Wissenschaften Die innere Struktur von Proton und Neutron Teil I Norbert Schmitz Max-Planck-Institut für Physik und Astrophysik, D-8000 München This article reviews on a rather elementary level the various Steps which have led to our present knowledge of the internal structure of the nucleons (proton and neutron), consisting of valence quarks, sea quarks and gluons. Whilst experiments on elastic electron-nucleon scattering have yielded information on the shape of the nucleons and their Charge and magnetic moment distributions, their internal quarkparton structure has been investigated in deepinelastic lepton-nucleon scattering experiments, which have led to a determination of the quark, antiquark and gluon momentum distributions inside the proton and neutron. The present attempts to overcome the confinement of the nucleon's constituents, i.e. to produce a quark-gluon plasma in heavy-ion collisions at high energies are discussed. Naturwissenschaften 75, 479 - 488 (1988) © Springer-Verlag 1988 Die Frage, woraus Materie bestehe und was ihre kleinsten Bausteine seien, hat die Naturphilosophen und Naturforscher seit dem Altertum beschäftigt; auf der Suche nach diesen letzten elementaren Bausteinen ist die moderne Naturwissenschaft zu immer kleineren Einheiten vorgedrungen (Fig. l). Der erste wichtige Schritt auf diesem Wege war die Entdeckung der Atome, von denen 92 verschiedene Arten in der Natur vorkommen. Dies sind die „chemischen Elemente", vom leichtesten und einfachsten Atom, dem Wasserstoff-Atom, bis zum schwersten Atom, dem Uran-Atom. Aus Atomen sind die Moleküle zusammengesetzt, die in endloser Vielzahl in der unbelebten und belebten Natur existieren oder von den Chemikern synthetisiert werden, von den einfachsten, aus wenigen Atomen aufgebauten Molekülen bis hin zu den Makromolekülen der organischen Materie, die aus Tausenden verschiedener Atome bestehen können. Riesige Anhäufungen von Atomen oder Molekülen bilden die von unseren Sinnesorganen direkt wahrnehmbaren makroskopischen Körper und Gegenstände. Auf der anderen Seite sind die Atome nicht unteilbar; sie können in noch kleinere Materie-Einheiten zerlegt werden, wie die bahnbrechenden Streuexperimente von Rutherford und seinen Mitarbeitern vor etwa 80 Jahren (1911) zum ersten Mal gezeigt haben. Wie die Atomphysik lehrt, besteht ein Atom aus einem elektrisch positiv geladenen Atomkern im Atom-Inneren und einer ihn umgebenden Hülle aus elektrisch negativ geladenen Elektronen. Dabei ist die geometrische Ausdehnung eines Atoms, von der Größenordnung 10-8 cm, durch die Elektronenhülle gegeben, während der winzig kleine Atomkern zehn- bis hunderttausendmal kleiner ist, also einen Durchmesser von nur 10-13 bis 10-12 cm besitzt. Andererseits ist die Masse eines Atoms fast ganz im Kern konzentriert; die Masse der Atomhülle ist gegenüber der Masse des Kerns praktisch vernachlässigbar. Diese Größenund Massenverhältnisse ähneln denjenigen in unserem Planetensystem, dessen Gesamtmasse praktisch ganz auf die im Vergleich zur Ausdehnung des gesamten Systems winzig kleine Sonne entfällt. Bei der näheren Untersuchung der Atomkerne in der Kernphysik stellte sich heraus, daß auch die zahlreichen verschiedenen Atomkerne keine kleinsten, unzerlegbaren Einheiten darstellen, sondern aus positiv geladenen Protonen und neutralen Neutronen zusammengesetzt sind, die man gemeinsam als Nukleonen (Kernteilchen) bezeichnet. Jedes „chemische Element" ist durch die Anzahl der Protonen im Kern gekennzeichnet; z.B. ist der Wasserstoffkern ein einzelnes Proton, der Urankern besitzt 92 Protonen. Da die positive