9. Mengen der Mächtigkeit der reellen Zahlen Mehrdimensionale Kontinua Für die natürlichen Zahlen haben wir gezeigt, dass |N × N| = |N| gilt. Wir zeigen jetzt das analoge und in diesem Fall kontraintuitive Resultat für R. Cantor ( Brief an Dedekind vom 5. 1. 1874): „Hochgeehrter Herr Professor ! … Was die Fragen anbetrifft, mit denen ich in der letzten Zeit mich beschäftigt habe, so fällt mir ein, dass in diesem Gedankengange auch die folgende sich darbietet: Läßt sich eine Fläche (etwa ein Quadrat mit Einschluß der Begrenzung) eindeutig auf eine Linie (etwa eine gerade Strecke mit Einschluß der Endpunkte) eindeutig beziehen, so dass zu jedem Punkte der Fläche ein Punkt der Linie und umgekehrt zu jedem Punkte der Linie ein Punkt der Fläche gehört ? Mir will es im Augenblick noch scheinen, dass die Beantwortung dieser Fragen, − obgleich man auch hier zum Nein sich so gedrängt sieht, dass man den Beweis dazu fast für überflüssig halten möchte, − große Schwierigkeiten hat. − … “ Mehr als drei Jahre hat es gedauert, bis Cantor die überraschende Antwort auf das Problem fand. Brieflich teilt Cantor Dedekind am 20. 6. 1877 einen leicht fehlerhaften Beweis von |I n | = |I| mit, wobei I = { x P R | 0 ≤ x ≤ 1 } das abgeschlossene reelle Einheitsintervall ist und n ≥ 1 beliebig; sein Argument zeigt lediglich |In | ≤ |I|, was aber, wie Cantor betont, den Kern der Sache betrifft. In „Ein Beitrag zur Mannigfaltigkeitslehre“ (1878) konstruiert Cantor dann eine Bijektion von I n nach I unter Verwendung von Kettenbrüchen. Heute ist der Beweis mit Hilfe des Satzes von Cantor-Bernstein oder einem Trick von Julius König ( s. u.) einfach zu führen. Satz (Satz von Cantor über die Mächtigkeit von R × R) Es gilt |R × R| = |R|. Beweis Es gilt |R| ≤ |R × R|. Betrachte hierzu i : R → R × R mit i(x) = (x, 0) für alle x P R. Dann ist i injektiv. Es bleibt zu zeigen, dass |R × R| ≤ |R|. Sei hierzu g : Z × Z → Z bijektiv mit g(0, 0) = 0. © Oliver Deiser Einführung in die Mengenlehre 144 1. Abschnitt Einführung Sei (x, y) P R × R. Wir schreiben x und y in kanonischer Dezimaldarstellung: x = c, a0 a1 a2 … , y = d, b0 b1 b2 … . mit c, d P Z. Wir definieren nun f : R × R → R durch „Mischung“ der Nachkommastellen im Reißverschlussverfahren: f(x, y) = g(c, d), a0 b0 a1 b1 a2 b2 … Dann ist f(x, y) in kanonischer Darstellung, und damit ist offenbar f injektiv. (f(0, 0) = 0,000 … ist in kanonischer Darstellung wegen g(0, 0) = 0.) Übung Die Abbildung f im obigen Beweis ist nicht surjektiv. Genauer gilt: R − rng(f ) ist überabzählbar. Da jedes Intervall ]a, b[ , a,bP R, a < b, die Mächtigkeit von R hat, folgt: Jedes reelle Intervall lässt sich bijektiv auf die ganze Ebene R2 abbilden. Das Ergebnis |R × R| = |R| hat zur Zeit seiner Entdeckung große Irritationen hervorgerufen, auch bei Cantor selbst, der in einem Brief an Dedekind das Französische zu Hilfe ruft: „ je le vois, mais je ne crois pas“ [ „ich sehe es, aber ich glaube es nicht“ ]. Die Gleichung |R2 | = |R| erlaubt uns, Teilmengen der Ebene als Teilmengen der Geraden anzusehen − wir wählen ein bijektives f : R2 → R und setzen B = f ″A für A ⊆ R2 . Allerdings werden bei diesem Übergang von A zu B wesentliche Strukturen von B zerstört; die Abbildung f ist unstetig, sie schüttelt gewissermaßen den R2 völlig durcheinander, um ihn danach zu linearisieren, und bei diesem Durcheinanderschütteln geht die Dimension 2 der Ebene R2 verloren. In der Tat gibt es keine stetigen (s.u.) bijektiven Abbildungen zwischen R2 und R, und allgemeiner zwischen verschiedendimensionalen Kontinua. Dieser Satz, den Dedekind unmittelbar nach der brieflichen Mitteilung von |In | = |I| durch Cantor vermutet hatte, wurde erst 1911 durch Luitzen Brouwer (1881 − 1966) vollständig bewiesen. Wir diskutieren am Ende des Kapitels noch eine stetige Surjektion von R nach R2 , die allerdings nicht injektiv ist − und nicht sein kann. Dass es etwa keine stetige Bijektion f : I 2 → I mit I = [ 0, 1 ] ⊆ R geben kann, lässt sich noch relativ einfach