116 Alter Muskel rostet nicht

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Alter Muskel rostet nicht
Dr. Martin Runge
Wer sich der demographischen Herausforderung stellt, wird sein Augenmerk vor allem auf Bewegung und
Muskeln richten. Kein anderes Organ ist beim Älterwerden gleichzeitig funktionell so bedeutsam und
therapeutisch so zugänglich wie die Muskulatur. Ein umfassender Blick auf die Regelkreise zwischen
Nervensystem, Muskeln, Knochen und Gelenken hilft, therapeutische Möglichkeiten einzuschätzen.
Der Muskel ist bekanntlich das größte Organ des Menschen, macht zwischen 30 und 40% der Körpermasse aus.
Da ca. 1,2 Prozent der kontraktilen Muskelproteine täglich auf- und abgebaut werden, sind Eingriffe in diesen
Prozess auf einer kurzen Zeitachse hoch wirkungsvoll, und dies bis hinein ins höchste Alter. Es ist allerdings
erforderlich, den Blick über ausdauerorientiertes Training der Herzkreislauffunktionen und der „roten“ Muskulatur
hinaus auf Muskelkraft, Muskelleistung und Koordination zu richten, also auch auf die neuromuskulären
Parameter der „weißen“ (fast twitch) Muskulatur. Weiße Muskelfasern sind fünfmal so schnell und fünfmal so stark
wie „rote“, und werden erst bei hohem Krafteinsatz zugeschaltet,
Die geriatrische Forschung hat seit den Neunzigern vielfach nachgewiesen, dass auch Hochaltrige über 80-90
Jahre alt erfolgreich auf adäquate Balance- und Muskelaufbauprogramme reagieren. Sie können Muskelmasse
erhalten oder sogar erhöhen, die Fettinfiltrationen in die Muskeln vermindern, Kraft, Leistung und Balance und so
Mobilität zurückgewinnen und Sturzgefahr mindern. Das umfassende Ziel ist dabei das Vermeiden von Stürzen,
Knochenaufbau und damit Hinausschieben der Immobilität.
Ein kurzer Blick in die Statistiken (www.destatis.de) genügt, um die gesellschaftliche Bedeutung des Themas zu
begreifen. In der Altersgruppe von 85-90 Jahren sind ca. 42 Prozent der Frauen und 28 Prozent der Männer
pflegebedürftig, brauchen also täglich Personenhilfe bei ihrer körperlichen Grundversorgung. Diese Zahlen zu
vermindern, ist eine gesellschaftliche Aufgabe. Neben der Demenz, deren Therapiemöglichkeiten doch noch sehr
limitiert sind, ist die neuromuskulär bedingte Immobilität die Hauptursache der Pflegebedürftigkeit. Dabei kann
man davon ausgehen, das nur circa die Hälfte der Älteren in ihrem Gesundheitsstatus (Mobilität, Mortalität und
Morbidität) durch eine einzelne dominierende Krankheit bestimmt wird. Die andere Hälfte erleidet eine
multifaktorielle Akkumulation mehrerer Erkrankungen und Alterungsprozesse, für die der Bewegungsapparat eine
gemeinsame pathogenetische Endstrecke ist. Diese Entwicklung wird unter dem Konzept des „Frailty-Syndroms“
erforscht (engl. frail = gebrechlich, hinfällig. Gegensatz zu fit). Die altersassoziierte Reduktion des
neuromuskulären Systems ist ein Hauptfaktor.
Der vorzeitige altersbedingte Muskelabbau wird in der geriatrischen Forschung Sarkopenie genannt. Dabei
verringern sich Muskelmasse und Muskelleistungen überdurchschnittlich schnell, und es kommt – auch bei
normalgewichtigen Menschen – zu einer Fetteinlagerung in den Muskel (histologisch fettige Degeneration). Die
gute Nachricht: Kein Organ lässt sich durch richtige Bewegung und Ernährung so gut behandeln, erhalten oder
sogar wieder aufbauen wie der Muskel. Die morphologische Diagnostik der Sarkopenie basiert auf der Messung
der Extremitätenmuskulatur mittels DXA und peripherer Computertomographie. Damit können Muskelmasse und
Muskelzusammensetzung exakt gemessen werden. Mit der elektrischen Bioimpedanzanalyse ist eine nicht so
zuverlässige Abschätzung der Körperzusammensetzung möglich. Letztlich kommt es aber auf die
Muskelfunktionen an. Diese werden mit standardisierten Testverfahren gemessen: zum Beispiel mit der habituelle
Gehgeschwindigkeit, der Handkraft, oder der Fähigkeit, so schnell wie möglich aus dem Sitzen aufzustehen, und
Balancetests. Die Erkenntnisse der Altersforschung ergeben, dass Menschen in mittleren Lebensabschnitten, die
über überdurchschnittliche Muskelkraft und Muskelleistung verfügen, seltener und später immobil und
pflegebedürftig werden. Durch diese Forschungen kennen wir die Schlüsselfunktionen der Bewegung, auf die es
beim Älterwerden besonders ankommt. Bewegungsprogramme müssen exakt auf diese Schlüsselfunktionen
ausgerichtet sein.
