34 4 Klinische Untersuchung sion hin, da die Tiere bei einer entsprechenden Problematik nicht mehr in der Lage sind, ihr Fell ausreichend zu pflegen bzw. die abgestorbene Unterwolle zu entfernen. Häufig denken die Besitzer aber auch erst dann an eine eventuelle Zahnerkrankung, wenn die Tiere umfangreichere Kieferschwellungen (Abszesse) entwickelt haben und typisch nach Eiter riechen oder aber therapieresistente, chronische Erkrankungen der Augen oder Tränen-NasenKanäle vorliegen (Abb. 4-3). Im Gespräch mit dem Besitzer werden auch dessen Zuverlässigkeit sowie sein (hoffentlich verantwortungsbewusster) Umgang mit dem Tier eingeschätzt. Die Behandlung vieler Malokklusionen ist langwierig und daher oft frustrierend. Sie kann nur dann erfolgreich sein, wenn der Tierhalter bereit ist, die häufig nicht unbeträchtlichen Kosten der wiederholten diagnostischen als auch therapeutischen Maßnahmen zu tragen. Darüber hinaus sollte er in der Lage sein, den Patienten im Anschluss an eine Behandlung auch im häuslichen Umfeld entsprechend zu versorgen (assistierte Ernährung mit der Spritze, Futterumstellung, tägliches Wiegen, regelmäßige Kontrollen usw.). Entsprechend umfassend informiert soll der Besitzer frei wählen können, was er seinem Tier zumuten und wo er die Therapie aus tierschützerischen Gründen abbrechen möchte. Auf diese Weise wird er in die Entscheidung mit eingebunden, trägt somit einen Teil der Verantwortung und wird dadurch auch bereit sein, die Anweisungen des behandelnden Tierarztes möglichst konsequent zu befolgen. 4.2 Allgemeine klinische Untersuchung Der Anamnese folgt eine sorgfältige klinische Allgemeinuntersuchung, die das weitere Vorgehen ganz wesentlich beeinflusst. Trotz oft schwerwiegender Zahn- und Kieferentzündungen ist die Körpertemperatur bei herbivoren Heimtieren erstaunlicherweise selten erhöht. Der klinische Check entscheidet darüber, ob kurzfristig eine fundierte Dentaldiagnostik in Narkose geplant werden kann, der sich unmittelbar eine Therapie anschließt, oder ob der Patient primär stabilisiert werden muss (Infusionen, assistierte Ernährung etc.). Um begleitende Erkrankungen diverser Organsysteme oder andere primäre Ursachen der Anorexie ausschließen bzw. entsprechend nachweisen zu können, werden im Bedarfsfall Röntgenaufnahmen von Abdomen und Thorax angefertigt. Zusätzlich kann eine Blutuntersuchung durchgeführt werden. Insbesondere bei chronischen, zahnassoziierten Osteomyelitiden sind hämatogen bedingte, intrathorakale oder intraabdominale Abszedierungen keine Seltenheit (Abb. 4-4a u. b). a b Abb. 4-4 Intrathorakaler Abszess bei einem 5-jährigen Kaninchen. a Im latero-lateralen Strahlengang als kinderfaustgroße, solide Verschattung kaudal des Herzens im 5.−8. Interkostalbereich erkennbar. b Eröffneter, kinderfaustgroßer Lungenabszess und eitrige Pneumonie nach hämatogener Streuung einer chronisch-eitrigen Unterkieferosteomyelitis. Blutuntersuchungen sind für die unmittelbare Diagnostik von Kieferabszessen selten hilfreich, da akute Entzündungen mit pyogenen Bakterien bei Kaninchen und Meerschweinchen zu keiner Leukozytose oder Neutrophilie führen (Toth u. Krueger 1989; Harcourt-Brown 2002b; Hein u. Hartmann 2003a, b; Jenkins 2008). Beide Tierarten haben ein lymphozytäres Blutbild und daher kaum stabkernige neutrophile Granulozyten, sodass die für Infektionen typische Linksverschiebung fehlt. Entzündungsbedingt kommt es eher zu einer Verschiebung des lymphozytären Blutbilds hin zu einem granulozytären (Erhöhung der pseudoeosinophilen Granulozyten). Auf chronische Entzündungen bzw. Abszesse hinweisend sind somit eine relative Pseudoeosinophilie und eine Lymphopenie (Hinton et al. 1982, Harcourt-Brown u. Baker 2001), bisweilen auch eine milde Monozytose oder Anämie (Harcourt-Brown 2002b, Ward 2006). 