wir uns daher die Frage gestellt ob die ROS nur Nachteilig für den Körper
sind oder ob diese auch positive Eigenschaften haben können. Eine kürzlich von uns
publizierte Studie an untrainierten jungen Männern zeigte, dass sich regelmäßiges
körperliches Training positiv auf deren Blutzuckerspiegel und Insulinsensitivität auswirkte, zwei Parameter die das Entstehen eines Diabetes Mellitus vom Typ II vorhersagen können. Dieser positive Effekt wurde durch reaktive Sauerstoffverbindungen
die während der Trainingsphase entstanden vermittelt. Nahmen die Personen jedoch
höhere Dosen von Antioxidantien zu sich, wurde der positive Effekt des Trainings auf
den Blutzuckerspiegel völlig aufgehoben. Diese und andere Studien zeigen sehr eindeutig, dass ROS wichtige Signalmoleküle sind und der Körper diese braucht um auf
einen initialen Stressstimulus zu reagieren. Diese Reaktion die auch "adaptive response" genannt wird kann nicht nur durch sportliche Betätigung induziert werden
sondern auch durch Ernährung bzw. Nahrungsinhaltsstoffe. Ziel zukünftiger Arbeiten
11
wird es daher sein solche Substanzen zu identifizieren und mechanistisch zu untersuchen.
Lebensverlängernde Interventionen
Wird die mitochondriale Biogenese bzw. Aktivität gesteigert, so kann im Allgemeinen
von einem Nutzten für den Gesamtorganismus gesprochen werden. Nur wenige
Möglichkeiten sind derzeit wissenschaftlich belegt, mit deren Hilfe sich der mitochondriale Metabolismus steigern lässt und man mit einer gesteigerten Lebenserwartung rechnen kann. Dies ist zum einen die Kalorierestriktion, bei der man von einer
um 30 % reduzierten lebenslangen Diät ausgeht, regelmäßiger sportlicher Betätigung
und der wahrscheinlich durch die Aufnahme bestimmter Nahrungsinhaltsstoffe. Dem
gegenüber stehen vor allem die altersassoziierten Erkrankungen wie Krebs, Atherosklerose oder Diabetes Mellitus Typ II (s. Abb. 1).
Metabolismus,
Lebenserwartung
Metabolismus,
Lebenserwartung
Intervention
• Kalorienrestriktion (Fasten)
• Sport
• Nahrungsinhaltstoffe
• Krebs, Neurodegeneration
• Atherosklerose, Kardiomyopathien
• Übergewicht, Typ II Diabetes, etc.
Mechanismen ?
Abbildung 1: Einflüsse auf die Lebenserwartung beim Menschen.
Der Lehrstuhl Humanernährung an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena beschäftigt sich mit den Mechanismen die den lebensverlängernden Interventionen zu Grunde liegen.
12
Als zentrales Organell im Energiestoffwechsel stehen die Mitochondrien, die auf der
einen Seite aus Glukose bzw. Pyruvat durch oxidative Phosphorylierung Energie gewinnen auf der anderen Seite jedoch Hauptquelle von so genannten reaktiven Sauerstoffspezies sind (ROS).
Neben den klassischen Hypothesen zur Alterung die in den 50iger Jahren des letzten
Jahrtausend entwickelt wurden, weiß man Heute mehr über die Entstehung von ROS
und den Zusammenhang mit altersassoziierten Erkrankungen [1]. So kann ein zu viel
an ROS die mitochondriale DNA (mtDNA) schädigen und so zu einer eingeschränkten Funktion der Komplexe der Atmungskette führen, was wiederum zu einer vermehrten ROS-Bildung führt. Dieser Teufelskreis wird für die Alterungsprozesse verantwortlich gemacht. Ein großer Überschuss an ROS führt jedoch zum gewollten Absterben der Zelle, zur so genannten Apoptose. Der Organismus kann so stark geschädigte Zellen eliminieren und einem unkontrollierten Wachstum (Krebs) entgegenwirken. Aktuelle Forschungsergebnisse deuten jedoch auf positive Effekte von
ROS hin. So werden sowohl bei der Kalorierestriktion als auch bei sportlicher Betätigung ROS von den Mitochondrien produziert, die eine Signalfunktion haben (Abb. 2).
Durch diesen transienten Stress werden Stresssensoren aktiviert die wiederum die
körpereigenen Abwehrmechanismen aktivieren.
CO2
ATP
„Ageing“
Matrix
mtDNA
∼ 17kbp
Glukose
ROS
Fettsäuren
oxidativer
Stress
ROS
ROS
ROS
H2O
O2
Signaltransduktion (p38/Nrf-2)
Gesundheitsfördernde Wirkung
Apoptose
Vermindertes Krebswachstum
Abbildung 2: Wirkungsweise von reaktiven Sauerstoffspezies in den Mitochondrien.
13
Hierzu zählen die Enzyme der (endogenen) antioxidativen Abwehr des Körpers, Superoxiddismutase (SOD), Glutathionperoxidase (GPX) und Katalase. Als weitere,
exogene Antioxidantien sind die Vitamine A, E, C, das Selen (als Bestandteil der
GPX) sowie Pflanzeninhaltsstoffe (Polyphenole etc.) zu nennen. Das Zusammenspiel
von exogenen und endogenen Antioxidantien ist am Beispiel der Lipidoxidation in
Abb. 3 dargestellt.
Oxidativer Stress / endogene ROS
L
LH
.
O2
Radikale
LOO
LOOH
.
α−TOH
α− TO
ROOH
E-Se-
LOOH
ROH
GS-SG
GPx
.
Ascorbat
Ascorbat
.
Liponsäure
oder GSH
E-SeOH
GSH
GSH
Ascorbat
E-Se-SG
H2O
Abbildung 3: Model zum Zusammenspiel der endogenen und exogenen antioxidativ wirksa-
men Komponenten. α-TOH = α-Tocopherol (Vitamin E), L = Lipide (ungesättigte Fettsäuren),
GSH = Glutathion.
Kalorienrestriktion ist ein durch ROS vermittelter Prozess
Es hat sich in der Vergangenheit gezeigt dass elementare Prozesse wie z. B. der des
Energiestoffwechsels auch in niederen Organismen in gleicher Weise wie beim Menschen ablaufen. Daher liegt es nahe diese Organismen zum Studium solcher Prozesse zu nutzen. Der Nematode C.elegans ist ein gut charakterisierter Organismus
mit einer Lebensspanne von nur 30 Tagen; ideal zum Studium von Lebensspanneexperimenten. Wir konnten am Modelorganismus C. elegans zeigen, dass durch eine
14
chemisch induzierte Glukosereduktion mit 2-Deoxyglukose es zu einem transienten
Anstieg der reaktiven Sauerstoffspezies kam [2]. Gleichzeitig wurde die Respiration
gesteigert was durch eine vermehrte Verbrennung von Fetten erklärt werden kann.
Folglich reduzierte sich auch der Fettgehalt des Wurmes. In folge der Kalorierestriktion verhielt sich der Nematode wie andere Organismen auch, die mittlere Lebenserwartung erhöhte sich signifikant (Abb. 4).
Calorie Restriction Induces Respiration
Respiration / Protein (%)
100
80
60
40
20
0
**
Control
DOG
14CO
2
Production / Protein (%)
2-Deoxy-Glucose (DOG) Inhibits
Metabolism of 14C-Glucose
0.04
n.s.
*
*
0.03
0.02
0.01
0
Contr.DOG
2h
24h
140
*
*
24h
48h
120
100
80
60
Contr.DOG
2h
Calorie Restriction Extends Lifespan
Survivors (%)
Fat (µg) / Protein (µg)
Calorie Restriction Reduces Fat Content
160
100
60
40
20
0
0
48h
N2 (wt)
2-DOG
80
P < 0.0001
5
10
15 20 25
Time (d)
30
35
40
Abbildung 4: Chemisch induzierte Kalorienrestriktion erhöht die Lebenserwartung in C. elegans.
Um den lebensverlängernden Effekt der durch Kalorienrestriktion vermittelt wird auf
das Auftreten von reaktiven Sauerstoffspezies zurückzuführen, wurden die Versuche
unter Verwendung von Antioxidantien wiederholt. Interessanterweise waren die Effekte auf die Lebensverlängerung aufgehoben. Sowohl wasserlösliche Antioxidantien
wie N-Acetylcystein, ein Substrat für die Glutathionsynthese, oder Vitamin C als auch
lipidlösliche Antioxidantien wie Vitamin E zeigten diesen für den Wurm nachteiligen
Effekt (Abb. 5).
15
Lifespan:
DOG + N-Acetyl-Cystein (NAC)
**
Survivors (%)
Fluorescence / Protein (%)
Calorie Restriction Promotes
ROS-Production
300
200
100
0
100
N2 (Wt)
NAC (n.s.)
DOG (< 0.0001)
NAC+DOG (n.s.)
80
60
40
20
0
0
Kontr. DOG
100
N2 (Wt)
Vit C (n.s.)
DOG (< 0.0001)
Vit C+DOG (n.s.)
80
60
40
20
0
0
5
10
15
20
Time (d)
25
10
15 20 25
Time (d)
30
35
40
Lifespan: DOG + Vitamin E
80
60
40
20
0
30
N2 (Wt)
Vit.E (n.s.)
DOG (< 0.0001)
Vit.E+DOG (n.s.)
100
Survivors (%)
Survivors (%)
Lifespan: DOG + Vitamin C
5
0
5
10
15
20
Time (d)
25
30
Abbildung 5: Antioxidantien inhibieren den lebensverlängernden Effekt der Kalorierestriktion
in C. elegans.
Gesundheitsfördernde Effekte beim Menschen werden durch die Gabe von Antioxidantien aufgehoben
Bewegungsmangel gepaart mit gesteigerter Nährstoffaufnahme sind in weiten Teilen
der Industriegesellschaft Ursache für das Auftreten von Diabetes Mellitus Typ II;
auch schon im Kindesalter. Regelmäßige sportliche Betätigung hingegen verbessert
den nüchtern Blutzuckerspiegel und die Insulinsensitivität. Der positive Effekt sportlicher Betätigung tritt auch bei übergewichtigen Personen auf. Es ist außerdem bekannt dass Sport selbst als Antioxidant wirkt, indem er die Enzyme der antioxidativen
Abwehr des Körpers induziert [3]. Hier sind die Superoxiddismutase und die Glutathionperoxidase zu erwähnen. Zusätzlich werden Transkriptionsfaktoren aktiviert
die eine Zunahme der mitochondrialen Biogenese induzieren, hier in erster Linie der
peroxisome proliferator-activated receptor gamma coactivator 1-alpha (PGC-1α). Als
Hypothese der von uns in Kooperation mit den Sportwissenschaften der Universität
Leipzig durchgeführten Interventionsstudie lag der durch Sport induzierte, kurzzeitige
Anstieg der endogenen ROS-Produktion zu Grunde. Sportliche Aktivität generiert
16
transient reaktive Sauerstoffspezies welche wiederum die Ursache für die positiven
Effekte des Sports auf die Glukosehomeostase sein könnten [4]. Werden diese reaktiven Intermediate durch Antioxidantien gehemmt, sollte sich dies negativ auf die
durch Sport induzierte Aktivierung der oben genannten Faktoren auswirken (Abb. 6).
Antioxidantien
PGC1α
PGC1
PPAR
GLUT2
Radikale
GLUT4
SOD, GPx, Katalase
Antioxidantien
Abbildung 6: Reaktive Sauerstoffspezies vermitteln den positiven Effekt des Sports auf die
Glukosehomeostase.
Um diese Hypothese zu prüfen wurden untrainierte und trainierte, freiwillige Männer
einer Sportintervention unterzogen. In Untergruppen wurde je eine Gruppe mit Vitamin E und C supplementiert, die andere Gruppe mit einem Placebo. Das Studiendesign ist Abbildung 7 zu entnehmen.
17
Probanden-Datenbank
26±5 Jahre, männlich, BMI <27kg/m2, keine chronischen Erkrankungen, …..
untrainiert
vortrainiert
(<2 h körperliche Aktivität pro Woche)
n=20
(>6 h körperliche Aktivität pro Woche)
n=20
Randomisierung
Randomisierung
n=10
n=10
Clamp, Muskelbiopsie, Serum
„prä“
Clamp, Muskelbiopsie, Serum
Placebo (28 d)
n=10
n=10
Vit.C/Vit.E (28 d)
Placebo (28 d)
Vit.C/Vit.E (28 d)
definiertes Training (28 d)
definiertes Training (28 d)
„post“
Clamp, Muskelbiopsie, Serum
Clamp, Muskelbiopsie, Serum
Abbildung 7: Studiendesign
Die Ergebnisse der Studie sind in folgenden Abbildungen dargestellt. Zur Bestimmung der Insulinsensitivität und der Fähigkeit des Körpers Glukose zu verstoffwechseln wurde ein hyperinsulinämischer euglykämischer Clamp durchgeführt. Die Glukoseinfusionsrate ist hierbei ein Maß, inwiefern der Körper auf exogen zugeführtes
Insulin reagiert. Durch die Sportintervention ist in der Placebo-Gruppe sowohl bei
untrainierten als auch bei vortrainierten eine Steigerung der Glukoseinfusionsrate zu
sehen. Die Gruppe, welche während der Intervention mit Antioxidantien supplementiert wurde zeigte diesen Effekt nicht.
Vit.C/Vit.E
***
***
140
120
100
80
prä
post
Glukose-Infusionsrate
(µmol/kg*min)
Glukose-Infusionsrate
(µmol/kg*min)
Placebo
140
120
100
80
prä
post
Abbildung 8: Der positive Effekt von Sport auf die Insulinsensititvität wird durch Antioxidantien blockiert. Untrainierte Probanden (Kreise), vortrainierte Probanden (Dreiecke).
18
Anhand von Muskelbiopsien konnten PCR-Analysen durchgeführt werden um Änderungen in der Expression der mRNA zu beobachten. Ein besonders deutlicher und
hochsignifikanter Effekt war beim Transkriptions-Koaktivator PGC-1α zu sehen. Dies
verwundert nicht, spielt dieser Faktor im Energiestoffwechsel des Körpers eine zentrale Rolle [5]. Umso erstaunlicher war die Inhibierung dieses Effektes durch Supplemetierung mit Vitamin E und C (Abb. 9).
Vit.C/Vit.E
***
***
20
PGC1α RNA (AU)
PGC1α RNA (AU)
Placebo
15
10
5
0
20
10
5
0
post
prä
*
15
post
prä
Abbildung 9: Effekte von Sport und Antioxidantien auf die mRNA-Expression von PGC-1α.
Durch sportliche Betätigung wurden auch die Enzyme der antioxidativen Abwehr induziert. Wie schon erwähnt kann Sport die Expression von SOD1-, SOD2- und GPxmRNA induzieren was durch unsere Studie bestätigt wurde. Auch hier wurde der Effekt durch Vitamin-Supplementierung fast vollständig aufgehoben (Abb. 10).
Vit.C/Vit.E
***
**
30
SOD1 RNA (AU)
SOD1 RNA (AU)
Placebo
20
10
0
prä
post
30
*
20
10
0
prä
post
Abbildung 10: Effekte von Sport und Antioxidantien auf die mRNA-Expression von SOD1
(exemplarisch für die Enzyme der antioxidativen Abwehr).
19
Zusammenfassend hat diese Studie gezeigt, dass gerade bei untrainierten Personen
regelmäßige sportliche Betätigung einen positiven Effekt auf den Energiestoffwechsel hat. Im Besonderen konnte die Insulinsensitivität der Probanden verbessert werden. Verbesserte Hyperglykämie und Insulinsensitivität sind gute Prädiktoren für die
Lebenserwartung eines Menschen. Dies zeigt wiederholt, dass Sport neben der Kalorienrestriktion zu den Interventionen gehört die die Lebenserwartung steigern können. Mediatoren dieses Effekts sind reaktive Sauerstoffspezies die den Körper zu
einer adaptiven Antwort veranlassen. Dies ist eine wichtige, vielleicht die wichtigste
Eigenschaft von ROS. Werden ROS jedoch durch ein Überangebot von Antioxidantien eliminiert, kann diese Antwort nicht stattfinden (Abb. 10).
Bewegung / Sport
Antioxidantien
Kurzzeitiger Anstieg von oxidativem Stress
Induktion von Radikal-assozierter Gene (PGC1α/β, PPARγ, SOD1/2, GPx1)
Induktion von Insulinsensitivität und endogener Radikal-Abwehr
Reduziertes Krankheitsrisiko
Abbildung 11: Mechanistische Betrachtung der positiven Eigenschaften sportlicher Betätigung und deren Inhibierung durch Antioxidantien.
Der Einfluss von Ernährung und Nahrungsinhaltsstoffen auf den Alterungsprozess
Um dem Alterungsprozess entgegenzuwirken ist eine Kalorienrestriktion um 30-40%
zwar möglich, jedoch höchst unpraktikabel und würde die Lebensqualität erheblich
vermindern. Auch wird Sport in Industriegesellschaften aus verschiedenen Faktoren
nicht regelmäßig oder nur wenig betrieben. Daher ist ein vornehmliches Ziel unserer
Abteilung die Suche nach Nahrungskomponenten die dem Organismus entweder
eine Kalorienrestriktion oder sportliche Betätigung vortäuschen. Einige dieser so ge20
nannten "calorie restricition mimetics" bzw. "exercise mimetics" stammen aus dem
Bereich der pharmakologischen Forschung. Andere hingegen wurden aus Lebensmitteln isoliert wie zum Beispiel das Resveratrol [6]. Es wird die Arbeit zukünftiger
Projekte sein solche Stoffe zu identifizieren und ggf. Empfehlungen zum Verzehr solcher Verbindungen auszusprechen.
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21
Arteriosklerose: Was kann die Ernährungsforschung von der Wirkstoffforschung lernen?
Prof. Dr. Stefan Lorkowski, Biochemie der Ernährung, Institut für Ernährungswissenschaften, Dornburger Str. 25, 07743 Jena, Tel.: 03641/949710, Fax: 03641 / 949712,
E-Mail: [email protected]
Die Arteriosklerose ist eine entzündliche Erkrankung der Arterien, deren Folgen (u.a.
Herzinfarkte und Schlaganfälle) zu den häufigsten Todesursachen in westlichen Industrienationen zählen. Bis zum Jahr 2020 werden die Folgen der Arteriosklerose
voraussichtlich auch weltweit die häufigste Todesursache darstellen (Honarbakhsh &
Schachter, 2009). In den von der Arteriosklerose betroffenen Blutgefäßen bilden sich
Plaques, die im fortgeschrittenen Stadium hauptsächlich aus nekrotischem Zellmaterial und Lipiden (vornehmlich Cholesterin und Cholesterinester) bestehen und
von einer fibrösen Kappe überzogen sind, die die Plaque stabilisiert (Abbildung 1).
Die Stabilität dieser Kappe wird u.a. durch den Gehalt und die Qualität ihrer extrazellulären Matrixproteine bestimmt. Reißt die fibröse Kappe ein, bildet sich ein Thrombus, der durch den Verschluss von Blutgefäßen zu Herzinfarkten und Schlaganfällen
führen kann (Cullen et al., 2006; Lorkowski & Cullen, 2007).
Abbildung 1: Menschliche Koronararterien explantierter Herzen männlicher Spender im Alter zwischen 55 und 60 Jahren. Links: Gesunde Arterie ohne arteriosklerotische Veränderungen. Media und Intima sind normal ausgeprägt. Das Gefäßlumen
ist nicht verändert. Rechts: Arterie mit ausgeprägter charakteristischer arteriosklero 22
tischer Ablagerung. Das Lumen des Gefäßes ist deutlich eingeschränkt; die Media ist
merklich degeneriert. Der nekrotische Lipidkern, bestehend aus Cholesterin und
Cholesterinestern, erscheint hell und ist von einer ausgedünnten fibrotischen Kappe
bedeckt. Quelle: MAFAPSdb.
Die Folgen der Arteriosklerose
Die Arteriosklerose führt zu einer Verdickung der Arterienwand, die von einer Ausdehnung der erkrankten Gefäße und einer Degeneration der kontraktilen Schicht
glatter Muskelzellen begleitet wird (Cullen et al., 2006; Lorkowski & Cullen, 2007).
Durch die arteriosklerotischen Ablagerungen wird das Lumen der betroffenen Gefäße
vermindert und der Durchfluss des Blutes behindert. Bei stark ausgeprägten Ablagerungen kommt es bereits zu einer verminderten Versorgung stromabwärtsliegender
Gewebe mit Nährstoffen und vor allem lebensnotwendigem Sauerstoff. Dies führt in
betroffenen Geweben und Organen zu einer Beeinträchtigung ihrer Funktion. Ferner
verlieren die von der Arteriosklerose betroffenen Gefäße aufgrund der Ablagerungen
und der Degeneration der Media an Elastizität.
Besonders häufig sind Arterien von Herz, Gehirn und Beinen von der Arteriosklerose
betroffen; allerdings können auch Arterien von Nieren, Darm, anderen inneren Organen und den oberen Extremitäten arteriosklerotisch verändert sein. Die Folgen der
Arteriosklerose sind vielfältig und manifestieren sich in Abhängigkeit vom betroffenen
Gewebe mit unterschiedlichen Symptomen. Arteriosklerotische Verengungen von
Koronargefäßen führen zu einer verminderten Durchblutung der Herzmuskulatur und
verursachen starke, anhaltende Schmerzen im Brustkorb, die häufig mit Erstickungsanfällen und Atemnot einhergehen (Angina pectoris). Da diese Symptome erst bei
fortgeschrittener Arteriosklerose auftreten, weist die Angina pectoris in der Regel auf
weitfortgeschrittene Verengungen der Gefäße hin und ist kein Anzeichen für eine
beginnende Koronarerkrankung. Auch gehirnversorgende Arterien können arteriosklerotisch verändert sein. Die Folge sind zerebrale Durchblutungsstörungen, die
sich in Form von transitorischen ischämischen Attacken (vorübergehende Verminderung oder Unterbrechung der Durchblutung) äußern können. Dies kann sich in
Form von vorübergehenden Taubheits- oder Schwächegefühlen in den Extremitäten,
Sprach- und Gedächtnisstörungen oder Kopfschmerzen manifestieren. Die peripheren Arterien der Extremitäten, zumeist in den Beinen, können ebenfalls betroffen
sein. In frühen Stadien führt die reduzierte Durchblutung zu belastungsabhängigen
Schmerzen in den Beinen, die Betroffene zu Pausen beim Gehen zwingen (Claudica23
tio intermittens, Schaufensterkrankheit). Diese periphere arterielle Verschlusskrankheit schränkt nicht nur die Lebensqualität deutlich ein; im fortgeschrittenen Stadium
kann es zu Infektionen (Gangrän) und zum Absterben (Nekrose) des Gewebes
kommen. Aber auch andere innere Organe können durch arteriosklerotisch veränderte Gefäße in ihrer Funktion beeinträchtigt werden. Arteriosklerotisch bedingte Stenosen der Nierenarterien beeinträchtigen die Nierenfunktion. Daraus kann sich aufgrund der resultierenden Niereninsuffizienz sekundär ein Hypertonus entwickeln. In
den Arterien der Eingeweide können arteriosklerotische Verengungen ebenfalls
Durchblutungsstörungen hervorgerufen (Angina abdominalis). Ablagerungen im Bereich der Bauchaorta können zu einer Erweiterung des Gefäßes (Aneurysma) führen,
die im Laufe der Zeit einen Durchbruch des Gefäßes verursachen können.
