Spinale Traumatologie

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Akut- und Intensivmedizin
Spinale Traumatologie
H.J. Steiger, F. Rommel, I. Herdmann
A. Epidemiologie
Die Häufigkeit des spinalen Traumas beträgt 100/100000 pro Jahr. Die Inzidenz der Querschnittslähmung wird in Deutschland auf etwa 10 Fälle/1 Mio.
Einwohner geschätzt. Davon sind ca. 1/3 der Lähmungen auf zervikale Läsionen zurückzuführen. 2/3 der Lähmungen werden durch Unfälle verursacht,
1/3 gehen auf andere Erkrankungen zurück von denen die spinalen Metastasen die häufigsten sind. Bei den traumatisch bedingten Querschnittslähmungen überwiegen im Geschlechterverhältnis die Männer mit 70% gegenüber
den Frauen mit 30%. Der Anteil der Kinder liegt bei nur 1%.
Verletzungstypen:
1. Am häufigsten sind Wirbelbrüche und Dislokationen. Das Ausmaß der
neurologischen Beeinträchtigung korreliert typischerweise mit dem Ausmaß der Dislokation.
2. Der thorako-lumbale Übergang und die Halswirbelsäule sind am häufigsten betroffen.
3. In ca. 10% sind mehrere, nicht benachbarte Etagen betroffen. Mehr als
50% aller Wirbelsäulenverletzungen geschehen im Zusammenhang mit einem Polytrauma.
4. Kinder unter 9 Jahren weisen eine erhöhte Häufigkeit von Subluxationen
und Rückenmarksverletzungen ohne radiologische Abnormalität auf. Bei
Kindern ist das Niveau Occiput bis C2 am häufigsten betroffen (ca. 40%).
B. Aufnahmerichtlinien
Bei bildgebend nachgewiesenen Wirbelsäulenfrakturen mit neurologischen
Ausfällen ist eine frühestmögliche Übernahme in ein Wirbelsäulenzentrum zu
empfehlen um ggf. schnellstmöglich die Diagnostik zu vervollständigen und
um eine eventuell notwendige Dekompressions- und Stabilisierungsoperation
für den frühestmöglichen Zeitpunkt vorzubereiten.
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C. Erste Maßnahmen und Stabilisierung der
Vitalfunktionen
Die Diagnose Querschnittslähmung sollte möglichst schon am Unfallort gestellt werden. Dies ist bei bewusstseinsklaren Verletzten durch die Untersuchung der Bewegungsfähigkeit der 4 Extremitäten möglich. Schon im Verdachtsfall und insbesondere bei bewusstlosen Verletzten ist die primäre Immobilisation der Wirbelsäule durch eine stabilisierende Zervikalstütze und
eine Vakuummatratze bis zum Ausschluss einer instabilen Fraktur zwingend
erforderlich.
Als Grundlage für die neurologische Beurteilung muss die Angabe des erstversorgenden Notarztes verwendet werden. Bei schon intubiert eingelieferten Patienten ist eine Antagonisierung von auf dem Transport gegebenen Benzodiazepinen, Opiaten und Muskelrelaxantien zwecks neurologischer Beurteilung
im Schockraum nicht ratsam wegen der dadurch resultierenden Zeitverzögerung und der Gefahr einer Kreislaufinstabilität bzw. Verschlechterung der Beatmungssituation. Die initiale Untersuchung bei Patienten mit möglichem
Wirbelsäulentrauma umfasst:
Beurteilung der Vitalfunktionen:
– Atmung: Atemstillstand, Verlegung der Atemwege, Art der Atmung, Inspektion, Auskultation
– Kreislauf: Herzfrequenz, tastbarer Puls, Hautfarbe (Zyanose, Zentralisation), Blutdruck
Zentral-neurologischer Status:
– Glasgow-Coma-Scale
– Motorik, Sensibilität
– Pupillenstatus
Apparative Untersuchung und Monitoring:
– EKG, Blutdruck
– Pulsoxymetrie
Beurteilung des Verletzungsmusters:
– Verletzungen am Kopf, Stamm oder Extremitäten
– Äußere Verletzungen, Schwellungen und eventuell Dolenz entlang der Wirbelsäule
– Fehlstellung oder pathologische Mobilität von Extremitäten
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Stabilisierung von Atmung und Kreislauf
Die häufigste Todesursache beim spinalen Trauma sind Aspiration und
Schock. Patienten mit einem hochzervikalen Querschnitt müssen schon am
Unfallort intubiert werden. Patienten mit einer Querschnittssymptomatik unterhalb von C4 müssen intubiert werden, wenn die Spontanatmung insuffizient ist. Meist ist dies notwendig bei einer zusätzlichen Beeinträchtigung der
Atemwege oder thorako-abdominalen Verletzungen und wenn ein mittelschweres oder schweres Schädelhirntrauma vorliegt. Die Intubation bei
HWS-Verletzungen ist schwierig. Bei substantiellem Verdacht auf eine solche
Verletzung soll bei nicht-notfallmäßiger Intubation grundsätzlich die fiberoptische Technik angewandt werden, um das Risiko einer zusätzlichen Rückenmarksschädigung durch Hyperextension geringst möglich zu halten. Falls
diese nicht zur Verfügung steht oder eine Rapid-Sequence-Induction notwendig wird, soll während der Intubation die manuelle Inline-Traktion durch einen Assistenten gewährleistet werden.