4.3 Spezielle klinische Untersuchung 4.3 Spezielle klinische Untersuchung 4.3.1 Äußere Adspektion Die spezielle Untersuchung des Gebisses beginnt mit einer Adspektion des Kopfes. Hierbei begutachtet man insbesondere den Ober- und Unterkiefer sowie den Augenbereich. Zunächst rein adspektorisch wird auf eine Asymmetrie oder lokale Schwellung im Kopf-Kiefer-Bereich geachtet. Beide Veränderungen können auf einen Abszess oder eine hochgradige retrograde Dislokation einzelner Zahnapizes hinweisen. Neoplasien sind ebenfalls möglich, jedoch prinzipiell bei Heimtieren eher selten. Eine Hypersalivation bei Kaninchen lässt linguale oder bukkale Zahnspitzen vermuten, wohingegen bei Meerschweinchen eher eine Zahnbrückenbildung in Frage kommt, die verhindert, dass Speichel normal abgeschluckt werden kann. Zeigt der Patient einseitig einen chronischen, eitrigen Nasenausfluss, so ist dies bei Kaninchen häufig die Folge eines apikal dislozierten oder vereiterten Oberkieferinzisivus. Dies führt zu einer Kompression des in der Nähe verlaufenden Tränen-Nasen-Kanals, der sich chronisch entzündet und parallel hierzu meist sekundär stark dilatiert. Breitet sich die eitrige Entzündung weiter in die nähere Umgebung aus, oder bricht der Prozess gar in die Nasenhöhle ein, zeigen die Patienten Symptome einer einseitigen Rhinitis (Abb. 4-5). Als Folge der chronischen Entzündung des Tränen-Nasen-Kanals kommt es häufig zu okulären Symptomen wie einseitiger Epiphora, (Kerato-)Konjunktivitis oder Dakryozystitis. Dominieren hingegen eine dezente Protrusio bulbi mit sekundärem Nickhautvorfall oder gar ein Exophthalmus mit begleitender Expositionskeratitis (fehlender Lidschluss), so ist dies kennzeichnend für eine schwerwiegende retrobulbäre Infektion (Abb. 4-6). Diese geht beim Kaninchen von pathologischen Veränderungen der letzten vier Oberkieferbackenzähne aus (P4−M3), wohingegen beim Meerschweinchen und Chinchilla primär die letzten beiden maxillären Molaren betroffen sind (M2/M3). Differenzialdiagnostisch müssen retrobulbäre Neoplasien oder eitrige Einschmelzungen der hinter dem Auge liegenden Tränendrüsen in Erwägung gezogen werden (hämatogene Infektausbreitung bei chronischen Infektionskrankheiten). Bei nasalen wie okulären Symptomen spielt insbesondere bei Chinchillas und Meerschweinchen auch ein extremes retrogrades Zahnwachstum der Oberkieferbackenzähne eine wichtige Rolle (Abb. 4-7). Bei Kaninchen mit einer sekundären, chronischen Dakryozystitis kann bei Druck auf den kanthusnahen unteren Lidbereich häufig Eiter aus dem Tränensäckchen herausgedrückt werden (Abb. 4-3). Liegt in derartigen oder ähnlichen Fällen der Verdacht einer Obstruktion oder Entzün- Abb. 4-5 Linksseitiger Nasenausfluss bei einem 4-jährigen Kaninchen mit chronisch-eitriger Entzündung des Tränen-Nasen-Kanals als Folge einer erworbenen Schneidezahnmalokklusion mit retrograder Verlagerung und Elongation des linken Oberkieferinzisivus. Abb. 4-6 Rechtsseitige Protrusio bulbi bei einem 4-jährigen Kaninchen mit unzureichendem Lidschluss, sekundärer Austrocknung der Hornhaut sowie hochgradiger Expositionskeratitis mit fluoreszeinpositivem Korneadefekt als Folgen eines zahnassoziierten, retrobulbären Abszesses. dung des Tränen-Nasen-Kanals vor, so wird im Laufe der weiteren Diagnostik stets auch eine Spülung des Kanals durchgeführt. Dies ist unter Anwendung lokal betäubender Augentropfen ohne Sedation des Tieres möglich. Bei Kaninchen gibt es lediglich ein Tränenpünktchen, das ca. 4−5 mm vom Lidrand entfernt und kanthusnah auf der Innenseite des Unterlids zu finden ist (Abb. 4-8). Zur Spülung können sehr dünne, metallische Tränen-Nasen-Kanülen verwendet werden, oder alternativ der Plastikteil eines pädiatrischen Venenkatheters. Meerschweinchen und Chinchillas haben pro Auge zwei Tränenpünktchen, die – ähnlich wie beim Hund – kanthusnah am Lidrand liegen. Sie sind jedoch so klein, dass eine Spülung meist nicht möglich ist (Abb. 4-7). 