InFo NEUROLOGIE & PSYCHIATRIE (Schweiz) Heft 1/2015 Sportpsychiatrische und-­‐psychotherapeutische Versorgung von Leistungssportlern Dr. med. Karsten Henkel 1 Dr. med. Eberhard Belz 2 Annegret Drangmeister 1 Univ.-­‐Prof. Dr. med. Dipl.-­‐Psych. Frank Schneider 1 (1) Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Uniklinik RWTH Aachen/ JARA-­‐Brain, Pauwelsstr. 30, 52074 Aachen (2) Institut am Seerhein, Reichenaustrasse 19a, D-­‐78467 Konstanz, info@praxis-­‐drbelz.de/ Metzggasse 14, CH-­‐8400 Winterthur, info@praxis-­‐drbelz.ch 10.000 Zeichen inklusive Leerzeichen 3-­‐5 Take Home Messages 3-­‐6 Abbildungen/Tabellen Psychische Erkrankungen Entgegen der landläufigen Meinung, dass Leistungssport überwiegend mit körperlicher und seelischer Gesundheit assoziiert ist, steigt zunehmend die Evidenz für die Existenz psychischer Störungen auch im sportlichen Leistungssektor [10]. Neben anekdotischen Berichten über z.B. Depressionen, Suchterkrankungen, Essstörungen und Suiziden bei Spitzensportlern liegen mittlerweile vereinzelte Querschnittsuntersuchungen vor, die einen Einblick in den Zustand der seelischen Gesundheit bei Leistungssportlern erlauben und sich einer Prävalenzeinschätzung psychischer Störungen nähern. So weist eine Umfrage der internationalen Profifußballervereinigung FIFPro bei aktiven Spielern auf eine psychische Symptombelastung bei etwa bis zu einem Viertel der Befragten hin [4]. Symptome von Ängstlichkeit, Depressivität und Abnormalitäten des Essverhaltens wurden mit je etwa 25% am häufigsten berichtet. 10% berichteten allgemeinen Distress. Fast 20% gaben gesteigerten Alkoholkonsum, 7% Nikotinkonsum an. In einer anderen Befragung klagten unter einer Kohorte deutscher Athleten gemäß Selbstzuschreibung knapp je zehn Prozent über Essstörungen und Depressionen. Diese Symptombelastung allein entspricht noch nicht der Diagnose einer psychischen Erkrankung, weist jedoch darauf hin, dass auch bei Leistungssportlern eine besondere Aufmerksamkeit auf Vorzeichen und Frühsymptome psychischer Störungen gelegt werden sollte. Doch auch eine Querschnittstudie anhand klinischer Kriterien fand unter französischen Olympiateilnehmern bei etwa 17% eine manifeste psychische Erkrankung [9]. In einer Stichprobe unter deutschen Elitesportlern wurde eine Depressionsrate von etwa 15% und vermehrt bei Individualsportarten ermittelt [7]. Untersuchungen zur Todesursache bei Leistungssportlern belegen ferner, dass etwa 11% der Todesfälle auf Suizide zurückzuführen sind [5]. Die auftretenden Störungsbilder können sportspezifische Besonderheiten aufweisen [6, Tabelle 1], deren Kenntnis eine frühzeitige und adäquate Diagnose ermöglicht. Der Einsatz von Elementen der modernen Trainingslehre und von Mentalcoaches sind hingegen eher auf eine Stärkung kompetitiver Aspekte der Persönlichkeit und Wettkampffähigkeit ausgelegt. Entsprechend verwundert es nicht, dass in der FIFPro-­‐Studie nur etwa 5% der Spieler über „Burnout“ oder 3% über vermindertes Selbstbewusstsein klagten [4]. Zusätzlich bilden die körperliche Aktivität selbst und die durch den Sport bestehenden sozialen Kontakte eher protektive Faktoren. Diese Faktoren mögen zwar die Resilienz hinsichtlich psychischer Belastungen steigern, sie verhindern offensichtlich aber nicht das Auftreten psychischer Erkrankungen. >> Psychische Störungen im Leistungssport