Aktuelle Entwicklungen bei Schwindel und Gleichgewichtsstörungen Epidemiologie, Diagnostik, peripher-vestibuläre Erkrankungen Prof. Dr. Arne-Wulf SCHOLTZ Das Gleichgewichtsorgan im Innenohr beinhaltet die drei Bogengänge sowie die Otolithenorgane Sakkulus und Utrikulus. Alle fünf vestibulären Rezeptoren sind Beschleunigungsrezeptoren, wobei die Bogengänge anguläre und die Otolithenorgane lineare Beschleunigungen registrieren. Die Informationen des horizontalen und des anterioren Bogengangs sowie des Utrikulus werden über den N. vestibularis superior und die des posterioren Bogengangs und des Sakkulus über den N. vestibularis inferior nach zentral zu den Vestibulariskernen im Hirnstamm geleitet. Zusätzlich zu den peripher vestibulären Rezeptoren liefern das visuelle und das propriozeptive System Informationen über die Ausrichtung und Bewegung des Kopfes und/oder Körpers im Raum. Über die Gleichgewichtskerne bestehen im Rahmen des sog. vestibulo-okulären Reflexes Verbindungen zu den Augenmuskelkernen, mit dem Ziel, die Augen bei Kopf- und/oder Körperbewegungen immer entsprechend gegenzulenken und so ein stabiles Blickfeld zu ermöglichen (sog. Blickfeldstabilisierung). Darüber hinaus haben die Gleichgewichtskerne über vestibulo-spinale Bahnen Kontakt zu Beugern und Streckern der Extremitäten, um im Rahmen des sog. vestibulo-spinalen Reflexes das Körpergleichgewicht aufrecht zu erhalten. Der Schlüssel zu einer erfolgreichen Diagnostik bei Schwindel und Gleichgewichtsstörungen ist die Anamnese. Hierbei sollten folgende Aspekte berücksichtigt werden: - Dauer (akuter oder chronischer Schwindel), - Art des Schwindels (Drehen, Unsicherheitsgefühl, Schwarzwerden vor den Augen), Häufigkeit und Dauer (täglich oder 2× jährlich bzw. für Sekunden oder Stunden), - auslösende Ursache (Kopfreklination, Umdrehen im Bett, Aufstehen aus dem Sitzen, Naseschneuzen), Augenprobleme (z. B. Gleitsichtbrille, grauer Star), - Begleitsymptome (Kopfschmerzen, Nackenschmerzen, Ohnmacht, Ohrsymptomatik), - Vorboten des Schwindels? (Ohrdruck, Sehstörungen, Kopfschmerzen, Herzrasen), - Einfluss der Umwelt auf den Schwindel (Bürgersteig, große Plätze, Kaufhaus, Fahrstuhl), - gezielte Medikamentenanamnese im Hinblick auf Substanzen, die Schwindel als Nebenwirkung haben. Nach der Anamnese und Erhebung der Spiegelbefunde sollte zuerst nach einem Spontannystagmus gesucht werden. Dieses muss sowohl ohne als auch mit Frenzel- oder Videobrille und in 5 Blickrichtungen erfolgen. Man unterscheidet physiologische Nystagmen (optokinetischer Nystagmus, Nystagmen bei Körperdrehungen oder linearen Körperbewegungen), experimentell erzeugte Nystagmen (z. B. im Rahmen der kalorischen Prüfung) und pathologische Nystagmen als Zeichen einer peripher oder zentral vestibulären Störung. Zeichen für einen Nystagmus im Rahmen einer zentralen Störung sind eine fehlende Fixationssuppression, ein Richtungswechsel bei Änderung der Blickrichtung (sog. Blickrichtungsnystagmus) und das Auftreten eines rein vertikalen Nystagmus in Ruhe. Falls kein Spontannystagmus vorliegt, sollte im Rahmen des Dix-Hallpike-Manövers nach einem benignen paroxysmalen Lagerungsschwindel (BPLS) des posterioren (p-BPLS) oder anterioren (aBPLS) Bogengangs gesucht werden. Findet sich hierbei kein pathologischer Befund, so sollte in Rückenlage der Kopf jeweils einmal für 30 Sekunden nach rechts und dann nach links gedreht werden, um nach einem typischen oder atypischen BPLS des horizontalen Bogengangs zu suchen. Der horizontale Bogengang kann im Rahmen der experimentellen kalorischen Prüfung (Warmspülung 44 °C oder Kaltspülung 30 °C) gemeinsam