Manche Forscher glauben, Alzheimer sei ähnlich wie Diabetes im

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Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 16.03.2014, Nr. 11, S. 56
Manche Forscher glauben, Alzheimer sei ähnlich wie Diabetes im Gehirn. Wenn es stimmt,
wäre das sogar eine frohe Botschaft. Man könnte dann rechtzeitig vorbeugen.
Von Michael Brendler
Schlecht ist der Ruf des Zuckers schon längst. Diabetes, Herzinfarkt, Krebs - kaum ein
Wohlstandsleiden, bei dem er nicht auf die eine oder andere Weise die Finger im Spiel haben
soll. Würde Suzanne de la Monte allerdings recht haben, dürfte es um die Reputation des
Süßstoffes bald gänzlich geschehen sein. Denn dann wäre zu viel Zucker im Blut das reinste
Nervengift und eine der wichtigsten Ursachen für den Morbus Alzheimer.
Vorerst beruht dieser Verdacht vor allem auf Versuchen an Labormäusen. Die
Neuropathologin de la Monte von der Brown University im amerikanischen Rhode Island hat
sie dem sogenannten Morris-Wasserlabyrinth-Test unterzogen. Normalerweise erinnern sich
Mäuse, die man in ein Wasserbecken wirft, ziemlich schnell daran, wo sich eine knapp unter
der Wasseroberfläche verborgene Plattform befindet. De la Montes Mäuse allerdings
paddelten nur hilflos herum. Selbst nach mehrtägigem Training hatten sie stets vergessen, wo
sich das Stückchen fester Boden befand, auf das sie sich hätten retten können.
Die Erklärung für dieses anormale Verhalten lag nahe: Schaute man sich das Gehirn der Tiere
unter dem Mikroskop an, so erinnerten die Gedächtnisregionen an einen Nervenzell-Friedhof,
der übersät war mit Faserbündeln und Eiweißklumpen. Derartige Zerstörungen zeigen auch
die Gehirne von Alzheimer-Patienten. In diesem Falle, schrieb de la Monte im Journal of
Diabetes Science and Technology, sei eine Chemikalie schuld, welche die Nervenzellen
gegenüber dem Botenstoff Insulin unempfindlich gemacht hatte. Weil man eine ähnliche
Insulintaubheit auch von Zuckerkranken kennt, lautete ihre Schlussfolgerung kurz und
prägnant: "Alzheimer ist in vielerlei Hinsicht eine Hirnform des Diabetes." Träfe das
tatsächlich zu, könnte einem angst und bange werden. Denn die Zahl der Zuckerkranken in der
westlichen Welt steigt besorgniserregend. Verantwortlich dafür sind die ungesunden
Essgewohnheiten und die Bewegungsarmut vieler Europäer und Amerikaner, die den
Zuckerstoffwechsel durcheinanderbringen. Im Körper von Gesunden signalisiert das Hormon
Insulin den Zellen, Glukose - ein Grundbestandteil von Rohr- und Rübenzucker - aus dem Blut
aufzunehmen und in Form von Glykogen oder Fett zu speichern. Wird der Körper allerdings
zu lange mit zu hohen Blutzuckerdosen überschwemmt, stellen sich die Zellen irgendwann
taub, obwohl die Bauchspeicheldrüse immer höhere Insulindosen durch die Adern jagt.
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Ähnliche Prozesse seien auch im Hirn von Zuckerkranken zu beobachten, vermuten de la
Monte und die Anhänger der sogenannten Diabetes-Typ-3-Hypothese (Typ 1 ist eine
Autoimmunkrankheit, Typ 2 der Alterszucker). Taub geworden für das Insulinsignal, können
die Nervenzellen nicht mehr ausreichend Süßstoff aufnehmen. Ausgehungert und gleichzeitig
auch direkt von Insulin und Zucker attackiert, so die Theorie, gehen die Neuronen zugrunde.
Und daraus kann dann ein Morbus Alzheimer entstehen.