sind keine Rarität. Für eine frühzeitige Diagnostik ist die Kenntnis sportspezifischer Besonderheiten hilfreich << Vulnerable Phasen Sportler in bestimmten Phasen des potentiellen Scheiterns, besonders im Übergang zu Leistungskadern, bei Verletzungen oder dem Karriereende stellen eine besondere Risikopopulation dar. Da der Übergang vom Junioren-­‐ und Amateur-­‐ in den Kader-­‐ und Leistungsbereich bei vielen Sportarten bereits vor dem 18. Lebensjahr stattfindet, ist die Zusammenarbeit mit ambulanten und stationären Einrichtungen der Kinder-­‐ und Jugendpsychiatrie (KJP) mit entsprechender Expertise notwendig aber oft eine besondere organisatorische Herausforderung. Schwerere oder langwierige Verletzungen im Leistungssport sind meist mit erheblichen finanziellen Risiken verbunden [2]. Über 50% deutscher Spitzensportler berichtet über Existenzängste [1]. Von besonderer Relevanz ist die Versorgung am Karriereende und darüber hinaus. Die FIFPro-­‐Studie ermittelte bis zu 40% ehemaliger Fußballer im Durchschnitt 5 Jahre nach Karriereende, die Ängste und Depressivität bzw. vermehrten Alkoholkonsum angaben. Knapp 20% berichteten Distress bzw. 15% Burnout-­‐Symptome [4]. Bei etwa der Hälfte der Profifußballer sind Verletzungen der Grund für die Beendigung der Laufbahn, in 20% handelt es sich um akute Verletzungen. Es wird davon ausgegangen, dass bis zu 20% von ehemaligen Athleten im Leistungssport psychische Störungen entwickeln und therapeutische Hilfe benötigen. Viele Sportler verlieren eine vorherige intensive medizinische und sozioökonomische Unterstützung, oft auch verbunden mit einem finanziellen und sozialen Abstieg, sofern sie keine parallele Berufskarriere vorbereiten oder aufbauen konnten. Auch im weiteren Lebensverlauf sollte präventiv eine besondere Aufmerksamkeit auf den psychischen Gesundheitszustand gelegt werden, da eine hohe Prävalenz chronischer Beschwerden wie Degenerationen und Schmerzsyndrome des muskuloskelettalen Systems besteht und eine chronische Behandlung mit Schmerzmitteln häufig ist. Ferner besteht eine zunehmende Evidenz für das vermehrte Risiko des späteren Auftretens neurodegenerativer und dementieller Erkrankungen insbesondere nach wiederholten Schädelhirntraumata im Kontakt-­‐, Renn-­‐ und Reitsport. >> Die Arbeit der Sportpsychiatrie und –psychotherapie endet nicht m it dem Karriereende der Sportler >> Bedürfnisse der Versorgung, Besonderheiten Leistungssportler sind darauf angewiesen, medizinische Versorgung auch außerhalb üblicher Behandlungszeiten zu erhalten [3]. Ihre sportliche Aktivität ist oft mit erheblicher Reisetätigkeit verbunden. Trainingspläne werden oft kurzfristig erstellt, weshalb eine zeitliche Flexibilität erforderlich ist. Zudem besteht oft der Wunsch nach Anonymität. Die Sportler oder Athleten wollen nicht im Wartezimmer einer nervenärztlichen Praxis erkannt werden. Dies kann z.B. bedeuten, dass Termine außerhalb üblicher Sprechzeiten angeboten werden sollten oder im Falle von stationären Behandlungen die Verwendung von Pseudonymen. >> Erforderlich ist eine Flexibilität des Behandlungssettings, mitunter auch sozialpsychiatrische Interventionen << Einbeziehung des persönlichen und sportlichen Umfelds Aufgrund der fortwährend weitläufig bestehenden Stigmatisierung psychischer Erkrankungen nehmen die Betroffenen oft nicht direkt den Kontakt mit Psychiatern