Habituation im Belohnungssystem Das zerebrale Belohnungssystem als Regelkreis, Habituation und die häufigsten psychischen Störungen in Europa: The cerebral reward-system as a regulatory circuit, habituation and the most common mental disorders in Europe Autor: Ingo Schymanski Bahnhofplatz 7 D-89073 ULM [email protected] Kurztitel: Habituation im Belohungssystem Habituation in the reward system 1 / 25 Habituation im Belohnungssystem Zusammenfassung: Motivationale Neurone führen zu Appetenzen, die über ihre Anbindung an den Nucleus accumbens und dessen Feedback via GABA eine Ausrichtung auf Belohnung vermittelnde Inhalte erfahren. Führt eine Handlung zu Erfolg, bewirkt dies über den Höhepunkt der Ausschüttung von Dopamin am Nucleus accumbens dessen maximale Feisetzung von GABA (und anderen Botenstoffen), was letztlich die motivationalen Neurone inhibiert und zu Befriedigung führt. Wohl jede Signalübertragung im Körper unterliegt bei permanenter Reizung einer Wirkabschwächung bis hin zum Wirkverlust („Habituation”). Die Effekte der Habituation auf das Belohnungssystem erklären über den Wirkverlust von Dopamin und GABA zahlreiche psychische und psychosomatische Störungen und tragen zu neuen Ansätzen in Prophylaxe, Therapie und Forschung bei.. Schlüsselbegriffe: Adaptation, ADH, ADHS, Alkoholsucht, Angststörungen, Belohnungszentrum, Burnout, Depression, Dopamin, Drogensucht, GABA, Habituation, Lustzentrum, Manie, Schlafstörung, somatoforme Störungen Summary: Motivational neurons initiate appetency; planning and acting is directed by the excitation of the nucleus accumbens and its inhibitory efferences towards reward. In case of success, a maximal stimulation of the nucleus accumbens causes a maximal release of GABA (and other transmitters), what finally inhibits the motivational neurons and leads to satisfaction. Probably any signal-transduction in the body loses its effect in case of permanent stimulation („habituation”). The influence of habituation on the regulatory circuit help to understand many psychic and psychosomatic disorders by the loss of effect of dopamine and GABA. This leads to new approaches in prophylaxis, therapy and further investigation. Keywords: ADD, ADHD, alcoholism, anxiety-disorder, burnout, drug addiction, depression, dopamine, GABA, habituation, mania, sleep-disorder, somatoform disorder 2 / 25 Habituation im Belohnungssystem Die „Monoamin-Hypothese” aus den sechziger Jahren, nach der ein Mangel an Noradrenalin (Schildkraut, 1965) oder Serotonin (Coppen, 1967) für die Entstehung von Depressionen verantwortlich sein soll, steht unter schwerem Beschuss. Arbeiten zum Wirkvergleich moderner Antidepressiva mit Placebo zeichnen ein ernüchterndes Bild: bei leichten und mittelgradigen Depressionen besitzen SSRI (Selektive-Serotonine-Reuptake-Inhibitors) und SNRI (Serotonine-Noradrenaline-Reuptake-Inhibitors) statistisch keine signifikant höhere Wirkung als Placebo. Allenfalls bei schweren Depressionen gelingt der Nachweis eines singifikanten Effektes, der allerdings dürftig ausfällt (Kirsch, Deacon, Huedo-Medina, Scoboria, Moore & Johnson, 2008). Nahrung erhalten die Zweifel an der Wirksamkeit von Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmern durch die Markteinführung von Tianeptin, das die Wiederaufnahme von Serotonin aus dem synaptischen Spalt erhöht (ein Selective-SerotonineReuptake-Enhancer, SSRE) und trotz seiner anti-serotoninergen Eigenschaften antidepressiv wirkt. Tianeptin erhöht zudem die extrazelluläre Konzentration von Dopamin am Nucleus accumbens (Wilde & Benfield, 1995), was nach dem später in diesem Artikel erläuterten neuen Modell zur Entstehung von Depressionen eine Erklärung für seine Wirksamkeit liefern könnte. Diese Befunde lassen die zentrale Bedeutung von Serotonin für die Entstehung und die Heilung von Depressionen fraglich erscheinen. Die Zeit scheint reif, um unter Berücksichtigung der aktuellen neurophysiologischen Befunde ein neues Modell zur Entstehung von Depressionen zu entwickeln. Das Belohnungssystem als Regelkreis Neuere neurophysiologische Befunde belegen die Bedeutung der Basalganglien und vor allem die zentrale Rolle des Nucleus accumbens (auch: Belohnungszentrum, Lustzentrum) für die Motivationsschaltkreise im tierischen und menschlichen Gehirn (Olds & Milner, 1954; Koob, 1992; Robin & Brown, 1990; Redgrave, Prescott & Gurney, 1999). Es ist gut belegt, dass lustbetonte Gedanken und lustbringendes Verhalten mit einer Erregung des Nucleus accumbens einhergehen (Knutson, Adams, Fong & Hommer, 2001). Belegt ist auch, dass das Vorenthalten einer erwarteten Belohnung hingegen zu einem Abfall der Stimulation des Belohnungszentrums unter den Ruhewert führt (Kandel, Schwartz & Jessel, 2000). 