Morbus Ménière P. Ziglinas HNO Klinik Inselspital Was ist Schwindel? Schwindel ist ein subjektives Krankheitsgefühl ausgelöst durch widersprüchliche sensorische Informationen 1958 2004 Engere Definition Schwindel ist eine Bewegungsillusion mit Orientierungsstörung im Raum Morbus Ménière Erkrankung des kochleovestibulären Organs unklarer Aetiologie Typische Trias aus Anfällen von: 1. Drehschwindel 2. Hörminderung 3. Tinnitus Das kochleovestibuläre Organ Art des Schwindels Systematischer Schwindel Unsystematischer Schwindel Gerichtete Bewegungsillusion Ungerichtete Bewegungsillusion Drehen Schwanken Lateropulsion Benommenheit Taumeligkeit Unsicherheit Faustregel Der periphere Schwindel ist in der Regel ein systematischer Schwindel aber Nicht jeder systematische Schwindel ist peripher (Beispiel: zentraler Schwindel bei Läsion des Ncl. Vestibularis) Peripher vestibulärer Schwindel wahrscheinlich, wenn: 1. Systematischer Schwindel 2. Klare zeitliche Abgrenzung möglich 3. Keine Hinweise für zentrale Genese • Bewusstseinsverlust, Multiple Sklerose, Cerebrovaskulärer Insult, Intoxikation, Phobie, Herzrhythmusstörung, Orthostase ... Häufige periphere Schwindelerkrankungen 1. Benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel 2. Neuronitis vestibularis 3. Morbus Ménière Zeitliche Charakteristika Beginn, Dauer, Wiederholungen Plötzlicher Beginn, Sekunden dauernd, viele Wiederholungen während Tagen bis Wochen Benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel Plötzlicher Anfang, Stunden dauernd, mehrere Anfälle über Jahre mit wechselndem Intervall Morbus Menière Plötzlicher Beginn, Tage dauernd, einmaliges Ereignis Akuter einseitiger Vestibularisausfall Morbus Ménière Erkrankung des kochleovestibulären Organs Vorwiegend einseitig (70%) 1. Unregelmässige Drehschwindelattacken (Minuten Stunden) 2. Fluktuation des Gehörs (Perzeptionsschwerhörigkeit im Tief /Mittelfrequenzbereich, im Verlauf pantonal) 3. Tinnitus (meist tief frequent, rauschend) + Druckgefühl im Ohr (Aura, ‘‘Wattegefühl‘‘) + ‘‘Drop attacks‘‘ Vincent van Gogh 1853 1890 Epidemiologie • Dritthäufigster peripher vestibulärer Schwindel (10 % aller Schwindelepisoden) • 120 / 100000 Einwohner in Europa • Erkrankungsgipfel zwischen 30. und 50. Lebensjahr • Männer leichtgradig mehr betroffen als Frauen • Bilateral bei 10 % der Patienten nach 2 Jahren und 30 – 60% nach 20 Jahren Pathophysiologische Aspekte Hydrodynamische Mechanismen Endolymphatischer Hydrops Immunologische Mechanismen Entzündliche Veränderungen an Innenohrmembranen ... Membranrupturen Endolymphatischer Hydrops Volumenzunahme der Endolymphräume infolge Resorptionsstörung der Endolymphe in den Wandanteilen des Ductus endolymphaticus und im Saccus endolymphaticus 4 0.25kHz Scala vestibuli Scala media 1mm Scala tympani Corti Organ Scala media Corti Organ Outer hair cells Inner hair cells Transversal Flow of Kalium Na + K+ Perilymphe Endolymphe + 80 mV Na + Endolymphatischer Hydrops Periodische Rupturen der Grenzmembranen zwischen Endolymphe (Kalium) und Perilymphe (Natrium) Toxische Durchmischung Akuter Schwindelanfall Corti Organ Membranrupturen Histologische Schnitte durch das Innenohr normal Hydrops endolymphaticus nach Obliteration des Ductus endolymphaticus (Katze) Klinische Vestibularisprüfung Ausfall Ohr rechts Spontannystagmus nach links Nystagmus = unwillkürliche rhythmische Augenbewegungen Klinische Vestibularisprüfung Kalorik = thermische Reizung des lateralen Bogenganges • Suche nach Seitenunterschied der Erregbarkeit • Bei Spülung (44 °C) schlägt der Nystagmus zur gleichen Seite Spülung Ohr links Nystagmus nach links Klinische Befunde 1. Allgemeinstatus und Neurostatus • unauffällig, verminderter AZ 2. HNO Status • Otoskopie beidseits normal • RTA: Schallempfindungsschwerhörigkeit ipsilateral (fluktuierend, initial tieffrequent, später pantonal) 3. Gleichgewichtsprüfung • Kein typischer vestibulärer Befund bei M. Ménière ! • im akuten Anfall… Ausfallsnystagmus (Lähmungsnystagmus) kurz darauf… Reiznystagmus (Erholungsnystagmus) • Kalorik: Unter oder Übererregbarkeit möglich Untersuchungen • Elektrokochleographie (positiv bei 60% der Patienten) • Glyzeroltest nach Klockhoff (positiv bei 30% der Patienten) • MRI oder CT des Schädels (zum Ausschluss Tumoren, MS, zentraler Läsionen) Behandlung Kontrovers diskutiert Vorwiegend konservativ Chirurgisch (10%) Im akuten Anfall... • Bettruhe • Primperan (Metoclopramid, Antiemetikum) Solu