oder Psychotherapeuten auf. Häufiger sind es die Angehörigen, Trainer oder andere Personen aus dem sportlichen Umfeld, die entsprechende Behandlungsoptionen bei Professionellen aus den psychischen Heilberufen vorschlagen oder nachfragen. Eine Sensibilisierung der Trainer und Betreuer hinsichtlich Symptomen psychischer Störungsbilder und Benennung adäquater Ansprechpartner der Versorgungslandschaft kann durch entsprechende Qualifizierungsmaßnahmen unter Beteiligung von Sportpsychiatern und -­‐ psychotherapeuten erreicht werden. Eine besondere Rolle kommt auch den somatischen Behandlern, v.a. den Sportmedizinern, zu, weil sich psychische Erkrankungen im Sport oft in Form von körperlichen Symptomen äußern und eine Abgrenzung physiologischer oder pathologischer Körperreaktionen, z.B. dem Übertrainingssyndrom, vorzunehmen ist. Der WHO-­‐5-­‐Fragebogen zum Wohlbefinden hat sich z.B. in der sportmedizinischen Praxis als ein hilfreiches Instrument zum Screening für depressive Symptome bewährt [11]. Bei Hinweisen für eine relevante psychische Störung sollte ein Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie zur weiterführenden Diagnostik hinzugezogen werden. >> Die präventive Arbeit der Sportpsychiatrie und –psychotherapie um fasst auch die Zusam menarbeit m it und Information, Aus-­‐ und W eiterbildung von Trainern, Sportmedizinern, Sportpsychologen und M entalcoaches << M edikamentöse und psychotherapeutische Behandlung Häufig bestehen bei Betroffenen und Behandlern Unsicherheiten hinsichtlich der möglichen Einflüsse auf die sportliche Leistungsfähigkeit, der Sicherheit der Einnahme und die Konformität mit Antidoping-­‐Richtlinien bei der Anwendung von Psychopharmaka. In den meisten Fällen muss aber bei Bedarf trotz Fortführung der sportlichen Aktivität nicht auf eine Behandlung z.B. mit Antidepressiva verzichtet werden. Am besten wurde der Einsatz von Fluoxetin untersucht und kein positiver oder negativer Einfluss auf die sportliche Leistungsfähigkeit gefunden. Wegen möglicher Herzrhythmusstörungen und Gewichtveränderungen stellen Tricyklika nur Reservemedikamente dar. Problematisch ist v.a. der Gebrauch von Bupropion, da es insbesondere unter erhöhten Umgebungstemperaturen zu einer kritischen Überhitzung des Körpers kommen kann. Besondere Expertise ist auch im Kontext mit Ausnahmegenehmigungen hinsichtlich des Einsatzes von potentiell leistungssteigernden Pharmaka wie z.B. Methylphenidat oder Amphetaminderivaten in der Behandlung des ADHS erforderlich, auch im Hinblick auf die Sicherheit für die Athleten. Doping, Behandlung von Schmerzen und Abhängigkeitserkrankungen bilden ein häufig vorkommendes Bedingungsgefüge. Prophylaktisches Handeln und entsprechende Information stellt die effektivste Form und wesentliche Aufgabe in der Suchttherapie gerade auch im sportpsychiatrischen Kontext dar [8]. Bei psychotherapeutischen Interventionen sind sportbezogene Ängste und auch mögliche psychische oder körperliche Traumatisierungen zu berücksichtigen und gezielt zu explorieren. Besondere Aspekte stellen der Umgang mit der Öffentlichkeit und den Medien dar. Unter den Verhaltenssüchten scheint pathologisches Spielen, u.a. in Form von Sportwetten, eine besondere Rolle bei Sportlern zu spielen. Eine weitere Domäne der Sportpsychotherapie ist die Behandlung sportspezifischer, meist atypischer