zeigen. Für Leser, die einige Begriffe der Topologie kennen, sei hier der Beweis skizziert: Stetige Funktionen erhalten den Zusammenhang, und I2 ist nach Entfernung eines Punktes x mit 0 < f(x) < 1 zusammenhängend, während I nach Entfernung von f(x) zwei Komponenten hat. Also kann ein stetiges bijektives f : I 2 → I nicht existieren. (Der Beweis zeigt stärker, dass jedes stetige f : I 2 → I jeden Wert x P rng(f ) überabzählbar oft annimmt mit Ausnahme von allenfalls zwei Werten. Es folgt, dass es dann auch kein stetiges bijektives g : I → I 2 gibt, denn eine derartige Funktion g hätte automatisch eine stetige bijektive Umkehrabbildung g−1 : I 2 → I. (Umkehrungen von stetigen Bijektionen brauchen nicht stetig zu sein. Sei etwa g : [ 0, 2π [ → K mit g(α) = (cos(α), sin(α) ), oder g irgendeine Aufwicklung eines halboffenen Intervalls zu einer Kreislinie; g−1 ist nicht stetig in g(0). Ist der Definitionsbereich eines stetigen bijektiven g kompakt und der Zielraum Hausdorffsch, so hat g automatisch eine stetige Umkehrabbildung.) Einführung in die Mengenlehre © Oliver Deiser 9. Mengen der Mächtigkeit der reellen Zahlen 145 Übung Für alle natürlichen Zahlen n, m ≥ 1 ist |Rn | = |Rm |. Alternativ zu einem induktiven Beweis kann man die Idee der Verschmelzung zweier reeller Zahlen zu einer durch „Mischen“ oder „Einfädeln“ der Nachkommastellen verallgemeinern zu einer Verschmelzung von n reellen Zahlen zu einer − und sogar zu einer Verschmelzung von abzählbar vielen reellen Zahlen zu einer, wie wir gleich zeigen werden. Bei der Umkehrung dieser Idee − aus einer reellen Zahl zwei zu machen − ist etwas Vorsicht geboten. Aus z = c, c0 c1 c2 … können wir zwar x = a, c0 c2 c4 … und y = b, c1 c3 c5 … , wobei hier (a, b) = g−1 (c) ist, herauslösen. x und y sind aber nicht mehr notwendig in kanonischer Darstellung. Sei etwa g(0, 0) = 0, g(1, 0) = 1, z0 = 1, 0 1 0 1 0 1 … , z1 = 0, 9 1 9 1 9 1 … Dann ist x0 = 1, 0 0 0 … , y0 = 0, 1 1 1 … , x1 = 0, 9 9 9 … , y1 = 0, 1 1 1 … Also x0 = x1 und y0 = y1 . Aber z0 ≠ z1 ! Also ist diese Teilungsfunktion nicht notwendig injektiv. Die folgende Übung zeigt einen Weg, doch direkt eine Bijektion von R nach R2 durch Aufspaltung der Dezimaldarstellung einer reellen Zahl zu erhalten. Es ergibt sich ein Beweis des Satzes, der den Satz von Cantor-Bernstein nicht heranzieht. Die Idee stammt von Julius König, Cantor hat diesen Trick übersehen. Übung (Trick von Julius König) Ein Block einer reellen Zahl x = b, a0 a1 a2 … in kanonischer Darstellung ist eine endliche Folge an , an + 1 , … , an + m aus Nachkommastellen mit der Eigenschaft: an − 1 ≠ 0 (falls n > 0), an = … = an + m − 1 = 0, an + m ≠ 0. Beginnt z. B. die Dezimaldarstellung von x mit 1,100130710001 … , so sind 1, 001, 3, 07, 1, 0001 die ersten Blöcke von x. Konstruieren Sie mit Hilfe von Blöcken eine Bijektion zwischen I und I × I, wobei I = { x P R | 0 < x ≤ 1 }. [ Aufspaltung der Blöcke anstelle der Ziffern. ] Julius König fand den Trick vor 1900. Die erste dem Autor bekannte Referenz ist [ Schoenflies 1900, S. 23 ], wo es heißt: „… und zweitens denke man sich die eventuellen Nullen mit der ersten auf sie folgenden Ziffer [ ungleich 0 ] zu je einer Gruppe verbunden, und dehne das Abbildungsgesetz [ das Mischverfahren ] auf diese Zahlengruppen aus 1) .“ Die Fußnote 1) hierzu ist: „1) Dieser Gedanke rührt von J. König her.“ © Oliver Deiser Einführung in die Mengenlehre 146 1. Abschnitt Einführung Das Multiplikationsproblem Eine gewagte, aber natürliche Frage an dieser Stelle ist nun : Gilt für unendliche Mengen M immer |M × M| = |M| ? Das triviale Argument aus obigem Beweis zeigt: |M| ≤ |M × M|. In der anderen Richtung haben wir Schwierigkeiten. Dennoch ist die Antwort auf die Frage „ ja“, wie wir später zeigen werden, nachdem wir weitere Beispiele für diese Gleichung kennengelernt haben. Folgen reeller Zahlen Zunächst eine häufig gebrauchte Notation. Definition (die Menge A B) Seien A, B Mengen. Wir setzen: A B = { f | f : A → B }. N R ist also die Menge