Medrol (Methylprednisolon, Kortikoid) ??? Diamox (Acetazolamid, Diuretikum) ??? Valium (Diazepam, Vestibuloplegikum) ??? Langfristig... Lifestyle salzarme Ernährung Kaffee und Alkoholkarenz Vermeiden von Stress Physiotherapie Vestibularis Training Medikamentöse Behandlung Betaserc (Betahistin, Histaminantagonist) Bei Persistenz... Paukendrainage • Verbesserung des Schwindels bei 80% der Patienten • Mechanismus: Entlastung? Chirurgische Behandlung Indikation: bei invalidisierenden Schwindelanfällen • “Drainage” Operationen 1. Paukendrainage 2. Vestibulotomie (Platinotomie) 3. Saccotomie • Ablative Eingriffe 1. Transtympanale chemische Labyrinthektomie 2. Chirurgische Labyrinthektomie 3. Neurektomie des N. vestibularis Drainage” Operationen 75% Langzeiteffekt (Schwindelunterdrückung) Ertaubungsrisiko! geeignet bei älteren Patienten mit hochgradigem einseitigem Hörverlust ’’Drainage’’ Operationen * * * Chirurgische Behandlung Indikation: bei invalidisierenden Schwindelanfällen • “Drainage” Operationen 1. Paukendrainage 2. Vestibulotomie (Platinotomie) 3. Saccotomie • Ablative Eingriffe 1. Transtympanale chemische Labyrinthektomie 2. Chirurgische Labyrinthektomie 3. Neurektomie des N. vestibularis Transtympanale chemische Labyrinthektomie Medikamentöse Ausschaltung des Gleichgewichtsorgans mit Gentamicin (ototoxisch!) • Injektion via Paukenröhrchen oder durch das runde Fenster • 1x / Woche für 3 Wochen Komplikationen (Ataxie, unerträglicher Tinnitus, Taubheit) Chirurgische Labyrinthektomie? Chirurgische Labyrinthektomie Destruktion des Innenohres Transkanalärer Eingriff in ITN 95% Langzeiteffekt bezüglich Schwindel Gehör nicht erhalten geeignet bei vorbestehender Taubheit Labyrinthektomie * * Neurektomie des N. vestibularis Neurektomie des N. vestibularis Vorteile: Verbesserung des Schwindels bei 90% der Patienten Erhaltung des Gehörs Nachteil: Grosser intrakranieller Eingriff transtemporal ZUGANG retrosigmoidal Neurektomie des N. vestibularis Ethische Frage: Potentiell gefährliche Operation bei nicht lebensgefährlicher Innenohrerkrankung? Extreme Fälle: ... schwerer Motorradunfall wegen Drop attack ... Suizid wegen unerträglichen Schwindelanfällen Neurektomie des N. Vestibularis RESULTATE Verschwinden der Schwindelanfälle 90%* Verschwinden der Drop Attacks 100% Erhaltung des Gehörs 97% * Persistierender Schwindel bei 10% der Patienten wegen M. Ménière kontralateral Behandlungsschema 1. Zunächst medikamentöse Therapie 2. Paukendrainage 3. Invalidisierender / therapieresistenter Schwindel a. Gehör erhalten: Neurektomie des N. vestibularis b. Ohr taub: Labyrinthektomie Verlauf Spontane Remission der Attacken bei bis zu 80% der Patienten nach 10 Jahren (ausgebrannter Ménière) • • Hypothese: Endstadium der Erkrankung wenn eine permanente Fistel zwischen Endolymphraum und Perilymphraum ausgebildet wird Hörminderung ist irreversibel auch wenn die Attacken aufgehört haben Hörgeräteversorgung: Eine Herausforderung? Die Probleme Fluktuation des Gehörs Tinnitus Verzerrung schlechtes Sprachverständis Allgemeinzustand des Patienten? Unser Prinzip Grosse Verstärkungsreserve Manuelle Lautstärkeeinstellung Bei hochgradiger unilateraler Schwerhörigkeit: Gegenohr gut versorgen (CROS) Häufige Kontrollen Hearing aids for Ménière's syndrome: implications of hearing fluctuation McNeill C, McMahon CM, Newall P, Kalantzis M Healthy Hearing and Balance Care, Sydney, Australia J Am Acad Audiol. 2008 May;19(5):430 4 • Studie mit 40 Ménière Patienten • Widex Senso Diva Hörgerät • Selbständige Hörmessung bei 14 Frequenzen möglich (3x/Tag für 8 Wochen) • Selbständige Programmierung des HG in Abhängigkeit der Hörschwelle möglich Hearing aids for Ménière's syndrome: implications of hearing fluctuation McNeill C, McMahon CM, Newall P, Kalantzis M Healthy Hearing and Balance Care, Sydney, Australia J Am Acad Audiol. 2008 May;19(5):430 4 • Alle Patienten hatten Hörschwellen Fluktuationen • 70 % der Patienten waren äusserst zufrieden mit dieser Lösung und haben die Selbstregulation nach der Studie weiter angewendet Diskussion Morbus Ménière ist eine mehrdimensionale, schubweise verlaufende Anfallskrankheit Schwindel, Tinnitus, fluktuierender Hörverlust Die genaue Ursache ist nicht sicher geklärt Heterogene Therapieformen Was wir daraus lernen können: Die Patienten mit Morbus Ménière sind froh, wenn sie die Hörgeräte möglichst der wechselnden Hörschwelle anpassen können Besten Dank! Sunflowers, 1888