P O L I T I K MEDIZINREPORT Chronische Schmerzen und ihre Ursachen P und CGRP ausgeschüttet. Letzteres läßt sich während eines Migräneanfalls auch vermehrt im venösen Blut des Kopfes nachweisen. Durch die Ausschüttung der Neuropeptide beginnt ein Teufelskreis: Peptidfreisetzung – Vasodilatation und kapilläre Permeabilitätssteigerung – vermehrte Erregung der Nozizeptoren – vermehrte Peptidfreisetzung und so weiter. Die Wirkstoffe Azetylsalizylsäure, Ergotamin und Sumatripan bremsen die Freisetzung der Neuropeptide und unterbrechen so den schmerzauslösenden Kreislauf. Tierexperimente ergaben, daß nach der Durchtrennung eines peri- Große Fortschritte der Forschung ten Jahre haben vielmehr gezeigt, haben die klinischen Vorstellungen daß es bei persistierenden noxischen vom Schmerz stark beeinflußt. Insbe- Reizen im Nervensystem zu biochesondere die Frage, was Schmerzen mischen, molekularbiologischen und chronisch macht, ist zu einem zentra- funktionellen Langzeitveränderunlen Thema der Schmerzforschung ge- gen kommt. So werden nach Durchworden. Zur Erinnerung: Schmerzrei- trennung eines peripheren Nervs in ze werden über Nozizeptoren im peri- den betroffenen Neuronen langfristig pheren Nervensystem aufgenommen, neue Transmitter gebildet (zum Beiinnerhalb des Rückenmarks auf Neu- spiel Galanin und das „vasoactive inrone des Hinterhorns umgeschaltet testinal peptide“), während die beund zum Gehirn weitergeleitet. Grafik Das Zentralnervensystem (ZNS) verfügt über verschiedene Mechanismen, die das Schmerzempfinden regulieren. So hat das Gehirn zum Beispiel durch die vom Hirnstamm zum Rückenmark absteigenden Hemmungssysteme vielfältige Möglichkeiten, die empfangenen sensorischen Informationen zu kontrollieren. Dabei werden hemmende chemische Botenstoffe ausgeschüttet, zu denen unter anderem die Opioide gehören. In der Klinik kennt man seit langem Phänomene wie die Phantomschmerzen, die ohne eine fortwährende afferente Erregung aus der Peripherie auftreten. Das legt die Vermutung na- Schmerzreize induzieren in den Nervenzellen eine Kaskade von Genexpressionen. Als Folge kommt es zu tiefgreifenhe, daß sich in solchen Fäl- den und langfristigen biochemischen Funktionsverschiebungen im Nervensystem, z. B. durch die veränderte Synthese len im ZNS ein Schmerzgedächt- von Neurotransmittern oder die Bildung modifizierter Rezeptorproteine. Grafik:Zimmermann nis (Engramm) gebildet hat. Auch psychophysiologische Untersu- kannten nozizeptiven Transmitter pheren Nervs auch vermehrt Stickchungen an Patienten weisen darauf „Substanz P“ und das „calcitonin- stoffmonoxid (NO) gebildet wird, eine hin, daß im Nervensystem plastische gene-related peptide“ (CGRP) her- erst kürzlich im Nervensystem entVeränderungen stattfinden können, unterreguliert werden. Dadurch wird deckte Botensubstanz, von der man die chronische Schmerzen verursa- das Zusammenspiel erregender und mittlerweile weiß, daß sie häufig bei chen oder deren Entstehen begünsti- hemmender Faktoren bei der spina- Schädigungen freigesetzt wird. NO wirkt unter anderem auch bei der Sengen. So sind evozierte Potentiale auf len Schmerzverarbeitung gestört. sibilisierung der spinalen Neurone mit. Schmerzreize bei Schmerzpatienten In den spinalen Zentren, die erhöht und zeigen bei ReizwiederhoNeuropeptide Schmerzinformationen aufnehmen lung eine geringere Habituation als und verarbeiten, findet man bei bei Gesunden. Auch bei