3 / 25 Habituation im Belohnungssystem Der Effekt von im Nucleus accumbens eingehenden, exzitatorischen Botenstoffen (in der Hauptsache Dopamin) lässt sich mit Hilfe der funktionellen Kernspintomographie (fMRT) sichtbar machen (Spanagel & Weiss, 1999). Sehr viel weniger Beachtung als die den Nucleus accumbens erregenden Afferenzen haben bislang die von ihm ausgehenden Efferenzen erfahren. Das mag daran liegen, dass sich die Effekte des vom Nucleus accumbens hauptsächlich ausgesendeten Transmitters GABA dem visuellen Nachweis in der fMRT entziehen. Die Efferenzen des Nucleus accumbens reichen in zahlreiche corticale und subcorticale Hirnbereiche und wirken dort inhibitorisch (Pinel (Hrsg.), 2007). Das „Processing” verschiedener Impulse innerhalb der Basalganglien soll die Auswahl (z. B. zwischen zwei sich gegenseitig ausschließenden Verhaltensweisen) auf eine beschränkte Ressource (z. B. ein gemeinsam genutztes motorisches oder kognitives System) ermöglichen (Giertler, 2003; Redgrave u.a., 1999). Der Einfluss des Nucleus accumbens mittels GABA scheint die Fokussierung von Wahrnehmung, Verhalten und Erinnerung auf lustbetonte Inhalte zu ermöglichen. Die Motivationsschaltkreise in unserem Gehirn sind kein Selbstzweck; letztlich dienen sie mit ihrer lustbetonenden Anbindung von Verhalten an den Nucleus accumbens dem Erhalt der inneren Homöostase sowie dem Überleben der Art. Durch die Einbeziehung der inhibitorischen Efferenzen des Nucleus accumbens wird aus der Verhaltenssteuerung durch das Lustzentrum ein Regelkreis. Dieser Regelkreis entspricht einem evolutionär sehr alten Prinzip, das bereits beim Fadenwurm (Caenorhabditis elegans) nachgewiesen ist und sich an seinem Beispiel gut nachvollziehen lässt: Kriecht der Fadenwurm durch bakterienreiche Gebiete, wird sein aus nur wenigen Zellen bestehender Nucleus accumbens stimuliert. Dieses antwortet auf die eintreffenden Dopamin-Signale mit der Abgabe von GABA, wodurch Bewegung induzierende Neurone gehemmt werden. Auf diese Weise verweilt der Fadenwurm in nahrungsreichen Gebieten, bis die Stimulation seines Lustzentrums abklingt und er weiter kriecht (Chase, Pepper & Koelle, 2004). Die Verhaltenssteuerung über den Nucleus accumbens ist ein evolutionär sehr altes und über Speziesgrenzen erhaltenes Prinzip, weswegen beim Menschen die gleichen oder sehr ähnliche Regelkreise wie beim Tier wirksam sein dürften (Wilhelmus, Smeets, Marin & Gonzalez, 2000). Daher sind Ergebnisse aus Tierversuchen auf den Menschen zu übertragen (Giertler, 2003; Alexander & Crutcher, 1990). Die folgende Darstellung (Abb. 1) zeigt den Nucleus accumbens mit seinen exzitatorischen Afferenzen und seinen inhibitorischen Efferenzen als 4 / 25 Habituation im Belohnungssystem Regelkreis. Dieser Regelkreis bildet den Kern der tierischen wie menschlichen Verhaltenssteuerung, sofern diese durch den Nucleus accumbens gesteuert wird. Der Nucleus accumbens wird durch das mit „L” gekennzeichte „Lust-Zentrum” symbolisiert. Selbstverständlich sind für die Verhaltenssteuerung beim Menschen eine Vielzahl von sich überlappenden und interagierenden Motivationsschaltkreisen mit unterschiedlichen Wirkorten sowie eine sehr große Zahl von Transmittern wie Dopamin, Glutamat, Glycin, Endorphinen, Enkephalinen, Endocannabinoiden, Substanz P und weitere Botenstoffe mit jeweils unterschiedlicher Wirkung und Wirkdauer verantwortlich. Die einzelnen Botenstoffe sollen im grundlegenden Funktionsprinzip aber keine Rolle spielen, weswegen sich die Abbildung auf Dopamin und Glutamat als exzitatorische sowie GABA als inhibitorischer Transmitter beschränkt (vgl. z. B. Robbins & Everitt, 1996; Knutson u.a., 2001). Die mesolimbischen Hirnzentren, die für die Ausschüttung von belohnenden Botenstoffen verantwortlich sind, werden als singuläres „Belohnungszentrum” (B) dargestellt. Obwohl es sich im Gehirn um verschiedene Zentren und neuronale Schaltkreise handeln dürfte, werden diese Schaltungen im hier vorgestellten Modell als ein singuläres „Motivationszentrum” (M) zusammengefasst. Dieses „Motivationszentrum” steuert die psychovegetative Erregung des Indiviuums. 5 / 25 Habituation im Belohnungssystem Abb.1 Motivationale Nervenzellen und Schaltkreise (M) bewirken psychovegetative Erregung, die Appetenzen zu Handlungen führen. Die Ausschüttung von Belohnungsbotenstoffen im mesolimbischen Dopaminsystem (B) stimuliert das Lustzentrum (L), das wiederum über die Ausschüttung des inhibitorischen Transmitters GABA Aufmerksamkeit und Handlung auf das Objekt von Interesse fokussiert. Der abschließende „Erfolg” einer Handlung führt zur höchsten Freisetzung von Dopamin ( Spanagel & Weiss, 1999); die nachfolgende Ausschüttung von GABA und anderen belohnenden Botenstoffen (z. B. Endorphinen) inhibiert die Motivationszentren und führt auf diese Weise zu „Befriedigung”. Die Habituations-Hypothese Wie aber können diese weitgehend autonom ablaufenden Prozesse in den Motivationsschaltkreisen eine Erklärung für die Entstehung von psychischen und psychosomatischen Krankheiten liefern? Eine Antwort liefert die Integration eines altbekannten Phänomens vermutlich jeder Signalübertragung im Körper in den oben dargestellten Regelkreis: die Habituation. Jeder dauerhaft vorhandene Reiz verliert mit der Zeit an Wirkung. So wie ein dauerhaft hoher Insulinspiegel letztlich zum Wirkverlust von Insulin und damit zur Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus Typ II) führt, erfährt auch die dauerhafte Stimulation von neuronalen Übertragungswegen eine Wirkabschwächung. Ein anhaltender Ton