aller Funktionen von N nach R oder anders betrachtet, die Menge aller Folgen x0 , x1 , … , xn , …, n P N, reeller Zahlen. Übung Seien A, B, C Mengen mit |B| = |C|. Dann gilt |A B| = |A C| und |B A| = |C A|. Satz Es gilt |N R| = |R|. Beweis Für x P R sei f x P N R definiert durch: f x (n) = x für alle n P N. Dann ist F : R → N R mit F(x) = f x injektiv. Also gilt |R| ≤ |N R|. Wir zeigen nun |N R| ≤ |R|. Sei I = [ 0, 1 ] = { x P R | 0 ≤ x ≤ 1 }. Wegen |I| = |R| genügt es zu zeigen, dass |N I| ≤ |R|. Wir definieren F : N I → R. Sei hierzu f P N I, also f : N → I. Sei in kanonischen Dezimaldarstellungen: f(0) = 0, a0,0 a0,1 a0,2 … f(1) = 0, a1,0 a1,1 a1,2 … f(2) = 0, a2,0 a2,1 a2,2 … f(3) = 0, a3,0 a3,1 a3,2 … … f(n) = 0, an,0 an,1 an,2 … Einführung in die Mengenlehre © Oliver Deiser 9. Mengen der Mächtigkeit der reellen Zahlen 147 Wir definieren F(f ) = 0, a0,0 a0,1 a1,0 a0,2 a1,1 a2,0 a0,3 a1,2 a2,1 a3,0 a0,4 … , d. h. die Nachkommastellen von F(f ) werden gegeben durch die Cantorsche Diagonalaufzählung π : N2 → N der Nachkommastellen der f(n). Genauer gilt, dass die (n + 1)-te Nachkommastelle von F(f ) definiert ist als ak, , , wobei π−1 (n) = (k, ,). Der Wert F(f ) ist in kanonischer Darstellung für alle f P N I ( ! ). Offenbar ist also F : N I → R injektiv. Selbst ein abzählbar unendlich dimensionales Kontinuum hat also die Größe von R. Auch diesen Sachverhalt hat Cantor herausgestellt (vgl. den Briefauszug am Ende des Kapitels). R und die Potenzmenge der natürlichen Zahlen Wir zeigen |R| =|P(N)|. Die Grundidee ist, dass wir einer Teilmenge A von N ihre Indikatorfunktion indA : N → { 0, 1 } zuordnen. Allgemein definieren wir: Definition (Indikatorfunktion oder charakteristische Funktion) Sei M eine Menge, und sei A ⊆ M. Dann ist die Indikatorfunktion von A in M indA, M : M → { 0, 1 } definiert durch indA, M (x) = { 1, 0, falls xPA, falls x¸A. Es gilt nun: Satz Sei M eine Menge. Dann gilt |P(M)| = |M { 0, 1 }|. Beweis Wir definieren f : P(M) → M { 0, 1 } bijektiv durch f(A) = indA, M für A ⊆ M. Hinsichtlich |P(N)| = |R| fassen wir nun ind A, N für A ⊆ N einfach als reelle Zahl im Einheitsintervall in Binärdarstellung auf. Da endliche Mengen dadurch in eine trivial endende Darstellung einer reellen Zahl übergehen, ist aber etwas Vorsicht geboten. Wir brauchen eine Vorüberlegung. Definition (P *(N) ) Wir setzen P *(N) = { A ⊆ N | A ist unendlich }. © Oliver Deiser Einführung in die Mengenlehre 148 1. Abschnitt Einführung Als Übung kann der Leser versuchen, folgenden Satz zu zeigen: Satz Es gilt |P *(N)| = |P(N)|. Beweis |P *(N)| ≤ |P(N)| ist klar wegen P *(N) ⊆ P(N). Wir zeigen |P(N)| ≤ |P *(N)|. Hierzu definieren wir f : P(N) → P *(N) wie folgt. Sei U = { 2n + 1 | n P N } die Menge aller ungeraden natürlichen Zahlen. Wir setzen für A ⊆ N: f(A) = { 2n | n P A } ∪ U. Dann ist f : P(N) → P *(N) injektiv, also gilt |P(N)| ≤ |P *(N)|. Der Beweis, den der Leser gefunden hat, ist vielleicht: P(N) ist überabzählbar (durch Diagonalisierung, vgl. auch Kapitel 10), E = { A ⊆ N | A ist endlich } ist abzählbar, und die Subtraktion einer abzählbaren Menge ändert die Mächtigkeit nicht. Damit können wir nun leicht den fundamentalen Zusammenhang zwischen den Mächtigkeiten der natürlichen und der reellen Zahlen zeigen: Satz Es gilt |R| = |P(N)|. Beweis Sei I = ]0, 1] = { x PR | 0 < x ≤ 1 }. Es gilt |I| = |R| und |P(N)| = |P *(N)|. Es genügt also zu zeigen, dass |I| = |P *(N)|. Hierzu definieren wir f : I → P *(N) wie folgt. Sei xP I und sei, in kanonischer Binärdarstellung, x = 0, a0 a1 a2 … mit an P { 0, 1 }. Wir definieren f(x) ⊆ N durch: f(x) = { n | an = 1 }. Da die kanonische Darstellung von x nicht trivial endet, ist f(x) unendlich für alle x P I. Das so definierte f : I → P *(N) ist bijektiv. Die beiden wichtigsten Strukturen der Mathematik N und R sind also von unterschiedlicher Mächtigkeit, und die Mächtigkeit der zweiten ist gerade die Mächtigkeit der Potenzmenge der ersten. Ein bemerkenswerter Zusammenhang ! In der Mengenlehre wird