der Migräne spielt die Schmerzreizen und NervenverletzunWie kann die Neuroplastizität des ZNS zur Entstehung chronischer Fehlregulation von Neuropeptiden gen multiple langfristige VerändeSchmerzen beitragen? Ein Trauma eine wichtige Rolle. Die Störungen rungen. So steigt zum Beispiel in löst nicht nur Impulse in den gehen vor allem von den perivas- Rückenmarksneuronen die OpioidSchmerznerven aus, die zum ZNS ge- kulären Nervenfasern der meningea- synthese: offensichtlich wird die körleitet werden und dort eine Schmerz- len Blutgefäße aus. Aus den Nerven- pereigene Schmerzabwehr als Antwahrnehmung verursachen. Experi- enden, die wahrscheinlich gleichzeitig wort auf den Schadensreiz verstärkt. mentelle Untersuchungen der letz- Nozizeptoren sind, werden Substanz Auf externes Morphin sprechen die Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 43, 25. Oktober 1996 (25) A-2749 P O L I T I K MEDIZINREPORT spinalen Neurone dagegen vermindert an, wahrscheinlich weil nach einer Nervenverletzung die Anzahl oder die Aktivierbarkeit der Opioidrezeptoren sinkt. So läßt sich auch die klinische Beobachtung erklären, daß Schmerzen nach Nervenverletzungen (neuropathische Schmerzen) weniger gut auf eine Opioidbehandlung ansprechen und die Dosis des Schmerzmittels erhöht werden muß. Beispiel Fibromyalgie: Als Ergebnis dieser und anderer Vorgänge werden viele zentrale Neurone leichter erregbar und beginnen sogar, spontane Entladungen zu erzeugen, wenn ein peripherer Nerv durchtrennt wurde oder die nichtmyelinisierten afferenten C-Fasern über längere Zeit wiederholt gereizt wurden. Die verstärkte Expression von erregenden und die abgeschwächte Expression von hemmenden Transmittern tragen bei Fibromyalgie-Patienten wahrscheinlich zur erhöhten Schmerzempfindlichkeit und zum chronischen Schmerz bei. Auch Autoantikörper gegen Serotonin oder dessen Rezeptoren können die ständige hemmende Kontrolle des Schmerzempfindens durch diesen Transmitter blockieren. Die schon seit langem bei der Fibromyalgie eingesetzten trizyklischen Antidepressiva wirken analgetisch, weil sie die Wiederaufnahme von Serotonin am präsynaptischen Spalt hemmen. Der Botenstoff bleibt also länger wirksam. Daß es im Nervensystem zu langdauernden plastischen Veränderungen kommen kann, überrascht nicht – schließlich schreibt man die Fähigkeit zu lernen schon seit langem einer solchen Plastizität zu. Erstaunlich ist jedoch die Vielzahl der langdauernden und bleibenden Veränderungen nach Trauma und Schmerzreizung. Genexpression Inzwischen weiß man aus Tierexperimenten, daß die beobachtete Neuroplastizität auf Veränderungen der Genexpression beruht. Nervenzellen enthalten induzierbare Gene (immediate-early genes), die durch noxische Reize aktiviert werden können. Es handelt sich dabei zum Teil um Gene, die man aus der Krebsforschung als Onkogene kennt. Offensichtlich sind die von ihnen codierten Proteine an der Regulation vielfältiger Zellvorgänge beteiligt. Schmerzreize induzieren zum Beispiel die Gene c-fos und c-jun. Die daraus resultierenden Proteine binden an bestimmte Stellen der DNA und lösen so die Transkription weiterer Gene und die Synthese der entsprechenden Proteine aus (wie Dynorphin und GABA). Schmerzreize und andere pathophysiologische Situationen des Nervensystems, wie Ischämie oder Epilepsie, induzieren also eine Kaskade von Genexpressionen in den Nervenzellen. Die bereits früher beobachteten