wird nach kurzer Zeit 6 / 25 Habituation im Belohnungssystem nicht mehr wahrgenommen, genau wie die Eigenfarbe einer Sonnenbrille für den Träger nach kurzer Zeit subjektiv verschwindet. Ein permanentes Signal wird aufgrund von Habituation nicht deutlich wahrgenommen. Vermutlich erfolgt deswegen die Freisetzung der meisten Botenstoffe nicht kontinuierlich, sondern undulierend. Habituation ist auch für das mesolimbische Motivationssystem nachgewiesen: Es reagiert stark auf überraschende positive Reize, nicht aber auf kontinuierliche oder erwartete. Futterbelohnungen stimulieren bei Ratten die Dopaminausschüttung am Nucleus accumbens nur unter Hungerbedingungen, nicht aber bei freiem Zugang zu Nahrung (Wilson, Nomikos, Collu & Fibiger, 1995; Bassareo & Di Chiara, 1997). Habituation kann im neurophysiologischen Sinn auf mehrere Weisen stattfinden: Die Vorräte von Transmittern können sich erschöpfen. Die Zahl und die Empfindlichkeit von Rezeptoren kann variiert werden. Auch die Inaktivierung oder Wiederaufnahme von Botenstoffen aus dem synaptischen Spalt kann angepasst werden, genau wie sich die Bewertung einzelner Signale verändern kann. Durch diese und noch weitere Mechanismen bewirkt Habituation einen permanenten „Weißabgleich”, eine Justierung aller Signalübertragungswege im Körper. Dieser Vorgang wird auch in der Messtechnik verwendet: Gemessen wird oft nicht die absolute Stärke eines Signals, sondern seine Veränderung. Diese lässt sich rauschärmer verstärken. Die Mechanismen der Habituation erklärt den Wirkverlust von Dopamin, Glutamat und anderen stimulierenden Botenstoffen am Nucleus accumbens. Da Lustgewinn (Stimulation den Nucleus accumbens) und die daraus letztlich resultierende Befriedigung (Effekte von GABA) einen zentralen Bestandteil der Verhaltenssteuerung ausmachen, versucht der übersättigte Homo oeconomicus, den Effekt der Habituation durch verschiedene Strategien zu kompensieren. Diese lassen sich am individuellen Verhalten wie an gesellschaftlichen Phänomenen ablesen: • Lustauslösende Situationen werden immer häufiger aufgesucht (Beschleunigung), • die auslösenden Reize werden überdimensioniert und durch Wirkverstärker attraktiver gemacht, • immer schneller gewechselt bis letztlich • verschiedene Reize werden miteinander kompbiniert und • legale und illegale Drogen verwendet werden, um noch eine Stimulation des Lustzentrums mit nachfolgender Befriedigung zu erreichen. 7 / 25 Habituation im Belohnungssystem Letztlich allerdings überwiegt – trotz der Inkaufnahme von Nebenwirkungen und Erscheinungen der „Überdosierung” - in aller Regel der Effekt der Habituation. Selbst überdimensionierte Auslöser stimulieren kaum mehr den Nucleus accumbens, weshalb sie kaum mehr Lustempfinden ermöglichen. Und trotz fortgesetzter Stimulationsversuche nimmt die GABA-Ausschüttung des Nucleus accumbens ab. Der Effekt der Habituation im Belohnungssystem besteht also einerseits im „Lust-Verlust” durch Wirkabschwächung von Dopamin und Glutamat am Nucleus accumbens, woraus eine vermehrte Bedürftigkeit nach Stimulation resultiert. Denn bei nachlassender Stimulation des Nucleus accumbens werden durch den verringerten Output an GABA die Motivationsschaltkreise disinhibiert. Der aus dem durch Habituation im Belohnungszentrum resultierende psychovegetative Erregungszustand (Wegfall der GABA-Wirkung) mag im natürlichen Umfeld einen Sinn besessen haben: Wenn es Nahrung gab, sicherte er dem Individuum im Konkurrenzdruck einen möglichst hohen Anteil an den saisonal begrenzten Resssourcen. Im zivilisierten Kontext aber hat der durch Habituation hervorgerufene Erregungszustand seinen Zweck verloren: Das Rennen um immer noch größere Auslöser einen größeren Anteil an den verfügbaren Ressourcen führt individuell zur Steigerung des Stressniveaus bis hin zu gesundheitsschädlichem Verhalten wie hyperkalorische Ernährung und Suchtmittelgebrauch. Kollektiv resultiert die allseits beklagte ubiquitäre Beschleunigung. Beispielhaft seien hier für beide Bereiche der statistisch nachgewiesene Anstieg des durchschnittlichen Körpergewichts in Deutschland um fast 400g/Jahr (Zyriax & Windler, 2008) genannt oder die kontinuierlich steigende durchschnittliche Kilowatt-Stärke neu zugelassener Fahrzeuge in Deutschland (Doll, 2011). 8 / 25 Habituation im Belohnungssystem Abbildung 2 illustriert die Zunahme der psychovegetativen Erregung, wenn durch die beständig wirkende Habituation der Effekt von Dopamin, GABA und weiteren beteiligten Botenstoffen abnimmt: Abb. 2 Durch den Vorgang der Habituation verlieren die Belohnungsbotenstoffe ihre Wirkung auf das Lustzentrum. Ursprünglich Lust-assoziiertes Verhalten bewirkt kaum mehr Lust-Empfinden und führt auch kaum mehr zur Ausschüttung von GABA und anderen „befriedigenden” Botenstoffen. Als Konsequenz kommt es zu einer Zunahme von Begehrlichkeiten, die bei habituierten Signalübertragungswegen trotz erhöhter Motivation und immer größeren Auslösern kaum mehr Lust-Empfindung hervorruft. In seinem Hunger nach Befriedigung entwickelt der psychovegetative Erregungszustand eine Eigendynamik. Die Belohnungsmechanismen in unserem Kopf adaptieren sich schnell an jede Überflutung mit überdimensionalen Auslösern. Doch der Effekt aller eingesetzten Mittel wird durch Habituationsvorgänge im Körper mit der Zeit aufgebraucht. Die Folge ist eine maximale Entfesselung der Motivationszentren, welche die innere Erregung und die vielfältigen Begehrlichkeiten vieler Menschen innerhalb der „reichen” Industrienationen erklärt (Abb. 3) und damit möglicher Weise auch eine gesteigerte Vulnerabilität für die in Europa häufigsten psychischen Störungen (s. Tab. 1). 