MEDIZINREPORT EHEC-INFEKTION Neurologisch ist eine „restitutio ad integrum“ möglich EHEC-Patienten mit neurologischen Symptomen zeigen besonders schwere Krankheitsverläufe. Eine intensive Therapie ebenso wie experimentelle Heilversuche scheinen für die meisten Betroffenen erfolgversprechend zu sein. ährend die Zahl der Neuinfektionen mit enterohämorrhagischen Escherichia-coli-Bakterien (EHEC) vom Typ O104:H4 ST678 rückläufig ist, werden weiterhin Hunderte Patienten in Kliniken und Krankenhäusern wegen zum Teil lebensgefährlicher Komplikationen behandelt. Eine gravierende Begleiterscheinung bei vielen Patienten sind neurologische Symptome unterschiedlichster Ausprägungen und Schweregrade. „Das Besondere in der jetzigen Situation ist, dass Patienten ohne Vorerkrankungen plötzlich schwerst erkranken, dass sie nicht mehr sprechen und sich nicht mehr bewegen können. Ein Teil erleidet Serien von epileptischen Anfällen bis hin zum Status epilepticus, der nur durch Analgosedierung durchbrochen werden kann“, beschreibt Prof. Dr. med. Christian Gerloff, Leiter der Klinik und Poliklinik für Neurologie, das Bild der EHEC-Patienten am Universitätskrankenhaus in Hamburg-Eppendorf (UKE). Da Hamburg im Zentrum der Epidemie steht, betreuen Gerloff und Prof. Dr. med. Joachim Röther, Chef der Neurologie in der Asklepios-Klinik in Hamburg-Altona, derzeit die meisten Patienten mit neurologischen Komplikationen. „Hatte man zunächst angenommen, dass neurologische Störungen vor allem bei EHEC-Patienten auftreten, die ein hämolytisch-urämisches Syndrom (HUS) entwickeln, so können wir heute feststellen, dass diesbezüglich keine zwingende Kopplung besteht. Etwa zehn bis 15 Prozent der EHEC-Infizierten entwickeln neurologische Symptome, ohne an HUS erkrankt zu sein“, er- In vielen Fällen verschlechtert sich der Zustand der Patienten im weiteren Verlauf: Epileptische Anfälle treten auf, und die Vigilanz verschlechtert sich spontan bis hin zu Sopor und Koma mit Beatmungspflicht. „Wir beobachten bei den von uns betreuten Patienten, dass neurologische Störungen nicht zwingend am Ende einer eskalierenden Krankheitssequenz auftreten. Sie können sich bereits gleichzeitig mit gastroenterologischen und nephrologischen Symptomen entwickeln“, sagt Röther. W Foto: Prof. Dr. Jens Fiehler, UKE Veränderungen im MRT sind individuell unterschiedlich klärt Röther im Gespräch mit dem Deutschen Ärzteblatt. Die Symptomatik beginnt häufig mit leichten, transienten Symptomen wie Verwirrtheit, erhöhter Erregbarkeit, einem deliranten Bild oder einer Vigilanzminderung. Andere neurologische Anfangssymptome sind Doppelbilder, Tremor, Herdzeichen, die auffällig häufig mit Aphasie und Apraxie einhergehen, aber auch mit Funktionsstörungen des Hirnstamms, die als Schluckreflexstörungen oder Ausfälle von Hirnnerven (zum Beispiel des Nervus abducens) in Erscheinung treten. Auch pyramidale Symptome mit positivem Babinski-Zeichen kommen vor. Stimulussensitive Myoklonien scheinen auf eine Senkung der Krampfschwelle hinzuweisen. Deutsches Ärzteblatt | Jg. 108 | Heft 24 | 17. Juni 2011 MRT eines EHECPatienten mit hämolytisch-urämischem Syndrom. Ausgedehnte Beeinträchtigungen durch Diffussionsstörungen zeigen sich hell. Es handelt sich hier um einen besonders schweren Verlauf. Oftmals findet man ein thalamopontines