oftmals sogar eine Teilmenge von N direkt als reelle Zahl bezeichnet. Eine etwas andere Strategie, um |R| = |P(N)| zu zeigen, ist diese: Der unproblematische Teil ist der Nachweis von |R| = |[ 0, 1 ]| ≤ |P(N)|, was man Einführung in die Mengenlehre © Oliver Deiser 9. Mengen der Mächtigkeit der reellen Zahlen 149 durch kanonische binäre Darstellung von x P[ 0, 1 ] leicht zeigt. Für die Umkehrung |P(N)| ≤ |R| ist die Mehrdeutigkeit der Binärdarstellung hinderlich. Dieses Problem kann man nun umgehen, indem man zu b-adischen Entwicklungen mit b > 2 übergeht. Der einfachste Fall b = 3 führt zur sogenannten Cantormenge, die wir in Kapitel 12 des zweiten Abschnitts ausführlich untersuchen werden. Übung Die Cantormenge C ⊆ R ist definiert als die Menge aller reellen Zahlen x mit 0 ≤ x ≤ 1, für die es eine (nicht notwendig kanonische) TernärDarstellung (= 3-adische Darstellung) x = 0, a0 a1 a2 … gibt mit der Eigenschaft: für alle n ist an ≠ 1. Anders ausgedrückt: x lässt sich schreiben als x = a0 /3 + a1 /32 + a2 /33 + … mit an P { 0, 2 }. Zeigen Sie: |C| = |N { 0, 1 }| = |P(N)| (und damit |P(N)| = |R|). Die Gleichung |P(M) × P(M)| = |P(M)| Wir erhalten aus |R| = |P(N)| auch einen neuen Beweis von |R × R| = |R|. Nützlich hierfür ist eine einfache Definition. Definition (2M) Sei M eine Menge. Wir setzen: 2M = M × { 0 } ∪ M × { 1 }. Die Menge 2M = M × { 0, 1 } ist also die Vereinigung zweier disjunkter „Kopien“ von M. Es gilt nun: Satz Sei M eine Menge und es gelte |2M| = |M|. Dann gilt |P(M) × P(M)| = |P(M)|. Beweis Sei f : 2M → M bijektiv. Wir definieren g : P(M) × P(M) → P(M) durch g(A, B) = f ″(A × { 0 } ∪ B × { 1 }) für alle A, B ⊆ M. Dann ist g : P(M) × P(M) → P(M) bijektiv. © Oliver Deiser Einführung in die Mengenlehre 150 1. Abschnitt Einführung Die Voraussetzung |2M| = |M| ist erfüllt, falls |M × M| = |M| gilt und M mehr als ein Element hat. Die Eigenschaft |M × M| = |M| vererbt sich also von einer unendlichen Menge auf ihre Potenzmenge. Sehr leicht folgt nun: neuer Beweis der Gleichmächtigkeit der Ebene und der Linie Es gilt |2N| = |N|. Also |P(N) × P(N)| = |P(N)|. Wegen |R| = |P(N)| folgt die Behauptung. Eine einfache Verallgemeinerung liefert auch das Resultat |N R| = |R|: Übung Sei M eine Menge. Zeigen Sie: (i) |M × N| = |M| folgt |N P(M)| = |P(M)|. [ Analog zu: |2M| = |M| folgt |P(M) × P(M)| = |P(M)|. ] (ii) Folgern Sie hiermit |N R| = |R|. Schließlich halten wir fest: Satz ( Die Mächtigkeit der Folgen in N) Es gilt |N N| = |R|. Beweis Wir haben nach den bisherigen Resultaten und wegen N N ⊆ N R: |R| = |P(N)| = |N { 0, 1 }| ≤ |N N| ≤ |N R| = |R|. Also folgt die Behauptung nach Cantor-Bernstein. N N ist die Menge aller Folgen a0 , a1 , a2 … , an , … von natürlichen Zahlen. Es folgt, dass |N N| = |N R| = |P(N)|, es gibt also nicht mehr Folgen natürlicher oder sogar reeller Zahlen als Teilmengen von N. Baireraum und Cantorraum Definition (Baireraum und Cantorraum) N N heißt der Baireraum, N { 0, 1 } der Cantorraum. Der Baireraum − benannt nach René Baire (1874 − 1932) − und der Cantorraum sind in der Mengenlehre von großer Bedeutung. In vielen Untersuchungen ersetzen sie die reellen Zahlen. Die Zuordnung einer reellen Zahl x P I = [ 0, 1 ] zur Folge b P N { 0, 1 } ihrer Nachkommastellen in Binärdarstellung ist nicht immer eindeutig. In der Analysis ist R als stetige Linie fundamental, in der Men- Einführung in die Mengenlehre © Oliver Deiser 9. Mengen der Mächtigkeit der reellen Zahlen 151 genlehre ist das Phänomen der Uneindeutigkeit eher lästig. Die Folgenräume haben aber ganz ähnliche Eigenarten wie die reellen Zahlen: Wie eine reelle Zahl durch Angabe von immer mehr Nachkommastellen immer genauer beschrieben wird, so werden Elemente f der Folgenräume durch Angabe von immer längeren Anfangsstücken f(0), f(1), ..., f(n) immer besser approximiert. Der Leser kann sich die Elemente der Folgenräume als Information vorstellen, die portionsweise und insgesamt abzählbar oft gesammelt wird. Bei Elementen des Baireraumes ist an