9 / 25 Habituation im Belohnungssystem Abb. 3 Jeder Versuch einer dauerhaften Stimulation des Nucleus accumbens führt zu dessen verringerter Erregbarkeit. Handlungsbeschleunigung, Handlungskombinationen, Wirkverstärker, Drogen und Medikamente steigern die Bedürftigkeit, weil sich der Mechnanismus der Habituation nicht außer Kraft setzen lässt. Suchtmittel stimulieren typischerweise direkt das Lustzentrum (z. B. Kokain, Amphetamine) oder wirken direkt auf die „Endstrecke des Glücks”, die GABA-Rezeptoren (Benzodiazepine, Barbiturate, Z-Medikamente). Viele Drogen wirken an mehreren Stellen gleichzeitig (z. B. Alkohol, Opioide) (Koob, Sanna & Bloom, 1998) . 10 / 25 Habituation im Belohnungssystem Die häufigsten psychischen Krankheitsbilder in Europa 38 % der Europäer sind psychisch krank, stellte eine 2011 veröffentlichte Studie der Universität Dresden fest (Wittchen u. a., 2011). Die ersten Plätze dieser Statistik werden von folgenden Krankheiten belegt: • Angsterkrankungen • Schlafstörungen • Depressionen • Demenz • ADHS • somatoforme Störungen • Alkoholabhängigkeit Tab. 1: Die aufgelisteten Krankheitsbilder stehen (ohne Demenz) zusammen für mehr als 70% der psychischen Erkrankungen in Europa. Permanente Stimulation am Nucleus accumbens führt durch Habituation zu „Lust-Verlust” (Anhedonie) sowie nachfolgend zum Wegfall der beruhigenden, anxiolytischen und muskelrelaxierenden Wirkung von GABA. Hinzu zu rechnen wären die schädlichen Folgen der Kompensationsversuche (z. B. übermäßige Kalorienzufuhr, Risko-Sportarten, Suchtverhalten uvm.) und die hieraus resultierenden Folgekrankheiten. Selbstverständlich dürften auch die hier nicht genannten Botenstoffe ihren Teil zur aufgezeigten Dynamik beitragen. Die häufigsten psychischen Störungen im Einzelnen: Angsterkrankungen Selbstverständlich gibt es plausible psychodynamische Gründe für die Entstehung von Ängsten. Diese erklären allerdings nicht die Zunahme von Angststörungen innerhalb der Industriegesellschaften, zumal sich die unmittelbaren tatsächlichen Bedrohungen, gemessen an den gesundheitlichen und sozialen Sicherungssystemen sowie der durchschnittlichen Lebenserwartung innerhalb der letzten Jahrzehnte objektiv verringert haben dürfte. Es fehlt an dieser Stelle der Raum, diese Thematik auch nur im Ansatz zu umreißen. Die in diesem Artikel vorgestellte Hypothese legt allerdings nahe, dass Habituationsvorgänge im Belohnungssystem über einen relativen GABA-Mangel in Überflussgesellschaften für eine vermehrte Angstbereitschaft verantwortlich sein könnten. Der in Industrienationen weit verbreitete Missbrauch von Angst lösenden Medikamenten (wie z. B. Benzodiazepine), die an die zerebralen GABA-Rezeptoren binden, kann als Indiz dafür gesehen werden, diesen Mangel – wenn auch dysfunktional - auszugleichen. 11 / 25 Habituation im Belohnungssystem Schlafstörungen Es sind ebenfalls GABA-erge Medikamente, die gegen die zweithäufigste psychische Störung eingesetzt werden. Auch hier liegt es nahe, dass mit diesen Arzneimitteln ein durch Überreizung der zentralen Belohnungsmechanismen entstandenes GABA-Defizit auszugleichen. Selbstverständlich gibt es auch psychodynamische Gründe, die Schlafstörungen hervorrufen können; neben Ängsten kommen hier Stress, Ärger, Überlastung und andere Faktoren in Betracht. Auch wenn an dieser Stelle der Raum fehlt für eine ausführliche Erörterung, werden möglicher Weise zu Grunde liegende psychodynamische Aspekte im nächsten Abschnitt deutlich. Depressionen Vermutlich sind – wie wahrscheinlich die meisten Nervenzellen im Körper – auch die motivationalen Neurone von Feedback-Mechanismen abhängig. Für GABA ist ein hemmender Einfluss zumindest auf das Apoptose-Verhalten von Nervenzellen nachgewiesen (Haijun, Chanjuan, Wenhua, Qiuyao, Rondard, Pin & Liu, 2010). Nicht benutzte neuronale Verbindungen degenerieren („Use it or lose it”). Diese individuelle Selektion von neuronalen Verbindung sichert einen ökonomischen Umgang mit begrenzten Ressourcen und ist Grundlage der neuronalen Plastizität (Linderkamp, Janus, Lider & Skoruppa, 2009). Analog zum Verhalten embryonaler und deafferenzierter Neuronen ist vorstellbar, dass es bei dauerhaft ausbleibendem Handlungserfolg (Feedback) nach einer Phase der maximalen Exzitation (psychovegetativer Erregungszustand) zum „Ausbrennen” der motivationalen Neurone kommt, was sich klinisch als psychovegetative Erschöpfung äußert: Der Zyklus von Initiative, Handlung, Lusterleben und Befriedigung kommt sukzessive zum Erliegen. Letztlich erlischt nach dem Lustempfinden und dem Ausbleiben jedweder Befriedigung auch jede Motivation. Dies könnte die bei schwerst