Die Arteriosklerose führt jedoch nicht nur zu einer beeinträchtigten Durchblutung von
Geweben
aufgrund der entstehenden Verengungen. Arteriosklerotische Plaques
neigen darüber hinaus zur Ruptur oder Erosion (Cullen et al., 2006; Lorkowski & Cullen, 2007). Eine weitere Gefahr, die arteriosklerotische Ablagerungen daher mit sich
bringen, ist die hierdurch verursachte Bildung von Gerinnseln, die entweder am Ort
Ihres Entstehens als Thrombus oder nach dem Fortschwemmen im Blut als Embolus
Arterien verschließen können. Ein derartiger akuter Gefäßverschluss führt zum Absterben der stromabwärts liegenden Gewebe, da die Sauerstoffzufuhr zu den betroffenen Organen vollständig unterbunden wird. Durch den vollständigen Verschluss
eines Koronargefäßes wird ein Myokardinfarkt hervorgerufen, da es zum Absterben
von Teilen der Herzmuskulatur kommt. Die vollständige Unterbrechung der Durchblutung zerebraler Arterien führt zum Absterben von Arealen des Gehirns (ischämischer
Schlaganfall, Apoplex, Insult). Ferner können durch Gerinnsel hervorgerufene Gefäßverschlüsse auch lebensgefährliche Nieren- oder Darminfarkte verursachen.
Die Bedeutung der Arteriosklerose
Die Folgen der Arteriosklerose stellen heute die häufigste Todesursache in westlichen Industrienationen dar. Neben den in Tabelle 1 aufgeführten direkten Folgen
trägt die Arteriosklerose indirekt auch zu zahlreichen anderen tödlichen Erkrankungen, wie Niereninsuffizienz und Kardiomyopathien, bei. Darüber hinaus verlaufen
vermutlich zahlreiche Infektionserkrankungen oder Operationen unter dem Einfluss
arteriosklerotisch veränderter Gefäße verschlechtert.
24
Tabelle 1: Direkt durch die Arteriosklerose verursachte Todesfälle (Statistisches
Bundesamt 2009; Zahlen für die BRD 2007).
Todesursache
Anteil
Anzahl
Akuter Myokardinfarkt
7,0 %
57.788
Rezidivierender Myokardinfarkt
0,5 %
4.279
Schlaganfall
3,3 %
26.911
Arteriosklerose
1,3 %
10.483
Chronische ischämische Herzkrankheit
9,3 %
76.915
21,4 %
176.376
Summe
Ferner ist die Arteriosklerose für fast ein Drittel aller dauerhaften Behinderungen verantwortlich.
Die Arteriosklerose – altersassoziierte Erkrankung oder Zivilisationserkrankung?
Die Arteriosklerose begleitet die Menschheit bereits seit der Antike. So weisen Mumien aus Ägypten (Cockburn, 1975 & 1980; Magee, 1998; Sandison, 1962 & 1981;
Shattock, 1909), Nordamerika (Zimmerman, 1993) und China (Cockburn, 1980), die
aus einer Zeit von etwa 3000 v. Chr. bis 400 n. Chr. stammen, extensive makroskopische und mikroskopische Anzeichen einer Arteriosklerose der karotiden, koronaren
und femoralen Arterien auf (Ruffer, 1911 & 1920). Dies ist erstaunlich, da die Lebenserwartung zu dieser Zeit nicht sehr hoch war und die Nahrung nur wenig Fleisch
enthielt (Magee, 1998; Ruffer, 1911). Auch Tabak wurde nicht konsumiert. Diese
durch Studien an zahlreichen Mumien gewonnenen Befunde deuten darauf hin, dass
die Arteriosklerose einen Teil des Alterungsprozesses und damit eine altersbedingte
bzw. -assoziierte Erkrankung darstellt. Zahlreiche Studien belegen jedoch nachhaltig,
dass das Ausmaß der Arteriosklerose nicht nur durch das Alter und genetische Faktoren bestimmt wird. Es sind gerade die modifizierbaren Risikofaktoren – psychosoziale Faktoren (z.B. Stress), Rauchen, unzureichende Bewegung und falsche Ernährung (unter anderem einseitige Ernährung, Überernährung, Alkoholmissbrauch) –
die das Auftreten und Fortschreiten der Arteriosklerose maßgeblich beschleunigen
25
können. Demnach sind es vor allem Lebensgewohnheiten, die die Arteriosklerose
auch zu einer Zivilisationserkrankung machen können.
Die Abschätzung des Herzinfarktrisikos
Große epidemiologische Studien (z.B. PROCAM, Framingham) zeigen, dass es Unterschiede beim Auftreten und bei der Ausprägung von Risikofaktoren zwischen der
Gruppe von Personen, die innerhalb von zehn Jahren einen Herzinfarkt erlitten haben, und der entsprechenden Kontrollgruppe mit Personen ohne dieses Ereignis gibt
(Assmann, 2007a & 2008). Die in diesen Studien identifizierten und verifizierten Risikofaktoren beeinflussen das Herzinfarktrisiko unabhängig voneinander. Ferner zeigen diese Studien, dass diese Risikofaktoren eine unterschiedliche Bedeutung bzw.
Gewichtung aufweisen. Der wichtigste Risikofaktor ist neben dem Geschlecht das
Lebensalter, gefolgt von LDL-Cholesterin, Raucherstatus, HDL-Cholesterin, systolischer Blutdruck, frühzeitigen Herzinfarkten in den Familien, Diabetes mellitus und
Triglyceride. Anhand der erhobenen Daten wurden Algorithmen entwickelt, mit denen
das sogenannte Globalrisiko einer Person abgeschätzt werden kann, einen Herzinfarkt oder plötzlichen Tod durch koronare Herzkrankheit innerhalb der nächsten zehn
Jahre zu erleiden.
Von besonderer Bedeutung ist hierbei, dass das Herzinfarktrisiko nicht auf der Basis
eines einzelnen Risikofaktors bestimmt werden kann, sondern das Gesamtrisiko unter Berücksichtigung mehrerer Risikofaktoren abgeschätzt werden muss. Diese Art
der Risikobestimmung für einen Herzinfarkt erlaubt die Früherkennung eines Erkrankungsrisikos und eröffnet damit Chancen für eine rechtzeitige Prävention, insbesondere bei Hochrisikopersonen, die noch klinisch beschwerdefrei sind.
26
hoch
(7.7%)
Präsymptomatischer
Präsyptomatischer Hochrisikopatient
mit subklinischer Arteriosklerose
(Risiko >20% in 10 Jahren)
mittel
(15.0%)
niedrig oder moderat
(77.3%)
Patient mit mittlerem Risiko
(Risiko 10-20% in 10 Jahren)
Patient mit niedrigem Risiko
(Risiko <10% in 10 Jahren)
Herzinfarktrisiko
in 10 Jahren
Anteile aller
Herzinfarkte
32.3%
36.9%
14.3%
31.7%
2.7%
31.4%
Prävalenz
(Männer 35-65 Jahre)
Abbildung 2: Darstellung von Prävalenz, Herzinfarktrisiko und Anteil der Herzinfarkte für Männer im Alter von 35-65 Jahren (berechnet mit PROCAM-Algorithmus, 2007).
In Abbildung 2 sind Prävalenz, Herzinfarktrisiko und Anteil der Herzinfarkte für Männer im Alter von 35-65 Jahren dargestellt, wie sie mit dem PROCAM-Algorithmus
berechnet wurden. Diese Berechnung macht deutlich, dass etwa ein Drittel aller
Herzinfarkte bei Männern im Alter von 35 bis 65 Jahren in der Gruppe auftritt, bei der
das anhand validierter Risikofaktoren mittels PROCAM-Algorithmus ermittelte Zehnjahresgesamtrisiko einen Herzinfarkt zu erleiden unter zehn Prozent liegt. Dies bedeutet, dass von einem Herzinfarkt Betroffene in diesem Personenkreis nur einzelne
und wenige Risikofaktoren aufweisen. Aufgrund des geringen Gesamtrisikos und der
großen Zahl an Personen in diese Gruppe (vgl. Abbildung 2), und den damit für eine
Therapie aller Personen mit niedrigem Risiko verbundenen hohen Kosten, ist eine
Therapie dieses Personenkreises weder sinnvoll noch finanzierbar. Für die Herzinfarktprävention dieses Personenkreises spielen daher vor allem Ernährung und Bewegung eine große Rolle. Aus diesem Grund wird bereits seit etlichen Jahren versucht, einerseits die Auswirkung der Ernährung auf das Infarktrisiko zu ermitteln und
andererseits Lebensmittel zu entwickeln, die einem Herzinfarkt vorbeugen können.
Um eine atheroprotektive Wirksamkeit solcher Diäten oder Lebensmittel aufzuzeigen,
wird in der Regel die Senkung ausgesuchter Risikofaktoren (z.B. Plasma-LDLCholesterin-Spiegel) nachgewiesen. Ein seit Jahrzehnten bekanntes Beispiel für derartige Lebensmittel sind Phytosterol- oder Stanol-reiche und angereicherte Produkte,
die neben natürlich vorkommenden Phytosterol-reichen Produkten von verschiede 27
nen Herstellern produziert und angeboten werden. Die cholesterinsenkende Wirkung
pflanzlicher Sterole wurde erstmals 1951 beschrieben und in der Folge durch zahlreiche klinische Studien bestätigt. Phytosterol-angereicherte Lebensmittel können je
nach Art der Darreichung sowie Art und Menge der pflanzlichen Verbindung den
LDL-Cholesterin-Plasmaspiegel um bis zu 25 Prozent senken und sollten sich demnach günstig auf das Herzinfarktrisiko auswirken (Jones & AbuMweis, 2009). Bisher
gibt es jedoch keine Langzeitstudien, in denen gezeigt werden konnte, dass durch
die Phytosterol-induzierte Senkung des LDL-Cholesterins auch tatsächlich ein
Schutz vor Herzinfarkten bewirkt werden kann. Das nachfolgende Beispiel des synthetischen Cholesterin-Resorptionshemmers Ezetimib soll die Notwendigkeit aufzeigen, dass diese Studien jedoch zwingend notwendig sind, um den Nutzen des Konsums Phytosterol- oder Stanol-angereicherter Lebensmittel zu belegen.
Hemmung der Cholesterinabsorption mit Ezetimib
Ezetimib ist ein Arzneistoff aus der Gruppe der Azetidone (Abbildung 3), der die Resorption von Cholesterin im Dünndarm um mehr als 50 Prozent hemmt (Rosenblum
et al. 1998; Van Heek et al., 1997, 2001a & 2001b). Dies führt zu einer Senkung der
LDL-Cholesterin-Konzentration im Blut. Aufgrund der verminderten Resorption von
Cholesterin kommt es jedoch zu einer vermehrten endogenen Produktion von Cholesterin in der Leber. Dieser Anstieg der endogenen hepatischen CholesterinProduktion führt dazu, dass Ezetimib dosisabhängig eine Senkung des Serumspiegels von LDL-Cholesterin von etwa 20 Prozent bewirkt (Ezzet et al., 2001). Neben
verminderten LDL-Cholesterin-Serumspiegel senkt Ezetimib auch den TriglyceridPlasmaspiegel um fast sechs Prozent. Die HDL-Konzentration im Serum wird nur
schwach erhöht.
Abbildung 3:
Strukturformel
Cholesterin-Resorptionshemmers
mib.
28
des
Ezeti-
Im Tiermodell konnte die atheroprotektive Wirkung von Ezetimib belegt werden. Die
Gabe von >3 mg/kg Körpergewicht Ezetimib führte in der Apolipoprotein EDefektmaus zu einer Senkung des Plasma-LDL-Cholesterinspiegels um mehr als
50% und zu einer Reduktion arteriosklerotischer Ablagerungen auf weniger als ein
Viertel (Davis et al., 2001).
Die kürzlich publizierte EASE-Studie (Ezetimibe Add-On to Statin for Effectiveness)
an 3.030 Patienten mit Hypercholesterinämie zeigte, dass eine für sechs Wochen
zusätzlich zu einer unverändert fortgesetzten täglichen Gabe von 80 mg Simvastatin
erfolgte tägliche Verabreichung von 10 mg Ezitimib an 2.020 Patienten (vs. 1.010
Patienten mit Simvastatin plus Placebo) zu einer signifikanten Senkung des LDLCholesterins um 26 Prozent vs. drei Prozent führte (Pearson et al., 2005). Die Kombination beider Substanzen erwies sich damit als effektiver als die alleinige Gabe von
80 mg Simvastatin. Die signifikante Senkung der Surrogatparameters LDLCholesterin sollte sich demnach in einer deutlichen Reduktion der Arteriosklerose
widerspiegeln.
Im Jahr 2008 wurden die Ergebnisse der ENHANCE-Studie (Ezetimibe and Simvastatin in Hypercholesterolemia Enhances Atherosclerosis Regression) publiziert,
die keine zusätzliche atheroprotektive Wirkung von Ezetimibe belegen konnte
(Kastelein et al., 2008). In der ENHANCE-Studie wurde in einer doppel-blinden, randomisierten Studie über 24 Monate der Einfluss einer täglichen Gabe von 80 mg
Simvastatin plus Placebo mit der täglichen Kombinationsgabe von 80 mg Simvastatin
und 10 mg Ezetimib in 720 Patienten mit familiärer Hypercholesterinämie verglichen.
Unerwartet ergab die Studie, dass die Kombination von Simvastatin und Ezetimib im
Vergleich zur alleinigen Gabe von Simvastatin keinen signifikanten Einfluss auf die
Intima-Media-Dicke der carotiden und femoralen Arterien als Maß des Grades der
Arteriosklerose hatte, obwohl der LDL-Cholesterin-Spiegel durch die kombinierte
Gabe beider Medikamente signifikant und deutlich stärker gesenkt werden konnten
als durch die Einnahme des Statins allein. Diese Studie zeigte erstmals, dass – zumindest bei Patienten mit familiärer Hypercholesterinämie, die zusätzliche Senkung
des LDL-Cholesterins durch einen Cholesterin-Resorptionshemmer keinen zusätzlichen atheroprotektiven Nutzen haben.
29
Die anhand des SEAS-Patientenkollektivs (Simvastatin and Ezetimibe in Aortic Stenosis) durchgeführte Studie konnte ebenfalls keinen eindeutigen Nutzen einer Ezetimib-Behandlung hinsichtlich kardiovaskulärer Endpunkte aufzeigen (Hamilton-Craig
et al., 2009). Im Rahmen der SEAS-Studie wurden 1.873 ältere Nichtdiabetiker mit
milder bis moderater asymptomatischer Aortenstenose aber ohne Indikation für eine
lipidsenkende Therapie randomisiert entweder mit täglich 40 mg Simvastatin plus 10
mg Ezetimib oder einem entsprechendem Placebo behandelt. Obwohl das LDLCholesterol im Vergleich zur Placebogruppe um 61% erniedrigt war, gab es keine
signifikanten Unterschiede hinsichtlich der primären Endpunkte der Studie (Kombination von AVR, kardiovaskulärem Tod, nicht-tödlicher Herzinfarkt, kongestiver Herzfehler aufgrund einer Progression der Aortenstenose, koronare Revaskularisierung,
hospitale instabile Angina und nicht-hämorrhagischer Schlaganfall).
Ob eine zusätzliche LDL-Cholesterin-Senkung durch die Gabe von Ezetimib in Kombination mit einem Statin (Simvastatin) das Auftreten kardiovaskulärer Ereignisse
verhindern kann, wird derzeit im Rahmen der Studie IMPROVE-IT (IMPROVE-IT,
2009) untersucht. In dieser Studie werden etwa 18.000 Patienten mit einem akuten
Koronarsyndrom entweder täglich mit 40 mg Simvastatin oder täglich mit 40 mg Simvastatin plus 10 mg Ezetimibe behandelt. Primäre Endpunkte der Studie sind kardiovaskulärer Tod, Myokardinfarkt, Schlaganfall, Revaskularisierung und Readmission
eines akuten Koronarsyndrom. Mit Ergebnissen aus dieser Studie ist jedoch frühestens in der zweiten Hälfte des Jahres 2012 zu rechnen.
Bislang fehlt der Nachweis der Wirksamkeit der Phytosterole auf relevante klinische
Endpunkte (wie die Verminderung der Mortalität, von Herzinfarkten und Schlaganfällen). Das Beispiel des Cholesterin-Resorptionshemmers Ezetimib zeigt jedoch die
Notwendigkeit solcher Studien deutlich auf. Darüber hinaus weisen epidemiologische
Studien darauf hin, dass erhöhte Plasmakonzentrationen pflanzlicher Sterine vermehrt mit kardiovaskulären Ereignissen wie Myokardinfarkt oder plötzlichem Herztod
einhergehen (Assmann et al., 2006 & 2007b; Weingärtner et al., 2008a & 2009).
Kürzlich publizierte tierexperimentelle Studien deuten ebenfalls darauf hin, dass ein
vermehrter Konsum an pflanzlichen Sterolen die Progression und das Ausmaß der
Arteriosklerose fördern könnte (Weingärtner et al., 2008b und 2009).
30
Schlussfolgerung und Ausblick
Die Arteriosklerose ist eine altersassoziierte Erkrankung, deren Verlauf und Ausmaß
durch unsere Lebensgewohnheiten – vor allem die Art und Qualität der Ernährung
sowie die Menge der aufgenommenen Nahrung – negativ beeinflusst wird. Studien
mit Wirkstoffen wie dem Cholesterin-Resorptionshemmer Ezetimib zeigen, dass es
nicht ausreichend ist, nur die Auswirkung der Intervention auf einen Surrogatmarker
wie das LDL-Cholesterin zu ermitteln, um Aussagen über den Verlauf und die Folgen
der der Arteriosklerose machen zu können. Der Nachweis der Senkung des Surrogatmarkers LDL-Cholesterin kann nur den ersten Schritt zum Nachweis einer atheroprotektiven Wirkung eines Lebensmittels darstellen. Um die atheroprotektive Wirkung eines Lebensmittels nachzuweisen, sind zusätzlich Humaninterventionsstudien
mit klinisch harten Endpunkten (kardiovaskulären Ereignissen) zwingend notwendig.
Da es sich hierbei jedoch um Interventionsstudien mit einer entsprechend hohen
Zahl an Teilnehmern handelt, sind die Kosten für derartige Studien enorm. Würden
derartige Studien von den Herstellern der Lebensmittel obligatorisch gefordert werden, würde dies aufgrund der sehr hohen Kosten vermutlich die Entwicklung neuer
atheroprotektive Lebensmittel verhindern, da diese im Verkauf vermutlich für den
Verbraucher zu teuer sind. Daher müssen Forschungsförderprogramme entwickelt
werden, die einerseits die Entwicklung neuartiger Lebensmittel mit gesundheitlichem
Nutzen und andererseits auch die Finanzierung der zum Nachweis eines gesundheitlichen Nutzens notwendigen Humaninterventionsstudien gewährleisten. Letztendlich
werden auch Förderprogramme für Langzeitstudien benötigt, um mögliche Risiken
einer Diätintervention aufzudecken. Nur mit dieser Vorgehensweise können hinreichend validierte Daten für zukünftige Ernährungsempfehlungen und funktionelle Lebensmittel gewonnen werden.
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33
Krebsprävention – Was kann die Ernährung leisten
PD Dr. Michael Glei, Lehrstuhl für Ernährungstoxikologie, Institut für Ernährungswissenschaften, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Dornburger Str. 24, 07743 Jena
Krebs ist eine teilweise vermeidbare Erkrankung
Weltweit stellt Krebs nach Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems die zweithäufigste Todesursache an nichtinfektiösen Krankheiten dar. Jedes Jahr erkranken auf
der Welt etwa 10 Millionen Menschen daran. Allein in Deutschland sind es fast
450.000. Im Jahr 2007 starben weltweit fast 8 Millionen Menschen an Krebs und somit mehr als an Tuberkulose, Aids und Malaria zusammen [1]. Die Verteilung der
Krebsneuerkrankungen und der krebsbedingten Sterbefälle in Deutschland zeigen
die Abbildung 1 und 2.
Abbildung 1: Gesundheitsberichterstattung des Bundes 2008: Anteil (%) der einzelnen Tumorarten an den Krebsneuerkrankungen in Deutschland. (*einschließlich bösartiger Neubildungen in situ und Neubildungen unsicheren Verhaltens) [2]
Die hohe Erkrankungsrate und die vielen Sterbefälle sind umso tragischer, da Krebs
als eine zumindest teilweise vermeidbare Krankheit anzusehen ist. Jeder sollte somit
täglich dazu beitragen können, sein persönliches Krebsrisiko zu senken. Dies bedeutet allerdings nicht, dass jede Krebserkrankung verhinderbar ist. 5-10% der Neuerkrankungen sind auf ererbte, genetische Ursachen zurückzuführen. Dabei variiert der
Anteil genetisch bedingter Tumorerkrankung zwischen den Krebsformen. So ist zum
34
Beispiel das genetisch bedingte familiäre Risiko an Schilddrüsenkrebs zu erkranken,
fast 5-mal höher als einen Brusttumor zu entwickeln [3]. Hinzu kommt, dass auch bei
Beachtung aller Empfehlungen zur Krebsprävention Erkrankungen nicht völlig auszuschließen sind.