Veränderungen bei den Neuropeptiden, erregenden und hemmenden Transmittern und die nach Nervenläsionen auftretende Übererregbarkeit im Rückenmark können auf solchen Beeinflussungen der Gentranskription beruhen. Diese Vorgänge bewirken wahrscheinlich tiefgreifende und langfristige biochemische Funktionsverschiebungen im Nervensystem, zum Beispiel durch die Veränderung der Synthese von Neurotransmittern oder die Bildung modifizierter Rezeptorproteine. Dabei kann es zu pathologischen Fehlentwicklungen der neuronalen Funktionen kommen, die zu einer erhöhten Sensibilisierung führen und das Entstehen von Schmerzsignalen im Nervensystem begünstigen. Diese Erkenntnisse eröffnen neue Therapiemöglichkeiten. In meiner Arbeitsgruppe haben wir beispielsweise untersucht, ob die induzierte Expression von c-fos durch Antisense-Oligonucleotide (ASOs) gehemmt werden kann. ASOs sind Nucleotidstränge, die zu einem kurzen Stück eines mRNA-Moleküls (in diesem Fall also c-fos) komplementär sind. Sie lagern sich an die mRNAs an und verhindern deren Ablesen (Translation) und damit die Bildung der entsprechenden Proteine. Wir haben das Rückenmark von Ratten unilateral mit ASOs gegen die c-fosmRNA superfundiert und dann einen schmerzhaften Hitzereiz auf beide Hinterpfoten gegeben. Auf der Seite der ASO-Superfusion war die Zahl der c-fos enthaltenden Neurone deutlich reduziert. Auch die klinische Forschung befaßt sich mit der Chronizität von Schmerzen, wobei man aufgrund A-2752 (28) Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 43, 25. Oktober 1996 der eben erläuterten Ergebnisse der Grundlagenforschung die Hypothese aufstellte, daß eine rechtzeitige Behandlung akuter Schmerzen präventive Wirkung haben sollte. Dabei ist es nicht sinnvoll, den Schmerz auf die Bewußtseinsvorgänge einzuengen. Man weiß, daß Menschen auch unter Narkose Schmerzreaktionen wie Zunahme von Blutdruck und Herzfrequenz und Tränensekretion zeigen können. Präventive Analgesie Wenn man also zum Beispiel bei einem chirurgischen Eingriff zusätzlich zur Narkose auch Analgetika (wie Morphin) oder Lokalanästhetika zur Blockade der sensiblen Nerven aus dem Operationsgebiet gibt, sollte man langwirkende Veränderungen im Zentralnervensystem vermeiden können, die sonst als „Engramm“ oder „Gedächtnisspur“ der Schmerzsituation haftenblieben. Man stellt sich vor, daß die genannten Maßnahmen letztendlich das Auslösen der Transkription der oben genannten Gene (IEGs) verhindern. Eine solche Schmerzbehandlung sollte frühzeitig einsetzen und lange genug andauern. Bei Untersuchungen, die keinen Effekt einer solchen präventiven Analgesie (pre-emptive analgesia) auf postoperative Schmerzen gezeigt haben, hat man sich vermutlich mit der falschen Art von Schmerzen, nämlich mit zu früh einsetzenden, beschäftigt. Andere Ergebnisse stützen nämlich die Hypothese, daß sich die Chronifizierung von Schmerzen durch eine rechtzeitige präventive Analgesie vermeiden läßt. Bei Amputation einer Extremität unter (zusätzlicher) Lokalanästhesie des zu durchtrennenden Nervs oder des Rückenmarks kann die Inzidenz späterer Phantomschmerzen weit abgesenkt werden. Wiederholte frühzeitige Nerven- oder Sympathikusblockaden mit einem Lokalanästhetikum können auch das Auftreten einer postherpetischen Neuralgie verhindern. Anschrift des Verfassers: Prof. Dr.-Ing. Dott. med. et chir. h. c. Manfred Zimmermann Im Neuenheimer Feld 326 69120 Heidelberg