Depressiven zu beobachtende äußerliche Apathie erklären, die innerlich mit dem oft beschriebenen „Gefühl der Gefühllosigkeit” einhergeht: Lust oder Befriedigung („Sinn”) kann ebenso wenig noch empfunden werden wie irgendeine Motivation. Der mit der vollkommenen Erschöpfung mutmaßlich einhergehende Verlust an Synapsen sowie ein damit verbundener Zellverlust im Bereich der motivationalen Neurone könnte – neben einem für Depressionen postulierten „Lerneffekt” (Lewinsohn, 1986) - die mit jeder depressiven Episode wachsende Rezidivgefahr erklären. Nach der ersten Episode einer schweren monopolaren Depression liegt die Rückfallgefahr bei 25%, nach dem zweiten Rezidiv bereits bei 90% (Kempermann, Henke, Sasse & Bauer, 2008). Dem „depressiven Kindling” (Purse, 2012) (der steigenden „Entflammbarkeit” für Depressionen) könnte also neben einer 12 / 25 Habituation im Belohnungssystem „Sensibilisierung für Depressionen” oder einer „Bahnung negativer Reizverarbeitung” auch eine substanzieller Verlust an motivationalen Neuronen zugrunde liegen, wodurch im Verlauf mehrerer depressiver Episoden die Fähigkeit abnimmt, fehlende Stimulation des Nucleus accumbens durch gesteigerte Initiative zu kompensieren (s. Abb.4). Abb. 4: Die Depression entspricht dem Zustand einer völligen Erschöpfung der Motivationsschaltkreise, die möglicher Weise mit einem substanziellen Verlust an Nervenzellen einhergeht, der die mit jedem Rückfall steigende Rezidivgefahr erklären könnte („depressives Kinking”) Erstaunlicher Weise lassen sich frühere Hypothesen zur Entstehung von Depressionen gut in das neurophysiologisch begründete Modell der Habituations-Hypothese mit ihren wichtigsten Transmittern Dopamin, Glutamat und GABA einbinden. Vorausgeschickt sei, dass offenbar Nervenbahnen existieren, die den Regelkreis von Motivation, Lust und Befriedigung auf jeder Stufe unterbrechen können. Die Lust, die der Verzehr einer Mahlzeit bereitet, kann beispielsweise völlig ausgelöscht werden, wenn wir Unappetitliches über ihre Zubereitung erfahren; entsprechend kann die wohlige Befriedigung nach dem Essen noch umschlagen in Übelkeit. Eine ähnliche Inhibition kann eine (negative) Erwartungshaltung vermitteln. Welche Nervenbahnen und welche Transmitter im einzelnen beteiligt sind, ist unbekannt. Für das Vorhandensein derartiger Bahnen spricht aber beispielsweise auch die Tatsache, dass sich Abhängigkeiten durch die Verabreichung von hochpotenten Drogen nicht gegen den Willen 13 / 25 Habituation im Belohnungssystem der Probanden erzeugen lassen. Die Wirkung von belohnenden Botenstoffen kann also durch verschiedene Einflüsse inhibiert werden. Nach psychoanalytischer Auffassung resultiert die Depression (ebenso wie die Angst!) aus der Unterdrückung der Libido (Koch, 2002). Im Dopamin-GABA-abhängigen Regelkreis unterbleibt bei Unterdrückung essentieller Triebe die Dopaminfreisetzung am Nucleus accumbens, woraus ein Mangel an GABA und anderen Befriedigung vermittelnden Botenstoffen resultiert. Dieser Mangel kann durch das übermäßige Ausleben anderer Triebe teilweise kompensiert werden (Abb. 5). Abb. 5: Depressionsentstehung nach psychoanalytischer Sichtweise Nach Zwischenstadien psychovegetativer Erregung ist auch hier eine Erschöpfung jeglicher Motivation denkbar, inbesondere, wenn die Möglichkeiten zur Sublimierung bzw. Ersatzbefriedigung nicht ausreichend vorhanden sind oder entfallen. Spätestens in diesem Fall eintwickelt sich eine Depression (Abb. 4). 14 / 25 Habituation im Belohnungssystem Die Gratifikationskrise nach Siegrist (Siegrist, 2005) als Ursache kann als Wirkverhinderung auf der efferenten Seite der Belohnungszentren verstanden werden: Ursprünglich motiviert ausgeführte Handlung führt nicht zur erwarteten Vergeltung (Abb. 6). Abb. 6: Gratifikationskrise nach Siegrist Nach einer Phase vermehrten Bemühens mündet das Ausbleiben jeder Gratifikation in vollständiger psychovegetativer Erschöpfung und Depression (s. Abb. 4). Das Modell der erlernten Hilflosigkeit nach Seligman (Hautzinger & de Jong-Meyer, 2003) dürfte sich auf beide Schenkel des Belohnungszyklus auswirken: Ähnlich wie das „Lustverbot” bei der neurotischen Depressionsentstehung verhindert das antizipierte Versagen die Ausschüttung von Belohnungshormonen. Ebenso wird der Betroffene trotz eines Erfolges die Wirkung von Belohnungshormonen durch Selbstzweifel nicht zulassen. Auch hier dürfte die Entwicklung nach einer Phase vermehrter psychovegetativer Erregung (GABA-Mangel) in Erschöpfung und Depression münden (Abb. 4). 