Abbildung 2: Gesundheitsberichterstattung des Bundes 2008: Anteil (%) der einzelnen Tumorarten an den krebsbedingten Sterbefällen in Deutschland. [2]
Exogen bedingte Ursachen für Krebserkrankungen
Wenn nur 5-10% aller Krebsfälle auf direkte genetische Defekte zurückgeführt werden können, bedeutet das, dass die verbleibenden 90-95% durch Umweltfaktoren
und Lebensgewohnheiten bedingt sind. Die Abbildung 3 fasst die wichtigsten exogenen Krebsrisikofaktoren zusammen. Dabei zeigt sich, dass der Konsum von Tabak
und eine ungünstige Ernährungsweise gemeinsam für fast zwei Drittel aller krebsbedingten Todesfälle verantwortlich sind.
Inzwischen ist klar belegt, Tabak ist nicht nur die Ursache für etwa 80% der Lungentumore, sondern auch an der Ausbildung unterschiedlichster weiterer Tumore (z. B.
Mund- und Rachenraum, Kehlkopf, Blase, Penis, Magen, Uterus) maßgeblich beteiligt [4].
35
Abbildung 3: Geschätzter Anteil exogener Risikofaktoren an den krebsbedingten Todesfällen (nach [3])
Bereits 1981 schätzten Doll und Peto, dass 30-35% aller krebsbedingten Todesfälle
ernährungsabhängig sind [5]. Dabei variiert die Abhängigkeit sehr stark von der Tumorform. Deutlich von der Ernährung beeinflusst sind u. a. Tumore der Brust, der
Gebärmutterschleimhaut, der Gallenblase und des Pankreas mit jeweils etwa 50%
der bedingten Todesfälle. Am stärksten ernährungsabhängig ist aber der Dickdarmkrebs, wobei sogar 70% der dadurch verursachten Sterbefälle im Zusammenhang
mit der Ernährung stehen [6]. Von besonderer Bedeutung ist hierbei der Einfluss von
rotem Fleisch (Schwein, Rind, Ziege, Schaf) und verarbeiteten Fleischprodukten (geräuchert, gesalzen), die mit überzeugender Evidenz [7], oder zumindest wahrscheinlich [8] das kolorektale Tumorrisiko erhöhen.
Sowohl die im Jahr 2007 vorgelegten Analysen des WCRF & AICR [7], als auch die
im Ernährungsbericht der DGE 2008 vorgenommene Bewertung der aktuellen Datenlage [8] belegen eindrucksvoll das karzinogene Potenzial von Alkohol. Er erhöht mit
Sicherheit das Risiko für Tumore in Mund, Rachen, Kehlkopf, Speiseröhre, Dickdarm
sowie Brust und Leber. Schutz davor kann nur ein vollständiger Verzicht bieten, denn
pro 10 g Alkohol täglich (entspricht etwa 250 ml Bier oder 200 ml Wein) steigt z. B.
das Risiko für Brustkrebs um je 10% [9].
Weltweit sind etwa 18% der Neoplasien auf Infektionen zurückzuführen. Für die entwickelten Länder der westlichen Welt sind hier v. a. humane Papillomaviren und Hepatitisviren (HBV) relevante Ursachen für Tumore von Gebärmutterhals bzw. Leber
[3].
36
Eine besondere Relevanz, nicht nur für das Risiko Tumore zu entwickeln, hat das
weltweite Problem des zunehmenden Übergewichts. Ein hoher Körperfettanteil erhöht dabei nicht nur die Wahrscheinlichkeit für Tumore von Speiseröhre, Pankreas
und Dickdarm, sondern auch von Brust, Gebärmutter und Nieren [7].
Molekulare Mechanismen der Krebsentstehung
Krebs entsteht durch die Anhäufung von Veränderungen der genetischen Information
in den Zielzellen der Karzinogenese, die zu einer Entgleisung der Zellteilung und
damit zum unkontrollierten Wachstum führt. Tumore entwickeln sich in der Regel
über einen sehr langen Zeitraum (Jahre bis Jahrzehnte) und durchlaufen dabei 3
Phasen: die Initiation (Verlust der Wachstumskontrolle); die Promotion (Zellvermehrung, Anhäufung von präneoplastischen Zellen) und die Progression (Invasion der
neoplastischen Zellen und Metastasierung). Die Abbildung 4 fasst den Verlauf der
Karzinogenese zusammen.
Abbildung 4: Stufen der Karzinogenese und Einfluss der Ernährung auf den Prozess
der Initiierung, Promotion und Progression (modifiziert nach [10-12])
37
Ausgangspunkt der Tumorentstehung bildet meist ein erster Kontakt der zellulären
Strukturen (z. B. der Darmzellen) mit DNA-schädigenden Stoffen (Karzinogenen).
Werden die dabei induzierten Veränderungen der DNA nicht erkannt und repariert,
kann sich die Störung als Mutation manifestieren. Wenn davon tumorrelevante Gene,
wie Tumorsuppressorgene, Protoonkogene oder Reparaturgene, betroffen sind, beginnen sich die zellulären Eigenschaften zu verändern. Dies umso stärker je mehr
Gene im Laufe der Zeit verändert wurden. Nach Wood et al. sind in Tumorgewebe
(Dickdarm, Brust) etwa 80 Mutationen nachweisbar, wobei wahrscheinlich weniger
als 15 für den Prozess der Tumorentwicklung von Initiation bis Progression verantwortlich sind [13]. Die typischen dabei erworbenen Eigenschaften von Tumorzellen
zeigt die Abbildung 5. Gemeinsam tragen die zellulären Veränderungen dazu bei,
dass sich Krebszellen weitgehend unbegrenzt vermehren können und darüber hinaus die Fähigkeit erlangen, Gewebebarrieren zu durchbrechen und Tochtergeschwüre zu bilden.
Abbildung 5: Erworbene Eigenschaften von Krebszellen (nach [14])
Chemoprävention
Insbesondere die „Western Style Diet“, gekennzeichnet durch einen hohen Fleischund Fettverzehr und einen geringen Konsum an Obst, Gemüse und Getreideprodukten, gilt als einer der wesentlichen Risikofaktoren für unsere Zivilisationskrankheiten,
zu denen auch Krebs gehört [15]. Neben dem Überfluss an potentiell schädlichen
38
Substanzen ist aber vor allem der Mangel an schützenden Faktoren für die Krebsentstehung von Bedeutung. Der Entstehung von Krebs kann somit sowohl durch die
Vermeidung der Exposition mit krebserzeugenden Stoffen (heterozyklische aromatische Amine, polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe, Dioxine, Mykotoxine…)
als auch durch eine gesteigerte Aufnahme protektiver Substanzen entgegengewirkt
werden [11]. Dabei wird die Gabe von pharmakologischen oder natürlichen Substanzen, die zu einer Inhibition der Entwicklung von invasivem Krebs führt, als Chemoprävention bezeichnet. Dies kann entweder durch Verhinderung von DNA-Schäden,
welche die Karzinogenese initiieren, oder durch Blockierung oder Umkehrung der
Progression von prämalignen Zellen, in welchen sich solche Schäden bereits ereignet haben, erreicht werden [16]. Aus der Abbildung 4 wird deutlich, dass der Krebsinitiation in gesunden Zellen durch sogenannte „Blocking Agents“ entgegengewirkt
werden kann. Solche Substanzen (v. a. Vertreter der sekundären Pflanzenstoffe)
können antioxidative Eigenschaften aufweisen, welche die Bildung reaktiver Metabolite vermindern, oder die Reparatur einer bereits eingetretenen DNA-Schädigung fördern. Haben sich bereits entartete Zellen oder präneoplastische Läsionen gebildet,
kann deren Zellwachstum und Überleben durch sogenannte „Suppressing Agents“
eingeschränkt werden. Vertreter dieser Gruppe (z. B. das bei der Darmfermentation
von Ballaststoffen gebildete Butyrat) verhindern hauptsächlich die weitere Entartung
von bereits geschädigten Zellen durch Wachstumshemmung und Apoptose (Zellselbstmord)-Induktion.
Natürliche Substanzen mit chemopräventivem Potenzial sind vor allem in pflanzlichen Lebensmitteln, wie Obst, Gemüse, Gewürze und Getreide, zu finden [3]. Obwohl neue, aussagekräftigere Studien dazu geführt haben, dass die Härte der Zusammenhänge zwischen dem Verzehr von Obst und Gemüse und dem Tumorrisiko
etwas abgenommen hat, ist deren Bedeutung auch heute noch nicht hoch genug zu
bewerten. Ein regelmäßiger Konsum vermindert mit wahrscheinlicher Evidenz das
Krebsrisiko in Mund, Rachen, Kehlkopf, Speiseröhre, Magen und Dickdarm. Für
Lungenkrebs ist die Evidenz einer Reduktion des Risikos durch Obst wahrscheinlich
und durch Gemüse möglich [7,8].
Gleichwohl die Ergebnisse zum Einfluss der Ballaststoffe auf das kolorektale Karzinom nicht immer einheitlich sind, kann man unter Berücksichtigung der aktuellen Datenlage davon ausgehen, dass ein risikosenkender Effekt, insbesondere von Ballast39
stoffen aus Getreide, hinsichtlich des Dickdarmkrebs als wahrscheinlich anzusehen
ist [8,17]. Ergebnisse der EPIC-Studie zeigen, dass bei der Verdopplung der gegenwärtigen Ballaststoffaufnahme eine Risikoreduktion von bis zu 40 % möglich erscheint [18].
Aber auch tierische Produkte können zur Risikoverminderung beitragen, wie inzwischen für Milch- und Milchprodukte gezeigt werden konnte. So führt deren reichlicher
Verzehr wahrscheinlich zu einem geringeren Darmkrebsrisiko. Allerdings erhöhen
Milch- und Milchprodukte möglicherweise das Risiko für Prostatakrebs [8].
Inzwischen gibt es auch valide Daten, die belegen, dass regelmäßige körperliche
Aktivität nicht nur Übergewicht entgegenwirkt und damit das Risiko für z. B. HerzKreislauferkrankungen vermindert, sondern auch zu einem geringeren Risiko für die
Entwicklung von Dickdarmtumoren beiträgt. Darüber hinaus ist als wahrscheinlich
anzusehen, dass dem Risiko für Tumore der Brust und Gebärmutter durch Sport
entgegengewirkt werden kann [7].
Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung hat im Jahr 2009 eine aktuelle Risikobewertung des Zusammenhanges zwischen bösartigen Tumoren verschiedener Organe und Ernährungsfaktoren vorgenommen, die in der Tabelle 1 zusammengefasst ist
und auf dem Ernährungsbericht 2008 basiert [8].
Empfehlungen
Durch eine geeignete Lebensweise, insbesondere durch die Beachtung von Ernährungsempfehlungen, kann der Prozess der Krebsentstehung verhindert oder zumindest verlangsamt werden. Der World Cancer Research Fund und das American Institute for Cancer Research haben im Jahr 2007 einen auf der Auswertung von über
20.000 wissenschaftlichen Veröffentlichungen basierenden Bericht zum krebspräventiven Potenzial von Lebensmitteln, Ernährung und physischer Aktivität vorgelegt [7].
Auch die Neubewertung der Zusammenhänge unter Berücksichtigung aktueller Studien durch die DGE hat zu keiner prinzipiellen Änderung der Einschätzungen geführt
[8]. Es ist davon auszugehen, dass die Umsetzung der nachfolgend aufgeführten
Empfehlungen das Risiko, Tumore zu entwickeln, im Mittel der Bevölkerung deutlich
reduziert.
40
1. Übergewicht vermeiden: innerhalb des normalen Körpergewichtsbereiches so
schlank wie möglich bleiben!
2. Sport treiben: körperliche Aktivität am besten jeden Tag integrieren!
3. Energiereiche Lebensmittel meiden: v. a. auf zuckerhaltige Getränke verzichten!
4. Überwiegend pflanzliche Lebensmittel verzehren: mindestens fünf Portionen
von verschiedenen Obst und Gemüse konsumieren!
5. Verzehr von rotem Fleisch einschränken und konserviertes Fleisch meiden:
möglichst weniger als 500 g Fleisch pro Woche essen!
6. Alkoholkonsum begrenzen: wenn überhaupt, dann maximal 1 Glas pro Tag für
Frauen und 2 Gläser pro Tag für Männer!
7. Salzkonsum einschränken und Verzehr verschimmelter Lebensmittel ausschließen: möglichst wenig gepökelte, gesalzene oder salzige Produkte essen!
8. Verzicht auf Nahrungsergänzungsmittel: der Nährstoffbedarf sollte ausschließlich durch Lebensmittel gedeckt werden!
9. Mütter sollten ihre Säuglinge möglichst 6 Monate stillen: das schützt Mutter
(vermindert das Brustkrebsrisiko) und Kind (stärkt das Immunsystem)!
10. Krebsbetroffene sollten sich i. d. R. auch an die Empfehlungen 1-8 halten!
Hinzu kommt die relevante Risikoverminderung durch die Vermeidung einer Belastung mit Tabakrauch, aber auch durch den Verzicht auf andere Tabakerzeugnisse.
Zusammenfassung
Nur etwa 5-10% aller Krebsfälle sind auf direkte genetische Defekte zurückzuführen,
so dass 90-95% der Fälle ihre Ursache in Umwelt- oder Lebensstilfaktoren haben
und somit zumindest teilweise beeinflussbar sind. Von allen krebsbedingten Todesfällen sind 25-30% durch Rauchen, 30-35% durch eine falsche Ernährung, 15-20%
durch Infektionen, 20% durch Übergewicht und 4-6% durch Alkohol bedingt. Hinzu
kommen Faktoren wie Strahlung oder Umweltkontaminanten.
Die Befolgung einfacher Empfehlungen kann zur Verminderung des Risikos, an
Krebs zu erkranken, maßgeblich beitragen. Dazu zählen vor allem der reichliche
Verzehr von Gemüse, Obst und Getreideprodukten, der moderate Konsum von
Fleisch- und Fleischwaren sowie der Verzicht auf Alkohol. Darüber hinaus sollten
41
Übergewicht vermieden, regelmäßig Sport getrieben und auf den Konsum von Tabakwaren verzichtet werden.
Tabelle 1: Evidenz der Risikobeziehung zwischen Ernährungsfaktoren und bösartigen
Tumoren
in
verschiedenen
Organen
(aus
http://www.dge.de/pdf/presse/2009/aktuell/Evidenz-Risiko-Krebs.pdf)
steigender Konsum/
Aufnahme von
Alkohol
Obst und Gemüse gesamt
Obst
überzeugende Evidenz
▲▲▲
Mund, Rachen,
Kehlkopf, Leber,
Speiseröhre,
Dickdarm, Mastdarm, Brust
wahrscheinliche Evidenz
mögliche Evidenz
▲▲
Magen
Niere
♦
Lunge,
Eierstock, Prostata
▼▼
Mund, Rachen,
Kehlkopf, Speiseröhre, Magen,
Dickdarm
Lunge
▼
Mastdarm,
Niere
Brust
♦♦
▼▼
♦
▼
▼
Gemüse
Rotes Fleisch
▲▲
Fleischwaren
▲▲
Dick- und Mastdarm
Dick- und Mastdarm
▲
▲
▼
Fisch
Milch und Milchprodukte
Fett gesamt
▼▼
gesättigte Fettsäuren
♦♦
♦♦
♦
Dick- und Mastdarm
Dickdarm, Mastdarm, Lunge, Eierstock, Prostata,
Gebärmutterschleimhaut,
Pankreas
Dickdarm, Mastdarm, Lunge, Eierstock, Prostata,
Gebärmutterschleimhaut,
Pankreas
langkettige n-3
Fettsäuren
▲
▼▼
Dickdarm
Brust (postmenopausal)
▲
Brust (postmenopausal)
▼
Dickdarm, Mastdarm
Eierstock, Prostata
Magen,
Mastdarm
Brust (postmenopausal)
▼
♦
▲ Risikoerhöhung, ▼ Risikosenkung, ♦ keine Risikobeziehung
42
Speiseröhre,
Pankreas, Brust
Speiseröhre, Magen, Brust
Dick- und Mastdarm
Brust, Prostata
Prostata
▲
♦
Ballaststoffe
Blase,
Pankreas
Lunge
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43
Einfluss von Ernährungsfaktoren auf die Krankheitsaktivität von
entzündlich-rheumatischen Erkrankungen
Dipl. Troph. Christine Dawczynski, Institut für Ernährungswissenschaften, Lehrstuhl
Ernährungsphysiologie, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Dornburger Str. 24,
07743 Jena
Einführung
Unter dem „rheumatischen Formenkreis“ werden Erkrankungen zusammengefasst,
die sich im Bereich der Gelenke sowie der umgebenden Weichteile manifestieren.
Häufig handelt es sich auch um eine Erkrankung des Bindegewebes. Die rheumatoide Arthritis (RA) stellt die häufigste entzündliche Systemerkrankung des Bindegewebes dar (ca. 0,5 - 1 % der Bevölkerung betroffen). Durch den chronischen Entzündungsprozess wird im Verlauf dieser Autoimmunerkrankung die Zerstörung der
Knorpelschicht und Knochen bewirkt. Als Auslöser wird neben der genetischen Disposition ein unbekannter Stimulus diskutiert (Adam, 2002). Seit dem 2. Weltkrieg
liegt die Steigerungsrate für das Auftreten dieser Krankheit bei 90 %. In diesem Zeitraum hat sich auch der Anteil der tierischen Fette (reich an Arachidonsäure [C20:4,
n-6, AA]) in der Ernährung der westlichen Industrienationen erhöht und könnte möglicherweise mit dem Anstieg dieses Krankheitsbildes im Zusammenhang stehen
(Adam, 2002). Aus diesem Grund wird in der Ernährungstherapie für RA-Patienten
die Modifikation des Verhältnisses von n-6/n-3 Fettsäuren zugunsten der n-3 Fettsäuren empfohlen.
Durch den chronischen Entzündungsprozess ist der Nährstoffbedarf erhöht, so dass
ca. 40 % aller RA-Patienten von einer Mangelernährung betroffen sind. Daher sollte
insbesondere auf eine ausreichende Zufuhr der Makronährstoffe, Vitamine (insbesondere Vitamin B, C, D, E) und Spurenelemente (Se, Zn) geachtet werden (Adam et
al. 2009). Des Weiteren sollte eine ausreichende Versorgung mit Antioxidanten
(Kombination aus Vitamin E, C, Se) erfolgen.
Aufgrund der chronischen Entzündung und der damit verbundenen Bewegungseinschränkung und langjährigen Medikamenteneinnahme (z. B. Glucokortikoide) ist das
Osteoporose-Risiko bei RA-Patienten erhöht, daher sollte eine Osteoporose-
Prophylaxe erfolgen (Ca ↑, Phosphat ↓, Phytat ↓, Oxalat ↓, Vitamin D3 ↑). Des Weiteren spielt das Auftreten von Nahrungsmittelunverträglichkeiten und -sensitivitäten
(z. B. gegenüber Fleisch, Getreide, Milch, Kaffee) eine Rolle hinsichtlich der Krank44
heitsaktivität und sollte im Rahmen der Ernährungstherapie berücksichtigt werden.
Lebensmittel oder Nährstoffe, die mit der Verschlechterung der Krankheitsaktivität in
Zusammenhang gebracht werden, werden als arthritogene Bestandteile der Nahrung
bezeichnet. In einer Umfrage von Haugen et al. (1991) gab ein Drittel der 290 RAPatienten an, dass ein Zusammenhang zwischen der Aufnahme bestimmter Lebensmittel und der Verschlechterung der Krankheitsaktivität besteht. Zu diesen Lebensmitteln zählten Fleisch, Wein, Kaffe, Schokolade und Zitrusfrüchte. Es wird diskutiert, dass der Histamingehalt im Fleisch oder vasoaktive Amine in Zitrusfrüchten
verantwortlich sein könnten. Auch die mögliche endogene Histaminfreisetzung infolge des Genusses von Erdbeeren oder Schokolade wird mit angegeben (Haugen et
al. 1991).
Entzündungshemmung durch langkettige mehrfach ungesättigte n-3 Fettsäuren (n-3-LC-PUFA)
Mehrfach ungesättigte Fettsäuren (polyunsaturated fatty acids, PUFA) enthalten zwei
oder mehr Doppelbindungen im Molekül und werden nach der Stellung der ersten
Doppelbindung vom Methylende in n-9-, n-6- und n-3-PUFA unterteilt. Linolsäure
(C18:2, n-6, LA) und α-Linolensäure (C18:3, n-3, ALA) sind aufgrund der fehlenden
Δ-12- bzw. Δ-15-Desaturase in der Säugerzelle essentiell für gesundes Wachstum
und die Entwicklung des Menschen (Arab, 2003). Bestimmte Pflanzenöle (z. B.
Raps-, Lein-, Walnussöl) sind natürliche Quellen für pflanzliche n-3-PUFA. Fettreiche
Kaltwasserfische (z. B. Thunfisch, Hering, Makrele, Lachs) enthalten die n-3-LCPUFA Eicosapentaensäure (C20:5, n-3, EPA), Docosapentaensäure (C22:5, n-3,
DPA) und Docosahexaensäure (C22:6, n-3, DHA).
N-3-LC-PUFA werden in die Phospholipide eingebaut und modulieren dadurch die
Membraneigenschaften (Fluidität, Membranpotenzial, Elektrolyttransport), so dass
die Aktivität von Transkriptionsfaktoren (z. B. Peroxisome Proliferator Activated Receptors, PPARs; Nuclear Factor kappa B, NFĸB) verändert und dadurch die Expression von pro-inflammatorischen Zytokinen (Tumornekrose Faktor α, IL-1β, -6, -8) beeinflusst wird (Calder, 2002). Demzufolge sind n-3-LC-PUFA der Membranphospholipide wichtige Schlüsselfaktoren für die Aufrechterhaltung von Struktur und Funktion
der Zellmembranen und entscheidend für das Verhalten von membranständigen Enzymen und Rezeptoren (Adam, 2002).
45
Des Weiteren wirken n-3-LC-PUFA indirekt über den Einfluss auf die Bildung von
Eicosanoiden, Resolvinen und Protektinen. Eicosanoide sind lokal wirksame hormonähnliche Substanzen, die von vielen Zellen des Organismus gebildet werden
können. Zu den Eicosanoiden gehören Prostaglandine (PG), Prostacycline, Thromboxane (TX), Leukotriene (LT), Hydroperoxy- und Hydroxyfettsäuren, welche aus
speziellen mehrfach ungesättigten C-20-Fettsäuren (Dihomo-γ-Linolensäure (C20:3,
n-6, DGLA; AA; EPA; Abb. 1) gebildet werden. Diese C-20-Fettsäuren werden durch
die aktivierte Phosholipase A2 aus den Phospholipiden der Zellmembran herausgelöst. Im Anschluss daran erfolgt die Synthese der PG und TX mittels Cyclooxygenasen (COX) -1 und -2, während die Lipoxygenasen (LOX) die freigesetzten Fettsäuren
zu LT, Hydroperoxy- und Hydroxyfettsäuren umsetzten (Goetzel et al. 1995).