jeder Stelle einer von abzählbar vielen Informationstypen 0, 1, 2, … möglich, im Cantorraum gibt es an jeder Stelle nur eine von zwei Möglichkeiten 0 oder 1. (Die Folgenräume N n für n > 2 bringen im Vergleich zum Cantorraum nichts wesentlich Neues, da man n verschiedene Informationstypen im Cantorraum durch eine 0-1-Sequenz der Länge m mit 2m > n simulieren kann.) Bei diesen Informationsfolgen identifizieren wir, im Gegensatz zur b-adischen Darstellung von x P R, zwei Informationen f(0), f(1), f(2), … und g(0), g(1), g(2), … wirklich nur dann, wenn sie punktweise übereinstimmen, d. h. wenn f(n) = g(n) für alle n P N. Zwei Informationen sind sich intuitiv ähnlich, wenn sie auf einem langen Anfangsstück übereinstimmen. Man erhält so einen Begriff von „x liegt nahe bei y“ für Elemente x,y aus den Folgenräumen ganz so, wie man ihn für die reellen Zahlen besitzt. Eine Präzisierung dieser Intuition liefert dann insgesamt Räume, die den reellen Zahlen sehr ähnlich sind, und zudem sehr handsam in der Anwendung. Wir werden in diesem Buch weiter mit den vertrauten reellen Zahlen R und ihrer linearen Struktur arbeiten, in der deskriptiven Mengenlehre tritt dann aber langfristig der Baireraum an die Stelle von R. Hier wollen wir nur noch einige interessante Abbildungen betrachten und uns mit den Räumen spielerisch vertraut machen. Versuchen wir, eine Baire-Information als eine Cantor-Information darzustellen. Hierzu betrachten wir die Abbildung F, die f P N N auf das folgende g P N { 0 , 1 } abbildet: 1 1 … 1 1 0 1 1 … 1 1 0 1 1 … 1 1 0 1 1 … 1 1 0… f(0) Einsen f(1) Einsen f(2) Einsen f(3) Einsen Sei A = { g P N { 0 , 1 } | es gibt ein n0 P N mit g(n) = 1 für alle n ≥ n0 }. Es ist leicht zu sehen, dass das so konstruierte F : N N → N { 0, 1 } − A bijektiv ist. Weiter sind die Bilder und Urbilder ähnlicher Informationen unter F wieder ähnlich. Die Abbildung erhält also die wesentliche Struktur. © Oliver Deiser Einführung in die Mengenlehre 152 1. Abschnitt Einführung Wir definieren nun H : N { 0, 1 } − A → [ 0, 1 [ durch H(g) = 0, g(0) g(1)… in Binärdarstellung. Dann ist H : N { 0, 1 } − A → [ 0, 1 [ bijektiv, wie man leicht sieht. Die Nähebeziehungen werden aber nicht besonders gut respektiert: Die Bilder der Informationen g1 = 01000…, g2 = 011000…, g3 = 0111000…, … nähern sich dem Bild 1/2 von g = 1000… in R, die Informationen gn stimmen aber an der ersten Stelle niemals mit der Information der ersten Stelle von g überein, sind also aus Sicht des Cantorraumes grob verschieden. Statt F betrachten wir nun die Abbildung F *, die f P N N auf die folgende Funktion g P N { 0 , 1 } abbildet, und 0 und 1 viel symmetrischer behandelt als F: 1 1 … 1 1 0 0 0 … 0 0 1 1 1 … 1 1 0 0 0 … 0 0 1… f(0) Einsen f(1) Nullen f(2) Einsen f(3) Nullen Sei B = { g P N { 0 , 1 } | es gibt ein n0 P N mit: g(n) = 1 für alle n ≥ n0 oder g(n) = 0 für alle n ≥ n0 }. Dann ist F * : N N → N { 0, 1 } − B bijektiv. Wie oben sei H*(g) = 0, g(0) g(1)… in Binärdarstellung für alle g P N { 0, 1 } − B. Dann ist H* : N { 0, 1 } − B → [ 0, 1 [ − C bijektiv, wobei hier C = { x P[ 0, 1 [ | es gibt eine endliche Binärdarstellung von x }. H* erhält nun zudem die Nähebeziehungen in perfekter Weise, wie sich der Leser leicht überlegt. Insgesamt zeigen die Überlegungen, dass der Baireraum zu den reellen Zahlen im Einheitsintervall, die keine endliche Binärdarstellung be1 sitzen, strukturell äquivalent ist. Mit x = Hilfe von Kettenbrüchen kann man 1 f ′(0) + ein gleichwertiges Ergebnis erzielen: 1 Einem Element f des Baireraums f ′(1) + wird durch einen Kettenbruch die f ′(2) + … Zahl x = K(f ) wie im Diagramm zugeordnet, wobei f ′(n) = f(n) + 1 für alle nP N. In der Analysis zeigt man, dass jedes solche K(f ) eine irrationale Zahl ist, dass jede irrationale Zahl x des Einheitsintervalls als Kettenbruch geschrieben werden kann, und dass die Nähebeziehungen durch die Kettenbruchzuordnung perfekt erhalten bleiben. Der Baireraum ist damit strukturell äquivalent zu den irrationalen Zahlen