Eine Metaanalyse der Daten von 9 Longitudinalstudien hat ergeben, dass die frei gewählte Gehgeschwindigkeit
ein Messwert ist, der die Lebenserwartung im Alter mit hoher Differenzierung und Zuverlässigkeit stratifizieren
lässt. So hat eine 70jährige Frau mit einer Gehgeschwindigkeit von 0,3 m/s noch eine durchschnittliche
Lebenserwartung von ca. 8 Jahren, mit einer Gehgeschwindigkeit von 1,6 m/s jedoch noch durchschnittlich 24
Jahre zu leben (Studenski et al 2011, JAMA, Suchbegriff z.B. Google „Gait speed + Studenski ).
Ähnliche Risikoabschätzungen gelten für Stürze, Frakturen und das Eintreten der vorzeitigen Immobilität, und es
sind jeweils die standardisierten Messungen von Gehgeschwindigkeit, Handkraft, Balance zur Seite und das
Aufstehen aus dem Sitzen, die diese Risikoabschätzung ermöglichen, und damit auch als Leitwerte zur Planung
von motorisch-funktionellen Therapieprogrammen dienen können.
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Alter Muskel rostet nicht
Dr. Martin Runge
In der Aerpah-Klinik Esslingen-Kennenburg wurde unter der Verantwortung des Autors das Bewegungsprogramm
„Fünf Esslinger“ entwickelt, das die hier geschilderten Bedingungen erfüllt. Die Langzeitwirkungen wurden über
mehr als 10 Jahre in einer Gruppe Älterer untersucht (initial n= 62, final n=47, durchschnittliches Alter initial 67
Jahre). Viele Teilnehmer dieser Gruppe haben es geschafft, die motorischen Schlüsselfunktionen über 10 Jahre
aufrecht zu erhalten (s. www.fuenfesslinger.de). Weitere moderne Trainingsmethoden stehen zur Verfügung, die
das Muskeltraining deutlich erleichtern können. Hier ist vor allem die seitenalternierende Ganzkörpervibration zu
nennen, mit der es in vielen Studien gelungen ist, die Lokomotion zu verbessern. Beim Training mit diesen
Geräten ist die „gefühlte Anstrengung“ geringer als bei traditionellem Muskeltraining. Dies verbessert Compliance
und Adhärenz. Außerdem können durch die Vibrationen pathologische Muskelanspannungen gelockert, und
damit entsprechende Schmerzen behandelt werden. Neben dem medikamentösen Schmerzmanagement sind
effektive moderne physikalische Verfahren zur Schmerzbehandlung verfügbar, z.B. die Extrakorporale
Stoßwellentherapie, oder neuere Verfahren der Elektrotherapie, die sich in unserer Praxis sehr positiv von
bisherigen Verfahren abheben (sog. „Hochtontherapie“).
Ein weiterer Ansatzpunkt ist die Optimierung der Ernährung. Der älter werdende Körper braucht eine gute
Versorgung mit Eiweiß resp. essentiellen Aminosäuren. Mit diätetischen Lebensmitteln, die eine wissenschaftlich
optimierte Zusammensetzung der essentiellen Aminosäuren haben, kann die Sarkopenie erfolgreich behandelt
werden, am besten in Kombination mit einem geeigneten Bewegungsprogramm. Je früher solch eine Behandlung
beginnt, desto besser und sicherer der Erfolg.
Literaturhinweise: gerne auf Email-Anforderung.
Kontakt:
Dr. Martin Runge
Aerpah-Klinik Esslingen-Kennenburg
Kennenburger Str. 63
73732 Esslingen
[email protected]
www.privatpraxis-dr-runge.de
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