EPA und AA konkurrieren bei der Umwandlung in die Eicosanoide um die beteiligten
Enzymsysteme (Yaqoob, 2003), wobei die Menge der gebildeten Eicosanoide von
der Konzentration der jeweiligen Fettsäuren in den Membranphospholipiden bestimmt wird (Li et al. 1994). AA ist unter den LC-PUFA mengenmäßig die häufigste
Fettsäure in der Zellmembran und stellt daher den wichtigsten Präkursor für die Eicosanoidsynthese dar. In Anwesenheit hoher Mengen n-3-LC-PUFA wird weniger AA
in die Membranen eingebaut. Daraus folgt, dass vermehrt Eicosanoide der 5er und
3er Serie gebildet werden, so dass die Eicosanoide der 2er und 4er Serie, die aus
AA entstehen, zurückgedrängt werden. EPA fungiert somit als kompetitiver Inhibitor
der AA-bedingten PGE2- und LTB4-Bildung (James, 2000). Summarisch werden den
B
Eicosanoiden der EPA anti-inflammatorische Effekte zugeschrieben, wohingegen
PGE2, LTB4, TXA2 und 12-HETE – Oxidationsprodukte der AA – inflammatorisch wirken. Des Weiteren stimuliert LTB4 die Genese von reaktiven Sauerstoffspezies
(ROS) und damit die DNA-Schädigung (Calder und Grimble, 2002).
Resolvine und Protektine bilden eine Gruppe neu entdeckter Lipidmediatoren, die
aus n-3-LC-PUFA gebildet werden und die den Abbruch der Entzündungsreaktion
maßgeblich bestimmen (Serhan et al. 2002). Diese Mediatoren sind zu einem Großteil für die Auflösung der Entzündungsreaktion verantwortlich, indem sie die Leukozyteninfiltration durch Einleitung der Apoptose vermindern und somit die leukozytenbedingte Gewebsverletzung verringern. Außerdem ist speziell das aus EPA gebildete
Resolvin E1 an der Herabregulierung der pro-inflammatorischen Genexpression (z.
B. IL-12 p40, TNF-α) beteiligt (Arita et al. 2005).
46
De novo Synthese
oder
Aufnahme
mit der
Nahrung
18:1 n9
Ölsäure
Δ12-Des.*
Δ15-Des.*
18:2 n6
Linolsäure
18:3 n3
α-Linolensäure
Δ6-Desaturase
18:3 n6
γ-Linolensäure
Synthese in Pflanzen,
Aufnahme mit der
Nahrung
18:4 n3
Stearidonsäure
Elongasen
COX
PG 1er Serie
22:4 n6
22:5 n6
20:4 n3
Eicosatetraensäure
20:3 n6
Dihomo-γLinolensäure
Δ5-Desaturase
20:4 n6
Arachidonsäure
20:5 n3
Eicosapentaensäure
Δ6-Des./
Elongasen 22:5 n3
Docosapentaensäure
Δ4-Des.**
LOX
LT 4er Serie
LT 5er Serie
COX
22:6 n3
Docosahexaensäure
PG 3er Serie
TXA 3er Serie
PG 2er Serie
TXA 2er Serie
Resolvine
(E-Serie)
Resolvine
Protectine
(D-Serie)
* nur in Pflanzen vorkommend
** nur in Algen vorkommend
Abb 1: PUFA-Metabolismus und Eicosanoidsynthese
Eigene Ergebnisse
Humaninterventionsstudie 1 (Dawczynski et al. 2009)
(Zusammenarbeit mit Klinikum der FSU, Jena, Prof. G. Hein)
Im Rahmen der Humaninterventionsstudie 1 wurde der Einfluss des Verzehrs von
Milchprodukten, die mit n-3-LC-PUFA angereichert waren, auf die Krankheitsaktivität
von RA-Patienten, kardiovaskuläre Risikofaktoren, DNA-Schäden und Lipidperoxidation untersucht. An der randomisierten, doppelblinden, placebokontrollierten Crossover-Studie nahmen 45 RA-Patienten (43 w, 2 m) teil. Beide Gruppen des Crossovers erhielten die supplementierten Milchprodukte bzw. handelsübliche Vergleichsprodukte über jeweils 12 Wochen. Zwischen den Phasen befand sich eine 8-wöchige
Auswaschphase. Die Blutabnahme, Sammlung des 24h-Urins sowie die Erhebung
des Disease Activity Score DAS28, erfolgte zu Beginn und am Ende jeder Interventionssperiode (Abb. 2).
47
Cross-over Design (Studie 1)
Woche 0
VERUM
(2,3 g n-3 FS/d)
VERUM
(2,3 g n-3 FS/d)
PLACEBO
PLACEBO
6
DAS28
Urin (24 h)
FFP
12
16
DAS28
Urin (24 h)
FFP
-- Ernährungstagebuch --- Medikamententagebuch --
20
26
DAS28
Urin (24 h)
FFP
32
DAS28
Urin (24 h)
FFP
-- Ernährungstagebuch --- Medikamententagebuch --
Blutentnahme; DAS28: Disease Activity Score28; FFP: Food Frequency Protocol (5d)
Abb. 2: Studiendesign 1
Die Probanden nahmen in dieser Studie täglich ca. 40 g Milchfett in Form von 200 g
Joghurt, 30 g Käse (50 % Fett in der Trockensubstanz) und 20 - 30 g Butter auf. Neben dem Gehalt an konjugierten Linolsäuren (C18:2, n-6, CLA) zeichnet sich Milchfett natürlicherweise durch hohe Gehalte an kurz- und mittelkettigen Fettsäuren, einem günstigen Gehalt an Ölsäure (C18:1n-9) und einer niedrigen Konzentration an
AA aus. Durch die Milchprodukte nahmen die Probanden täglich ca. 450 mg Ca, 300
mg CLA, 8,5 g Ölsäure, 1,5 g kurzkettige Fettsäuren und 50 - 70 mg AA auf. Durch
die Verumprodukte erfolgte eine zusätzliche Aufnahme von 2,3 g n-3-PUFA/d (1,35 g
EPA+DHA und 0,95 g ALA). Die n-3-PUFA-reichen Öle (Fischöl, Drachenkopföl)
wurden als Emulsion in die Milchprodukte eingebracht, so dass die Verumprodukte
geschmacklich nicht von den Placeboprodukten zu unterscheiden waren. Alle Studienprodukte wurden einheitlich neutral verpackt. Sowohl für die Probanden als auch
für den Prüfarzt war die Gruppeneinteilung nicht bekannt bzw. nicht ersichtlich.
Die Studie wurde von 39 Probanden im Alter von 58 ± 11 Jahren vollständig beendet.
Von diesen Probanden mussten 18 Patienten von der statistischen Auswertung ausgeschlossen werden, da 11 Patienten eine intra-artikuläre Injektion mit Kortikosteroiden benötigten (< 4 Wochen vor der Blutabnahme). Weitere 7 Probanden wurden
ausgeschlossen, da der Gehalt an EPA in der Erythrozytenmembran nach
48
12wöchigem Verzehr der Verumprodukte um weniger als 10 % angestiegen ist und
die Kompliance dieser Probanden möglicherweise nicht gegeben war.
Durch den Verzehr der n-3-LC-PUFA-angereicherten Milchprodukte stieg die EPAKonzentration in den Plasmalipiden im Vergleich zu den Ausgangswerten signifikant
an (p < 0.001). Die AA-Konzentration blieb unverändert. Der AA/EPA-Quotient sank
sowohl in den Plasmalipiden als auch der Erythrozytenmembran signifikant (p <
0.001). Im Gegensatz dazu wurden in der Placeboperiode keine signifikanten Unterschiede bezüglich der EPA- und AA-Konzentration bzw. der AA/EPA-Quotienten in
den Plasmalipiden und der Erythrozytenmembran beobachtet (Tab. 1).
Tab. 1: Fettsäuren-Verteilung in den Plasmalipiden und der Erythrozytenmembran zu
Beginn sowie nach 12wöchigem Verzehr der Studienprodukte (MW ± SD)a
Plasma (% FSME)
n = 21
AA
C20:4 n-6
EPA
C20:5 n-3
AA/EPA
Wochen
Verum
0
5,7 ± 1,4
12
0
12
0
12
5,5
0,7
1,7
9,1
4,3
±
±
±
±
±
1,0
0,4
0.9***
3,3
2.6***
Placebo
5,6
5,9
0,7
0,8
8,4
9,8
±
±
±
±
±
±
1,2
1.2t
0,2
0,6
2,4
7
p Verum vs.
Placebob
NS
p < 0,001
p < 0,001
Erythrozytenmembran (% FSME)
n = 21
Wochen
Verum
Placebo
p Verum vs.
Placebo
0
12,6 ± 2,2
13,0 ± 2,1
12
12,8 ± 2,1
13,1 ± 2,3
NS
0
0,5 ± 0,2
0,4 ± 0,1
0,8 ± 0.4*** 0,4 ± 0,2
p < 0,001
12
0
30,6 ± 12,9 32,6 ± 10,9
19,5 ± 9.2*** 34,9 ± 14,6
p < 0,001
12
AA, Arachidonsäure; EPA, Eicosapentaensäure; FSME Fettsäurenmethylester
a
Mittelwert ± SD; b Vergleich der Endwerte der Verum- und Placeboperiode mit
Startwerten als Kovariate; t tendenziell verschieden im Vergleich zu den Startwerten
(p ≤ 0,1); *** signifikant verschieden im Vergleich zu den Startwerten (p ≤ 0,001)
AA
C20:4 n-6
EPA
C20:5 n-3
AA/EPA
Im Vergleich zur Placeboperiode stieg die EPA-Konzentration nach dem Verzehr der
n-3-LC-PUFA-angereicherten Milchprodukte in den Plasmalipiden und der Erythrozytenmembran signifikant an (p < 0.001). Weiterhin war das Verhältnis von AA/EPA in
den Plasmalipiden und der Erythrozytenmembran am Ende der Supplementationspe49
riode signifikant geringer (p ≤ 0.001) im Vergleich zu den Endwerten der Placeboperiode (Tab. 2).
Die Studienergebnisse konnten zeigen, dass sich die Fettsäurenverteilung in den
Plasmalipiden und der Erythrozytenmembran durch den Verzehr von n-3-PUFAangereicherten Milchprodukten signifikant verändert. Es wurde deutlich, dass die
supplementierten n-3-LC-PUFA in die Zellmembranen eingebaut werden. Die Senkung des Quotienten der Eicosanoidvorstufen AA/EPA weist darauf hin, dass durch
den Verzehr der n-3-LC-PUFA-angereicherten Produkte eine anti-inflammatorische
Wirkung zu erwarten ist.
Gesamtcholesterol, LDL-Cholesterol und LDL/HDL-Ratio blieben in der Verum- und
Placebophase unbeeinflusst. Das HDL-Cholesterol stieg sowohl in der Verumphase
von 1,63 ± 0,37 auf 1,73 ± 0,39 (p < 0,05) als auch in der Placebophase von 1,62 ±
0,43 auf 1,74 ± 0,43 (p < 0,1) an, so dass der Quotient Gesamt-Cholesterol/HDLCholesterol in beiden Phasen tendenziell abnahm (p < 0,1; Tab. 2).
Lipoprotein(a) [Lp(a)] gilt als unabhängiger Risikofaktor für arteriosklerotische Erkrankungen. Das Lp(a) sank in der Verumphase signifikant von 416 ± 550 auf 326 ±
353 (p < 0,01). In der Placebophase fiel Lp(a) tendenziell von 380 ± 484 auf 332 ±
446 (p < 0,1).
Die Triacylglyzeride (TAG) lagen zu Beginn der Studie bei allen Probanden im Bereich der Empfehlungen (< 1,5 mmol/l) und wurden in der Verumphase tendenziell
gesenkt bzw. in der Placebophase tendenziell erhöht (p < 0,1; Tab. 2). Die Endwerte
der Blutlipide unterscheiden sich nicht signifikant zwischen der Verum- und Placebophase (Tab. 2).
Der Disease Activity Score DAS28 ist ein klinischer Score, der verschiedene objektive und subjektive Parameter der Krankheitsaktivität bei RA einschließt. Hierzu gehören: Anzahl druckschmerzhafter Gelenke; Anzahl geschwollener Gelenke; Blutsenkungsgeschwindigkeit nach einer Stunde [mm] und die Beurteilung der Krankheitsaktivität durch den Patienten (Skalenwert 1 – 100). Zu Beginn der Studie lag der
DAS28 in der Verumphase bei einem Probanden < 3,2 (→ inaktiv), bei 15 Probanden
> 3,2 ≤ 5,1 (→ mäßig aktiv) und bei 5 Probanden > 5,1 (→ sehr aktiv). In der Placebophase lag der DAS28 zu Beginn bei 5 Probanden < 3,2 (→ inaktiv), bei 12 Probanden > 3,2 ≤ 5,1 (→ mäßig aktiv) und bei 4 Probanden > 5,1 (→ sehr aktiv). Der
DAS28 hat sich in der Verumphase bei 6 Probanden gut bis mäßig verbessert (28,6
%, um 0,6 - 1,2 Punkte), bei 5 Probanden mäßig bis stark verschlechtert (13,8 %, um
50
0,6 - 1,2 Punkte), und bei 10 Probanden (47,6 %) zeigte sich keine Veränderung
durch die Intervention. In der Placebophase verbesserte sich der DAS28 bei 2 Probanden (9,6 %) mäßig bis stark, eine mäßig bis starke Verschlechterung war ebenfalls bei 5 Probanden zu verzeichnen (13,8 %), und bei 14 Probanden blieb der Gelenkscore unbeeinflusst (66,7 %). Der DAS28 wurde in der Interventionsphase leicht
gesenkt (p = 0,455) und blieb in der Placeboperiode unverändert (p = 0,917). Die
Endpunkte beider Phasen unterscheiden sich nicht signifikant voneinander (Tab. 2).
Das c-reaktive Protein (CRP) und die Blutsenkungsgeschwindigkeit (BSG, 1h) blieben in beiden Phasen unbeeinflusst.
Tab. 2: Blutlipide, Entzündungsparameter und Disease Activity Score DAS28 zu Beginn und nach 12wöchigem Verzehr der Studienproduktea
n = 21
Wo.
Verum
Gesamt-Cholesterol
(mmol/l)
HDL-Cholesterol
(mmol/l)
LDL -Cholesterol
(mmol/l)
LDL/HDL
Placebo
p Verum vs.
Placebob
0
5.84 ± 0.90
5.75 ± 0.78
12
5.83 ± 0.74
5.76 ± 0.69
NS
0
1.63 ± 0.33
1.64 ± 0.35
1.71 ± 0.31* 1.73 ± 0.31t
NS
12
0
3.82 ± 0.78
3.72 ± 0.68
12
3.80 ± 0.73
3.82 ± 0.74
NS
0
2.42 ± 0.65
2.34 ± 0.52
12
2.28 ± 0.58
2.36 ± 0.61
NS
Lp(a)
0
416 ± 550
380 ± 484
(mg/l)
12
326 ± 353*
332 ± 446t
NS
TAG
0
1.11 ± 0.43
1.13 ± 0.52
t
(mmol/l)
12
1.00 ± 0.41
1.32 ± 1.28t
NS
Dauer der Morgen0
32.7 ± 39.8
30.1 ± 39.8
20.9 ± 23.6t
NS
steifigkeit (min)
12
25.9 ± 29.3
Anzahl der schmerz0
7.14 ± 6.23
6.76 ± 7.29
haften Gelenke
12
6.52 ± 6.15
6.71 ± 6.06
NS
Anzahl der geschwol0
4.14 ± 2.85
4.33 ± 2.96
lenen Gelenke
12
3.67 ± 2.56
3.14 ± 2.48
NS
0
4.45 ± 1.05
4.18 ± 1.11
DAS28
12
4.32 ± 1.11
4.24 ± 0.80
NS
Lp(a), Lipoprotein a; TAG, Triacylglyzeride
a
Mittelwert ± SD; b Vergleich der Endwerte der Verum- und Placeboperiode mit
Startwerten als Kovariate; *
signifikant verschieden im Vergleich zu den Startwerten (p ≤ 0.05)
51
Hydroxypyridinium-Derivate wie Pyridinolin (Pyd) und Desoxypyridinolin (DPD) gelten
als Marker für den Katabolismus von knochen- und knorpelständigen Kollagenen (=
Knochenumsatzmarker). Pyd ist ein wichtiger Parameter für die RA, da man Pyd sowohl im Kollagen I (Knochen) als auch im Kollagen II (Knorpel, Sehnen, Dentin, Gefäße) findet. DPD kommt ausschließlich im Knochen vor (knochenspezifisch). Die
Hydroxypyridinium-Derivate werden als Degradationsprodukte weitestgehend renal
ausgeschieden. Es besteht eine enge Korrelation zwischen der CrosslinkAusscheidung und der Knochenresorptionsrate. Die Angaben zu Pyd und DPD werden auf Kreatinin bezogen, um Unterschiede im Urinvolumen und der Körpermasse
zu korrigieren.
Die Pyd/Krea- bzw. DPD/Krea-Konzentrationen waren zu Beginn der Studie erhöht,
konnten jedoch innerhalb der Studiengruppen nicht signifikant beeinflusst werden.
Interessanterweise konnte die Ausscheidung der Hydroxypyridinium Crosslinks durch
den hohen Konsum der Milchprodukte über den Studienzeitraum (2 x 12 Wochen)
signifikant gesenkt werden (Pyd/Krea: von 50,5 ± 25,8 auf 40,2 ± 13,9 nmol/mmol;
DPD/Krea: von 11,8 ± 5,2 auf 9,10 ± 3,70 nmol/mmol; p < 0.05).
Durch die Aufnahme von n-3-LC-PUFA wurde kein Einfluss auf die Lipidperoxidation
(8-iso-Prostaglandin
Ausscheidung)
F2alpha-
sowie
und
15-keto-dihydro-Prostaglandin
DNA-Schädigung
F2alpha-
(7,8-dihydro-8-oxo-2'-deoxyguanosin-
Ausscheidung) beobachtet.
Anhand der Ergebnisse der vorliegenden Studie kann geschlussfolgert werden, dass
der Langzeitverzehr von Milchprodukten der krankheitsbedingt erhöhten Knorpelund Knochenerosion entgegenwirken kann. Durch den Verzehr der n-3-LC-PUFAangereicherten Milchprodukte wurden kardiovaskuläre Risikofaktoren gesenkt. Die
supplementierte Dosis von ca. 1,4 g EPA+DHA/d war nicht ausreichend, um die
Krankheitsaktivität bzw. die Entzündungsparameter signifikant zu senken.
Humaninterventionsstudie 2
(Zusammenarbeit mit Immanuel-Krankenhaus, Charité Berlin, Chefarzt Dr. Stange)
In der zweiten Studie handelte es sich um eine placebo-kontrollierte, randomisierte
Doppelblindstudie mit 4 parallel laufenden Gruppen (Abb. 3), an der 54 RA-Patienten
und 6 Patienten mit Psoriasis-Arthritis teilnahmen. Im Rahmen des 12wöchigen Interventionszeitraumes erhielten die Probanden die speziellen Fettsäuren (Gruppe 1:
3000 mg n-3-LC-PUFA/d; Gruppe 2: 3150 mg GLA/d; Gruppe 3: 1575 mg n-3-LC52
PUFA + 1800 mg GLA/d; Gruppe 4: 3000 mg Olivenöl) in Form entsprechender Kapseln. Die Blutproben für die Analyse der Fettsäuren in den Plasmalipiden, Cholesterolestern und der Erythrozytenmembran wurden zu Beginn und am Ende der Intervention entnommen. Der Disease Activity Score DAS28 und die visuelle Analogskala
(VAS 0 - 100 mm) wurden ebenfalls zu diesen Zeitpunkten erhoben. Im Rahmen der
Studie führten die Probanden ein Food Frequency Protokoll an 7 aufeinander folgenden Tagen jeweils vor den Blutabnahmen. Zusätzlich dokumentierten die Probanden
ihren Fischverzehr (Art und Menge) in dieser Zeit.
Paralleldesign (Studie 2)
n = 14
Gruppe 1:
3 g n-3 LC-PUFA/d
n=8
Gruppe 2:
3 g GLA/d
n = 13
Gruppe 3:
1,6 g n-3 LC-PUFA/d + 1,8 g GLA/d
n = 12
Gruppe 4:
3 g Olivenöl/d (Placebo)
Woche 0
12
DAS28
DAS28
FFP
FFP
Blutentnahme; DAS28: Disease Activity Score DAS28; FFP: Food Frequency Protokoll (7d)
Abb. 3: Studiendesign 2
Durch die Einnahme der n-3-LC-PUFA (Gr. 1) stiegen die supplementierten Fettsäuren in den Plasmalipiden und der Erythrozytenmembran signifikant an (p < 0,01). Ein
Abfall der AA konnte in der Erythrozytenmembran beobachtet werden (p < 0,001).
Dadurch wurde das Verhältnis AA/EPA signifikant gesenkt (p < 0,01). Die Einnahme
der GLA (Gr. 2) bewirkte einen signifikanten Anstieg der GLA- und DGLAKonzentrationen in den Plasmalipiden, Cholesterolestern und der Erythrozytenmembran (p < 0,05). Die Anreicherung der supplementierten PUFA erfolgte dosisabhängig. Die supplementierten Fettsäuren stiegen in der Erythrozytenmembran in
Gruppe 3 nur halb so stark an im Vergleich zu Gruppe 1 und 2. In der Kontrollgruppe
(Gr. 4) blieb die Fettsäurenverteilung unbeeinflusst.
53
Der DAS28 wurde durch den Verzehr der n-3-LC-PUFA (Gr. 1), der GLA (Gr. 2) und
des Olivenöls (Gr. 4) signifikant gesenkt (p < 0,05). Des Weiteren konnte in Gruppe 1
und 2 eine Senkung der VAS beobachtet werden (Gr. 1: p < 0,01; Gr. 2 p < 0,1).
Die supplementierten n-3-LC-PUFA und GLA wurden in die Membran eingebaut.