des Einheitsintervalls. Einführung in die Mengenlehre © Oliver Deiser 9. Mengen der Mächtigkeit der reellen Zahlen 153 Die Mächtigkeit der reellen Funktionen Wir haben |N| < |R| gezeigt. Die natürliche Frage ist nun: Gibt es Mengen M mit |R| < |M| ? Die Antwort ist ja. Cantors Diagonalargument kann man verwenden, um zu zeigen, dass die Menge der reellen Funktionen größer ist als R: Definition (reelle Funktionen) Eine reelle Funktion ist ein f : R → R. Die Menge aller reellen Funktionen bezeichnen wir mit F. Es gilt also F = R R. Wir zeigen nun: Satz (über die Mächtigkeit der reellen Funktionen) Es gilt |R| < |F|. Beweis Zunächst gilt |R| ≤ |F| : Wir setzen für alle x P R g(x) = f x P F, wobei f x (y) = x für alle y P R. Dann ist g : R → F injektiv. Sei nun F : R → F beliebig. Wir zeigen, dass F nicht surjektiv ist. Hierzu definieren wir eine reelle Funktion d wie folgt. Für x P R sei d(x) = F(x) (x) + 1. [ Es gilt F(x) P F für alle x P R. F(x) ist also eine reelle Funktion, die wir an der Stelle x auswerten können. Der um eins erhöhte Wert dieser Auswertung ist d(x). ] Wir zeigen, dass d : R → R nicht im Wertebereich der Funktion F liegt. Annahme doch. Sei also y P R mit F(y) = d. Dann gilt F(y) (x) = d(x) für alle x P R. Insbesondere gilt F(y) (y) = d(y). Aber d(y) = F(y) (y) + 1, Widerspruch ! Also ist d ¸ rng(F), und damit F nicht surjektiv. Aus der Überabzählbarkeit der reellen Zahlen und der Abzählbarkeit der algebraischen Zahlen haben wir die Existenz von transzendenten Zahlen gewonnen. Nun haben wir „über-reell“ für die Größe der Menge der reellen Funktionen bewiesen. Kann man ein Analogon finden zum Beweis der Existenz von transzendenten Zahlen ? © Oliver Deiser Einführung in die Mengenlehre 154 1. Abschnitt Einführung In gewisser Weise ist das möglich. Für diese Ausführungen müssen wir allerdings beim Leser einige Kenntnisse der reellen Analysis voraussetzen. Wir betrachten zunächst die Größe bestimmter natürlicher Teilmengen von F . Klar ist, dass die Menge aller konstanten Funktionen, d.h. aller f c : R → R mit fc (x) = c für alle x P R für ein gewisses c P R, die Größe von R hat. Komplizierter ist schon die Menge S = { f PF | f ist stetig } der stetigen reellen Funktionen. Intuitiv bedeutet die Stetigkeit einer reellen Funktion f im Punkt a, dass f(x) nahe bei f(a) liegt, wenn x nahe bei a ist. Die genaue Definition ist: Eine Funktion f : R → R heißt stetig in einem Punkt a P R, wenn gilt: Für alle ε > 0 existiert ein δ > 0, sodass für alle x gilt: |x − a| < δ folgt |f(x) − f(a)| < ε. f heißt stetig, falls f stetig in allen a P R ist. Aus dieser Bedingung folgt nun aber, dass eine stetige Funktion bereits durch ihre Werte auf Q eindeutig bestimmt ist: Übung Sind f, g P S, und ist f|Q = g|Q , so gilt f = g. Dies bedeutet, dass es höchstens so viele stetige Funktionen gibt wie Funktionen f : Q → R. Nach unseren Ergebnissen aus dem letzten Kapitel ist aber |{ f | f : Q → R }| = |Q R| = |N R| = |R|. Also gilt |S| ≤ |R|. Andererseits ist jede konstante Funktion auf R stetig, also gilt |R| ≤ |S| ≤ |R|, und damit |S| = |R|. Es gibt also lediglich so viele stetige Funktionen wie reelle Zahlen. Da jede differenzierbare Funktion stetig und jede konstante Funktion differenzierbar ist, folgt auch, dass die differenzierbaren Funktionen die Mächtigkeit von R haben. [ Differenzierbare Funktionen sind anschaulich stetige Funktionen ohne „Knicke“. ] Hessenberg (1906, § 29) : „ … In analoger Weise lässt sich beweisen, dass die Menge aller stetigen Funktionen von der Mächtigkeit des Kontinuums ist. Überraschend sind diese Resultate aus dem gleichen Grunde wie die Abzählbarkeit der rationalen Zahlen, weil offenbar die Anordnung der Punkte eines Raumes durch die Zuordnung in das Kontinuum völlig zerstört wird, während umgekehrt die Menge der stetigen Funktionen eine Ordnung erhält, die ihr nach der ursprünglichen Definition nicht zukommt. Läßt man die Beschränkung der Stetigkeit fallen und betrachtet die Menge aller [ reellen ] Funktionen …, so ist diese … von größerer Mächtigkeit als das Kontinuum. Hiermit sind drei Mengen aufgewiesen, die schon lange vor Schöpfung der Mengenlehre Gegenstand mathematischer Arbeit waren: die Menge der ganzen Zahlen, der reellen Zahlen und der Funktionen. Sie sind nicht erst zu dem Zweck konstruiert, die Möglichkeit verschiedener Mächtigkeiten darzutun, vielmehr boten sie sogleich der Mengenlehre einen fruchtbaren Anknüpfungspunkt an vorhandene Arbeitsgebiete.