15 / 25 Habituation im Belohnungssystem Unipolare vs. bipolare Störung Wenn sich die Entstehung von Depressionen durch Habituation am Nucleus accumbens (und somit als Folge der Überflussgesellschaft) erklären lässt, sollte dieses gesellschaftliche Phänomen in Kulturen ohne Reizüberflutung deutlich seltener oder überhaupt nicht aufzufinden sein. Untersuchungen an den Amish-People (einer religiösen Vereinigung in den USA, die bis heute weitgehend auf technische Erungenschaften und auf Alkohol und andere Drogen verzichtet) scheinen diese Vermutung zu bestätigen. Mehrere an den Amish durchgeführten Studien zeigen, dass die monopolare und bipolare Störungen bei ihnen ungefähr gleich häufig auftreten. In industrialisierten Gesellschaften liegt das Verhältnis von unipolaren zu bipolaren Störungen hingegen bei ungefähr 10 : 1. Diese Diskrepanz legt den Verdacht nahe, dass es sich bei unipolarer Depression und bipolarer Störung um zwei grundlegend unterschiedliche Krankheitsbilder handelt: Während die unipolare Depression durch Habituation im Belohnungssystem entsteht, kommt für die bipolare Störung ein anderer Pathomechanismus in Betracht: Patienten mit bipolarer Störung leiden wechselhaft unter dperessiven und manischen Phasen. Depressive wie manische Episoden können jeweils über Wochen anhalten aber auch minutenschnell wechseln. Für die Wiederaufnahme von belohnenden Botenstoffen aus dem synaptischen Spalt im Gehirn sind sternförmige Zellen im Gehirn zuständig. Diese sog. „Astrozyten” fanden bislang wenig Beachtung für die Entstehung psychischer Erkrankungen. Mit ihrer Fähigkeit, belohnende Botenstoffe im synaptischen Spalt zu belassen oder sie im gegenteiligen Fall schnell von dort zu entfernen, können sie eine wichtige Rolle spielen bei der Entstehung von seelischen Krankheiten. Eine hohe Aktivität der Astrozyten mit einer schnellen Wiederaufnahme von belohnenden Transmittern am Nucleus accumbens würde demnach die Entstehung Anhedonie, psychovegetativen Erregungszuständen bis hin zur Depression erklären, während die Verringerung ihrer Aktivität mit geringer Entfernung von belohnenden Botenstoffen aus dem synaptischen Spalt einen Zustand bewirk, der dem eines Kokain-Rausches ähnelt. Kokain hemmt die Aufnahme von Dopamin aus dem synaptischen Spalt und führt zu Symptomen, die der Manie sehr ähneln. Die bipolare Störung wäre demnach - im Gegensatz zur unipolaren Depression, die sich durch Habituationsvorgänge an Nervenzellen erklären ließe - als eine Erkrankung der Astrozyten zu verstehen. 16 / 25 Habituation im Belohnungssystem Die auch bei den Amish zu beobachtende geringe Zahl an unipolaren Depressionen könnte sich – da Habituation aus Reizüberflutung als Auslöser unwahrscheinlich erscheint - aus einer „einseitigen” Funktionsstörung der Astrozyten erklären, die mit deren Hyperaktivität einhergeht. Das Gegenstück zu dieser Erkrankung wäre die (seltene) unipolare Manie mit einer verringerten astrozytären Aktivität. Weitere Krankheitsbilder mit möglichem Zusammenhang zum Dopamin-GABARegelkreis Selbstverständlich sind die nachfolgend dargestellten Krankheitsbilder hoch komplex und sicher nicht alleine durch Verschiebungen im Regelkreis um den Nucleus accumbens zu erklären. Dennoch erscheinen einige Zusammenhänge frappant und könnten zu weiteren Überlegungen Anstoß geben. Sucht Das Phänomen Sucht besitzt viele biopsychosoziale Dimensionen. Die Entstehung und Unterhaltung einer Sucht lässt sich heute als Manipulation im Bereich der in diesem Artikel dargestellten Motivationsschaltkreise auffassen: Eine Überstimulation im Bereich der Wirkorte von Dopamin und GABA verschafft dem Konsumenten das Gefühl großer Lust und tiefer Befriedigung. Sicherlich sind weitere Transmitter und Wirkorte an der Pathophysiologie von Süchten beteiligt. Generell aber dürfte gelten: Habituationsmechanismen führen bei daherhaftem Konsum jeglicher Drogen zu Wirkverlust. Der stets nachlassende Effekt einer Droge verführt im Verlauf zur immer häufigeren Verwendung des Suchtmittels sowie zur Dosissteigerung. Letztlich wird das Verlangen nach Lust und Befriedigung so übermächtig, dass der Abhängige jede Droge und jedes Risiko in Kauf nimmt, um durch einen „Kick” endlich wieder eine Stimulation seines Lustzentrums und vor allem eine Beruhigung seiner Motivationszentren zu erfahren. Sehr viele Drogenabhängige landen auf diese Weise in einer Polytoxikomanie. Nur: Der anfängliche „Kick” ist durch eine Habituation der entsprechenden zerebralen Signalübertragungswege schon nach wenigen Anwendungen auch durch Dosissteigerung und Kombination von Wirkstoffen nie wieder zu erreichen. Das Leben von Süchtigen erschöpft sich daher früh in der gefährlichen Suche nach jenem nicht wieder auffindbaren ersten „High”. 17 / 25 Habituation im Belohnungssystem Auch substanz-ungebundene Süchte lassen sich im vorgestellten Modell einordnen. Anfängliche LustErlebnisse führen über die sich aus dem Modell zu erklärende Selbstverstärkung zur Vernachlässigung notwendiger Erholungspausen. Über Habituationsvorgänge können tatsächliche Erfolge mit der Zeit nicht mehr als befriedigend emfpunden werden. Kompensatorisch werden die ursprünglich Lust-vermittelnde Tätigkeit verstärkt und andere Aktivitäten zurückgestellt; notwendige Pausen (Phasen der „Abstinenz”) werden zunehmend außer Acht gelassen. In der Eigendynamik dieser Spirale nimmt das tatsächliche Lust- oder ErfolgsErleben aber immer weiter ab. Die Konsequenz: Das einseitige Überaktivität kann in einen umfassenden psychovegetativen und sozialen Zusammenbruch gipfeln. Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) Eine interessante Konsequenz ergeben sich aus dem Habituations-Modell auch für das ADHS: Die kindliche Reizüberflutung mit tausenderlei Genüssen und Ablenkungen führt ebenfalls zu einem Wirkverlust von Dopamin und anderen Botenstoffen am Lustzentrum; eine Disinhibition der Motivationszentren durch GABA-Mangel ist die Folge. Nach dieser Betrachtung wäre das ADHS kein eigenständiges Krankheitsbild, sondern die kindliche Form einer Depression, genauer gesagt die kindliche Form der agitierten Depression des Erwachsenen: Aufmerksamkeitsmangel und Hyperaktivität ergeben sich aus Anhedonie (Wirkverlust von belohnenden Botenstoffen am Nucleus accumbens) und fruchtloser Suche nach etwas, das das Interesse fokussieren und stillen könnte (GABA) erklären würden. Die Wirkung von Ritalin dürfte auf einer Erhöhung der Dopamin-Konzentration mit nachfolgender vermehrter GABA-Freisetzung an den Motivationszentren beruhen, was sich letztlich positiv auf die Konzentrationsfähigkeit der behandelten Kinder auswirkt. Allerdings gibt es Hinweise, dass sich diese positive Wirkung im Laufe der Zeit durch Habituation (mittels erhöhter Dopamin-Transporter-Aktivität) abschwächt (Wang et. al., 2013). Auch für die Gedächtnisstörungen bei Depressionen und ADHS könnte die GABA-Hypothese eine Erklärung liefern: Der Hippocampus gilt als Tor zum Gedächtnis. Das Erinnern von Lust-assoziierten Erlebnissen (z. B. den Ort einer ergiebigen Nahrungsquelle) war evolutionär für das Überleben wichtig. Daher finden Lustassoziierte Begebenheiten leichter Eingang ins Langzeitgedächtnis. Über intrakranielle EEG-Ableitungen sind Interaktionen zwischen Nuclus accumbens und Hippocampus auch nachgewiesen (Axmacher, Cohen, Fell, Haupt, Dümpelmann, Leger, Schaepfer, Lenartz, Sturm & Ranganath, 2010). Findet auf dem Boden eines Wirkverlusts von Dopamin keine Stimulation des Lustzentrums mehr statt, finden die nunmehr „lustlosen” Zusammenhänge auch keinen Eingang mehr ins Gedächtnis. Vielleicht findet die bei Depressiven nachweisbare Hippocampus-Atrophie – neben der bislang als Ursache angenommen stressinduzierten Erhöhung des KortisolSpiegels - durch den Ausfall der Interaktion mit dem Nucleus accumbens eine Erklärung. 18 / 25 Habituation im Belohnungssystem Somatoforme Störungen In Bezug auf somatoforme Störungen kann spekuliert werden, ob sich ein zentraler Mangel an GABA peripher auswirken kann. Vielleicht bewirkt ein zentraler GABA-Abfall über noch unklare Mechanismen auch zu einer Verringerung dieses Transmitters spinal. Denkbar ist auch die Beeinflussung von Muskeltonus, Organfunktionen und sogar des Immunsystems über den psychovegetativen Erregungszustand durch Efferenzen des Nucleus accumbens zur formatio reticularis und zum Hypothalamus. Der relaxierende Einfluss von GABA-Rezeptor-Stimulantien auf den Muskeltonus ist bekannt und wird zur Therapie von schmerzhaften Muskelverspannungen im Rückenbereich durch den Einsatz von z. B. Benzodiazepinen erfolgreich genutzt. Dass sich „Stress” über die HPA-Achse vom Gehirn auf die Peripherie überträgt, ist gut belegt (Schoneveld & Cidlowski, 2007). Auf welche Weise „Stress” die Freisetzung von Corticotropin-Releasing-Hormon (CRF) verursacht und damit die HPA-Kaskade anstößt, ist unbekannt. Der Nucleus accumbens besitzt Efferenzen zum Hypothalamus (Stratford & Kelley, 1999). Eine denkbare, wenn auch spekulative Konsequenz der HabituationsHypothese wäre, dass sich aus dem stressbedingten Wirkverlust von Dopamin und anderen Transmittern am Nucleus accumbens an den hypothalamischen Schaltstellen eine Verminderung von GABA ergäbe. Auf diese Weise könnte die Disinhibition der CRFSekretion die HPA-Achse aktivieren. Der Einfluss GABAerger Substanzen auf das Immunsystem ist experimentell belegt (Tyurenkov & Samotrueva, 2012). Demnach erscheinen entsprechende Substanzen ihre immunmodulatorische Wirkung sowohl zentral als auch über eine direkte Wirkung auf Immunzellen auszuüben. Die Zusammenhänge erscheinen jedoch hoch komplex und sind noch keineswegs vollständig verstanden. 19 / 25 Habituation im Belohnungssystem Diskussion Dass ein Mangel an Katecholaminen oder Serotonin die alleinige Ursache für Depressionen sein könnte, wurde bereits von den „Vätern” der Monoamin-Hypothese, Schildkraut (1965) und Coppen (1967), bezweifelt. Die Markteinführung des Serotonin-WiederaufnahmeFörderers Tianeptin ist neben den statistischen Befunden von Kirsch et al. (2008) ein weiteres Indiz für die zweifelhafte Wirksamkeit von Serotonin/Noradrenalin-WiederaufnahmeInhibitoren bei Depressionen. Tianeptin erhöht die extrazelluläre Dopaminkonzentration im Nucleus accumbens (Invernizzi, Pozzi, Garattini & Samanin, 1992), was aus theoretischen Überlegungen heraus konsekutiv zu einer vermehrten Freisetzung von GABA und anderen Belohnungsbotenstoffen führen könnte. Die Wirkverstärkung von Dopamin und GABA durch Tianeptin könnte die Effekte der Substanz gegen Symptome der Depression erklären. Die nach dem Absetzen von Tianeptin auftretende Schlaflosigkeit (Guelfi, 1992) fände eine Erklärung im über einen Rebound-Effekt verursachten relativen GABA-Mangel. Sollte der Eingriff im Bereich des Nucleus accumbens sich als Hauptwirkort von Tianeptin erweisen, steht zu befürchten, dass die Substanz Suchtpotential besitzt. Entsprechende Kasuistiken werden