Protonladung und die negative Elektronladung dem Betrage nach gleich sind, ist im elektrisch neutralen Atom die Anzahl der Protonen im Kern gleich der 479 Fig. l. Schematische Darstellung des Aufbaus der Materie Anzahl der Elektronen in der Hülle. Die Anzahl der Neutronen im Kern kann bei fester Protonenzahl im allgemeinen verschiedene Werte annehmen; diese verschiedenen Kerne bezeichnet man als die Isotope eines Elements. Da Proton und Neutron ungefähr 1800mal so schwer wie ein Elektron sind, ist die ganze Masse eines Atoms in seinem Kern konzentriert. Während die Elektronen in der Atomhülle im Mittel große Abstände voneinander haben und das relativ große Volumen eines Atoms daher im wesentlichen „leerer Raum" ist, sind die Nukleonen im winzig kleinen Atomkern eng beieinander, d.h. dicht gepackt. Die drei Teilchenarten Elektron, Proton und Neutron, aus denen in der kurz skizzierten Weise die Atome aufgebaut sind, wurden lange Zeit in der Elementarteilchenphysik als kleinste Materiebausteine, d.h. als echte Elementarteilchen angesehen. Für das Elektron gilt dies auch heute noch; mit der Meßgenauigkeit bisheriger Experimente wurde keine räumliche Ausdehnung des Elektrons festgestellt (r < 10-16 cm); es kann daher als mathematischer Punkt angesehen werden. Proton und Neutron dagegen besitzen eine räumliche Ausdehnung von ca. 10-13 cm, wie Experimente in Stanford (USA) vor allem in den 50-er und 60-er Jahren zum ersten Male gezeigt haben. Mehr noch: Masse, elektrische Ladung und andere physikalische Eigenschaften der beiden Nukleonen sind nicht diffus über ihre räumliche Ausdehnung verteilt, sondern in punktförmigen inneren Konstituenten, von Feynman Partonen genannt, konzentriert. Proton und Neutron besitzen demnach eine „körnige" innere Struktur; sie bestehen aus Partonen, die später als die 1964 von Gell480 Mann und Zweig eingeführten Quarks identifiziert werden konnten. Nach unserem heutigen Verständnis ist ein Nukleon im wesentlichen aus drei Quarks zu- sammengesetzt, die durch starke Bindungskräfte im Nukleon zusammengehalten werden. Nicht Proton und Neutron, sondern die punktförmigen Quarks sind also (wie das Elektron) als echte Elementarteilchen, d.h. als kleinste Materie-Bausteine anzusehen. Die Erforschung der inneren Struktur von Proton und Neutron und unser heutiges Bild von ihr sollen in diesem Artikel beschrieben werden. Zunächst behandelt das folgende Kapitel die verschiedenen Kräfte (Wechselwirkungen), die zwischen Elementarteilchen wirksam sind. Die moderne Teilchenphysik fragt nämlich nicht nur danach, welche Teilchen es gibt und welche Eigenschaften sie besitzen, sondern auch nach den Wechselwirkungen zwischen ihnen. Um mit Streuexperimenten vertraut zu machen, wird dargelegt, wie man aus solchen Experimenten Auskunft über die Ausdehnung und innere Struktur von Atomen und Atomkernen gewonnen hat und warum man immer höhere Energien benötigt, um immer kleinere Objekte zu erforschen. Dann wird die räumliche Ausdehnung des Protons und Neutrons behandelt. Das letzte Kapitel von Teil I beschreibt das Quark-Modell der Hadronen-Klassifikation und die zwischen den Quarks durch Gluonen-Austausch wirksamen Kräfte. Die innere Struktur von Proton und Neutron, d.h. ihre Zusammensetzung aus Partonen (Quarks, Antiquarks, Gluonen), wird in Teil II besprochen. Das letzte Kapitel diskutiert die heutigen Versuche, in hochenergetischen Zusammenstößen schwerer Kerne ein Quark-Gluon-Plasma zu erzeugen und dadurch die „Einkerkerung" der Quarks in einzelnen Nukleonen aufzuheben. Kräfte und Teilchen Man kennt heute vier Kräfte in der Natur, die