Wenn das Nervensystem ein Schmerzgedächtnis entwickelt

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P O L I T I K
MEDIZINREPORT
Chronische Schmerzen
Wenn das Nervensystem ein
Schmerzgedächtnis entwickelt
Der Nutzen einer präventiven Analgesie zur Vermeidung
von chronischen Schmerzzuständen ist sowohl experimentell
als auch klinisch belegt.
D
en Teufelskreis der SchmerzUm diesen Teufelskreis der Chrochronifizierung haben For- nifizierung zu unterbrechen, besitze
scher in den letzten Jahren der Mensch (wie andere Wirbeltiere
weiter entschlüsselt. Danach können auch) eine sehr wirkungsvolle körstarke Schmerzen über längere Zeit ei- pereigene Schmerzabwehr, die unter
nen fatalen Lernprozeß in Gang setzen anderem Opioide im Rückenmark
und das Nervensystem für Schmerzrei- freisetzt. Sei die Schmerzabwehr jeze geradezu sensibilisieren, wenn nicht doch überfordert, dann müsse das
rechtzeitig oder nicht ausreichend analgetisch eingegriffen
wird. Allerdings hat der Gedanke der Schmerzprävention hierzulande noch zu wenig Niederschlag gefunden, so der Tenor
beim Symposium „Nervous
System Plasticity and Chronic
Pain: Concepts and Clinical
Applications“ in Heidelberg.
So wisse man inzwischen,
daß Schmerzreize zur massiven
Freisetzung von Neurotransmittern wie Glutamat und der Substanz P (P steht für Pain) im Rükkenmark führen. Prof. Jürgen
Sandkühler vom II. Physiologischen Institut der Universität
Heidelberg berichtete, daß ein
anhaltender, starker Schmerzreiz
zu einem folgenreichen Lernprozeß im Rückenmark führt. Durch
wiederholte Reizübertragung der
schmerzleitenden Nervenbahnen
und Freisetzung von Glutamat
und Substanz P an den Synapsen
Chronische Schmerzen erzeugen eine übermäßige Depolader Neuronen kommt es zu einer
risation von Nervenzellen.
Foto: Todd Davidson, Image Bank
„Potenzierung der synaptischen
Übertragungsstärke“ mit der Folge, daß die Nervenzellen nun überemp- Nervensystem rechtzeitig, zum Beifindlich auf Reize reagieren. Das Ner- spiel durch Analgetika, geschützt wervensystem hat den Schmerz gleichsam den, um die Schmerzkaskade zu blok„gelernt“. Ein Schmerzgedächtnis hat kieren, erläuterte Sandkühler.
sich eingeprägt, so daß schon geringste
Im Extremfall erzeugten die
Reize Schmerzen auslösen und sogar Neurotransmitter eine übermäßige Dedann empfunden werden, wenn deren polarisation der Nervenzellen; die
Ursachen bereits ausgeschaltet sind.
Zellen schwellen dann an und sterben
den apoptotischen Zelltod, wie Prof.
Walter Zieglgänsberger vom MaxPlanck-Institut für Psychiatrie in München ausführte. Die Folgen dieser fatalen Veränderungen im Nervensystem machte die Berliner Psychologin
Prof. Herta Flor bei Schmerzpatienten
sichtbar.
Mit bildgebenden Verfahren, wie
der funktionellen MagnetresonanzTomographie (fMRT), konnte sie feststellen, daß chronische Schmerzen offensichtlich die Repräsentation des
betroffenen Körperteils im Hirnmantel verändern: „Die aktivierten Areale werden größer oder verschieben
sich.“ Diese Veränderungen im „Homunculus“ seien jedoch reversibel
und hingen unter anderem von der
Schmerzaufmerksamkeit ab.
Patienten hatten weniger
Phantomschmerzen
Zusammen mit Wissenschaftlern
der Universität Tübingen hat die Forscherin entsprechende „Umbauten“
mittels fMRT auch im motorischen
Cortex amputierter Patienten nachweisen können. Trugen diese Patienten eine myeloelektrische Prothese,
wurden also die Nerven stimuliert,
waren die kortikalen Veränderungen
weniger ausgeprägt. Diese Patienten
hatten nach ihren Angaben auch weniger Phantomschmerzen als jene, deren Stumpfmuskeln nicht elektrisch
stimuliert worden sind. Somit könnte
ein Stimulationstraining möglicherweise zu einer Minderung von Phantomschmerzen führen, mutmaßt die
Wissenschaftlerin.
Die Hypothese über den Nutzen
einer präventiven Analgesie zur Ver-
Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 46, 19. November 1999 (29) A-2961
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ringerung postoperativer Schmerzen
konnte durch neuere Untersuchungen des Schweizer Schmerzforschers
Prof. Oliver H. G. Wilder-Smith erhärtet werden. Während bei schmerzfreien Patienten, die sich einer Operation unterziehen müßten, perioperativ eine Aktivierung der körpereigenen Schmerzhemmung eintrete, finde
sich bei jenen, die schon im Vorfeld starke Schmerzen hatten, eine weitere Aktivierung des ohnehin
schon schmerzsensibilisierten Nervensystems. Damit werde durch nochmalige Applikation von Schmerzreizen im Verlauf der Operation die
Schmerzabwehr überfordert und das
Risiko einer Chronifizierung gesteigert, so Wilder-Smith.