bereits berichtet. Ein einheitliches Erklärungsmodell für psychische Erkrankungen zu finden, die bislang als völlig getrennte Krankheitsentitäten betrachtet und sogar von verschiedenen Fakultäten behandelt wurden (Kinder- und Jugendpsychiatrie, Erwachenenpsychiatrie sowie Psychotherapeuten mit jeweils nochmals unterschiedlichen Ansätzen sowie Allgemeinärzten), mag als geradezu illusorisches Unterfangen erscheinen. Doch weisen auch aktuelle genetische Analysen auf gemeinsame Risikofaktoren für fünf verschiedene psychische Erkrankungen (Autismus, ADHS, bipolare Störungen, Depressionen und Schizophrenie (vgl. The Lancet, 2013)) . Vulnerabilität alleine bewirkt allerdings noch keine tatsächliche Erkrankung; hierzu bedarf es zusätzlicher Trigger. Möglicher Weise besteht ein wesentlicher Trigger für eine große Zahl psychischer Erkrankungen im Mechanismus der Habituation innerhalb der Motivationsschaltkreise. Als wesentliches Argument gegen Habituation innerhalb der Motivationsschaltkreise als begünstigendes Moment für psychische Erkrankungen ließe sich anführen, dass entsprechende Störungen schon in früheren, reizärmeren Zeiten bekannt waren. Der 20 / 25 Habituation im Belohnungssystem Psychiater Heinrich Hoffmann beschrieb 1845 mit seinem „Zappelphilipp” bereits das heute unter ADHS bekannte Syndrom. Auch Depressionen und Süchte sind aus früheren Jahrhunderten bekannt. Doch widerlegen diese Tatsachen die mögliche Bedeutung von Habituationsvorgängen in den Belohnungszentren für die Entstehung seelischer Störungen keineswegs. Die menschlichen Motvationsschaltkreise sind vermutlich auf viel ältere, reizund ressourcenarme Umweltbedingungen abgestimmt. Offenbar „hat die Zivilisation die Evolution” schon vor Tausenden von Jahren „überholt” (Spanagel, 2013) - sonst würden nicht bereits die Bibel und andere, z. T. Jahrhunderte alte religiöse und philosophische Schriften Mäßigung und Fastenzeiten anmahnen. Berichte über die verringerte Zahl von Dperessionen und ADHS in Kulturen ohne Reizüfberflutung wie den Amish-people in Pennsylvania, USA oder dem Volk der Kaluki in Papua-Neuguinea stützen den These, dass Reizüberflutung über Habituation im zerebralen Belohnungssystem eine zentrale Rolle spielt bei der Entstehung von psychischen und psychosomatischen Krankheiten. Fazit Sollte sich der Mechanismus der Habituation im Bereich der Motivationsschaltkreise tatsächlich als mitverantwortlich für die Entstehung eines Großteils der seelischen Erkrankungen erweisen, dürfte hieraus auch eine neue Beurteilung der therapeutischen Optionen entstehen: In diesem Fall würden sich Möglichkeiten pharmazeutischer Eingriffe zur Behandlung von Depressionen und verwandten seelischen Störungen relativieren. Der ubiquitäre Mechanismus der Habituation würde jeden pharmakologischen Einfluss auf die betroffenen Strukturen limitieren. Sollten sich hingegen Störungen der Habituation selbst als Krankheitsursache erweisen, ergäben sich hieraus interessante Ansätze für die gezielte Entwicklung neuartiger Pharmaka. Die primäre Störung der (lebensnotwendigen) Habituationsvorgänge selbst dürfte allerdings nur einen kleinen Teil häufigsten psychischen Krankheitsbilder bewirken. Für die große Zahl der Erkrankungen dürfte die zivilisationsbedingte Aufhebung der natürlichen Ressourcenbegrenzung sein, an die das Belohnungssystem vieler Menschen sich nicht ausreichend adaptieren kann. Unterschiedliche Kapazitäten zur Habituation erklären vermutlich eher die individuell differierende Vulnerabilität für Angstzustände, Schlafstörungen, Depressionen, ADHS, somatoforme Störungen und Süchte und weitere psychische Störungen, als dass sie eigenen Krankheitswert besäßen. 21 / 25 Habituation im Belohnungssystem Es bleibt nicht ohne Ironie, dass ausgerechnet die (Neuro-) Wissenschaften zu einer Erkenntnis leiten, die Religionen und Philosophien seit vielen Jahrhunderten predigen. Denn als Konsequenz aus den geschilderten Mechanismen bliebe als Behandlungsoption für die betroffenen Krankheitsentitäten in erster Linie nur die Vermittlung eines schonenderen Umgangs mit den eigenen Ressourcen. Offenbar kann sich jedes „Mehr” in der materiellen Welt durch die vorgegeben neurophysiologischen Mechanismen sehr schnell in ein „Weniger” an empfundener Lebensqualität, in Beschwerden mit z. T. erheblichem Krankheitswert und letztlich sogar in tatsächliche organische Krankheiten verwandeln. Die Umkehrung dieser Erkenntnis gälte natürlich ebenfalls: Ein „Weniger” an verzweifelten Stimulationsversuchen an den Lust-Botenstoff-Rezeptoren würde zu einem besonneneren Umgang mit individuellen wie globalen Ressourcen führen – und das bei steigender Lebensqualität und den Wegfall weiterer „Zivilisationskrankheiten” gleichzeitig steigender Lebenserwartung. In Anbetracht unserer beschleunigten Welt erscheint diese Alternative als ausgesprochen attraktive Empfehlung. 22 / 25 Habituation im Belohnungssystem Literaturverzeichnis Alexander, G. E., Crutcher, M. D. (1990).Functional architecture of basal ganglia circuits: neural substrates of parallel processing. TINS, 13, 266-271. 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