sich durch ihre Stärke und durch die Reichweite ihrer Wirksamkeit voneinander unterscheiden: die starke Kraft, die elektromagnetische Kraft, die schwache Kraft und die Gravitationskraft. Dabei ist die Gravitation (Massenanziehung) im Vergleich zu den drei anderen Kräften so schwach, daß sie sich nur bei makroskopischen Massenanhäufungen, etwa in der Astronomie, bemerkbar macht und bei den winzig kleinen Massen der Elementarteilchen praktisch keine Rolle spielt. Sie wird daher im folgenden nicht weiter behandelt. Am längsten bekannt ist die elektromagnetische Kraft. Sie bindet z.B. in einem Atom die Elektronen in der Hülle an den Atomkern, etwa im Wasserstoffatom (H-Atom) das negativ geladene Elektron an das positiv geladene Proton. Diese Bindung, d.h. die Anziehung der Fig. 2. a) Schematische Darstellung des Wasserstoffatoms, in dem das Proton (p) und das Elektron (e) durch den Austausch von Photonen (γ aneinandergebunden sind. b) Feynman-Diagramm für den Austausch von Photonen im Wasserstoffatom Fig. 3. Feynman-Diagramm für die Kernkraft zwischen zwei Protonen durch π0-Austausch beiden entgegengesetzten Ladungen, kommt zustande durch die elektrischen Felder, die Elektron und Proton umgeben. Bei der quantitativen Behandlung des H-Atoms kann man jedoch nicht die klassische Elektrodynamik anwenden; es herrschen vielmehr im Mikrokosmos eines Atoms die Gesetze der Quantentheorie, in unserem Fall der relativistischen Quantenelektrodynamik (QED). Nach ihr ist die Energie des elektromagnetischen Feldes gequantelt, sie besteht aus kleinen Energieportionen (Energiequanten), den Photonen (Lichtteilchen). Nach der QED-Theorie kommt die Wechselwirkung zwischen Proton und Elektron im H-Atom dadurch zustande, daß zwischen ihnen ständig Photonen ausgetauscht werden; ein einzelner Austauschprozeß besteht darin, daß z.B. das Proton ein Photon emittiert und dieses kurz danach vom Elektron absorbiert wird (oder umgekehrt) (Fig. 2a). Figur 2b zeigt diesen ständigen Austausch von Photonen im H-Atom in einem sogenannten Feynman-Diagramm, in dem die einzelnen in Raum und Zeit existierenden Teilchen als Linien dargestellt sind. Das Photon ist also der Übermittler (Träger, Quant) der elektromagnetischen Kraft zwischen geladenen Teilchen. Auch die beiden anderen Kräfte, die starke und die schwache Kraft, beruhen auf dem Austausch entsprechender Teilchen als Wechselwirkungsträger. Die starke Kraft ist u.a. für die starken Kernkräfte verantwortlich, die in einem Atomkern die Protonen und Neutronen eng und fest aneinander binden. Sie kommen dadurch zustande, daß zwischen den Nukleonen vor allem Pionen ausgetauscht werden. (Während das Nukleon in zwei Ladungszuständen vorkommt, nämlich als Proton und Neutron, gibt es für das Pion (π) drei Ladungszustände: das positiv geladene π+, das negativ geladene π- und das neutrale π0.) Z.B. sind im Helium-Kern, bestehend aus zwei Protonen und zwei Neutronen, die beiden Protonen aneinandergebunden durch π0-Austausch (Fig. 3). Da die starke Kraft sehr viel stärker ist als die elektromagnetische Kraft, übertrifft die starke Anziehung der beiden Protonen bei weitem ihre elektrische Abstoßung. Während des π0-Austauschs in Fig. 3 ist der EnergieErhaltungssatz verletzt: Es tritt zusätzlich ein π0 auf, dessen Masse m nach der Einstein-Gleichung einer Energie von E = mc2 (c = Lichtgeschwindigkeit) äquivalent ist. Nach der Heisenbergschen Unschärferelation E ⋅t = h (h = Plancksches Wirkungsquantum dividiert durch 2π) ist eine solche Verletzung des Energiesatzes um den Betrag E während der kurzen Zeit t möglich, die das π0 benötigt, um