Konsequente Analgesie
für Neugeborene
Wird jedoch das Operationsgebiet mehrere Tage vor dem Eingriff ausreichend präventiv analgesiert, könne man dieses Risiko mindern, wie Wilder-Smith bei Patienten mit Bandscheibenoperationen und
Beinamputationen beobachtet hat.
Jetzt sei es Aufgabe klinischer Studien, die Risikopatienten für eine
postoperative Schmerzchronifizierung
zu erkennen und vorbeugend zu behandeln.
Eine konsequente Analgesie für
Früh- und Neugeborene, die intensivmedizinisch behandelt beziehungsweise operiert werden müssen, forderte auch Prof. Bernhard Roth
von der Universitäts-Kinderklinik zu
Köln. Oft werde Analgesie mit bloßer
Ruhigstellung verwechselt, kritisierte
er. Daß Früh- und Neugeborene bereits ab der 24. Gestationswoche eine
Schmerzwahrnehmung hätten, sei inzwischen bekannt. Überdies zeigten
Untersuchungen, daß das schützende,
schmerzhemmende System bei diesen
kleinsten Patienten noch gar nicht
ausgebildet sei. In einer eigenen Untersuchung über spätere Schmerzreaktionen bei Kindern zwischen drei
und neun Jahren, die als Neugeborene intensivmedizinisch behandelt
worden waren, hat man eine stärkere
Sensibilität gegenüber Schmerzreizen
wie zum Beispiel Impfungen festgestellt.
Ingeborg Bördlein
Schlaganfall
Biochemische Marker
ermöglichen Prognose
Zwei Eiweißverbindungen korrelieren eng mit der
Schwere des zerebralen Ereignisses.
J
e eher der Schlaganfall angemessen behandelt wird, desto
besser ist die Aussicht, Folgeschäden gering zu halten. Hierzu benötigt man jedoch Diagnoseverfahren, die schnell und genau das Ausmaß der entstandenen Hirnschäden
zu erfassen vermögen. Jetzt ist es einer Magdeburger Forschergruppe der
Sektion Neuropsychologie der Neurologischen Klinik mit Hilfe von biochemischen Markern gelungen, nicht
nur das Ausmaß der geschädigten
Gehirnregion zu bestimmen, sondern
auch Aussagen über die Entwicklung
neuropsychologischer Schäden nach
einem Schlaganfall treffen zu können.
Zum Beurteilen eines solchen
Ereignisses werden in der Regel die
Computertomographie und Magnetresonanztomographie herangezogen.
Doch beide Verfahren sind in ihrer
Aussagekraft beschränkt. Zwar lassen
sich mit den bildgebenden Verfahren
Ausmaß und Ort des betroffenen
Hirnareals erkennen; die Schwere der
zu erwartenden neurologischen oder
neuropsychologischen Auswirkungen
wie Lähmungserscheinungen oder
Gedächtnisstörungen sind jedoch nur
unzureichend vorhersagbar.
In ihrer Studie (Stroke Vol. 30/6)
konzentrierten sich Prof. Manfred
Herrmann und Kollegen auf die neuronspezifische Enolase (NSE) und
das Protein S-100B. Von beiden Eiweißverbindungen ist seit längerem
bekannt, daß sie bei Hirnverletzungen
freigesetzt werden und sich immunologisch im Liquor und Blut nachweisen lassen. So gelangt das hauptsächlich in Neuronen vorkommende NSE
nur in den Liquor und die Blutbahn,
wenn die Nervenzelle zerstört wird.
Tritt auch das für Gehirnstützgewebe
weitgehend spezifische Protein S-
A-2964 (32) Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 46, 19. November 1999
100B im Blut oder Liquor auf, ist dies
ein Hinweis auf eine gestörte Nervenzellfunktion. Die Wissenschaftler
konnten nachweisen, daß die Konzentration beider Substanzen im Blut eng
mit der Schwere des Schlaganfalls
korreliert. Dabei spielt offenbar der
zeitliche Verlauf der Freisetzung über
mehrere Stunden und Tage hinweg eine entscheidende Rolle. So war zwei
Wochen nach dem Schlaganfall der
klinische Status bei jenen Patienten
schlechter, die in den ersten vier Tagen hohe Konzentrationen an NSE
und besonders an S-100B aufwiesen.
Pilotstudie: Maligner Infarkt
Dies sagt jedoch nicht nur etwas
über eine zu erwartende Behinderung
aus – beispielsweise ob eine Lähmung
oder Sehstörung vorliegt. Erstmals
konnte auch ein Zusammenhang mit
neuropsychologischen Beeinträchtigungen nachgewiesen werden. Denn
Aufmerksamkeitsstörungen oder die
verminderte Fähigkeit zum Planen
und Handeln fallen dem Therapeuten
und Patienten nicht sofort auf, sondern bedürfen in der Regel differenzierter
Untersuchungsmethoden. Häufig treten die Defizite sogar
erst im Alltag des Betroffenen hervor.
Biochemische Marker werden in
Zukunft bei der Schlaganfalldiagnose
eine wichtige Rolle spielen, prognostiziert auch der Neurologe Thomas
Büttner von der Ruhr-Universität Bochum. In einer Pilotstudie an einem
kleinen Patientenkollektiv konnte er
zeigen, daß sich mit Hilfe des Protein
S-100B im Blut auch der gefürchtete
maligne Infarkt bereits innerhalb der
ersten 24 Stunden nach dem Ereignis
vorhersagen ließ.
Thomas Ziegler
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