Bei Verdacht auf ein Rückenmarkstrauma soll der mittlere arterielle Druck
mindestens 80 mmHg betragen, um eine adäquate Rückenmarksperfusion zu
garantieren. Eine hypotensive Kreislaufsituation kann durch einen Blutverlust, eine Läsionen oberhalb von Th 6 jedoch auch durch eine „funktionelle“
Sympathektomie bedingt sein. In diesem Fall kommt es zu einer Abnahme des
peripheren Vasotonus sowie zu einer Reduktion der chronotropen und inotropen Kapazität des Herzens. Die Hypotension ist Folge einer „relativen“
Hypovolämie. Gleichzeitig kommt es zu einer Bradykardie. Die Volumensubstitution muss deshalb v.a. bei älteren und herzkranken Patienten vorsichtig und unter Bilanzierung erfolgen. Die Bradykardie wird mit Atropin behandelt. Ist hierunter keine suffiziente Kreislauflage mit einem mittleren arteriellen Blutdruck von 80 mmHg zu erreichen, ist die Gabe von β-Rezeptoragonisten indiziert. Die primäre Verwendung von α-Rezeptorantagonisten
sollte wegen der Erhöhung der Nachlast vermieden werden.
Hypotension und Hypovolämie führen auch zu einem Anstieg des Aldosterons im Serum und damit zu Elektrolytverschiebungen, insbesondere zu einer
Hypokaliämie. Engmaschige Elektrolytkontrollen sind deshalb zu empfehlen.
Störungen im Bereich der Vasomotorik verursachen auch Veränderungen der
Regulation der Körpertemperatur.
Die initiale Volumensubstitution (wenn indiziert) soll wie beim Schädelhirntrauma mit kristalloiden Lösungen wie z.B. Ringerlaktat erfolgen. Glukoselösungen sind kontraindiziert da sie zu einer verstärkten Laktatazidose im Rückenmark führen können. Eine Ausnahme bilden Patienten mit einer Hypoglykämie.
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D. Diagnostik
Anamneseerhebung (Fremd- oder Eigenanamnese)
Der Mechanismus des Traumas kann Hinweise für das Ausmaß sowie die Art
der zu erwartenden Verletzung (Kompressionsverletzung (Typ A), Distraktions-Flexions-Verletzung (Typ B) oder gar Rotationsverletzung (Typ C) geben.
Zur Einschätzung der Schwere des Rückenmarkstraumas vor allem bei bewusstlosen Patienten ist die Angabe von frühzeitig am Unfallort Eintreffenden (z.B. Notarzt) über die initialen neurologischen Ausfälle entscheidend.
Insbesondere die Frage, ob es sich um eine regrediente oder progrediente neurologische Symptomatik handelt, ist für das weitere Management wichtig
(s.u.)
Neurologische Untersuchung:
Wichtig ist die klinische Unterscheidung zwischen einer kompletten und einer
inkompletten Querschnittslähmung. Bei einer kompletten Querschnittslähmung sind keinerlei motorische oder sensible Funktionen mehr als 3 Segmente unterhalb der Läsion nachweisbar. Zur Diagnosesicherung eines kompletten Querschnitts gehört deshalb zwingend die Untersuchung der langen Bahnen sowie der sakralen Segmente einschließlich der Analsphinkterfunktion.
Nur etwa 3% aller Patienten mit einer initial kompletten Querschnittslähmung bessern sich neurologisch innerhalb von 24 Stunden.
Beim Vorliegen einer kompletten Querschnittslähmung für die Dauer von
mehr als 24 Stunden ist nicht mehr mit einer Besserung der Symptomatik zu
rechnen.
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