Schädigungsmuster. Welche diagnostischen Hilfen geben die bildgebenden Verfahren bei EHEC-Infizierten? Mit einer kraniellen Computertomographie (CT) ist häufig kein pathologischer Befund festzustellen. Sensitiver ist die Magnetresonanz-Tomographie (MRT), „die allerdings ein sehr inhomogenes Bild mit großen interindividuellen Unterschieden zeigt“, betont Röther. Der Hamburger Neurologe beschreibt die MRT-Befunde als beidseitige Diffusionsstörungen in Thalamus, Balken, Kleinhirn und Hirnstamm bis hin zu diffusen, posterior betonten Signalveränderungen, die vor allem den Cortex zu betreffen scheinen (diffusionsgestört und hyperintens in FLAIR). Die Pathophysiologie, die diesen Veränderungen zugrunde liegt, ist letztlich nicht geklärt. Zwar weiß man, dass das von den EHEC-Erregern freigesetzte Shigatoxin 2 zu toxischen Veränderungen des Gewebes und Schwellung des Gefäßendothels führt. Eine Weitung intrakranieller Gefäße und eine Stö- A 1371 MEDIZINREPORT rung der Autoregulation wird ebenfalls vermutet. Andererseits begünstigt das Toxin die Bildung von Fibrinthromben. Die Aktivierung der Komplementkaskade als Teil der Immunsystems scheint die Situation zu aggravieren. „Experimentelle Arbeiten von Prof. Dr. rer. nat. Helge Karch in Münster haben schon vor längerer Zeit gezeigt, dass die Komplementaktivierung Teil der Pathogenese bei EHECInfektionen ist“, fügt Gerloff hinzu. „Bei den neuroradiologischen Befunden unserer Patienten handelt es sich wahrscheinlich um immunologisch induzierte Schädigungsmuster. Von denen weiß man, dass eine Rückbildung bis zur restitutio ad integrum erfolgen kann“, erklärt Röther. Beide Hamburger Neurologen betonen allerdings, dass es Patienten mit erheblichen fokalen Defiziten wie Aphasie gebe, ohne dass im MRT irgendwelche Läsionen nachweisbar seien. Auffallend sei zudem, dass trotz der regelhaft bestehenden Thrombozytopenie neuroradiologisch keine hämorrhagischen Transformationen oder intrakraniellen Blutungen vorkommen. „Wir haben bei unseren EHEC-Patienten keinen einzigen ischämischen Infarkt, keine einzige Blutung und auch kein typisches Bild für eine Autoimmunerkrankung wie zum Beispiel bei einer multiplen Sklerose gesehen“, konstatiert Gerloff. Pathologie: Im Gehirn keine Lymphozyteninfiltrate Der erste Obduktionsbefund einer gestorbenen EHEC-Patientin spiegelt die neuroradiologische „Unauffälligkeit“ wider. „Zum jetzigen Zeitpunkt stehen die immunhistochemischen und elektronenmikroskopischen Befunde zwar noch aus, doch in der Hämatoxylin-EosinFärbung sehen die Gewebeschnitte unauffällig aus. Es finden sich keine Lymphozyteninfiltrate im Gewebe oder den Gefäßwänden“, sagt Gerloff. Für ihn entspricht die Pathologie dem MRT-Befund: „Dort sehen die Veränderungen aus wie bei einer Insulinüberdosierung oder einer anderen metabolischen oder toxischen Störung.