35 36 4 Klinische Untersuchung Abb. 4-7 Linke Orbita eines 3-jährigen Meerschweinchens nach Entfernung des Augapfels. Malokklusion mit hochgradigem retrogradem Wuchs des vorletzten Oberkieferbackenzahns (M2; weißer Pfeil) und lateraler Verdrängung des N. maxillaris (schwarzer Pfeil). Im Kanthusbereich sind beide Tränenpünktchen sichtbar. sen, dass der Kieferknochen mit dem empfindlichen Periost bereits perforiert wurde. Die Konsistenz von Neoplasien im Kieferbereich ist abhängig von der Tumorart fest bis hart, wohingegen »klassische« Kieferabszesse eher weichere, meist fluktuierende Umfangsvermehrungen bilden. Auf leichten Druck entleert sich bisweilen über die vereiterte Alveole Eiter direkt in die Maulhöhle, was die Tiere zu entsprechenden Kau- bzw. Schluckbewegungen veranlasst und einen typischen Geruch verströmt (Foetor ex ore). Ist die Abszesskapsel jedoch kalzifiziert, oder besteht sie aus stark deformiertem, aufgetriebenem Kieferknochen, so sind die Abszesse palpatorisch eher fest und hart. Ebenso erscheinen eitrige Entzündungen palpatorisch recht derb und dadurch »tumorähnlich«, wenn sie unterhalb der Kaumuskulatur (M. masseter) liegen. Dies ist bei apikalen Vereiterungen der letzten beiden Unterkiefermolaren bei Kaninchen und Meerschweinchen häufig der Fall. Rostrale mandibuläre Auftreibungen sind in der Regel Folgen einer eitrigen Schneidezahnentzündung. Oft lässt sich durch leichten Druck auf den veränderten Kieferbereich Eiter über die Alveole des infizierten Inzisivus herausdrücken. Bei Kaninchen und Meerschweinchen wird stets sorgfältig auch die Innenseite der Mandibula abgetastet, da die retrograd verlagerten Zahnapizes der vorderen bzw. hinteren Unterkieferbackenzähne bevorzugt medial durchbrechen (Abb. 4-9). Vor allem im kaudalen Mandibulabereich haben Abszessbildungen entsprechend häufig hier ihren Ursprung, was bei der klinischen Diagnostik übersehen werden kann (Abb. 4-10). Untersuchungsgang Abb. 4-8 Kanthusbereich des rechten Auges eines 1-jährigen Kaninchens. Starre Tränen-Nasen-Kanüle im Punctum lacrimale, die Öffnung befindet sich ca. 4−5 mm vom Lidrand entfernt. 4.3.2 Äußere Palpation Auch bei der Palpation achtet man auf Schwellungen, Asymmetrien oder Deformationen der Kieferknochen sowie der periorbitalen Region. Es werden insbesondere die tierartspezifischen Prädilektionsstellen für eine ektopische Verlagerung der Zahnapizes palpiert (ventromediale sowie ventrolaterale Begrenzung der Mandibula, Processus zygomaticus, präorbitale Maxilla). Liegen tastbare Veränderungen vor, so können sie palpatorisch völlig reizlos sein, oder es lässt sich durch leichten Druck eine gewisse lokale Schmerzhaftigkeit provozieren. Dies kann darauf hinwei- 쐌 Anamnese allgemeine klinische Untersuchung (inkl. Fell und Anogenitalbereich) 쐌 spezielle klinische Untersuchung – Adspektion: Asymmetrie, Schwellung, Hypersalivation, Nasenausfluss, Epiphora, Konjunktivitis, Keratitis, Dakryozystitis, Nickhautvorfall, Protrusio bulbi, Exophthalmus – Palpation: Asymmetrie, Schwellung, lokale Schmerzhaftigkeit, Entleerung von Eiter – Riechen: Foetor ex ore, typischer »Eitergeruch« – Untersuchung der Inzisivi (Zurückziehen der Lippen) – orientierende Untersuchung der Maulhöhle und der Backenzähne (Otoskop, Endoskop) – Spülung des Tränen-Nasen-Kanals 쐌 4.3 Spezielle klinische Untersuchung