V Vorlesung V Einführung Klinische Psychologie Wintersemester 2015-2016 Prof. Dr. Hans-Ulrich Wittchen Das Bachelor Programm Datum Inhalt der Veranstaltung 12.10.2015 Was ist Klinische Psychologie? Einführung und Überblick 19.10. Was sind psychische Störungen? Psychische Gesundheit, Symptome und Störungen – Vom Symptom über Syndrom zur Diagnose Biopsychologische Grundlagen (Markus Mühlhan) 26.10. 2.11. 9.11. 16.11. 23.11. 7.12. 14.12. Epidemiologische Grundlagen: Wie häufig sind psychische Störungen? Was sind ihre psycho-sozialen und ökonomischen Korrelate und Konsequenzen? Lerntheoretische Grundlagen und ihre Rolle in der Störungslehre Studienbeispiel Epidemiologie: Der deutsche Gesundheitssurvey DEGS: Methodik, Vorgehen und Ergebnisse (Simon Mack) Thema Heute: Wer in Deutschland nimmt ambulante Psychotherapie in Studienbeispiel klinisch-psychologische Diagnostik und Methodik: Design, Instrumente und Anspruch? Herangehensweisen anhand des BMBF Verbundprojekt PROTECT (Ingmar Heinig) Studienbeispiel: Was passiert im Gehirn? Funktionales Neuroimaging bei Angst, Angststörungen und bei Extinktionslernen Integration: Vulnerabilitäts- und Stressmodelle psychischer Störungen – Mehr als eine Heuristik? 2 Ihr Dozent für heute M.Sc. Psych. Simon Mack Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie Falkenbrunnen, Raum 334 [email protected] Forschungsthemen: Epidemiologie psychischer Störungen Assoziierte Krankheitslast Versorgungs- und Bedarfsforschung Lernziele Versorgung psychischer Störungen in Deutschland Untersuchungen zur psychischen Gesundheit - Einblicke in die DEGS-Studie zur "Gesundheit Erwachsener in Deutschland" ZIEL 1 Kenntnis über Versorgungssektoren und spezialisierte Gesundheitsdienstleister (Welche Sektoren und Dienstleister gibt es?) ZIEL 2 Kenntnis zur ambulanten psychotherapeutischen Versorgung (Zugangsweg, Wartezeiten, Behandlungsdauer, Angebotsformen) ZIEL 3 Kenntnis über aktuelle Versorgungsfragen, sowie Versorgungsdaten aus der DEGS-Studie zur Inanspruchnahme ambulanter Psychotherapie in Deutschland Kapitel 15: Wittchen & Hoyer, 2011 Fallbeispiel 25-jährige Studentin aus Dresden Gesetzliche Grundlage ambulanter Psychotherapie Psychotherapie: „Jede mittels wissenschaftlich anerkannter psychotherapeutischer Verfahren vorgenommene Tätigkeit zur Feststellung, Heilung oder Linderung von Störungen mit Krankheitswert zu verstehen, bei denen Psychotherapie indiziert ist“ (Bundesministerium für Gesundheit, 1999). Psychotherapeutengesetz (PsychThG, 1.1.1999): Seither ambulante Psychotherapie in kassenärztliche Versorgung integriert. Zugangsweg: Patienten können sich seit PsychThG direkt beim Therapeuten vorstellen, keine Überweisung durch mehr Arzt nötig. Richtlinienverfahren: Zur Abrechnung mit Krankenkassen zugelassene Therapieverfahren sind: 1) analytische Psychotherapie (14% der niedergelassenen Psychotherapeuten; Stand 2008), 2) tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie (39%), 3) Verhaltenstherapie (47%). Versorgung: Stationäre und teilstationäre psychotherapeutische Versorgung (Psychiatrie, Psychosomatik, Rehabilitation), ambulante psychotherapeutische Versorgung (niedergelassene psychologische Psychotherapeuten und psychotherapeutisch tätige