Dadurch wurde in Gruppe 1 die AA signifikant gesenkt, während EPA und DHA signifikant anstiegen. Da aus AA die Eicosanoide mit entzündungsfördernder Wirkung
gebildet werden und EPA und DHA die Vorstufen der Eicosanoide mit entzündungshemmender Wirkung sind, ist davon auszugehen, dass die gezeigte Modulation der
Verhältnisse in der EM zu einer Reduktion der Entzündungsaktivität führt. Der Anstieg der DGLA in Gruppe 2 weist ebenfalls auf eine verstärkte Bildung von antientzündlichen Eicosanoiden (PG der 1er Serie) hin. Diese beobachteten Effekte gehen mit der Veränderung der Krankheitsaktivitätsparameter (DAS28, VAS) einher.
Da n-3-LC-PUFA und DGLA dem Entzündungsprozess entgegen wirken, kann eine
erhöhte Aufnahme dieser Fettsäuren (3 g/d) als therapieunterstützende Maßnahme
für Patienten mit chronisch-entzündlichen Erkrankungen empfohlen werden.
Die gezeigten Studienergebnisse stehen im Einklang mit den Ergebnissen in der Literatur. Fortin et al. (1995) hat in einer Meta-Analyse den Zusammenhang zwischen
der Aufnahme von n-3-LC-PUFA und der Krankheitsaktivität der RA betrachtet. Anhand der 10 Studien mit insgesamt 395 Probanden konnte nachgewiesen werden,
dass die Anzahl der schmerzhaften Gelenke und die Dauer der Morgensteifigkeit
durch den Konsum der n-3-LC-PUFA signifikant gesenkt werden (p < 0,01).
In einer aktuellen Meta-Analyse von Goldberg und Katz (2007) wurden 17 Studien
mit insgesamt 823 Patienten betrachtet. Durch die Supplementation mit n-3-LCPUFA konnten die Gelenkschmerzintensität, die Dauer der Morgensteifigkeit, die Anzahl der schmerzhaften Gelenke und auch der Verbrauch an nicht-steroidalen antiinflammatorischen Medikamenten (NSAID) signifikant gesenkt werden (p ≤ 0,01).
n-3-LC-PUFA, RA und kardiovaskuläre Risikofaktoren
In Deutschland und der „westlichen Welt“ sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen die häufigste Todesursache. Zu diesen Erkrankungen zählen insbesondere koronare
Herzerkrankungen (Arteriosklerose) inklusive Herzinfarkt und Schlaganfall. Im Jahr
2005 führten Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems in Deutschland zu 367.361
Todesfällen, wobei bei fast jedem zweiten Deutschen (ca. 45 %) der Tod durch eine
54
Erkrankung des Herz-Kreislauf-Systems ausgelöst wurde (Statistisches Bundesamt,
2006).
Zahlreiche Studien belegen, dass RA-Patienten im Vergleich zur normalen Bevölkerung ein erhöhtes Risiko haben, an kardiovaskulären Ereignissen zu sterben. AvinaZubieta et al. (2008) schlossen in ihre Metal-Analyse 24 Studien mit insgesamt
111.758 Teilnehmern ein und konnten feststellen, dass die kardiovaskuläre Mortalität
bei RA-Patienten um 50 % erhöht ist im Vergleich zur gesunden Bevölkerung. Es
wurde deutlich, das insbesondere das Risiko, an ischämischen Herzerkrankungen
und zerebrovaskulären Ereignissen zu sterben, um 59 % bzw. 52 % erhöht ist. Auch
die Meta-Analyse von Meune et al. (2009; n = 91.916, 17 Studien) zeigte eine um 60
% erhöhte kardiovaskuläre Mortalität für RA-Patienten.
Des Weiteren wird bei RA-Patienten ein gestörtes Lipoproteinprofil (LDL ↑, TAG ↑;
HDL ↓ beschrieben (Rantapaa-Dahlqvist et al. 1997, Georgiadis et al. 2006).
n-3-LC-PUFA und kardiovaskuläre Risikofaktoren
Die Wirksamkeit der n-3-LC-PUFA in der Prävention kardiovaskulärer Erkrankungen
erfolgt aufgrund der nachfolgend beschriebenen Effekte, welche durch eine Vielzahl
von Studien belegt werden:
•
•
•
•
Verbesserung der Funktionen des Gefäßendothels (Hjerkinn et al. 2005)
Verminderung der Thrombozytenaggregation und -adhäsion
→ Thrombosegefahr sinkt (Holub, 2002)
Reduktion von Herzrhythmusstörungen (Marchioli et al. 2002, Leaf et al.
2003, Geelen et al. 2005)
Verbesserung des Blutlipidprofils
o Senkung der TAG, insbesondere bei Hypertriacylglyzeridämie
•
•
•
(McKenney und Sica, 2007, Milte et al. 2008, De Roos et al 2008)
Erhöhung des HDL-Cholesterols (Balk et al. 2006, Milte et al. 2008, Dawczynski et al. 2009)
Erhöhung der Plaquestabilität (Thies et al. 2003)
Entzündungshemmung (Cleland et al. 2003, Adam et al. 2003a,b, Calder
2006)
Die GISSI-Prevenzione Investigators (1999) untersuchten den Effekt einer Supplementation von n-3-LC-PUFA (850 mg EPA+DHA/d), von Vitamin E (300 mg/d) und
von einer Kombination beider Supplemente gegenüber einer Kontrollgruppe ohne
55
Supplemente über 3,5 Jahre an insgesamt 11.324 Probanden, die bereits einen
Herzinfarkt erlitten hatten (vor ≤ 3 Monaten). Infolge der Intervention mit n-3-LCPUFA, nicht aber Vitamin E, konnte eine signifikante Senkung der Gesamtmortalität
beobachtet werden (relative Risikoreduktion um 20 %), wobei die Rate der nichttödlichen Herzinfarkte und Schlaganfälle unbeeinflusst blieb. Die Ergebnisse verdeutlichten, dass hauptsächlich das Risiko kardiovaskulärer und koronarer Todesfälle
sowie des plötzlichen Herztodes gesenkt werden konnte. Im Vergleich zur Kontrollgruppe erfolgte durch die Supplementation mit n-3-LC-PUFA eine leichte, aber statistisch signifikante Senkung der TAG um 3,4 % (p ≤ 0,05), wobei Gesamt-Cholesterol,
HDL- und LDL-Cholesterol unverändert blieben. Es wurde geschlussfolgert, dass
sich eine Supplementation mit n-3-LC-PUFA zur Sekundärprävention nach überstandenem Herzinfarkt eignet (GISSI-Prevenzione Investigators, 1999).
Diese Ergebnisse konnten von der GISSI-Group (2008) reproduziert werden. An dieser Untersuchung nahmen 6.975 Patienten mit chronischen Herzkrankheiten teil. Die
Probanden verzehrten 1 g Fischöl/d (882 mg EPA+DHA) über 3,9 Jahre. In der n-3LC-PUFA-Gruppe gab es weniger Todesfälle und herzbedingte Krankenhausaufenthalte, wobei der Unterschied der beiden Gruppen jedoch moderat war (GISSI-HF
Investigators, 2008).
In
der
JELIS-Studie
wurden
18.645
Patienten
mit
erhöhten
Gesamt-
Cholesterolkonzentrationen (≥ 6,6 mmol/l) in 2 Gruppen randomisiert (EPA + Statin =
EPA-Gruppe; Statin = Kontrolle, 5 Jahre Follow-up). Im Vergleich zur Kontrollgruppe
konnte in der EPA-Gruppe das Eintreten kardiovaskulärer Ereignisse (plötzlicher
Herztod, fataler bzw. nicht-fataler Myokardinfarkt) um 19 % reduziert werden (p ≤
0,01). Die Unterteilung dieser Studienpopulation in Patienten, die bereits kardiovaskuläre Ereignisse hatten und Patienten ohne kardiovaskuläre Vorgeschichte,
zeigte, dass das Eintreten kardiovaskulärer Ereignisse (plötzlicher Herztod, fataler
bzw. nicht-fataler Myokardinfarkt) in der EPA-Gruppe bei Patienten mit bereites
durchlebten kardiovaskulären Erkrankungen um 19 % reduziert wurde (p ≤ 0,05). Bei
den Patienten ohne kardiovaskuläre Vorerkrankungen erfolgte eine Risikoreduktion
um 18 % in der EPA-Gruppe, wobei dieser Effekt nicht signifikant war (p ≤ 0,1;
Yokoyama et al. 2007).
Die Mehrzahl der Literaturdaten belegt die Wirksamkeit von n-3-LC-PUFA in der Sekundärprävention kardiovaskulärer Erkrankungen. Es besteht Evidenz, dass die tägliche Zufuhr von n-3-LC-PUFA Risikofaktoren (TAG, Blutdruck, Thrombozytenaggre56
gation, Entzündungsgeschehen), die unbehandelt langfristig zu kardiovaskulären
Erkrankungen führen, senken können. Die vorhandenen Literaturdaten und die Ergebnisse der dargestellten Humaninterventionsstudien zeigen, dass durch eine tägliche Supplementation von 3 g n-3-LC-PUFA/d sowohl die Krankheitsaktivität als auch
kardiovaskuläre Risikofaktoren gesenkt werden können und somit die Therapie entzündlicher, rheumatischer Erkrankungen unterstützt werden kann.
Literatur
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Adam O, Fasse S, Ditrich O. Ernährung bei rheumatischen Erkrankungen. Z Rheumatol 2009;68:549559
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Adam O. Dietary fatty acids and immune reactions in synovial tissue. Eur J Med Res 2003;8:381-387
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58
Ist Multiple Sklerose durch Ernährung beeinflussbar?
Dr. med. Rainer Stange, Immanuel-Krankenhaus, Rheumaklinik Berlin- Wannsee
und Zentrum für Naturheilkunde, Königstr. 63, 14109 Berlin
Einführung
Im weiten Spektrum chronisch entzündlicher Erkrankungen haben sich naturheilkundliche Ansätze mit Ernährung und Fasten überwiegend der chronischen Polyarthritis und ihr nahe stehenden Erkrankungsformen wie der Psoriasisarthritis gewidmet,
weniger den chronisch entzündlichen Erkrankungen des Nervensystems wie der Multiplen Sklerose (MS). Zahlreiche, eher pragmatisch zu bezeichnende Ansätze, die
von Ärzten oder anderen nicht betroffenen Wissenschaftlern erarbeitet wurden (s.u.)
sowie häufig anzutreffende Praktiken der Betroffenen weisen der Ernährung zumindest einen hohen subjektiven Stellenwert im Versuch langfristiger Entzündungskontrolle zu. Dies schließt die gleichzeitige Nutzung pharmakotherapeutischer Maßnahmen nicht aus. Vielmehr werden die Möglichkeiten der Ernährungstherapie einschließlich der Kontrolle von Genussmitteln als additiver Therapiegewinn zu den eher
realistisch eingeschätzten Möglichkeiten der konventionellen Therapie gesehen (s.a.
Stange 2010).
Erfahrungen und wissenschaftliche Erkenntnisse mit Ernährungstherapie einschließlich therapeutischem Fasten sind aus mehreren Gründen jedoch nicht ohne weiteres
von der chronischen Polyarthritis auf die MS übertragbar. Diese stellt zwar die häufigste chronisch entzündliche Erkrankung des Nervensystems dar, Inzidenz und Prävalenz liegen jedoch für alle Altersgruppen und beide Geschlechter weit unterhalb
der für rheumatische Erkrankungen. Gemeinsam sind schubförmige Verläufe, zwischen denen bei der MS jedoch oft wesentlich längere, bis jahrelange Remissionen
eintreten können. Daneben kennzeichnet die MS eine gut abgrenzbare zweite Verlaufsform aus, die sog. chronisch progressive ohne nennenswerte Schubaktivitäten.
Das im Durchschnitt jüngere Erkrankungsalter, die drohende Invalidität sowie die
weit verbreitete Kenntnis einer deutlich verkürzten Lebenserwartung durch eine MS
scheinen geeignet zu sein, mehr Motivation für Ernährungsumstellungen und deren
langfristige Durchführung zu wecken. Erfahrungen der betroffenen Patienten und
ärztliche Beobachtungen lassen ernährungstherapeutische Ansätze in einem bedeutendem Licht erscheinen (s.u.).
Vom wissenschaftlichen Standpunkt deuten im Vergleich zur chronischen Polyarthritis zunächst epidemiologische Erkenntnisse (s.u.) auf deutlichere Einflüsse durch die
Ernährung insbesondere auf die Entstehung der MS hin.
Für das Verständnis molekularer Mechanismen ist jedoch zunächst die sog. BlutHirn-Schranke zu bedenken. Diese stellt eine sehr gut ausgebaute Barrierefunktion
für den Austausch von Molekülen und größeren Entitäten wie Zellen zwischen dem
Zentralnervensystem und dem restlichen Organismus dar, die teleologisch gesehen
der besonderen Schutzbedürftigkeit der für die Integrität des Organismus unverzichtbaren, jedoch schlecht regenerierbaren Nervenzellen gerecht wird. Dadurch bedingt
ist einerseits die Erarbeitung eines biochemischen Verständnisses des Entzündungsprozesses im Zentralnervensystem erschwert, andererseits eine Konzentrati68
onsmessung von anerkannt entzündungshemmenden Substanzen in Blut, Erythrozyten und anderen Kompartimenten nicht repräsentativ.
Hinweise aus den Grundlagenwissenschaften
Hinweise für Einflüsse der Ernährung auf Entstehung und Verlauf chronischer
Krankheiten werden zunächst überwiegend durch die Epidemiologie und nicht durch
die klinische Forschung aufgezeigt. Diese sind nie als kausal bedingend zu verstehen und lassen darüber hinaus je nach Methodik sehr unterschiedliche Schlüsse,
meist jedoch nur auf Einzelsubstanzen und keine geschlossenen Ernährungskonzepte zu. Eine Vielzahl hier nur exemplarisch zitierter Untersuchungen aus verschiedenen Kontinenten und demzufolge auch bei ethnisch und kulturell sehr unterschiedlichen Bevölkerungen liefert Anhaltspunkte zur Identifizierung nutrigener Faktoren bezüglich Manifestation, vereinzelt auch der Verlaufsform einer MS.
Darüber hinaus können Tierexperimente z. B. mit gezielter Mangel- oder Überflussernährung bei der experimentellen Autoimmun-Enzephalomyelitis (EAE) bei Mäusen
Hinweise liefern, deren Übertragbarkeit auf den Menschen natürlich nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann.
Fettsäuren
Der US-Neurologe Roy L. Swank beobachtete bei seinen Feldforschungen in Norwegen bereits 1935-48 ein Verhältnis der Inzidenzen für MS zwischen den Küstenund den Binnenregionen von etwa 1:9. Er hielt wegen der großen Unterschiede im
Fischkonsum diesen für protektiv wirksam (Swank 1952). Später konnte er mit ähnlichen Methoden in der Schweiz einen deutlichen Unterschied zwischen italienischund deutschsprachigen Landesteilen feststellen, den er auf unterschiedliche Konsumgewohnheiten vor allem bei tierischen Produkten und Vegetabilien zurückführte.
Vitamin D
Mehrere epidemiologische Quer und auch Längsschnittsstudien in verschiedenen
Erdteilen konnten eine direkte Korrelation der Prävalenz der MS mit dem geographischen Breitengrad (Übersicht bei Ascherio 2007) sowie der Vitamin D-Konzentration
im Blut aufzeigen (z.B. Soilu-Hänninen 2008). Der ultraviolette Anteil am Sonnenlicht
spielt eine wichtige Rolle in der Vitamin D-Synthese und kann die Unterschiede in
der Prävalenz der MS sowohl in Abhängigkeit vom Breitengrad für größere Populationen als auch der individuellen Sonnenexposition bei naturgemäß wesentlich kleineren Fallzahlen eineiiger Zwillinge (Thomas 2007) erklären. Fallkontrollstudien in den
USA zeigten eine deutliche inverse Korrelation der Prävalenz der MS mit einem UVIndex, der das Ausmaß der jahresdurchschnittlichen Vitamin D-wirksamen UVStrahlung angibt, mit einer relativen Risikoerhöhung von 3,78 zwischen Gegenden
mit kleinstem verglichen mit größtem Strahlungsindex. Andererseits erwiesen sich
eine erhöhte Aufnahme von Vitamin D mit der Ernährung sowie erhöhte Serumspiegel für Vitamin D als protektiv für die Ausbildung einer MS (Ascherio 2007).
Eine Überrepräsentation des Vitamin D Rezeptorgen b Allel wurde bei japanischen
MS-Patienten gefunden, was ebenfalls auf eine erhöhte Suszeptibilität für MS durch
69
Vitamin D-Mangel hinweist, hier in einer traditionell mehr Fisch konsumierenden Population.
Die Vitamin D-Hypothese kann auch über eine offenbar für Prävalenz wie Verlauf
günstige fischreiche Ernährung gestützt werden, da Fisch ein ausgezeichneter Vitamin D-Lieferant ist und beispielsweise in der hiesigen Ernähung etwa die Hälfte der
Vitamin D-Zufuhr ausmacht (Nationale Verzehrsstudie 2008).
Als Fazit gilt heute als relativ gesichert, dass ein Vitamin D-Mangel die Entwicklung
einer MS begünstigt, vermutlich auf dem Hintergrund einer genetischen Disposition
und möglicherweise im Zusammenwirken mit anderen promotionsbegünstigenden
Einflüssen wie ungünstigen Nahrungsfetten (s.o.). Ein interventioneller Hinweis auf
die protektive Wirkung von Vitamin D stammt aus einem Tierversuch mit experimenteller Autoimmun-Enzephalomyelitis (EAE, s.o.), in dem die Behandlung von Mäusen
mit Vitamin D die Induktion und Progression der EAE vollständig stoppte (Hayes
2000).
Vegetarischer Anteil der Ernährung
Im Landesinneren von Kroatien ist die Inzidenz für MS nahezu zweimal so hoch wie
in Küstenregionen, etwas geringer ausgeprägt auch Unterschiede in der Prävalenz
(Materljan 2009). Aus ähnlichen Unterschieden der Krebsinzidenzen, die sich bekanntermassen durch unterschiedliche Ernährungsgewohnheiten erklären lassen,
schliessen die Autoren, dass auch für MS eine Ernährung mit viel Fleisch und Fett,
jedoch wenig Gemüse eine Risikoerhöhung bedeute. Als eine wirksame protektive
Substanz diskutieren sie Oleocanthal, eine aphenolische Verbindung, die vor allem in
extra-virgine Olivenöl vorkommt und in-vitro ein Hemmer der Cyclooxygenase ist, die
wiederum bei der Demyelinisierung beteiligt ist, und sehen darin einen weiteren
günstigen Effekt der mediterranen Ernährung gegenüber Krebs und MS.
Die vermutlich größte Fallkontrollstudie zu dieser Frage mit 197 Erkrankten und 202
Kontrollpersonen aus Kanada legt ebenfalls einen protektiven Effekt bezüglich der
Krankheitsmanifestation durch Verzehr von Vegetabilien nahe, darüber hinaus explizit auch durch Ballaststoffe, Vitamin C, Thiamin, Riboflavin, Kalzium und Kalium.
Manifestationsbegünstigend schienen sich dagegen überhöhte Aufnahmen der gesamten Nahrungsenergie sowie tierischer Fette auszuwirken (Ghadirian 1998).
Energiegehalt, Mineralien und weitere Mikronährstoffe
In einer niederländischen Untersuchung gaben 80 MS-Erkrankte in einem sehr präzisen Protokoll über 14 Tage ihre spontanen Ernährungsgewohnheiten an. So ließ sich
die Aufnahme von 23 Nährstoffen, Mineralien und Vitaminen berechnen und mit der
niederländischen gesunden Bevölkerung sowie den täglichen Aufnahmeempfehlungen vergleichen. Danach nahm die gesamte Studienpopulation weniger Gesamtenergie, Folsäure, Magnesium und Kupfer auf als die Normalbevölkerung. Verglichen
mit den Aufnahmeempfehlungen bestanden Defizite bei Folsäure, Magnesium, Zink
and Selen. Als Untergruppe nahmen die Erkrankten mit sekundär progressiver Verlaufsform (n=32, bzw. 40 %) weniger Magnesium, Kalzium und Eisen zu sich. Die
70
Autoren schließen daraus, dass Magnesium, Kalzium und Eisenmangel möglicherweise die Progression der Erkrankung begünstigen können (Ramsaransing 2009).
Konzepte zur Ernährung bei MS
Der erste ausformulierte Ansatz mit einer breiteren therapeutischen Praxis geht auf
den Arzt Max Bircher-Benner (1867- 1939) zurück. Es heißt, dass er seine eigene
Gelbsuchtserkrankung aufgrund eines zufälligen Hinweises nur mit rohen Äpfeln erfolgreich behandelte. Andere Quellen schreiben der erfolgreichen Behandlung einer
jungen kachektischen ‚Magenpatientin’ mit einer Frischkostdiät sein Initialerlebnis zu.
In seiner Privatklinik am Zürichberg behandelte er in den mehr als 40 Jahren ab 1897
bis zu seinem Tod 1939 Tausende von Patienten überwiegend mit Frischkost, darunter überwiegend rheumatisch Erkrankte. Verläufe von MS-Kranken sind in seinen
Schriften aber nicht explizit erwähnt.
In dieser Zeit widmeten sich auch europäische Universitätskliniken diesem Konzept,
etwa die naturheilkundlichen Professuren in Berlin und Jena, sowie die verschiedenen Lehrstühle für Physikalische und Diätetische Therapie, ohne dass allerdings ein
selbst der damaligen Zeit angemessener wissenschaftlicher Beitrag zur Klärung seiner Erfolge bekannt geworden wäre.
Mehrere Schulen traten für Frischkostkonzepte bei chronischer Entzündung ein. Der
Schwede Are Waerland (1876-1955), der später auch in Deutschland wirkte, hatte
sein Konzept zu seiner eigenen Heilung aus einem diffus schlechten Gesundheitszustand in London entwickelt, später dann in seinem Heimatland auch in Sanatorien
praktiziert. Dabei propagierte er es zunächst ebenfalls bei entzündlichen Erkrankungen, später aber überwiegend für onkologische. Die Verwendung milchsauer vergorenen Gemüses spielt hier eine größere Rolle als bei Bircher-Benner. Mit Pellkartoffeln und seinem berühmten ‚Kruska’, einem kurzzeiterhitzten Brei aus mehreren Getreidesorten, enthalten seine Kostformen auch erhitzte Anteile. Obwohl er mit seinem
Konzept dann in seinem Heimatland eine Art Gesundheitsbewegung auslöste, ist
nicht explizit bekannt, ob auch MS-Erkrankte es befolgten und möglicherweise davon
profitierten.