“ Einführung in die Mengenlehre © Oliver Deiser 9. Mengen der Mächtigkeit der reellen Zahlen 155 Nun kann man aber überraschenderweise zeigen, dass die Menge der Riemannintegrierbaren Funktionen die Mächtigkeit von F besitzt. Übung (Voraussetzung: Kenntnis des Begriffs „Riemann-integrierbar“ ) Beweisen Sie diese Behauptung. [ Betrachten Sie die Cantormenge C ⊆ [ 0, 1 ] und Funktionen f : [ 0, 1 ] → [ 0, 1 ], die außerhalb von C gleich 0 sind. Es gilt |C| =|R|. ] Dagegen ist die Menge aller f P F, die durch eine abzählbare Menge von stetigen Funktionen eindeutig beschreibbar/approximierbar sind, von der Mächtigkeit |N R| = |R|. Dies zeigt den „transzendenten“ Charakter der integrierbaren Funktionen: allein ihre Anzahl bringt schon mit sich, dass es integrierbare Funktionen f gibt, die nicht durch eine Folge f 0 , f1 , …, fn , … von stetigen Funktionen punktweise approximiert werden können. Das gleiche gilt für jedes Reservoir von approximierenden Funktionen der Größe R. Wie gelangt man zu einer Menge größerer Mächtigkeit ? Wir haben bisher |N| < |R| und |R| < |F| gezeigt. Gibt es ein allgemeines Prinzip oder eine Operation, um von einer beliebigen Menge M zu einer Menge Ä mit größerer Mächtigkeit als M zu gelangen ? Ä = M × M ist ungeeignet, wie wir für M = N und M = R gesehen haben. Jedoch gilt: |R| = |P(N)|. Wie sieht es nun mit dem Verhältnis von R und F aus ? In der Tat gilt hier eine zu N und R analoge Beziehung: Satz Es gilt |F| = |P(R)|. Beweis Jedes f P F ist eine Teilmenge von R × R, also gilt F ⊆ P(R × R), also |F| ≤ |P(R × R)| = |P(R)|, unter Verwendung von |R × R| = |R|. Andererseits können wir jedem A ⊆ R die Funktion F(A) = indA, R P F zuordnen, d. h. es gilt für x P R: F(A)(x) = { 1, 0, falls xPA, falls x¸A. Offenbar ist dann F : P(R) → F injektiv, also |P(R)| ≤ |F|. Insgesamt also |F| = |P(R)|. © Oliver Deiser Einführung in die Mengenlehre 156 1. Abschnitt Einführung Übung Zeigen Sie (i) |F × F| = |F|, (ii) |R F| = |F|. Wir haben |N| < |P(N)| und |R| < |P(R)|. Die Potenzmengenoperation ist also ein guter Kandidat für ein allgemeines Prinzip zur Erzeugung von größeren Mächtigkeiten. Bereits im Endlichen liefert sie exponentielles Wachstum: Es gilt |P(n)| = |n { 0, 1 }| für alle nPN, wobei hier wieder n = { 0, 1, …, n − 1 }. Die Potenzmenge einer Menge mit n Elementen hat also 2n Elemente. Wir beschäftigen uns mit der Potenzmengenoperation im nächsten Kapitel genauer. Anhang: Eine stetige Surjektion von [ 0, 1 ] nach [ 0, 1 ] × [ 0, 1 ] Sei I = [ 0, 1 ] = { x P R | 0 ≤ x ≤ 1 } das reelle Einheitsintervall. Wir skizzieren hier für mit der Analysis ein wenig vertraute Leser die Konstruktion einer stetigen surjektiven Funktion f : I → I × I (Details als Übung). Die erste derartige Funktion wurde von Giuseppe Peano 1890 gefunden. Die folgende Konstruktion geht auf David Hilbert (1891) zurück. Zur Definition von f zerteilen wir zunächst iteriert I und I × I in je vier abgeschlossene Teilintervalle bzw. Teilquadrate, wobei wir die im n-ten Schritt entstandenen 4n Teile einander bijektiv zuordnen. Die folgende Skizze zeigt die ersten drei Zerlegungen und die entsprechenden Zuordnungen: 1 0 5 6 2 3 8 7 15 14 9 10 16 13 12 11 3 2 1/4 4 2 4 1 1 3 1/2 Einführung in die Mengenlehre 1 2 3 4 5 6 7 8 9 4 3/4 1 0 1/4 1/2 … 16 3/4 1 © Oliver Deiser 9. Mengen der Mächtigkeit der reellen Zahlen 1 2 15 16 17 4 3 14 13 18 5 8 9 12 6 7 10 11 1 0 … … 32 1/4 157 1/2 … 64 3/4 1 Sei x P I und n P N. Dann gibt es ein oder zwei Teilintervalle der n-ten Zerlegung von I (in 4n