mit dem N. vestibularis superior getestet werden. Eine neue Methode ist der sog. Video-Kopf-Impuls-Test (vHIT), bei dem physiologisch die Blickfeldstabilisierung analysiert wird. Bei diesem neuen Testverfahren, das eine Weiterentwicklung des klinischen Halmagyi-Tests (Halmagyi et al. 2001) darstellt, ist es möglich, seitengetrennt die Funktion aller drei Bogengänge (horizontaler, anteriorer [= vorderer vertikaler] und posteriorer [= hinterer vertikaler]) im Rahmen der Blickfeldstabilisierung unter physiologischen Bedingungen zu analysieren. Hierbei werden durch einen passiven Untersucher Kopfbewegungen in den jeweiligen Ebenen (horizontal, LARP, RALP) der zu testenden Bogengänge appliziert und die gegenläufigen Augenbewegungen gemessen. Als Analyseparameter dient der Gain-Wert. Dieser Wert setzt die Augengeschwindigkeit ins Verhältnis zur Kopfgeschwindigkeit. Pathologische Gain-Werte liegen für den horizontalen Bogengang bei < 0,8 und bei dem anterioren und posterioren Bogengang bei < 0,7. Darüber hinaus wird das Auftreten von overt und covert Sakkaden analysiert. Mittels der Messung der okulären vestibulär evozierten myogenen Potentiale (oVEMPs) (Rosengren et al. 2005) werden der Utrikulus (horizontaler Linearbeschleunigungsrezeptor) und auch der N. vestibularis superior getestet. Durch akustische Reize (Clicks oder Toneburst) oder durch mechanische Stimulation (Minishaker an der Stirn) wird der Utrikulus stimuliert und mittels Oberflächenelektroden wird beim kontralateralen aktiv kontrahierten M. obliquus inferior (Blick nach oben) ein EMG abgeleitet. Analyseparameter ist hier die Amplitude zwischen P1 und N1 im Seitenvergleich. Der benigne paroxysmale Lagerungsschwindel (BPLS) tritt am häufigsten idiopathisch (> 90 %) und meist ab dem 40. Lebensjahr etwas häufiger bei Frauen als bei Männern auf (Schmäl u. Stoll 2002). Dem Krankheitsbild liegt eine Ablösung von Otolithenmaterial, meist vom Utrikulus, zugrunde, das dann in der Regel während der Nachtruhe der Schwerkraft folgend in das Bogengangsystem fällt. Hier kommt es bei Bewegungen in der Ebene des Bogengangs zu einer Irritation der Cupula und in der Folge dann zu lagerungsabhängigem Drehschwindel mit entsprechenden Nystagmen. Am häufigsten tritt der BPLS im posterioren Bogengang (p-BPLS in 82 %) auf, während der horizontale Bogengang (h-BPLS) nur in 17 % und der anteriore Bogengang (a-BPLS) nur in 1 % der Fälle betroffen sind. Der p-BPLS und der a-BPLS werden im Rahmen des Dix-Hallpike-Manövers diagnostiziert, während der h-BPLS bei Kopfdrehung in Rückenlage nachgewiesen werden kann. Zuerst wird das Dix-HallpikeManöver durchgeführt. Tritt dort ein rotatorischer Nystagmus zum untenliegenden Ohr mit Up-beatKomponente auf, so handelt es sich um einen ipsilateralen p-BPLS. Tritt ein rotatorischer Nystagmus zum obenliegenden Ohr mit Down-beat-Komponente auf, so handelt es sich um einen kontralateralen a-BPLS. Danach wird in Rückenlage der Kopf jeweils für 30 s nach rechts und dann nach links gedreht. Tritt hier ein divergierender Lagenystagmus zum unten liegend Ohr auf, so handelt es sich um einen typischen h-BPLS (Canalolithiasis). Findet sich ein konvergierender Lagerungsnystagmus zum jeweils oben liegenden Ohr, dann handelt es sich um einen atypischen hBPLS (Cupulolithiasis). Auf der betroffenen Seite sind jeweils der Nystagmus und der Schwindel stärker (Schmäl 2006). Therapeutisch wird beim p-BPLS das Semont- oder Epley- Manöver durchgeführt, während beim a-BPLS das Rahko-Manöver zur Anwendung kommt. Der typische hBPLS wird mittels der Barbecue-Rotation bzw. dem Gufoni-Manöver (contralateral