Dr. med. Max Otto Bruker (1909 – 2001) bezieht sich in seinen Schriften explizit auf
Bircher-Benner. In der Behandlung seiner Patienten zunächst in der Psychosomatischen Klinik Bad Salzuflen, ab 1977 dann in der Klinik Lahnhöhe bei Koblenz ist das
Frischkost-Konzept bezüglich seiner Indikationsstellung und der Qualität der Umsetzung vermutlich dem Original am nächsten gekommen. Trotz einer breiten Praxis
auch bei Patienten mit verschiedenen chronisch entzündlichen Erkrankungen sind
aus dieser Zeit zwar eine Reihe populärer Schriften, aber keine wissenschaftlichen
Arbeiten bekannt geworden.
Das Konzept des deutschen Zahnarztes Dr.med. dent. Johann Georg Schnitzer
(geb. 1930) leitete sich ursprünglich aus einer kritischen Betrachtung der Zahnstaten
bei Schulkindern ab und sollte insbesondere Zahnentwicklung und -erhalt dienen. Es
wurde jedoch in seiner späteren Ausformulierung auch für Erwachsene auf das metabolische Syndrom und im weiteren auch auf chronisch entzündliche Erkrankungen
wie ‚Rheuma’ ausgedehnt. Schnitzer unterscheidet zwischen einer veganen Inten71
sivphase und einer ovo-lacto-vegetabilen Normalphase, die beide als strenge Frischkost zu verstehen sind. Auch Schnitzer hat seine Konzepte lediglich propagiert, nicht
jedoch wissenschaftlich untermauert.
Bircher-Benner’s und mit wenigen Abweichungen auch die bis hierhin vorgestellten
weiteren Konzepte sehen insbesondere vor, dass Getreide in geringen Mengen als
Müsli unerhitzt gegessen wird. Dies ist nach entsprechender Vorbehandlung durch
Schroten und Einweichen in Wasser oder Milch möglich. Aus heutiger Sicht ist ein
Werterhalt insbesondere für hitzelabile Bestandteile wie Vitamin E auf diese Weise
optimal erreichbar, allerdings um den Preis einer höheren Anforderung an die Aufschlüsselung komplexer Kohlenhydrate und die minimal nötige und mögliche Prozessierung unverdaulicher Faserstoffe nach ihrer gründlichen Zermalmung durch den
hier sehr intensiv durchzuführenden Kau- und Einspeichelvorgang.
Die verschiedenen Frischkostformen konnten sich trotz aus heutiger Sicht wichtiger
theoretischer Beiträge in der breiten naturheilkundlichen Praxis nicht durchsetzen.
Dies mag bedingt auch an ihrer Tendenz zur geistigen Enge, letztlich zum Sektierertum liegen (Semler 2006).
In Europa hat die Budwig-Diät lange nach ihrer Begründung erst in jüngster Vergangenheit eine größere Popularität wegen einer angenommenen anti-entzündlichen,
aber auch anti-neoplastischen Wirksamkeit erworben. Diese von der deutschen Apothekerin und Chemikerin Johanna Budwig (1908-2003) propagierte Öl-EiweißErnährungsform sieht einen hohen Anteil an pflanzlichen Omega-3-Fettsäuren aus
Leinöl vor. Budwig hatte zunächst Grundlagenarbeiten über die Chemie der Fette
durchgeführt und publiziert und dabei bereits 1950 erstmals die Unterscheidung in
gesättigte und ungesättigte Fettsäuern eingeführt. Später in den 1950er Jahren beschäftigte sie sich dann u.a. mit biologisch negativen Wirkungen der Transfettsäuren,
die im Rahmen der expandierenden Fettindustrie mehr und mehr in die breite Ernährung Eingang fanden. Ab 1957 bis zu ihrem Tode wurde sie siebenmal für den Nobelpreis vorgeschlagen.
Ihre Kost besteht zentral aus der Budwig Crême (s. Kasten Rezept) oder Varianten
wie der Budwig Mayonnaise, die überwiegend aus Leinsamen, kaltgepresstem Leinöl, Quark und Hüttenkäse, ergänzt durch frisches Obst kalt hergestellt wird. Obwohl
ähnlich wie etwa die Waerland-Kost eher auf onkologische Patienten zugeschnitten,
kann diese Kost auch entzündungshemmende Wirkungen beanspruchen. Die Budwig-Diät wird in Einzelfällen von Multiple Sklerose-, seltener von Rheumapatienten
praktiziert. Ihre Verbreitung war bis vor kurzem sehr gering, sie scheint jedoch an
Popularität zuzunehmen und wird z.B. den Patienten einer großen onkologischen
Reha-Klinik, die sich seit geraumer Zeit um naturheilkundlich/komplementäronkologische Konzepte bemüht, fakultativ angeboten. Auch aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse aus jüngerer Zeit über gesundheitliche Nachteile einer durch
überhöhten Konsum von leicht verfügbaren Kohlenhydraten (Süßigkeiten, gezuckerte
Getränke, Weißmehlprodukte, solange sie nicht innerhalb einer Mahlzeit mit Vollkornproduktene verzehrt werden) dauerhaft überstimulierten Insulinproduktion auch
beim Stoffwechselgesunden hat diese extrem kohlenhydratarme Kostform an Popularität gewonnen.
72
Die Schweizer Kinder- und Allgemeinärztin russischer Abstammung Dr. med. Catherine Kousmine (1904-1992) entwickelte, inspiriert durch den Krebstod zweier ihrer
nahe stehender Patienten, eine weitere Ernährungsform, die antiproliferative, aber
auch antientzündliche Wirksamkeit beansprucht. In der Kousmine-Diät spielt zwar
auch noch die Budwig Crême (s.o.) eine wichtige Rolle. Darüber hinaus treten bei
Budwig nicht enthaltene Elemente wie Darmhygiene, Säure-Basen-Gleichgewicht,
Nahrungsergänzungsmittel mit hoch dosierten Vitaminen und Spurenelementen sowie psychosoziale Betreuung auf. Kousmine empfiehlt ihre Ernährung u.a. bei chronischer Polyarthritis und Multipler Sklerose (s.u.).
Zu den wesentlichen Diätprinzipien zählen das Meiden von Fleisch, Fleischprodukten und weißen Zucker, der Verzehr von unverarbeitetem Getreide sowie von großen
Mengen Obst und Gemüse und generell basische Lebensmittel. Als Mittel zur
„Darmhygiene“ werden regelmäßige Einläufe und Abführmittel empfohlen. Kousmine
ging davon aus, dass viele Krankheiten auf einen zu hohen Säureanteil im Körper
auf Grund von falscher Ernährung zurückzuführen seien. Patienten sollten regelmäßig den pH-Wert des Urins ermitteln und bei Unterschreiten eines festgelegten Werts
basische Nahrungsergänzungsmittel einnehmen. In ihrem Buch "Die Multiple Sklerose ist heilbar" werden u.a. 55 Patienten mit MS beschrieben, die mit dieser Ernährung geheilt worden seien.
Eine weitere Variante einer naturbelassenen Vollwertkost wurde von Dr. med. Joseph Evers (1894 - 1975) speziell für MS-Kranke entwickelt und über viele Jahre in
der nach ihm benannten Spezialklinik als obligatorische Ernährungsform praktiziert.
Er betreute dort seit 1940 über 12.000 MS-Patienten und stellte seine Frischkost in
den Mittelpunkt der Therapie.
Die Evers-Diät beansprucht darüber hinaus, Bestandteil einer ganzheitlichen Vorgehensweise zu sein, die Körper, Geist und Seele anspricht. Entspannungstechniken,
Bewegung und Ernährung sollen sich ergänzen. Durch die vorwiegend vegetarische
Ernährung, kombiniert mit fettarmen Milchprodukten, wird weniger Arachidonsäure
zugeführt. Die positiven Wirkungen der Diät werden zusätzlich auf weitere wirksame
Inhaltsstoffe wie Vitamine, Mineralstoffe, sekundäre Pflanzeninhaltsstoffe, Antioxidantien und essentielle Fettsäuren zurückgeführt. Das Konzept ist weitgehend mit
dem von Bircher-Benner identisch, wurde jedoch trotz der großen Zahl der behandelten MS-Patienten nicht wissenschaftlich bearbeitet. In Evers’ Nachfolge wurde es
dahingehend modifiziert, dass ein höherer Anteil erhitzter sowie ausgewählte hochwertige tierische Nahrungsmittel in kleinen Mengen empfohlen werden.
Der US-Neurologe Roy L. Swank (1909- 1999, s.o.) entwickelte ab 1950 eine Ernährungsform, die zwar auf -3-Fettsäuren aufbaut, vor allem aber eine fettarme
Diät darstellt. Er modifizierte seine Auffassung später immer wieder, empfahl aber
durchgängig eine vegetarisch orientierte Kost, die wenig tierische Fette enthält. Er
verbietet Butter, empfiehlt 14 ml flüssige Pflanzenöle und 5 ml Fischöl täglich. Die
Swank-Diät dürfte die erste aus gesundheitlichen Gründen propagierte ‚low fat’ Ernährungsform überhaupt sein. Swank war in der Lage, einige der von ihm auf 5.000
geschätzt beratenen MS-Patienten bis in sein eigenes Alter von 90 Jahren nach zu
beobachten. Zu Beginn der Propagierung seines Ernährungskonzeptes Anfang der
73
1950er Jahre schätzte er die 2-Jahres-Mortalität eines Kollektivs von etwa 400 Patienten anhand der damals üblichen Kriterien mit 32,5 % ein. Diese Patienten erhielten
strikte Anweisungen, sich nach den Swank’schen Prinzipien zu ernähren. Etwa 30
Jahre später ergab eine Umfrageaktion in diesem Kollektiv eine Langzeitüberlebensrate von 80%. Swank sah einen klaren Überlebensvorteil und führte ihn auf seine
Ernährungsform zurück (Swank 1987).
Grundsätzlich ähnliche Ideen wie Budwig und Kousmine verfolgt die erst kürzlich
ausformulierte Ernährung nach Coy. Diese ebenfalls kohlenhydrat- und insbesondere
glukosearme, dafür öl- und proteinreiche Ernährung wird von dem deutschen Biologen Johannes F. Coy (geb. 1966) propagiert. Im Unterschied zu vielen anderen
Kostformen standen hier Erkenntnisse der Grundlagenforschung Pate. Coy hatte
sich in einer Arbeitsgruppe des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg
in den 1990er Jahren erneut mit der Frage beschäftigt, ob die aus den 1920er Jahren
stammende Warburg’sche Hypothese, nach der Tumorzellen nur, bzw. überwiegend
durch anaerobe Vergärung von Glucose Energie gewinnen könnten, belegbar sei.
Über den Nachweis eines in vielen bösartigen Geweben intrazellulär erhöht konzentrierten Enzyms, der Transketolase TKTL-1, wurde die Warburg’sche Hypothese zumindest für ausgewählte Tumoren untermauert. Erhöhte Konzentrationen von TKTL1 wurden mit allerdings geringer Sensitivität auch im Blut von onkologischen Patienten mit TKTL-1-positivem Tumorgewebe nachgewiesen (z.B. Langbein 2006).
Die Ernährung nach Coy, die dieser daraufhin für Patienten mit TKTL-1-positiven
Tumoren vorschlug, ähnelt der Budwig-Diät, insbesondere in ihrer weitestgehenden
Meidung von Kohlenhydraten. Dies erfolgt, um den Insulinspiegel so niedrig wie
möglich zu halten und damit bereits die Einschleusung von Glukose in maligne Zellen zu verhindern. Er empfiehlt beispielsweise proteinreiches Brot, das neben der
geringen Glukosefreisetzung auch durch den Zusatz von Ölsamen (Leinsamen, Sesam, Hanfnuss) einen höheren Gehalt an pflanzlichen -3-Fettsäuren aufweist als
beispielsweise Lachs und Hering. Es sei sogar möglich durch die Verwendung von
Zuckern wie Fruktose, Palatinose™ und Isomalt, die nur noch einen moderaten oder
gar keinen Glukoseanstieg im Blut nach sich zögen, Kohlenhydrate in die Ernährung
einzubauen.
Die Coy-Diät stellt derzeit eine aussichtsreiche Variante für eine wissenschaftlich begründbare Ernährungsform dar, die onkologisch günstige Effekte aufweisen kann.
Coy empfiehlt seine Ernährungsform bislang nur Krebskranken. Allerdings weisen
seine Ernährungsempfehlungen deutliche Gemeinsamkeiten mit den Entzündungshemmung beanspruchenden Konzepten von Budwig und Kousmine auf. Untersuchungen, ob auch chronische Entzündung zu einer intrazellulären Anreicherung von
TKTL-1 in den betroffenen Geweben führen kann, sind bislang nicht angestellt worden.
Das in dieser Auflistung eher gemäßigt wirkende und leicht praktizierbare Konzept
der mediterranen Kost scheint mehrere Vorteile der sich teilweise sehr einseitig
festlegenden Kostformen zu vereinigen:
- wenig Fleisch und Fleischprodukte, damit wenig Arachidonsäureaufnahme
- hoher Anteil an unerhitzten, bzw. schonend erhitzten Vegetabilien
74
- günstiges Fettsäurenmuster durch pflanzliche Öle und Nüsse
- komplexe Kohlenhydrate mit geringer Insulinwirkung
Seine Wirksamkeit bei MS ist allenfalls sehr indirekt über epidemiologische Hinweise
zu erschließen.
Ansätze für die heutige Praxis
Grundlegende Möglichkeiten
Im Sinne der vier alten therapeutischen Prinzipien ‚exclusio’ (Entfernung, Weglassen), ‚directio’ (zielgerichtete Beeinflussung), ‚substitutio’ (Supplementierung, Substituierung) sowie ‚stimulatio’ (Reiz, Anregung) wurde schon recht früh erkannt, dass
ein Beitrag der Ernährung zur Entzündungskontrolle sowohl durch Weglassen entzündungsfördernder wie auch durch eine betonte Aufnahme entzündungshemmender Anteile der Ernährung gelingen könnte.
Neben der Betonung einzelner Komponenten, denen solche Eigenschaften nachgewiesen werden konnte, hat sich ebenfalls schon sehr früh die Propagierung ganzer
Ernährungskonzepte etabliert, z.B.
• Kostformen ohne tierisches Eiweiß
• Frischkost
• vegane Ernährung
• allergenarme Ernährung
Darüber hinaus haben immer wieder alternative Ernährungsformen wie die Makrobiotische Ernährung auch bei entzündlichen Erkrankungen Vorteile beansprucht, ohne
dass dies in eine breitere Praxis gemündet ist.
Fasten
Das Fasten stellt in der naturheilkundlichen Tradition in Mitteleuropa eine Art ‚Basistherapie’ insbesondere bei der Rheumatoiden Arthritis dar. Hier ist grundsätzlich ein
langanhaltender, immunsuppressiver Effekt anzunehmen (Kjeldsen-Kragh 1991, Müller 2003), der sich auf andere Autoimmunerkrankungen übertragen lässt. Bei der MS
gibt es wesentlich weniger Fallberichte, keine klinischen Studien und unter Fastenärzten auch keinen breiten Konsens. Dies scheint vor allem mit der Befürchtung
begründet zu sein, durch die metabolischen, endokrinologischen und vegetativen
Instabilitäten der ersten Fastenphase einen Krankheitsschub auslösen zu können.
Allerdings wird immer wieder von langanhaltenden Remissionen nach einer
Fastentherapie berichtet.
Einstellungen und Verhalten der Patienten
Die Verlautbarungen des größten Patientenverbandes Deutsche Multiple Sklerose
Gesellschaft Bundesverband e.V. sowie die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für
Neurologie sehen keine Hinweise auf Zusammenhänge zwischen der Manifestation
der Erkrankung und Ernährungs- oder anderen Umweltfaktoren. In den Leitlinien
heißt es‚ Strategien zur Primärprävention sind nicht bekannt’ (Deutsche Gesellschaft
für Neurologie 2008).
75
Deutsche MS-Patienten nannten als häufigste ‚unkonventionelle’, bzw. ‚alternativmedizinische’ Therapien eine ‚Diät’ (41%), bzw. die Einnahme ungesättigter Fettsäuren
als Nahrungsergänzungsmittel (37%) (Schwarz 2008). Etwas höhere, grundsätzlich
jedoch vergleichbare Anteile ergaben sich in den USA (52, bzw. 45 %) (Shinto 2006).
428 in Süd-Australien befragte Patienten gaben ebenfalls zu hohen Anteilen an, teilweise auch in überlappender Praxis Nahrungsergänzungsmittel und Ernährungskonzepte in Anspruch zu nehmen, die von diesen Autoren als ‚komplementärmedizinisch’ eingestuft wurden: Fischölprodukte (62,5 %), Vitamin B12 (41,3%), Kombinationen weiterer B-Vitamine (38,3%), Magnesium (34,6 %) und Nachtkerzenöl (23,0%).
Als spezielle Ernährungsformen wurden fettarme (39,8%), zuckerarme, bzw. -freie
(23,8 %) und glutenfreie (16,4%) Ernährung sowie die in Europa selten praktizierte
Swank-Diät (16 %, s.o.) angeführt (Leong 2009).
Bedeutung einzelner nutrigener Faktoren
Vitamin D
Der Vitamin D-Status sollte ist bei Personen mit erblicher Belastung wie mit manifester MS-Erkrankung untersucht werden und im Falle eines nachgewiesenen Mangels
offensiv angegangen werden. Dies erscheint umso wichtiger, als Vitamin D-Mangel
weit verbreitet ist. In der Entwicklung der letzten beiden Jahrzehente sind die unteren
Grenzwerte als Maßstab einer noch tolerierbaren Versorgung mit Vitamin D (25 OH)
vom klinischen Ziel Knochengesundheit über die Rachitis-Prophylaxe zur Osteoporose-Prophylaxe mittlerweile zu extraossären Effekten fortentwickelt und dabei stetig
angehoben worden bis derzeit etwa 50 nmol/l als untere Normgrenze. Diese sollte
deutlich überschritten sein.
Laut Nationaler Verzehrsstudie II entspricht zwar die mittlere Zufuhr der meisten Vitamine den Referenzempfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung
(DGE). Deutlich unter den empfohlenen Werten liegen jedoch die mittleren Aufnahmen von Vitamin D, hier für beide Geschlechter und nahezu alle Altersgruppen, und
Folsäure. Etwa 2% der Männer und 3% der untersuchten Frauen nahmen Vitamin D
in Form von Supplementen ein, die mindestens 5 µg, bzw. 200 I.E./d enthielten
(Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz 2008).
In Kongruenz mit dieser Aussage konnte in einer größeren Längsschnittkohortenstudie mit mehr als 4.000 Berliner Teilnehmern ein Vitamin D-Spiegel im Blut unterhalb
des hier zeitgemäß als kritisch angesetzten Grenzwerts von 50 nmol/l bei 57% der
untersuchten Männer und 58% der Frauen über alle Altersstufen bestimmt werden.
Bei den über 65jährigen Frauen stieg dieser Anteil auf 75% (Hintzpeter 2008).
Erstaunlicherweise wurde schon vor über 20 Jahren eine vielversprechende unkontrollierte Interventionsstudie veröffentlicht (Goldberg 1986), in der allerdings alle Patienten zusätzlich zum Vitamin D Kalzium und Magnesium erhielten.
Eine jüngere Übersichtsarbeit kommt zu dem Schluss, dass eine randomisierte Studie mit Vitamin D bei MS überfällig sei (Smolders 2008).
76
Ausreichende Versorgung mit Vitamin D bleibt demzufolge eine wichtige Forderung
an jede Ernährungsform, insbesondere, wenn sie beansprucht chronische Entzündung zu verhüten oder langristig zu kontrollieren helfen. Allerdings sind die Möglichkeiten, durch Vitamin D-reiche Lebensmittel wie Pilze und Fisch die durchschnittliche
Zufuhr von etwa 200 I.E. deutlich zu übertreffen, recht begrenzt (s. Tab. 20.1). Früher
wurde dies vermutlich sehr effektiv durch die Gabe von Lebertran realisiert, der heute
aus geschmacklichen, aber auch toxikologischen Gründen kaum noch konsumiert
wird.
In Abhängigkeit von Hauttyp, Alter und Sonnenexposition wird der ganz überwiegende Teil des Vitamin D-Bedarfs durch intrakorporale Produktion in der Haut gedeckt.
Beim jungen Hautgesunden, der sich gelegentlich der Sonne ohne Sonnenschutzmittel kurz exponiert, beträgt dieser Anteil bis zu 90 %. Gerade bei der älteren städtischen Bevölkerung reduziert sich diese Quelle jedoch in einem nicht abschätzbaren
Ausmaß.
In Studien ist bislang die Verbesserung eines erniedrigten Vitamin D-Spiegels nur
durch künstliche UV-Bestrahlung oder Gabe von Vitamin D-Supplementen gezeigt
worden, nicht durch Ernährungsmaßnahmen. Es erscheint wünschenswert, Umsetzbarkeit und Erfolg bezüglich des Vitamin D-Haushaltes durch einfache Ernährungstipps zur Verbesserung der Versorgung gerade in nördlichen Breiten und während
der Wintersaison in prospektiven Studien aufzuzeigen.
ω-3-Fettsäuren
Diese Gruppe mehrfach ungesättigter Fettsäuren ist im in-vitro Modell, aber auch in
der klinischen Situation der rheumatoiden Arthritis, in vielen Studien erprobt (Review
s. z. B. Goldberg 2007). Für die MS erscheinen einerseits aufgrund epidemiologischer Daten (s.o.) sowie andererseits aufgrund der Erfahrungen mit der Swank- und
Budwig-Diäten geeignet, auch hier Entzündungskotrolle auszuüben. Ein kürzlich veröffentlichter Review der renommierten Cochrane-Stiftung kommt zu einem ernüchternden Ergebnis (Farinotti 2007).
no benefit on progression at 12 months in 14 RRMS patients nor at 24 months in 292
RRMS patients
ω-6-Fettsäuren
Im Unterschied zur Praxis in der Rheumatologie, in der die ω-3-Fettsäuren diese
Versuche dominieren, wurde von MS-Kranken auch protektive Effekte der Omega-6Fettsäuren, insbesondere der Gamma-Linolensäure aufgenommen, und entsprechende Ölkonzentrate aus Nachtkerze, schwarzer Johannisbeere und Borretsch in
Kapselform eingenommen. Im Körper entsteht aus der Gamma-Linolensäure eine
weitere ω-6-Fettsäure, die Dihomogamma-Linolensäure, die wiederum ein Vorläufer
des anti-inflammatorischen Prostaglandins PGE1 ist. Direkt parenteral appliziert
weist dies vor allem starke gefäßerweiternde Eigenschaften auf und wird als Pharmakon genutzt. Α-Linolensäure weist grundsätzlich ähnliche Indikationen wie die
77
Fischölsäuren EPA und DHA auf, ist jedoch wesentlich weniger klinisch untersucht
worden.