“ A 1372 In Hamburg wird bei jedem EHEC-Patienten, der eine neurologische Symptomatik aufweist (unabhängig davon, ob ein HUS vorliegt oder nicht), zunächst eine Plasmapherese durchgeführt, obwohl dafür keine durch randomisierte Studien gesicherte Evidenz vorliegt. Von Zentrum zu Zentrum unterschiedlich gehandhabt wird der Einsatz des monoklonalen Antikörpers Eculizumab (Soliris®), der die Komplementaktivierung durch das Shigatoxin unterbinden soll. Der Wirkstoff ist seit 2007 zugelassen zur Behandlung der paroxysmalen nächtlichen Hämoglobinurie. Derzeit läuft ein Zulassungsantrag zur Therapie von Patienten mit atypischem hämolytisch-urämischem Syndrom, einer seltenen genetischen Erkrankung. Zur Behandlung der EHEC-Patienten stellt Alexion Pharmaceuticals ihren Inhibitor des terminalen Komplements kostenfrei zur Verfügung. Dieser Heilversuch basiert auf einem vor kurzem veröffentlichten Bericht (NEJM doi: 10.1056/ NEJMc1100859), wonach drei EHEC-HUS-erkrankte Kinder an der Uniklinik Heidelberg erfolgreich mit dem monoklonalen Antikörper behandelt werden konnten. Nach Angabe von Gerloff und Röther kann der experimentelle Einsatz von Eculizumab auch bei nichtintensivpflichtigen Patienten mit stabilisierter renaler Situation und steigenden Thrombozytenwerten, aber zunehmenden neurologischen Defiziten gerechtfertigt sein. Präventiv sollte zudem eine antiepileptische Therapie (etwa mit Levetiracetam) erwogen werden. Frühere klinisch-epidemiologische Beobachtungen haben gezeigt, dass der Krankheitsverlauf bei Infektion mit EHEC durch Antibiotika ungünstig beeinflusst wird. „Relativ konsistente Ergebnisse im Sinne einer vermehrten Toxinproduktion/-freisetzung durch EHEC liegen für Fluorchinolone, Cotrimoxazol und – mit Einschränkung – für Aminoglykoside vor“, teilt die Deutsche Gesellschaft für Infektiologie mit. Der Einsatz von Antibiotika könne in bestimmten Situatio- nen bei Patienten mit EHEC-Infektion und Komplikationen inklusive HUS dennoch klinisch indiziert sein. In Hamburg erhalten die mit Eculizumab behandelten Patienten eine Meningokokkenprävention mit Rifampicin oder Azithromycin. Besteht die Indikation für eine systemische Antibiotikatherapie, kommt ein Carbapenem zum Einsatz. Hatte man wegen der ausgeprägten neurologischen Symptomatik der EHEC-Patienten anfangs die Befürchtung, dass Folgeschäden bestehen bleiben könnten, „so haben wir inzwischen durchaus die Hoffnung, dass sich schwer neurologisch Erkrankte wieder erholen können“, betont Gerloff. Überraschend sei die kurze Zeitspanne, in der die Besserung auftrete, sogar bei beatmungspflichtigen Patienten. Den Erfolg führt Gerloff auch auf die „ausgezeichnete, unkomplizierte und unkonventionelle, interdisziplinäre Zusammenarbeit“ innerhalb der eigenen Klinik, aber auch mit anderen Kliniken zurück. Die Teams seien hochmotiviert und arbeiteten bis zur Erschöpfung. Dies zeige, dass das Gesundheitssystem auch in Krisenzeiten voll funktionsfähig sei. EHEC-Nachsorgeambulanzen eingerichtet Für alle genesenen Patienten nach Entlassung aus der Klinik hat man sowohl am UKE als auch in Altona eine EHEC-Nachsorgeambulanz eingerichtet. Hier werden Patienten regelmäßig nachuntersucht, um eventuell verspätet eintretende Komplikationen zu erkennen; insbesondere aber, um zu erfassen, wie lange gesundete Patienten den EHEC-Erreger ausscheiden. Patienten nach HUS werden in der Ambulanz initial sogar täglich gesehen. Die weiteren Kontrollen erfolgen individuell nach Befinden des Patienten. Zusätzlich kontrolliert das Hamburger Gesundheitsamt Stuhlproben auf den Erreger, bis diese negativ sind. Alle Patienten mit neurologischer Symptomatik werden neuropsychologisch nachuntersucht, ob kleinere Funktionsstörungen bestehen. ■ Dr. med. Vera Zylka-Menhorn Deutsches Ärzteblatt | Jg. 108 | Heft 24 | 17. Juni 2011