Ärzte, Ambulanzen, etc.) Besonderheiten: Lange Wartezeiten, Angebotsdauer, Angebotsformen Kapitel 15: Wittchen & Hoyer, 2011 Versorgungsdichte von Psychotherapeuten in Deutschland Quelle: Bundesarztregister zum Stichtag des 31.12.2003; Kassenärztliche Bundesvereinigung, 2008 Zum Thema: Versorgung psychischer Störungen in Deutschland Fragebogen Bitte besprechen Sie mit ihrem Sitznachbarn, ihrer Sitznachbarin folgende Fragen zur Versorgungslandschaft und Versorgung psychischer Störungen in Deutschland. Sie haben 10 Minuten Zeit! Zum Thema: Versorgung psychischer Störungen in Deutschland Wohin können sich Betroffene wenden, wenn sie professionelle Hilfe benötigen? Welche stationären und ambulanten Versorgungseinrichtungen kennen sie? Wie hoch ist der Anteil der Männer in der ambulanten Psychotherapie? In welcher Lebensphase suchen Betroffene besonders häufig Hilfe beim Psychotherapeuten? Gibt es regionale Unterschiede zwischen den alten und neuen Bundesländern und zwischen Stadt und Land? Wie ist die durchschnittliche Wartezeit auf einen Psychotherapieplatz in Deutschland? Worin unterscheiden sich psychosoziale Beratungsstellen von psychotherapeutischen Praxen? Thema Heute: Wer in Deutschland nimmt ambulante Psychotherapie in Anspruch? Modul „Psychische Gesundheit“ (Jacobi et al., 2013) Hintergrund Modul „Psychische Gesundheit“ (Jacobi et al., 2013) Bevölkerungsrepräsentative Querschnittsstudie aller Erwachsener in Deutschland im Alter von 18-79 Jahre; Durchgeführt von 2009-2012. Aktuelle klinisch-diagnostisch differenzierte Daten u.a. zur Prävalenz (DSM-IV), Krankheitslast und Versorgung psychischer Störungen (N=4483). Erstmals wieder bevölkerungsrepräsentative Daten dieser Art seit dem Bundesgesundheitssurvey (1998). Ziel Modul „Psychische Gesundheit“ (Jacobi et al., 2013) Versorgungsepidemiologischer Beitrag (1) Wer in Deutschland nimmt ambulante Psychotherapie in Anspruch? (2) Wie beeinträchtigt sind Inanspruchnehmer? Versorgung aus Sicht der Befragten zzgl. standardisiertes klinisches CIDI-Interview zzgl. Fragebögen https://www.palverlag.de/Bilder/psychotherapie-psychologe.jpg Erhebungsstrategisches Vorgehen Erfassung Psychopathologie und psychische Störungen (CIDI, DSM-IV, 25 Diagnosen eingeschlossen) Inanspruchnahme Ja / Nein Einrichtungen (Liste) Eingangsfrage Welche? a) Stationäre Einrichtungen Aufenthalt (Anzahl Tage, etc.) Behandlungsart (Medikamente, Verhaltenstherapie, Gruppen, etc.) b) Ambulante Dienste Sitzungen/Termine/Therapien Behandlungsart (Medikamente, Verhaltenstherapie, Gruppen, etc.) c) Andere Einrichtungen „Haben Sie schon irgendwann eine der Einrichtungen [siehe Liste] wegen seelischer, psychosomatischer oder Suchtproblemen aufgesucht, entweder von sich aus oder auf Druck oder Anregung von anderen (z.B. Ärzten, Angehörigen oder ihrem Partner)?