Statistisch lässt sich tatsächlich belegen, dass Diabetiker häufiger als zuckergesunde Menschen
an einer Demenz erkranken. Ende vergangenen Jahres nährte eine Studie in der
Fachzeitschrift Neurology einen noch schlimmeren Verdacht. Die Berliner Neurologin Agnes
Flöel und ihre Arbeitsgruppe "Kognitive Neurologie" an der Berliner Charité konnten darin
zeigen, dass selbst beim Gesunden gilt: je höher der Zuckerspiegel im Blut, desto höher das
Demenzrisiko. Ähnliches war schon wenige Monate zuvor dem amerikanischen
Kognitionsforscher Paul Crane von der University of Washington aufgefallen. Mit einem
Durchschnittswert von 115 Milligramm Glukose pro Deziliter Blut, berichtete Crane im New
England Journal of Medicine, gelte man zwar gemeinhin als ebenso zuckergesund wie ein
Mensch mit einem Mittelwert von 100 Milligramm pro Deziliter. Dennoch sei das
Demenzrisiko dann um 15 Prozent höher.
Solche Ergebnisse fallen in eine Zeit, in der das Theoriegebäude der Alzheimer-Forscher
ohnehin ins Wanken geraten ist. Ursache des Massensterbens der Gehirnzellen bei AlzheimerPatienten, so hatte man lange Zeit geglaubt, sei das Amyloid-[beta]. Dieses Eiweiß bleibt übrig,
wenn die Müllentsorgung des Amyloid-Precursor-Proteins APP nicht richtig funktioniert, das
in den Membranen der Nervenzellen steckt. Gemeinsam mit ausrangierten Fragmenten des
Zellskelettes, den sogenannten Tau-Proteinen, vergiftet das Amyloid die Zellen. Gleichzeitig
lagert es sich außerhalb der Zellen zu Eiweißklumpen, den amyloiden Plaques, zusammen, die
schon dem Entdecker der Krankheit, Alois Alzheimer, vor mehr als 110 Jahren ins Auge fielen.
2012 konnten isländische Forscher zeigen, dass eine bestimmte Mutation, die für die
reibungslose Entsorgung des APPs sorgt, auch vor Alzheimer schützt.
Inzwischen sind aber mehrere Anläufe gescheitert, über eine Bekämpfung des Amyloids auch
die Symptome der Patienten zu verbessern (siehe "Neue Ideen dringend gesucht").
Offensichtlich muss zu den beiden giftigen Proteinen im Gehirn also noch ein Faktor X
dazukommen. Nach ihm wird intensiv gefahndet.
Für die Anhänger der Diabetes-3-Hypothese liegt die Antwort bereits auf der Hand.
Entscheidend sei, dass im Kopf der Patienten gleichzeitig Insulin und Zucker am Werk seien.
Weil das Hormon Insulin und das Amyloid von ein und demselben Enzym entschärft werden,
versage der Abbau des Amyloid-Precursor-Proteins APP beim Zuckerkranken - das Enzym, so
die Theorie, ist in diesem Fall überlastet. "Außerdem wissen wir, dass eine hohe
Zuckerkonzentration im Gehirn Entzündungsvorgänge ankurbeln kann", sagt der
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Demenzforscher Gabor Petzold vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative
Erkrankungen in Bonn. "Und es gibt wiederum verschiedene Studien, die zeigen, dass eine
chronische Entzündung nachteilig ist für Gedächtnis und Hirnfunktion." Dennoch bleibt für
ihn das Konzept vom Alzheimer als Diabetes Typ 3 bisher nicht mehr als eine
"hochinteressante These". Wie zum Beispiel lässt sich mit ihr in Einklang bringen, dass
Diabetes-Patienten zwar häufiger an Demenz erkranken als andere Menschen, unter dem
Mikroskop aber im Schnitt nicht mehr, sondern eher weniger Amyloid-Ablagerungen im
Gehirn haben, wie der Demenzforscher Geert Biessels in der Fachzeitschrift The Lancet
Diabetes & Endocrinology berichtet hat.
Vielleicht, so vermutet Michael Hüll, Demenzspezialist und Chefarzt der Klinik für Gerontound Neuropsychiatrie des Zentrums für Psychiatrie Emmendingen, liegt das daran, dass
Zucker und Insulin bei Nichtdiabetikern nur ein Zeichen der Gefährdung, aber nicht die
eigentlichen Ursachen sind. Ein höherer Blutzuckerwert ginge demnach einher mit
Ernährungs- und Lebensgewohnheiten, die wiederum selbst dem Gehirn nicht gut bekommen.