nose down) und der atypische h-BPLS wird mittels des Brandt-Daroff bzw. ebenfalls des Gufoni-Manövers (ipsilateral nose up) therapiert. Bei der Neuropathia vestibularis muss man zwischen einem Ausfall des N. vestibularis superior (73 %), des N. vestibularis inferior (7 %) und einem Ausfall beider Nervenanteile (20 %) unterscheiden (Shin et al. 2012). Ursächlich liegt diesem Krankheitsbild eine Reaktivierung einer Herpes-simplex-Typ 1 Infektion zu Grunde (Arbusow et al. 2010). Bei einer Neuropathia vestibularis superior tritt ein horizontaler Nystagmus zum gesunden Ohr mit teilweise rotatorischer Komponente (Störung derInformationsweiterleitung des horizontalen und des anterioren Bogengangs sowie des Utrikulus) auf. Bei einer Neuropathia vestibularis inferior findet sich ein rotatorischer Nystagmus zum gesunden Ohr mit Down-beat-Komponente (Störung der Informationsweiterleitung des posterioren Bogengangs und des Sakkulus). Bei einem kompletten Ausfall des N. vestibularis tritt eine Kombination der oben beschriebenen Augenbewegungen auf. Von einer Nervenläsion abzugrenzen ist hier ein isolierter Rezeptorausfall (z. B. eines Bogengangs oder eines Otolithenorgans). Therapeutisch stehen in den ersten Stunden Antivertiginosa zur Linderung von Schwindel, Übelkeit und Erbrechen im Vordergrund, die aber so bald wie möglich abgesetzt werden sollten, um die Kompensationsvorgänge nicht zu verzögern. Obwohl ein eindeutiger wissenschaftlicher Beweis für die Wirksamkeit einer Prednisolon-Therapie fehlt (Fishman et al. 2011), wird meist eine Therapie mit Prednisolon in absteigender Dosierung für 2 Wochen durchgeführt. Eine frühzeitige Mobilisierung fördert die Kompensationsvorgänge erheblich. Kommt es nach einer Neuropathia vestibularis im Rahmen der Kompensation zu einer Besserung der Schwindelbeschwerden und dann wieder zu einer Zunahme des Schwindels, so kommen dafür zwei Ursachen in Betracht: Ist eine Neuropathia vestibularis bereits kompensiert und es kommt zu einer Nervenerholung, so ist die ehemals kranke Seite nun zentral überrepräsentiert und es kommt zu erneutem Schwindel mit einem Erholungsnystagmus zur ehemals kranken Seite. Darüber hinaus wird nach einer Neuropathia vestibularis im Vergleich zu einem gesunden Normalkollektiv häufiger ein ipsilateraler benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel beobachtet (Kim et al. 2011; Mandala et al. 2010). Kommt es zu einer Defektheilung mit bleibendem Nervenausfall, so sollte zum sicheren Ausschluss eines Vestibularisschwannoms ein MRT des Kopfes durchgeführt werden. Der M. Menière stellt eine Überdruckerkrankung der Endolymphe im Innenohr dar. Beim Vollbild kommt es zu Drehschwindelanfällen mit Übelkeit, Erbrechen, Tieftonhörstörung und Tinnitus. Es sind aber auch monosymptomatische Verlaufsformen wie rezidivierende Tieftonhörstürze ohne Schwindel und rezidivierende Schwindelanfälle ohne Hörminderung möglich. Der akute Schwindelanfall wird mit Antivertiginosa und ggf. auch mit Kortison behandelt. Zur Prophylaxe der Schwindelanfälle ist der Wirkstoff Betahistin besonders auch in hohen Dosen die Therapie der ersten Wahl (Lezius et al. 2011; Strupp et al. 2008). Hierbei gilt es zu beachten, dass das Salz Betahistindihydrochlorid mehr Wirkstoff bindet als das Betahistindimesilat und deshalb das Betahistindihydrochlorid bevorzugt verordnet werden sollte. Literatur: Schmäl F (2014) Vertigo – Neue Horizonte in Diagnostik und Therapie. In: Ernst, Basta (Hrsg). Springer Verlag Wien Scholtz AW, Jäkel M (2014) Therapieoptionen bei peripher-vestibulären Störungen. In: Ernst, Basta (Hrsg). Springer Verlag Wien