Essstörungen. >> Unter entsprechenden Sicherungskontrollen ist eine antidepressive Pharm akotherapie auch im Leistungssport möglich << Beispiele für eine Verbesserung der Versorgungsstruktur In Zusammenarbeit mit der Robert-­‐Enke-­‐Stiftung hat das Referat „Sportpsychiatrie und -­‐psychotherapie“ der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) an aktuell 9 Standorten ein universitäres Netzwerk sportpsychiatrischer Sprechstunden gebildet, das mit einem Netzen ambulanter Therapeuten verbunden ist und sich auch auf die Schweiz und Österreich erstreckt. Literatur 1. Breuer C, Hallmann K: Dysfunktionen des Spitzensports: Doping, Match-­‐Fixing und Gesundheitsgefährdungen aus Sicht von Bevölkerung und Athleten. Bundesinstitut für Sportwissenschaften 2013: 1-­‐96. 2. Drawer S, Fuller CW Perceptions of retired professional soccer players about the provision of support services before and after retirement. Br J Sports Med. 2002, 36: 33-­‐38. 3. Glick ID, Stillman MA, Reardon CL, Ritvo EC. Managing psychiatric issues in elite athletes. J Clin Psychiatry. 2012, 73:640-­‐644. 4. Gouttebarge V. Mental illness in professional football. http://www.fifpro.org/en/news/study-­‐ mental-­‐illness-­‐in-­‐professional-­‐football (Zugriff: 21.11.2014). 5. Gouttebarge V, Ooms W, Tummers T, Inklaar H Mortality in international professional football (soccer): a descriptive study. J Sports Med Phys Fitness. 2014 (im Druck). 6. Henkel K, Schneider F. Psychische Erkrankungen bei Leistungssportlern. Sport Orthop Traumatol. 2014 (im Druck). 7. Nixdorf I, Frank R, Hautzinger M, Beckmann J: Prevalence of depressive symptoms and correlating variables among German elite athletes. Journal of Clinical Sport Psychology 2013, 7: 313-­‐326. 8. Reardon CL, Creado S. Drug abuse in athletes. Subst Abuse Rehabil. 2014,5: 95-­‐105. 9. Schaal K, Tafflet M, Nassif H, Thibault V, Pichard C, Alcotte M, Guillet T, El Helou N, Berthelot G, Simon S, Toussaint JF: Psychological balance in high level athletes: gender-­‐based differences and sport-­‐specific patterns. PLoS One 2011, 6: e19007. 10. Schneider F. Depressionen im Sport. Der Ratgeber für Sportler, Trainer, Betreuer und Angehörige. Herbig-­‐Verlag, München 2013. 11. Spengler A, Schneider G, Schröder EP: Depressivität – Screening und Vorkommen in der sportmedizinischen Praxis. Dtsch Z Sportmed 2013, 64: 65-­‐68. Interessenkonflikt F.S. ist Leiter, K.H. und E.B. sind Mitglieder der Referats Sportpsychiatrie und –psychotherapie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Die Arbeit des Referats wird durch die Robert-­‐Enke-­‐Stiftung gefördert. Korrespondenzadresse Dr. med. Karsten Henkel Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik Uniklinik RWTH Aachen Pauwelsstr. 30 52074 Aachen [email protected] Tabelle 1 Sportspezifische Ausprägungen psychischer Störungsbilder Affektive Störungen Depressive Symptome beim Übertrainingssyndrom, symptomatische affektive Störung nach Schädelhirntrauma Essstörungen Anorexia athletica, „Athletentriade“, Orthorexia nervosa, Adipositas athletica Körperschemastörungen Muskeldysmorphie Substanzabusus prophylaktische Schmerzmitteleinnahme, Doping Verhaltenssüchte Bewegungssucht, Laufsucht, Spielsucht (Sportwetten) Neurodegenerative Erkrankungen Chronisches postkontusionelles Syndrom, chronische traumatische Enzephalopathie, Dementia pugilistica