Welche Gewohnheiten das sein könnten, versucht Monique Breteler herauszufinden. Unter
Beteiligung der Direktorin für populationsbezogene Gesundheitsforschung am Bonner
Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen wurde 1990 eine Studie begonnen, die
nachhaltigen Eindruck hinterlassen hat. Über viele Jahre hinweg studierten die
Wissenschaftler Blutwerte, Ernährungsmuster und Lebensumstände von mehr als zehntausend
Einwohnern des Rotterdamer Stadtteils Ommoord. Auf diese Weise wollten sie herausfinden,
was diejenigen, die einmal dement werden, von denen unterscheidet, die geistig fit bleiben. Ein
Ergebnis fasst Monique Breteler so zusammen: "Alles, was schlecht für die Gefäße ist, ist auch
schlecht für das Gehirn." Ob mangelnde Bewegung, hohe Cholesterinwerte, Rauchen oder
Bluthochdruck - was Herz und Kreislauf zusetzt, macht irgendwann auch dem Kopf zu
schaffen.
In dieselbe Richtung deuten die Ergebnisse einer Studie, die an Nonnen durchgeführt wurde.
Dabei zeigte sich, dass die meisten im Alter von 85 Jahren Amyloid im Gehirn aufwiesen.
Wirkliche Schwierigkeiten entwickelten aber in der Regel nur die, die gleichzeitig ein Problem
mit ihren Gefäßen hatten. Es könnte also sein, dass in vielen Fällen erst die Schädigung und
der Verschluss von Adern im Kopf aus einem normalen Alterungsprozess, nämlich der
Ablagerung von Amyloiden, eine ausgewachsene Demenz machen. Vielleicht sind winzige
Schlaganfälle der Auslöser.
Dies könnte auch erklären, warum die Zahl der Alzheimer-Patienten ab dem Alter von 75
Jahren plötzlich nach oben schnellt. In jüngeren Jahren, so die Theorie, werden vor allem
Pechvögel dement, die aufgrund einer Mutation im Erbgut so viel Amyloid bilden, dass allein
schon dies für eine massive Hirnschädigung ausreicht. Von 75 an aber nagen dann bei vielen
das Amyloid und die Arteriosklerose gemeinsam an den geistigen Reserven.
Dabei scheinen sich die beiden Prozesse sogar gegenseitig zu befeuern. "Wenn der Morbus
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Alzheimer weiter fortschreitet, lagert sich das schädliche Eiweiß auch in den Arterienwänden
an und fördert deren Verstopfung", sagt der Freiburger Demenzexperte Michael Hüll.
Gleichzeitig stört die Arteriosklerose wohl umgekehrt den Abtransport des Amyloids Richtung
Körper.
Trifft das zu, könnte man auch etwas Positives darin sehen. Denn der Verstopfung von Gefäßen
lässt sich durch Ernährungsumstellung, mehr Bewegung und eine rechtzeitige Behandlung von
zu hohen Blutdruck- und Cholesterinwerten Einhalt gebieten. "Damit ergibt sich für jeden von
uns auch die Möglichkeit, auf sein persönliches Demenzrisiko einzuwirken", sagt Monique
Breteler. Zwar werde sich Alzheimer dadurch nicht endgültig verhindern lassen: "Aber ich
denke, es ist zumindest möglich, den Beginn der Symptome nach hinten zu verschieben."
Vorausgesetzt, man beginnt rechtzeitig mit der Vorbeugung. Entscheidend dafür, ob jemand
eine Demenz entwickelte oder nicht, war in der Rotterdamer Langzeitstudie nicht nur der
körperliche Zustand im Alter von 75. Die Patienten hatten meistens schon mit fünfzig oder
sechzig Jahren einen dicken Bauch und hohen Blutdruck.
Aber auch im Alter lässt sich das eigene Schicksal noch beeinflussen. Monique Breteler
vergleicht das Gehirn in diesem Zusammenhang mit einem Auto: "Es ist natürlich optimal,
wenn man es vom ersten Tag an gründlich pflegt. Aber es fährt selbst dann noch besser, wenn
man später damit anfängt."
Bildunterschrift: Illustration F.A.S./IStock, Foto
Dieter Rüchel
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