Abb. 4-9 Malokklusion bei einem 6-jährigen Kaninchen (Maxillapräparat, kaudo-rostrale Ansicht) mit retrograder Apexdislokation sowie lingualer Zahnspitzenbildung des 2. Backenzahns (rechter P4; weißer Pfeil). Links fehlen alle klinischen Backenzahnkronen. Hier sind deutliche retrograde Umbauprozesse im Bereich der ventromedialen Kieferkortikalis erkennbar. Linksseitig handelt es sich um eine »Endstage«Malokklusion. (Ratte, Maus, Hamster) sollte die Fixierung des Patienten hingegen von einem geübten Helfer übernommen werden. Die Effektivität einer speziellen Untersuchung am unsedierten Tier variiert sehr stark. Sie hängt vorwiegend von der Tierart sowie der individuellen Kooperationsbereitschaft des Patienten, aber auch von der Erfahrung des Untersuchenden ab. Allgemein gilt, dass alle kleinen Heimtiere als typische Beutetiere stets fluchtbereit sind und man daher immer auf plötzliche Abwehrreaktionen oder verteidigendes Beißen gefasst sein muss. Vor allem Kaninchen müssen zur Untersuchung fest und sicher fixiert werden, da sie zum explosionsartigen Ausschlagen mit den Hinterbeinen neigen. Hierbei können sie sich allein durch die Kontraktur der kräftigen Rückenmuskulatur die Wirbelsäule verletzen (Fraktur oder Luxation). Folgende Fixierungsmethode hat sich in der Praxis bewährt, da sie dem Tierhalter kurz gezeigt und dann problemlos von ihm umgesetzt werden kann: Während das Tier auf dem Tisch sitzt, werden die Vorderbeine mit der linken Hand immobilisiert; hierzu werden beide Pfoten knapp über dem Karpus zwischen Zeige- und Mittelfinger eingeklemmt oder mit Daumen und Zeigefinger umfasst. Daraufhin beugt sich der Fixierende leicht über den Patienten und hebt den Vorderkörper des Tieres mit den fixierten Pfoten derart an, dass die Brustwirbelsäule des Kaninchens gegen das Sternum des Helfers gedrückt wird. Parallel hierzu werden die gebeugten Kniegelenke mit der rechten Handfläche umfasst und fest gegen den Bauch der fixierenden Hilfsperson gepresst (Abb. 4-11). Abb. 4-10 Linke mandibuläre Backenzahnreihe (Präparat, Ansicht von medial) eines 6-jährigen Kaninchens mit Malokklusion: mesiale Kippung des letzten Backenzahns (M3; weißer Pfeil) mit Vergrößerung des Approximalbereichs (schwarzer Pfeil); periapikale, mediodistale Kieferauftreibung (Abszess); hochgradige Schmelz- und Dentinhypoplasie der restlichen Backenzähne mit Verlust der Lamina dura. Die Wirbelsäule des Tieres ist somit optimal gesichert, da das Kaninchen in dieser Position nicht ausschlagen kann. Diese Art der Fixierung lässt sich auch bei Meerschweinchen und Chinchillas anwenden. Im Gegensatz zum Kaninchen sind beide Tierarten sehr geschickt darin, mit ihren kleinen Pfoten das Otoskop oder Endoskop während der Intraoraldiagnostik immer wieder wegzuschieben – daher wird hier auf eine besonders gute Immobilisierung der Vordergliedmaßen geachtet. Alternativ besteht die Möglichkeit, das Tier komplett in ein Handtuch zu wickeln. 4.3.3 Intraorale Untersuchung Fixierung des Patienten Für die sich anschließende Untersuchung der Maulhöhle sowie der Zähne ist es vorteilhaft, das Tier vom Besitzer selbst halten zu lassen, da sich der Patient dann erfahrungsgemäß weniger heftig oder gar nicht zur Wehr setzt. Dies gilt insbesondere für Kaninchen, Meerschweinchen und Chinchillas. Bei wehrhafteren Tieren oder kleineren Nagern Bei der Immobilisierung der kleinen Heimtiere sollte grundsätzlich auf massivere oder unnötige Zwangsmaßnahmen verzichtet werden, da die Tiere (insbesondere Kaninchen, Meerschweinchen, Chinchillas und Degus) äußerst stressempfindlich sind. Geraten sie in Panik, kann es zu einer vermehrten Katecholaminausschüttung mit einem dramatischen Blutdruckan- 37