Teile), in denen x liegt. (Zwei solche Intervalle existieren genau dann, wenn x = m/4n für ein 0 < m < 4n gilt). Sei k(x, n) die kleinste Nummer eines x enthaltenden Teilintervalls, d. h. k(x, n) = min { m ≥ 1 | x P[ (m − 1)/4n , m/4n ] } , und sei Q(k(x, n)) das zugeordnete Teilquadrat von I × I (incl. Rand). Wir setzen für x P I f(x) = >n P N Q(k(x, n)) Dann gilt: (i) f : I → I × I ist surjektiv, (ii) f ist stetig, (iii) f ist nicht injektiv. [ z. B. f(1/6) = f(1/2) = (1/2, 1/2) ; geometrische Reihen sind hier nützlich. ] © Oliver Deiser Einführung in die Mengenlehre 158 1. Abschnitt Einführung Georg Cantor über die Gleichung |R2 | = |R|, Brief an Dedekind vom 25. 6. 1877 „ … Seit mehreren Jahren habe ich mit Interesse die Bemühungen verfolgt, denen man sich im Anschluß an Gauß, Riemann, Helmholtz und andern zur Klarstellung aller derjenigen Fragen hingegeben hat, welche die ersten Voraussetzungen der Geometrie betreffen. Dabei fiel mir auf, dass alle in dieses Feld schlagenden Untersuchungen ihrerseits von einer unbewiesenen Voraussetzung ausgehen, die mir nicht als selbstverständlich, vielmehr einer Begründung bedürftig erschienen ist. Ich meine die Voraussetzung, dass eine ρ-fach ausgedehnte stetige Mannigfaltigkeit zur Bestimmung ihrer Elemente ρ voneinander unabhängiger reeller Koordinaten bedarf; dass diese Zahl der Koordinaten für eine und dieselbe Mannigfaltigkeit weder vergrößert noch verkleinert werden könne. Diese Voraussetzung war auch bei mir zu einer Ansichtssache geworden, ich war von ihrer Richtigkeit fast überzeugt; mein Standpunkt unterschied sich nur von allen anderen dadurch, dass ich jene Voraussetzung als einen Satz ansah, der eines Beweises in hohem Grade bedurfte und ich spitzte meinen Standpunkt zu einer Frage zu, die ich einigen Fachgenossen, im Besonderen auch bei Gelegenheit des Gaußjubiläums in Göttingen vorgelegt habe, nämlich zu folgender Frage: ‚Läßt sich ein stetiges Gebilde von ρ Dimensionen, wo ρ > 1, auf ein stetiges Gebilde von einer Dimension eindeutig beziehen, so dass jedem Punkte des einen ein und nur ein Punkt des anderen entspricht ?‘ Die meisten, welchen ich diese Frage vorgelegt, wunderten sich sehr darüber, dass ich sie habe stellen können, da es sich ja von selbst verstünde, dass zur Bestimmung eines Punktes in einer Ausgedehntheit von ρ Dimensionen immer ρ unabhängige Koordinaten gebraucht werden. Wer jedoch in den Sinn der Frage eindrang musste bekennen, dass es mindestens eines Beweises bedürfe, warum sie mit dem ‚selbstverständlichen‘ nein zu beantworten sei. Wie gesagt gehörte ich selbst zu denen, welche es für das Wahrscheinlichste hielten, dass jene Frage mit einem Nein zu beantworten sei, − bis ich vor ganz kurzer Zeit durch ziemlich verwickelte Gedankenreihen zu der Überzeugung gelangte, dass jene Frage ohne alle Einschränkung zu bejahen ist. Bald darauf fand ich den Beweis, welchen Sie heute vor sich sehen. Da sieht man, welch’ wunderbare Kraft in den gewöhnlichen reellen rationalen und irrationalen Zahlen doch liegt, dass man durch sie im Stande ist die Elemente einer ρ-fach ausgedehnten stetigen Mannigfaltigkeit eindeutig mit einer einzigen Koordinate zu bestimmen; ja ich will nur gleich hinzufügen, dass ihre Kraft noch weiter geht, indem, wie Ihnen nicht entgehen wird, mein Beweis sich ohne besondere Vergrößerung der Schwierigkeiten auf Mannigfaltigkeiten mit einer unendlich großen Dimensionszahl ausdehnen lässt, vorausgesetzt, dass ihre unendlich vielen Dimensionen die Form einer einfach unendlichen Reihe bilden. Nun scheint es mir, dass alle philosophischen oder mathematischen Deduktionen, welche von jener irrtümlichen Voraussetzung Gebrauch machen, unzulässig sind. Vielmehr wird der Unterschied, welcher zwischen Gebilden von verschiedener Dimensionszahl liegt, in ganz anderen Momenten gesucht werden müssen, als in der für charakteristisch gehaltenen Zahl der unabhängigen Koordinaten … “ (Georg Cantor, Briefe (1991)) Einführung in die Mengenlehre © Oliver Deiser