Der medizinische Gebrauch von Borretschöl, das neben geringeren Anteilen alphaLinolensäuren einen sehr hohen Anteil von bis zu 20 % Gamma-Linolensäure enthält, reicht bis in die frühe Neuzeit zurück. U. a. schrieb ihm der englische Gartenbauer und Buchautor John Evelyn (1620-1706) in seinem berühmten Salatbuch
(Evelyn 1699) damals sehr populäre vitalisierende Eigenschaften zu: „Borretsch gibt
dem Hypochonder neue Lebenskraft und muntert den fleißigen Studenten auf.“ Das
lange Zeit zur äußeren wie inneren Anwendung bei Neurodermitis empfohlene
Nachtkerzen- wie Borretschöl konnte dagegen in mehreren Studien für diese Indikation keinen überzeugenden Nutzen aufweisen (s. z. B. Takewale 2003).
Gluten
Die Frage, ob die Aufnahme von Gluten bei MS nachteilig sei, wurde immer wieder
diskutiert, vor allem weil die Zöliakie mit einem gehäuften Auftreten weiterer Autoimmun-Erkrankungen assoziiert ist. Unklar ist allerdings noch, ob dies die gemeinsame
Endstrecke zugrundeliegender vermutlich genetisch bedingter Dispositionen ist, oder
ob die Exposition mit Gluten für die Promotion anderer Autoimmunphänomene kausal bedingend werden kann. Nur dann könnte überhaupt die Einhaltung einer GlutenAbstinenz eine klinische Besserung auch der nicht darm-assoziierten Symptomatiken
bewirken. Die Zöliakie kann darüber hinaus mit neurologischen Symptomen auftreten, die eine MS regelrecht mimikrieren.
Aus klinischen Studien kann diese Frage derzeit nicht beantwortet werden, jedoch
werden immer wieder eindrucksvolle Kasuistiken zur Besserung einer MS nach Diagnose und Therapie einer Zöliakie veröffentlicht (z.B. Hernandez-Lahoz 2009).
Kürzlich wurde die erste kleinere systematische Arbeit hierzu mit der Besimmung von
Immunoglobulin A- und Immunoglobulin G-Antikörpern sowohl für Gliadin wie auch
Gewebs-Transglutaminase (tTG) im Serum von 98 Patienten veröffentlicht (Shor
2009). Man fand eine hochsignifikante Erhöhung für Immunoglobulin G-Ak gegen
Gliadin and tTG. Für die entsprechenden Ig A-Antikörper ließen sich keine statistisch
auffälligen Unterschiede sichern. Für diese Konstellation spricht man heute auch von
‚silent sprue’, einer oft über lange Zeit asymptomatischen Vorform.
Eine Untersuchung bei iranischen MS-Patienten konnte dagegen solche Zusammenhänge nicht sichern (Borhani Haghighi 2009).
Ernährungsempfehlungen bei Multipler Sklerose
Ein schlechter Versorgungszustand bezüglich mehrerer Makro- und Mikronährstoffe
und verminderte Gesamtenergieaufnahme können sich ungünstig auf Manifestation
und/oder Verlauf einer MS auswirken, deren Disposition unabhängig davon weiterhin
überwiegend auf einem genetischen Hintergrund zu sehen ist. Somit stellen Erfassung und Anleitungen zur Kompensation solcher Mängel die ersten Aufgaben der
Ernährungsberatung bei chronischen Erkrankungen dar. Einzelne Nährstoffe verdienen jedoch besondere Aufmerksamkeit.
78
Vitamin D-Mangel kann als sicher promotionsbegünstigend angenommen werden,
Mangel an Folsäure, Magnesium, Zink, Selen und Eisen als zumindest ungünstig im
Verlauf.
Deshalb sollte der Ernährungsberatung eine Bestimmung der Serum-Konzentration
des Vitamin D3 (25-OH) vorangehen, das als einziger Parameter bei nierensuffizienten Patienten den komplexen Vitamin D-Haushalt ausreichend repräsentiert. Anzustreben sind Werte deutlich über 50 nmol/l, entsprechend 20 ng/ml. Die untere
Normgrenze für diesen Parameter und damit die Versorgung mit Vitamin D hatte sich
früher primär an der Knochengesundheit, und hier zunächst an der Vermeidung der
Rachitis, erst später dann auch an der Prävention und Therapie der Osteoporose
orientiert. Aufgrund jüngerer Erkenntnisse über extraossäre Funkionen des Vitamin
D, für deren Aufrechterhaltung offenbar höhere Wirkkonzentrationen nötig sind, wurden dann die unteren Normwerte kontinuierlich angehoben. B.a.w. wird man hier in
der Literatur und den Referenzwerten der einzelnen Labors auch noch unterschiedliche Normbereiche finden.
Bei ausgeprägten Vitamin D-Mangelzuständen sind hierfür erfahrungsgemäß Tagesdosen von 1000 bis 2000 I.E. unter Kontrolle des Konzentrationsanstieges nötig, was
einzig über Ernährung nicht, über Supplemente dagegen leicht möglich ist.
Eine unzureichende Aufnahme mariner ω-3-Fettsäuren, bzw. eine Unausgewogenheit im Vergleich zur Aufnahme von ω-6-Fettsäuren scheint sich auf Manifestation
und Verlauf ungünstig auszuwirken. Für ω-3-Fettsäuren ist eine ausreichende Versorgung sowohl mit Supplementen wie einer alimentären Zufuhr leicht möglich. Eine
noch offene Fragen ist zunächst die Frage der minimalen täglichen Aufnahme. In
Anlehnung an Erkenntnisse aus der Rheumatologie wird diese meist mit 30 mg/kg
Körpergewicht angegeben, also ca. 2 g pro Tag. Insbesondere Adam (2007, 2010)
hat wiederholt darauf hingewiesen, dass die nötige Dosierung von ω-3-Fettsäuren für
den erwünschten biochemischen Effekt stark von der gleichzeitigen Aufnahme von
ω-3-Fettsäuren, insbesondere der Arachidonsäure abhängt. Diese läßt sich durch
Reduktion, nicht Aufgabe des Konsums an Fleisch, Fleischprodukten und Eiern erheblich drosseln, ohne dass der Patient zu Umstellungen seiner Ernährungsgewohnheiten beraten werden muss, die möglicherweise langfristig unrealistisch sind. Als
Orientierung für eine arachidonsäurearme Ernährung kann die Aufnahme von weniger als 100 mg/d gelten, wobei nur etwa 1mg/d als notwendige Aufnahme dieses
essentiellen Nährstoffes angesehen wird. Gelingt dies, kann die entzündungshemmende Wirkung von ω-3-Fettsäuren vermutlich mit etwa 1g/d erreicht werden, was
wiederum durch Fischkonsum grundsätzlich möglich ist. Bislang nicht sicher im klinischen Versuch gezeigt ist dabei, ähnlich wie für rheumatische Erkrankungen, die
Äquivalenz zwischen ω-3-Fettsäuren mariner und pflanzlicher Herkunft, also
EPA/DHA (s.o.) mit α-Linolensäure.
Eine glutenfreie Ernährung könnte Patienten mit entsprechenden AntikörperBefunden, insbesondere gegen die Gewebsglutamase tTG (s.o.) auch dann für eine
begrenzte Zeit von etwa sechs Monaten unter kritischer Würdigung der neurologi-
79
schen Entwicklung empfohlen werden, wenn keine typischen Symptome einer Zoeliakie vorliegen.
Umfassende Ernährungskonzepte wie Budwig-, Swank-, Kousmine- oder Evers-Diät
(s.o.) scheinen sich bei vielen MS-Kranken günstig ausgewirkt zu haben und sind
derzeit die aussichtsreichsten Kandidaten für eine therapeutisch wirksame grundlegende Ernährungsumstellung. Probatorisch empfohlen werden können sie in jedem
Fall, da bei korrekter Durchführung nicht mit Mangelzuständen gerechnet werden
muss.
Zusammenfassung
Die naturheilkundliche Tradition sowie neuere Entwicklungen haben in Mitteleuropa,
insbesondere in Schweden, der Schweiz, Frankreich und Deutschland sowie den
USA mehrere geschlossene Ernährungskonzepte hervorgebracht, nach denen ein
MS-Patient vorteilhaft und gleichzeitig langfristig ohne Mangelerscheinungen ernähren kann. Diese lassen sich grob in zwei Gruppen einteilen:
• ausschließlich oder zumindest überwiegend Frischkost
• kohlenhydratarme bis –freie Kost mit Betonung günstiger Fettsäuren
Zusammen mit der Mediterranen Kost, die in anderen Zusammenhängen ausreichend beschrieben ist, stehen somit drei fundamentale Ernährungsweisen mit grundlegender Plausibilität zur Verfügung, Entzündung zu hemmen.
Darüber hinaus sind die wichtigsten Empfehlungen zur Berücksichtigung kritischer
Mikronährstoffe (s.o.) in jüngeren Patienten-Ratgebern zusammengefasst, die keine
radikalen Ernährungsumstellungen propagieren (Pöhlau 2009, Adam 2007), jedoch
beide gegenüber durchschnittlichen Ernährungsweisen zur erhöhten Aufnahme
pflanzlicher Ernährung raten.
Weitere klinische Forschung ist dringend notwendig, u.a. um Effektstärken, LangzeitKompliance und die nachweislich verbesserte Versorgung mit Vitamin D und ω-3Fettsäuren nachzuweisen.
Wenngleich in der Therapieforschung bislang überzeugende Beweise für Interventionen mit den Mikronährstoffen, bzw. ω-3-Fettsäuren in Form kontrollierter klinischer
Studien fehlen, sollte die Ernährungsberatung unabhängig vom Grundtyp der Ernährung hier auf eine mindestens den Empfehlungen angeglichene Nährstoffaufnahme
hinwirken. Dies könnte begleitend in Interventionsstudien leicht beforscht werden.
Kasten Quark-Leinöl-Creme nach Budwig
3 Eßlöffel frisches Leinöl
3 Eßlöffel rohe Milch
100g Quark (magerer, möglichst, Bio-Qark)
1 Teelöffel Honig
zur Geschmacksunterstützung mit Zimt oder Vanille würzen
Obst nach Saison verwenden und mit der Creme vermischen
80
Tabelle: Vitamin D-Gehalt ausgewählter Nahrungsmittel
Vitamin D3( Cholecalciferol) – Gehalt in Nahrungsmitteln
- % der täglich empfohlenen Zufuhr (DGE) für 100 g Lebensmittel
Rinderleber
Champignons
Heilbutt
Gehalt pro 100 g in
µg
1,7
1,9
% der empfohlenen Zufuhr
34
38
5
100
5,4
108
7,5
150
13
260
16,3
326
31
620
Thunfisch
Sardine
Aal
Lachs
Hering
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82
Muskelfunktion im Alter und Prävention der Sarkopenie
Jürgen M. Bauer, Lehrstuhl für Innere Medizin – Geriatrie, Universität ErlangenNürnberg, Prof.-Ernst-Nathan-Str. 1, 90412 Nürnberg
Mit steigendem Alter ist sowohl bei Frauen als auch bei Männern eine progrediente
Abnahme der Muskelmasse zu beobachten. Vergleicht man die Geschwindigkeit des
Muskelabbaus zwischen oberen und unteren Extremitäten findet sich eine raschere
Reduktion der Muskelmasse im Bereich der Beine. Mit Hinblick auf Funktionalität und
Autonomie des älteren Menschen kommt dieser Beobachtung eine besondere Bedeutung zu.
Parallel zur Abnahme der Muskelmasse findet sich altersassoziiert eine Vermehrung
der Fettmasse. Betrachtet man nun das Verhältnis zwischen Muskel- und Fettmasse
bei beiden Geschlechtern zeigt sich für Frauen eine besonders ungünstige Relation,
welche eine Prädisposition des weiblichen Geschlechtes für eine abnehmende Funktionalität im Alter bedingt.
Von Sarkopenie im eigentlichen Sinne spricht man, wenn der Verlust an Muskelmasse und Muskelkraft ein bestimmtes Ausmaß erreicht hat. Bislang wurden mehrere
Definitionsansätze entwickelt, die jedoch bislang nur geringe Verbreitung in den Bereichen von interventioneller Forschung und Klinik gefunden haben.
Definitionen der Sarkopenie
•
Skeletal muscle mass index nach Baumgartner
Appendikuläre Muskelmasse / Größe 2
Mehr als 2 Standardabweichungen unter dem Durchschnittswert von
gesunden jungen Männern und Frauen < 30 Jahre
Baumgartner RN, Am J Epidemiol. 1998; 47: 755 – 763
•
Skeletal muscle mass index nach Janssen
Körpermuskelmasse / Körpermasse x 100
Berücksichtigung der individuellen Statur sowie der Masse nicht
skelettaler Körpergewebe (Fett, innere Organe, Knochen)
Klasse I
innerhalb 1-2 SD der Werte junger Erwachsener
Klasse II
unterhalb 2 SD der Werte junger Erwachsener
Janssen I et al, J Am Geriatr Soc 2002; 50: 889 - 896
Abb.1: „Klassische“ Definitionen der Sarkopenie
83
Die bekanntesten Definitionen sind die von Baumgartner und Janssen, welche sich
beide auf eine jungendliche Referenzpopulation beziehen (Tabelle 1). Legt man die
Definition von Janssen zugrunde, findet sich bei über 80-jährigen Männern eine Prävalenz der Sarkopenie Grad I von 43 % und der Sarkopenie Grad II von 7 %. Die respektiven Werte betragen bei Frauen 61 und 11 %. Bei schwerer Sarkopenie lässt
sich eine enge Assoziation mit dem Vorliegen relevante funktioneller Beeinträchtigungen nachweisen. Aufgrund der aktuellen demographischen Entwicklung kommt
daher der Entwicklung therapeutischer Ansätze zur Behandlung der Sarkopenie zunehmende Bedeutung zu. Bereits 2004 wurden für die USA die durch das Vorliegen
einer Sarkopenie zu entstehenden Kosten für das Gesundheitswesen auf etwa 18,5
Milliarden US-$ berechnet.
Die Ursachen der Sarkopenie sind in der Regel als multifaktoriell anzusehen. Neben
einem veränderten Bewegungsverhalten und einer unzureichenden Versorgung mit
Makro- und Mikronährstoffen kommt hormonellen und entzündlichen Faktoren wesentliche Bedeutung zu. Auch bedürfen die Komorbidität und die begleitende Pharmakotherapie einer besonderen Beachtung. Es gilt generell zu beachten, dass sich
der altersassoziierte Verlust an Muskelkraft nicht allein auf eine Abnahme der Muskelmasse zurückführen lässt. In diesem Sinne belegte eine unlängst publizierte Longitudinalstudie, dass während eines 5-jährigen Beobachtungszeitraums die Abnahme
der Muskelkraft 2 - 5 mal stärker ausgeprägt war als die Abnahme des Muskelquerschnitts. Somit kommt der Muskelqualität entscheidende Bedeutung für die Entwicklung der Funktionalität des älteren Menschen zu. Ferner sind vermutlich altersassoziierte Veränderungen im Bereich der neuromuskulären Endplatte in das pathophysiologische Erklärungskonzept der Sarkopenie einzubeziehen.
Bezüglich der Prävention und Therapie kommt neben ernährungstherapeutischen
Interventionen und einer altersadaptierten Trainingsbehandlung, werden gegenwärtig
in diesem Zusammenhang hormonelle und pharmakologische Therapien auf ihre
Wirksamkeit untersucht. Mit Hinblick auf eine Prävention der Sarkopenie kommt einer neben einer ausreichenden Energieaufnahme sowie der Proteinzufuhr wesentliche Bedeutung zu. Eine niedrige Proteinzufuhr ist bei älteren Menschen mit einem
über dem Altersschnitt liegenden Verlust an Muskelmasse und mit einem erhöhten
Risiko für das Vorliegen einer Gebrechlichkeit (Frailty) assoziiert. Sowohl bei jüngeren als auch bei älteren Individuen ließ sich demgegenüber eine Stimulation der
Muskelproteinsynthese nach Zufuhr von Nahrungsproteinen nachgewiesen. In die84
sem Kontext scheint neben einer Stimulation des mTOR-Pathways auch einer vermehrten Sekretion von Insulin Like Growth Factor 1 (IGF 1) für die Steigerung von
Muskelmasse und Muskelkraft bedeutsam zu sein (Abb. 2). Es ist zu beachten, dass
bei älteren Menschen oftmals bei geringer körperlicher Mobilität ein nur niedriger
Energiebedarf besteht. Dabei kann die tägliche Proteinzufuhr, wenn sie allein auf
der Beachtung der üblichen Nährstoffrelationen beruht, unzureichend sein. Daher ist
eine Berechnung, welche sich auf das individuelle Körpergewicht bezieht, zu bevorzugen. Bei manifester Sarkopenie kann es ferner sinnvoll sein, auf eine gleichmäßigere Verteilung der Proteinzufuhr bei den drei Hauptmahlzeiten zu achten. Auf diese
Weise wird mehrmals täglich eine maximale Stimulation der Proteinsynthese ermöglicht. Diese tritt nicht ein, wenn isoliert eine hohe mittägliche oder abendliche Proteinzufuhr besteht, während bei den anderen Mahlzeiten die Zufuhr von Kohlenhydraten
oder Fett bevorzugt wird. Obwohl die diesbezügliche Diskussion noch nicht als abgeschlossen betrachtet werden kann, wird von der Mehrzahl der Experten bereits jetzt
für ältere Menschen eine Proteinzufuhr empfohlen, welche über der WHOEmpfehlung von 0,8 gr / kg KG liegt. In der Regel wird zu einer Proteinzufuhr zwischen 1,1 bis 1,5 gr /kg KG geraten.
Steigerung der Proteinzufuhr
Anstieg
des IGF-1
Aktivierung des
mTOR Pathways
Steigerung der
mRNA
Translation
Steigerung
der
Proteinsynthese
Verbesserung von Muskelmasse /-kraft
Abb.2: Wirkungen der Proteinzufuhr bezüglich einer Steigerung von Muskelmasse
und Muskelkraft
85
Aktuelle Studien fokussieren zudem die Effekte der vermehrten Zufuhr essentieller
Aminosäuren, um zusätzliche muskelanabole Wirkungen zu erzielen. Besondere
Aufmerksamkeit erfährt hierbei Leucin. Obwohl sich sowohl bei jüngeren als auch bei
älteren Studienteilnehmern unter Leucinzufuhr eine Steigerung der Muskelproteinsynthese nachweisen ließ, wurde deutlich, dass ältere Individuen für vergleichbare
Effekte höhere Dosen als jüngere Personen benötigen. Weitere Arbeiten sind auf
diesem Gebiet jedoch nötig, um Klarheit über die klinische Bedeutung dieser Phänomene zu erhalten. Insbesondere bedarf es zuverlässige Erkenntnisse in der mittelund langfristigen Anwendung dieser Substanzen.
Wesentlich umfangreicher ist gegenwärtig bereits die Studienlage zum Vitamin D.
So erstrecken sich die positiven Wirkungen einer ausreichenden Vitamin D-Zufuhr
nicht nur auf die Knochenstruktur, sondern auf die Muskulatur des älteren Menschen.
Sowohl in Querschnitts- als auch in Längsschnittuntersuchungen zeigte sich eine
Beziehung zwischen den Vitamin D-Spiegeln und Parametern der Funktionalität des
älteren Menschen wie der Ganggeschwindigkeit oder auch der Zeitdauer, die zum
Aufstehen aus einem Stuhl benötigt wird. Diesem Sachverhalt kommt eine besondere Bedeutung, da gegenwärtig weltweit etwa eine Milliarde Menschen eine unzureichende Vitamin D-Versorgung aufweisen und ältere Menschen von dieser Situation
in besonderem Maße betroffen sind. So beträgt die Prävalenz des Vitamin DMangels bei selbständig lebenden älteren Menschen bis zu 50 %. Bei Heimbewohnern liegt sie demgegenüber häufig über 70%. Hierfür ursächlich sind beim älteren
Menschen neben der Hautalterung in erster Linie eine verminderte Sonnenexposition
sowie eine unzureichende orale Zufuhr.
1000 IE Vitamin D3 pro Tag werden in der Mehrzahl älteren Menschen zu einem befriedigenden Anstieg des Vitamin D-Spiegels führen. In anderen Fällen ist jedoch
eine höhere Zufuhr bis 2000 IE Vitamin D pro Tag erforderlich. Der Zielbereich für
eine optimierte Vitamin D – Versorgung liegt zwischen 30 und 60 ng / ml. Bei ausreichend hoher Substitutionsdosis ließ sich in verschiedenen Metaanalysen eine günstige Beeinflussung des Sturzrisikos und der Frakturrate nachweisen. Bei Personen
mit manifester Sarkopenie sollte daher eine Spiegelbestimmung des 25-Vitamin D3
unter Supplementierung erwogen werden.
86
Tab. 1: Prinzipien der Vitamin D- Supplementierung
•
Zielbereich: 30 – 60 ng / ml
•
Vitamin D3 besser als Vitamin D2 geeignet
•
Mindestens 1000 IU Vitamin D3 / Tag
•
Compliance > 60 % der verordneten Dosis erforderlich
•
Alternativ 100 000 IU Vitamin D3 / alle 4 Monate
•
Bei Gefährdung bzgl. einer unzureichenden Versorgung ergänzende Calciumsubstitution
Bei Berücksichtigung einer adaptierten Kalorien-, Protein- und Vitamin D-Zufuhr lässt
sich das Risiko für das Auftreten einer Sarkopenie vermindern, beziehungsweise bei
manifester Sarkopenie bieten sich hier Ansatzpunkte, um einem weiteren Abbau entgegenzuwirken oder auch eine Besserung der klinischen Symptomatik zu erzielen.