“ Termine (Anzahl, Dauer) Behandlungsart (Medikamente, Verhaltenstherapie, Gruppen, etc.) Medikamentöse Behandlung Art und Dauer; Antidepressiva, Beruhigungsmittel, Schlafmittel, Neuroleptika, Schmerzmittel, andere Behandlungsabbruch Mack et al. (2014) Einrichtungen Stationär: Psychiatrische Klinik oder Abteilung (1) Neurologische Klinik oder Abteilung (2) Psychotherapeutische Klinik, Psychosomatische Klinik/ Abteilung (3) Einrichtung für Alkoholabhängige (oder Medikamente und Drogen) (4) Tagesklinik (5) Heim (6) Andere stationäre Einrichtungen (7) Ambulant: Ärzte und Therapeuten: Beratungsstelle für: Psychiatrische oder Psychotherapeutische Ambulanz (8) - Erziehung (Kinder / Jugendliche / Eltern ) (15) (Sozial-)Psychiatrischer Dienst (9) - Ehe / Partnerschaft / Leben (16) Psychiater / Nervenarzt (10) - Sexualberatung (17) Psychotherapeut (11) - Aids-Hilfen (18) Andere Psychologen (12) - Drogen / Alkohol (19) Hausarzt (wegen psychischer Probleme) (13) - Studierende (20) Andere ambulante Dienste (14) - andere Beratungsstellen (21) Andere Einrichtungen: Beschützende Wohngruppe (22) Berufsbildungseinrichtung für Behinderte (23) Werkstatt für Behinderte (24) Übergangsheim (25) Telefonseelsorge (26) Selbsthilfeorganisationen (27) Mack et al. (2014) Ergebnisse 1. Ambulante Psychotherapie – wie häufig und von wem? Wie häufig wird ambulante Psychotherapie in Anspruch genommen? Gesamtstichprobe N=4483 (100%) In % 60 Jemals Letzte 12 Monate 40 21.3 20 10.4 2.9 0 Allgemeinbevölkerung 4.4 7.4 1.0 Personen ohne Diagnose Personen mit Diagnose Wer geht zum Psychotherapeuten wegen psychischer Probleme? 10% der Gesamtstichprobe 18-79 Jahre; N=441 Jeder 14. Mann Jede 7. Frau Männer 32.8 Frauen 67.2 33.0 0% 100% Mit Partner 65.5 0% 46.8 Ohne Partner 20.2 34.6 Verheiratet 100% Getrennt Geschieden Verwitwet Nie verheiratet Überwiegend Frauen und Personen die in Partnerschaft leben nehmen ambulante Psychotherapie in Anspruch. Knapp die Hälfte aller Inanspruchnehmer ist verheiratet Welche Altersgruppen sind wie häufig vertreten? 10% der Gesamtstichprobe 18-79 Jahre; N=441 Mittelwert: 44 Jahre (SD=14,1) 60 40 Inanspruchnehmer 12% der 18-34-jährigen Gesamtstichprobe 12% der 35-49-jährigen 35.5 29.2 10% der 50-64-jährigen 29.5 24.7 25.4 25.4 20.7 20 10.0 0 18-34 35-49 50-64 65-79 5% der 65-79-jährigen ____________________ Jede 6. Frau im Alter zwischen 18-34 Jahren Nur 2% der Männer über 65 Jahre Proportional stärkste Inanspruchnahme im jungen und mittleren Erwachsenenalter Ältere Personen über 65 Jahre sind unterrepräsentiert Aus welchen sozialen Bevölkerungsschichten kommen Inanspruchnehmer? Bildungsgrad SES 80 80 Gesamtstichprobe 60 40 60 50.7 49.6 35.3 60.2 56.7 Inanspruchnehmer 40 29.5 20.9 20 14.0 20 20.3 19.5 19.1 24.2 0 0 Niedrig Mittel Hoch Niedrig Mittel Hoch Vermehrte Inanspruchnahme bei hohem Bildungsgrad in Relation zur Gesamtstichprobe Soziale Schichtzugehörigkeit ausgewogen Unterscheiden sich Inanspruchnehmer hinsichtlich Wohnort und Region? Gemeindegröße (in Tausend) 100 75 Ländliche Region 50 Großstadt/Metropole 43.5 39.2 29.8 25 12.8 26.8 16.8 15.2 15.8 0 < 20 20 - 100 100 - 500 > 500 Knapp jeder 2. Inanspruchnehmer lebt in einer Großstadt über 500.000 Einwohner Geringe Inanspruchnahme in ländlichen Regionen Regionale Verteilung in den neuen und alten Bundesländern 100 Gesamtstichprobe Inanspruchnehmer 78.5 83.0 75 50 25 21.5 17.1 0 Ost West Proportional etwas geringere Inanspruchnahme in den neuen Bundesländern Ergebnisse 2. Wie beeinträchtigt sind Inanspruchnehmer? Diagnostischer Status der Inanspruchnehmer ambulanter Psychotherapie Inanspruchnahme ambulanter Psychotherapie (letzte 