Der Erfolg ernährungstherapeutischer Maßnahmen lässt sich durch die Kombination
mit körperlichem Training auf deutliche Weise verbessern. Für den älteren Menschen
scheint eine Kombination verschiedener Trainingsmodi am besten geeignet zu sein.
Die Bedeutung des Ausdauertrainings ist als gegenüber jüngeren Vergleichspersonen geringer einzustufen. Demgegenüber empfiehlt sich die kombinierte Anwendung
von Kraft- und Balancetraining.
Sarkopenie
Kraft
Schwierigkeiten
Gewichte zu tragen
Power
Ausdauer
Risko von Stürzen
und Frakturen
Erschöpfung
Immobilisation
Alternseffekte
Ernährung
Abb. 3: Trainingsinterventionen bei Sarkopenie
87
Nach neueren Erkenntnissen reduziert sich mit zunehmendem Alter die so genannte
Schnellkraft rascher als die „normale“ Muskelkraft. Auf diesem Wissen basiert der
Einsatz des Powertrainings, bei dem konzentrische Muskelkontraktionen so schnell
als möglich
erfolgen, während die Geschwindigkeit exzentrischer Kontraktionen gegenüber dem
„klassischen“ Krafttraining unverändert ist. Vor Beginn eines Powertrainings bedarf
es jedoch einer Vorbereitungsphase mit Durchführung eines Krafttrainings. Sämtliche
Trainingsarten sollten durch erfahrene Therapeuten vermittelt und überwacht werden.
Bezüglich der bislang zum Einsatz gekommenen hormonellen Therapien zur Verbesserung der Muskelfunktion im Alter finden bislang weit überwiegend negative Studienergebnisse. So erbrachte die Mehrzahl der Arbeiten zu Testosteron, Wachstumshormon sowie DHEA keinen signifikanten Zuwachs an Muskelkraft oder Funktionalität. Die Vermehrung der Muskelmasse unter Testosteron wird kontrovers beurteilt, da diese unter Umständen durch eine vermehrte Flüssigkeitseinlagerung zustande kommt. Unter den neueren Substanzen scheint gegenwärtig in erster Linie
Ghrelin vielversprechend. Diesem überwiegend von Zellen der Magenschleimhaut
produzierten Hormon werden sowohl appetitstimulierende Eigenschaften als auch
die Stimulation des Wachstumshormons zugeschrieben. Eine unlängst publizierte
Arbeit wies für einen Beobachtungszeitraum von zwei Jahren eine Stegierung der
Muskel- und Fettmasse in der Verumgruppe bei gesunden älteren Individuen gegenüber Plazebo nach. Zudem waren die in dieser Studie publizierten Daten zur Verträglichkeit dieser Substanz vielversprechend.
Ob weitere neue Medikamente wie Myostatinantagonisten oder auch Wirkstoffe zur
Förderung der neuromuskulären Kopplung bei Sarkopenie mit guter Wirksamkeit und
ausreichender Patientensicherheit erfolgreich eingesetzt werden können, bedarf weiterer Studien, wobei jedoch erste Ergebnisse zuversichtlich stimmen.
Ausblick
Um die Entwicklung moderner Therapien zur Behandlung der Sarkopenie zu erleichtern, werden gegenwärtig umfangreiche Anstrengungen unternommen, um eine gemeinsame US-amerikanisch-europäische Definition dieses Syndroms zu erzielen.
Nach aktuellem Kenntnisstand wird diese erstmalig neben einem Maß für die Mus-
88
kelmasse auch einen Funktionsparameter umfassen. Für letzteren wird zum jetzigen
Zeitpunkt die Ganggeschwindigkeit favorisiert.
Es bleibt zu hoffen, dass zukünftig dem klinischen Phänomen der Sarkopenie von
allen für die Versorgung älterer Menschen Verantwortlicher im Gesundheitswesen
mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird, damit es gelingt, noch mehr Menschen bis ins
hohe Alter ihre körperliche Fitness und Selbständigkeit zu erhalten.
Literatur
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89
Warum sind die Japaner die ältesten Menschen der Welt?
Motoi Nishi1, Ulrich Schäfer2
1
Department of Fundamental Health Sciences, Health Sciences University of Hokkaido, Kanazawa 1757 Tobetsu, Hokkaido, 061-0293 Japan, [email protected]
2
Friedrich-Schiller-Universität Jena, Institut für Ernährungswissenschaften, Lehrstuhl
für Ernährungsphysiologie, Dornburger Str. 24, 07743 Jena, [email protected]
Zusammenfassung
Vor 1950 hatten die Japaner die kürzeste Lebenserwartung unter den Industrieländern. Aber seit etwa 1980 haben die Japaner die höchste Lebenserwartung. Die Abnahme der Säuglings-Mortalität ist ein entscheidender Faktor, der die Lebenserwartung der Japaner verlängert hat. Ein anderer wichtiger Faktor ist die Verminderung
der Tuberkulose-Mortalität. Nach dem Zweiten Weltkrieg sind die Essgewohnheiten
der Japaner durch den zunehmenden Verzehr von tierischem Eiweiß und Fett amerikanisch geworden. Auf der einen Seite wurde der Ernährungszustand verbessert,
und das Körpergewicht und die Widerstandsfähigkeit gegen ansteckende Krankheiten nahmen zu. Die Abnahme der Tuberkulose-Mortalität in Japan nach dem Zweiten
Weltkrieg ist Folge der Erhöhung des Lebensstandards in Verbindung mit der Verbesserung des Ernährungszustands.
Auf der anderen Seite hat sich der Gesundheitszustand der Japaner nach dem Zweitem Weltkrieg verschlechtert. Parallel zur Änderung der Essgewohnheiten ist es zu
einer Zunahme von Dickdarmkrebs und Diabetes gekommen. Wenn die jetzigen Essgewohnheiten beibehalten werden, werden erheblich mehr Menschen an Diabetes
erkranken. Japaner müssen sich der Vorteile ihrer traditionell gesunden Küche erinnern, die auch von Nicht-Japanern zunehmend geschätzt wird.
Einleitung
Vor 1950 hatten die Japaner die kürzeste Lebenserwartung unter den Industrieländern. Aber seit etwa 1980 haben die Japaner die höchste Lebenserwartung. Wie ist
es dazu gekommen?
Viele Faktoren haben die Lebenserwartung der Japaner beeinflusst. Die Essgewohnheiten der Japaner haben sich nach dem Zweiten Weltkrieg im Laufe von etwa
20 Jahren drastisch verändert. Kein Volk hat in derart kurzer Zeit so starke Veränderungen der Essgewohnheiten erfahren wie Japaner. Es wird hier über den Zusam90
menhang zwischen Lebenserwartung und Ernährung der Japaner berichtet.
Die Daten in diesem Artikel ohne Literaturzitate sind der japanischen Bevölkerungsstatistik und der japanischen Nationalen Ernährungsbeobachtung entnommen. Die
Daten der Lebenserwartung von anderen Ländern entstammen teilweise den UN
Demographic Yearbooks.
1. Veränderung der Lebenserwartung
Im Jahr 1947 lag die Lebenserwartung japanischer Männer bei 50,1 Jahren. Aber
1955 betrug sie 63,6 Jahre. Das heißt, in 8 Jahren hat sich die Lebenserwartung um
über 13 Jahre verlängert. Im Jahr 2007 betrug sie 79,2 Jahre.
Die Lebenserwartung japanischer Frauen lag 1947 bei 54,0 Jahren, aber 1955 betrug sie 67,8 Jahre. Das heißt, auch bei Japanerinnen hat sich die Lebenserwartung
in 8 Jahren um über 13 Jahre verlängert. Im Jahr 2007 betrug sie 86,0 Jahre. Diagramm 1 zeigt den Vergleich der Lebenserwartung für Frauen zwischen Japan und
den USA.
Diagramm 1.
Vergleich der Lebenserwartung von Frauen zwischen Japan und den
USA.
Alter(Jahr)
90
85
80
J APAN
USA
75
70
65
60
1940
1950
1960
1970
1980
1990
2000
2010
2. Säuglings-Mortalität
Es gibt einige wesentliche Faktoren, die die Lebenserwartung in Japan verlängert
haben. Erstens die Abnahme der Säuglings-Mortalität. Die Säuglings-Mortalität be91
einflusst die Lebenserwartung stark (Tabelle 1). Die Mortalität nimmt bereits vor dem
Zweiten Weltkrieg kontinuierlich ab.
Tabelle 1. Säuglings-Mortalität in Japan (pro 1.000 Lebendgeburten).
Jahr
1900
1925
1950
1975
2000
Säuglings-Mortalität
155,0
142,4
60,1
10,0
3,2
3. Veränderung der Todesursachen
Der zweite Faktor ist die Abnahme der Tuberkulose-Mortalität.
Tabelle 2 ordnet die wichtigsten Todesursachen der letzten 70 Jahre in Japan vier
Erkrankungen zu. Vor 1950 war Tuberkulose die Todesursache Nr.1. Besonders im
Jugendalter war die Tuberkulose-Mortalität sehr hoch. Aber seit 1950 nimmt die Tuberkulose-Mortalität ab.
Tabelle 2. Mortalität in Japan (pro 100.000).
Tuberkulose
Gehirnschlag
Herzkrankheiten
Krebs
1930
185,6
162,8
63,8
70,6
1940
212,9
177,7
63,3
72,1
1950
146,4
127,1
64,2
77,4
Jahr
1960
1970
34,2
15,4
160,7 175,8
73,2
86,7
100,4 116,3
1980
5,5
139,5
106,2
139,1
1990
3,0
99,4
134,8
177,2
2000
2,1
105,5
116,8
235,2
Besonders im Jugendalter ist die Abnahme auffallend (Tabelle 3). Bei 20- bis 24Jährigen betrug die Tuberkulose-Mortalität 467,8 pro 100.000 im Jahr 1935 und
254,3 im Jahr 1950. Aber im Jahr 1965 lag sie bei nur 3,6.
Tabelle 3. Tuberkulose-Mortalität im Jugendalter in Japan (pro 100.000).
Alter
15-19
20-24
25-29
1935
378,3
467,8
361,0
Jahr
1965
1,1
3,6
8,0
1950
114,0
254,3
293,0
1970
0,5
1,2
2,3
1975
0,2
0,4
0,7
Wovon hängt die Abnahme der Tuberkulose-Mortalität ab? Vom Fortschritt der Therapiemethoden? Tatsächlich war die Entwicklung der Antibiotika einflussreich. Aber
nicht nur die Tuberkulose-Mortalität sondern auch die Tuberkulose-Inzidenz1) nahm
92
ab (Tabelle 4). Gleich nach Kriegsende wurden einige Antibiotika, z.B., Streptomycin,
eingeführt2). Durch Streptomycin wurden zahlreiche Tuberkulosekranke vor dem Tod
gerettet. Aber z.B. in den USA 3) nahm die Tuberkulose-Mortalität schon in der ersten
Hälfte des 20. Jahrhunderts ab (Diagramm 2). Es ist klar, dass die Erhöhung des Lebensstandards die Tuberkulose-Mortalität vermindert hat.
Tabelle 4. Tuberkulose-Inzidenz in Japan (pro 100.000).
Jahr
1950
1960
1970
1980
1990
2000
Tuberkulose-Inzidenz
735,6
524,2
174,1
62,6
41,9
31,0
Diagramm 2. Tuberkulose-Mortalität in den USA.
pro 100.000
250
200
150
100
50
0
1900
1910
1920
1930
1940
1950
1960
Die Abnahme der Tuberkulose-Mortalität in Japan nach dem Krieg hängt von der Erhöhung des Lebensstandards in Verbindung mit der Verbesserung des Ernährungszustands ab. Kurz gesagt: Die Veränderungen der Essgewohnheiten haben die Lebenserwartung der Japaner verlängert.
4. Veränderung der Essgewohnheiten
In Diagramm 3 erkennt man die zeitliche Veränderung der prozentualen Energieauf93
nahme aus Kohlenhydraten, Fett und Eiweiß in Japan über eine Zeitspanne von 100
Jahren. Vor dem Krieg nahmen die Japaner über 80 % ihrer Energie aus Kohlenhydraten auf. Aber nach Kriegsende nahm der Anteil an Fett drastisch zu.
Diagramm 3.
Zeitliche Veränderung der prozentualen Energieaufnahme aus Kohlenhydraten, Fett und Eiweiß in Japan.
% Energie
100%
90%
80%
70%
Kohlenhydrate
Fett
Eiweiß
60%
50%
40%
30%
20%
10%
0%
1911- 1931- 1955
1915 1935
1960
1965
1970
1975
1980
1985
1990
1995
2000
2005
Tabelle 5 zeigt den Vergleich zu den USA im Jahr 20004). Gegenwärtig ist der Unterschied in der Zusammensetzung der aufgenommenen Nahrung zwischen Japan und
den USA gering. Das heißt, die Essgewohnheit des Japaners ist amerikanisiert worden.
Tabelle 5. Prozentuale Energieaufnahme aus Kohlenhydraten, Fett und Eiweiß in
Japan und in den USA im Jahr 2000.
Japan
USA
Kohlenhydrate
57,5%
52%
Fett
26,5%
33%
Eiweiß
15,9%
15%
Summe
100%
100%
Die Aufnahme von Kohlenhydraten nahm in Japan nach dem Krieg beständig ab. Im
Jahr 1955 betrug sie über 400 g pro Tag, aber nun beträgt sie nur etwa 270 g pro
Tag (Tabelle 6). Bis 1995 stieg die Aufnahme von tierischem Eiweiß und tierischem
Fett kontinuierlich an. Es gibt keine Daten über die Zusammensetzung der Nahrungsaufnahme der Japaner vor dem Krieg, aber die Aufnahme von tierischem Eiweiß und tierischem Fett war damals möglicherweise 3-bis 4-fach niedriger als ge94
genwärtig. Nach dem Krieg stieg der Anteil beider Energieträger beständig an. Im
Jahr 1955 betrug er ein Drittel, aber 1985 lag er über 50 % der Gesamtenergieaufnahme (Tabelle 6).
Tabelle 6. Aufnahme (g/Tag) von Kohlenhydraten, tierischem Fett und tierischem
Eiweiß sowie prozentualer Anteil von tierischem Fett an der Gesamtfettaufnahme und von tierischem Eiweiß an der Gesamteiweißaufnahme in
Japan.
Jahr
Kohlenhydrate
Tierisches Fett
Tierisches Eiweiß
1955
411
22,3 (32,0 %)
1960
399
24,7 (35,4 %)
1965
384
14,3 (39,7 %)
28,5 (40,0 %)
1970
368
20,9 (44,9 %)
34,2 (44,1 %)
1975
335
27,4 (52,7 %)
38,9 (48,0 %)
1980
309
27,2 (51,9 %)
39,2 (49,8 %)
1985
298
27,6 (48,5 %)
40,1 (50,8 %)
1990
287
27,5 (48,3 %)
41,4 (52,6 %)
1995
280
29,8 (49,7 %)
44,4 (54,5 %)
2000
266
28,8 (50.2 %)
41,7 (53.7 %)
5. Veränderung des Körpergewichts
Tabelle 7 zeigt den zeitlichen Verlauf des durchschnittlichen Körpergewichts von 14jährigen Jungen und Mädchen5). 1955 betrug das Körpergewicht der Jungen 42,7 kg,
aber nun beträgt es 55,4 kg. Diese Veränderung geht mit der erhöhten Aufnahme
von tierischem Eiweiß und Fett einher.
Tabelle 7. Durchschnittliches Körpergewicht (kg) von 14-jährigen Jungen und Mädchen in Japan.
Jahr
Jungen
Mädchen
1925
40,9
40,8
1935
43,4
43,2
1939
43,6
43,3
1948
38,9
40,1
1950
39,7
41,2
1955
42,7
43,2
1965
47,1
46,5
1975
51,0
48,8
1985
53,0
49,8
1995
54,7
50,5
2000
55,4
50,7
6. Gesundheitliche Konsequenzen der Veränderung der Essgewohnheiten
Die Veränderungen betreffen (1) die Zunahme der Energieaufnahme aus Fett und (2)
die Zunahme der prozentualen Anteile von tierischem Eiweiß und tierischem Fett an
der Gesamtnahrungsaufnahme. Auf der einen Seite wurde der Ernährungszustand
95
verbessert. Infolgedessen nahmen das Körpergewicht und die Widerstandsfähigkeit
gegen ansteckende Krankheiten zu.
Auf der anderen Seite hat sich der Gesundheitszustand der Japaner nach dem Zweitem Weltkrieg verschlechtert. Der Organismus der Japaner hat sich im Laufe von
Jahrtausenden an Pflanzenkost (Reis, Gemüse) angepasst. Die Umstellung von
pflanzlicher auf tierische Kost hat sich in nur etwa 30 Jahren nach dem Zweiten
Weltkrieg vollzogen. Der Organismus der Japaner konnte dieser abrupten Veränderung nicht entsprechen. Dies hat zu Veränderungen in der Häufigkeit bestimmter
Krankheiten geführt.
Das erste Beispiel ist die Veränderung der Art der bösartigen Geschwülste (Tabellen
8 und 9). Magenkrebs war lange Zeit in Japan die häufigste Krebserkrankung. Man
bezeichnet ihn als japanischen Krebs. Aber die Mortalität des Magenkrebses nahm
nach dem Krieg ständig ab.
Tabelle 8. Die alters-adjustierte* Mortalität bei Krebserkrankungen japanischer
Männer.
Jahr
Magen
Dickdarm
Pankreas
Prostata
1960
98,5
9,5
4,1
2,2
1965
96,0
11,3
5,6
2,8
1970
88,9
12,9
7,4
3,2
1975
79,4
15,2
8,0
3,8
1980
69,9
17,6
10,0
4,4
1985
58,7
19,6
11,5
5,5
1990
49,5
21,9
12,1
6,0
1995
45,4
24,4
12,7
7,7
2000
39,1
23,7
12,4
8,6
*Als Standardmodell dient die japanische Bevölkerung im Jahr 1985.
Tabelle 9. Die alters-adjustierte* Mortalität bei Krebserkrankungen japanischer
Frauen.
Jahr
Magen
Dickdarm
Pankreas
Mamma
1960
51,8
8,4
2,5
5,1
1965
49,4
9,4
3,6
5,2
1970
46,5
10,3
4,5
5,8
1975
39,8
11,7
5,1
6,5
1980
34,1
12,2
5,8
7,2
1985
27,4
13,0
6,5
7,6
1990
21,6
13,8
7,1
8,2
1995
18,5
14,1
7,0
9,9
2000
15,3
13,6
7,2
10,7
*Als Standardmodell dient die japanische Bevölkerung im Jahr 1985.
Im Gegensatz dazu nahmen Dickdarm-, Pankreas-, Prostata- und Mammakrebs zu.
96
Diese Arten von Krebs sind die so genannten westlichen Krebserkrankungen. Also
hat die Veränderung der Essgewohnheiten die Art der Krankheit beeinflusst.
Eigene Fall-Kontrolle Studien zeigen, dass die Aufnahme der "westlichen Lebensmittel" ein Risikofaktor für Dickdarm- und Pankreaskrebs ist6,7).
Das zweite Beispiel ist die Zunahme der Anzahl von Übergewichtigen. In jedem Alter
nimmt der prozentuale Anteil eines BMI über 25 bei japanischen Männern zu. In den
letzten 30 Jahren hat sich der Anteil der Übergewichtigen verdoppelt8) (Tabelle 10).
Tabelle 10. Prozentualer Anteil eines BMI > 25 bei japanischen Männern (über 20
Jahre) .
Jahr
%
1976
15,2
1980
17,8
1985
18,2
1990
22,3
1995
23,9
2000
26,8
2005
28,6
Außerdem nimmt der Anteil der Diabetiker zu. Heute haben 30 % der 40- bis 74Jährigen einen Diabetes. Tabelle 11 zeigt den prozentualen Anteil der Diabetiker.
Etwa 30 % sowohl der Männer als auch der Frauen haben einen Hämoglobin A1CWert von über 5,5 %8).
Tabelle 11.
Prozentualer Anteil der Diabetiker an der Gesamtbevölkerung Japans
(40-74 Jahre) im Jahre 2007.
HbA1C-Wert (%)
Männer
Frauen
5,6-6,0
15,7
17,7
> 6,1
17,2
8,6
7. Zukünftige Lebenserwartung für Japaner
Gegenwärtig verlängert sich die Lebenserwartung der Japaner. Aber es gibt einige
Faktoren, die die zukünftige Lebenserwartung verkürzen können. Erstens Selbstmord, zweitens Influenza-Virus-Erkrankungen, drittens Diabetes.
In Japan verläuft die Selbstmordrate parallel zum
ökonomischen Zustand. Dia-
gramm 4 zeigt den Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Selbstmord in
Sapporo. Die Korrelation zwischen beiden ist sehr eng. Die jetzige ökonomische Depression wird die Selbstmordrate erhöhen.
97
Diagramm 4.
Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit (%) und Selbstmord (×100)
in Sapporo.
8
7
6
5
A rbeitslosigkeit(%)
S elbstm ord (× 100)
4
3
2
1
0
1985
1990
1995
2000
2005
Neue Grippeviren können möglicherweise eine Million Menschen töten.
Aber der wichtigste Faktor ist Diabetes. Wenn die jetzigen Essgewohnheiten beibehalten werden, werden erheblich mehr Menschen an Diabetes erkranken.
Heute gibt es fast 300.000 Todesfälle pro Jahr durch Herz- und Kreislauferkrankungen sowie Gehirnschlag in Japan. Und Diabetes fördert diese Stoffwechselerkrankungen.
8. Vorteile der japanischen Lebensmittel
Die nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte vergleichsweise abrupte Umstellung auf
Lebensmittel tierischen Ursprungs von Säugern hat entsprechend gravierende negative gesundheitliche Auswirkungen. Deshalb sollten Japaner den Anteil des tierischen Eiweißes an der Gesamteiweißaufnahme auf das Niveau von 1970 (etwa
40 %) vermindern.
Die japanischen Lebensmittel haben mehrere wichtige Vorteile. Erstens haben sie
einen hohen Gehalt an ungesättigten Fettsäuren. Besonders Fisch enthält langkettige n-3, polyungesättigte Fettsäuren (EPA und DHA).
Zweitens besitzen die japanischen Lebensmittel, z. B. Natto, einen niedrigen Fettgehalt. Drittens ist der Energiegehalt der japanischen Lebensmittel niedrig. Japaner
müssen sich der Vorteile ihrer traditionell gesunden Küche erinnern, die auch von
Nicht-Japanern zunehmend geschätzt wird.
98
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99
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