12 Monate; N=106) 73% mit 12-Monats-Diagnose (N=78) 60 Angststörungen In % 32 Depressionen Posttraumatische BS 15 Somatoforme St. 15 13 Substanzstörungen 12 Zwangsstörungen 1 Diagnose: 30% 2 Diagnosen: 14% 3+ Diagnosen: 56% 6 Essstörung 0 20 40 60 80 Funktionale Einschränkungen im Alltag Ausfalltage (letzte 4 Wochen) mit/ohne 12-Monats-Diagnose 15 Körperlich Psychisch Gesamt 10 8.5 5.6 5 3.2 5.5 6.6 3.1 5.2 3.6 1.9 2.0 1.8 0.2 0 Mit Diagnose Ohne Diagnose Inanspruchnehmer Mit Diagnose Ohne Diagnose Nicht-Inanspruchnehmer Anzahl Tage (letzte 4 Wochen) mit Funktionseinschränkungen bei normalen Alltagsaktivitäten (Haushalt, Beruf, Familie, etc.) wegen körperlicher, psychischer oder substanzbedingter Probleme Gesundheitsbezogene Lebensqualität SF-36V2 Durchschnittswert Normalbevölkerung: 50 (10 SD) 60 Psychisch Körperlich 51.9 52.0 50 49.3 50.7 50.4 46.2 40 41.1 37.0 30 Mit Diagnose Ohne Diagnose Mit Diagnose Ohne Diagnose Körperliche Lebensqualität: Körperliche Funktionsfähigkeit Körperliche Rollenfunktion Körperliche Schmerzen Allgemeine Gesundheitswahrnehmung Psychische Lebensqualität: Vitalität Emotionale Rollenfunktion Inanspruchnehmer Nicht-Inanspruchnehmer Soziale Funktionsfähigkeit Psychisches Wohlbefinden Psychische Komorbidität bei Personen mit Angststörungen: Ein Indikator für Schweregrad der Störung 100 23.4 75 42.2 20.1 15.3 23.9 35.4 18.1 51.4 52.1 63.8 70.9 40.9 45.2 28.0 AD-depression 15.4 50 Multiple AD 45 25 26.2 34.4 26.2 12.8 13.5 10.1 PD N=36 AG N=52 SAD N=44 0 66.6 5.0 24.1 22.5 GAD N=32 SP N=69 Inanspruchnehmer 35.8 34.7 PD N=57 AG N=112 48.2 49.2 SAD N=51 GAD N=55 Single AD SP N=354 Nicht-Inanspruchnehmer Mack et al. (submitted) Personen mit Angststörungen die sich professionelle Hilfe sind in der Regel stärker beeinträchtigt als Personen die sich keine Hilfe suchen (mehr psychische Komorbidität mit anderen Trends in der Inanspruchnahme seit dem Bundesgesundheitssurvey 1998 (12-Monats-Diagnose; 18-65 Jahre) Inanspruchnahmerate% 40 Bundesgesundheitssurvey DEGS1-MH 30 22.7 20 16.6 19.5 13.8 12.5 11.4 10 0 Hausarzt Psychiater/Nervenarzt Psychotherapeut Deutliche Zunahme um 3 Prozentpunkte seit dem Bundesgesundheitssurvey 1998 Ergebnisse 3. Welche Behandlungsbarrieren berichten NichtInanspruchnehmer? Zusammenfassung Heute suchen mehr Menschen einen Psychotherapeuten auf wegen psychischer Probleme als noch vor 15 Jahren. Dennoch: Nur 7% der aktuellen psychischen Störungen werden im selben Jahr psychotherapeutisch „versorgt“. Inanspruchnahme „abhängig“ von Geschlecht, Alter, Bildungsgrad und Wohnort. Zusammenfassung Die Mehrheit der Inanspruchnehmer erfüllen die Kriterien einer der 25 im CIDI erfassten psychischen Störungen 70% mit psychischer Komorbidität (mind. 2 Diagnosen psychischer Störungen) Zusammenfassung Inanspruchnehmer haben deutliche Beeinträchtigungsmerkmale im Alltag bei der psychischen Lebensqualität Prüfungsmodalitäten Versorgung psychischer Störungen Literatur: Kapitel 15: Die Versorgung von Patienten mit psychischen Störungen aus Wittchen & Hoyer (2011). Klinische Psychologie und Psychotherapie. Prüfungsfragen: 1. Folien Vorlesung 2. Kapitel 15 aus Lehrbuch (s.o.) Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und viel … für Ihr Studium!