von einem Proton zum anderen Proton in Fig. 3 zu gelangen. Daraus erhält man für die Reichweite R der Kernkraft (= Abstand der beiden Protonen im Kern) die Beziehung R= hc mc ² (1) mit hc = 197 MeV · fm (l fm = l fermi = 10-13 cm)1. Mit der π0-Masse m = 135 MeV/c2 (d.h. mc2 = 135 MeV) ergibt sich somit für die starken Kernkräfte eine sehr kleine Reichweite von R ≈ 1,5fm. Die aus der Unschärfe-Relation sich ergebende MasseReichweite-Beziehung (l) gilt für alle Kräfte. Nach ihr ist die Reichweite einer Kraft um so größer (kleiner), je kleiner (größer) die Masse des Teilchens ist, das die Kraft überträgt. Die elektromagnetische Kraft, die durch das masselose Photon übertragen wird, hat eine unendliche Reichweite; sie nimmt zwar nach dem Coulombschen Kraftgesetz mit dem Abstand r zwischen zwei Ladungen wie 1/r2 ab, macht sich aber auch bei makroskopischen Abständen bemerkbar, während die starke Kraft nur bei sehr kleinen Abständen (von der Größenordnung der Atomkerne) wirksam wird. Auf diesem Unterschied beruht auch die dichte Packung der Nukleonen in einem Atomkern und damit seine Kleinheit einerseits und die weiträumige Verteilung der Elektronen in der Atomhülle andererseits. Die schwache Kraft, die z.B. den Zerfall eines freien (d.h. nicht in einem stabilen Atomkern gebundenen) 1 Die gebräuchliche Energieeinheit in der Mikrophysik ist das Elektronvolt, das ist die Energie, die ein Elektron mit der Elementarladung e beim Durchlaufen einer Spannung von l Volt gewinnt. 103 eV = l keV (Kilo-eV), l06 eV = l MeV (Mega-eV), l09 eV = l GeV (Giga-eV), 1012eV = l TeV(Tera-eV). 481 Neutrons in Proton, Elektron und Antineutrino (n → pe- ν ) nach eipner mittleren Neutron-Lebensdauer von t = 15 min bewirkt (Fig. 4), wird durch die drei schweren Bosonen W+, W- und Z0 übertragen. Diese Teilchen wurden 1983 am Europäischen Forschungszentrum für Teilchenphysik CERN in Genf als freie Teilchen entdeckt; sie besitzen eine Masse von ca. 90 GeV/c2 (m = 81,8 GeV/c2 für W±, m = 92,6 GeV/c2 für Z0) und sind damit ungefähr 100-mal (!) so schwer wie das Proton. Aus dieser hohen Masse ergibt sich nach (l) für die schwache Kraft die extrem kleine Reichweite von ca. 2·10-3 fm (d.h. ungefähr ein Tausendstel der starken Reichweite). Die schwache Kraft ist aufgrund der hohen W- und Z-Masse bei niedrigen Energien sehr viel schwächer als die elektromagnetische Kraft, während sie bei sehr hohen Energien (» 100 GeV) ungefähr so stark wie die elektromagnetische Kraft wird. Dies hat 1967 mit zu der wichtigen und folgenreichen Entdeckung von Salam und Weinberg beigetragen, daß die schwache und die elektromagnetische Kraft zwei Erscheinungsformen ein und derselben Kraft, der sogenannten elektroschwachen Wechselwirkung sind. Fig. 4. Feynman-Diagramm für den Zerfall des Neutrons (n) in Proton (p), Elektron (e-) und Antineutrino ( ν ),n → pe- ν . Die schwache Kraft wird durch das W--Boson übertragen Streuexperimente zur Erforschung der Atom- und Kern-Struktur Grundlage für alle Strukturuntersuchungen in der Mikrophysik sind Streuexperimente, wie sie zum ersten Mal von Rutherford und Mitarbeitern zur Untersuchung der inneren Struktur von Atomen durchgeführt wurden. Rutherford lenkte einen Strahl von α-Teilchen (Heliumkernen) aus radioaktiven Kernzerfällen auf eine dünne Metallfolie (z.B. Gold), um den Zusammenstoß von α-Teilchen mit einzelnen Atomen in der Folie zu untersuchen. Er maß mit einem geeigneten α-Detektor um die Folie herum die Winkel θ, um die die einzelnen aTeilchen durch die Atome der Folie aus ihrer ursprünglichen Richtung abgelenkt („gestreut") wurden, und fertigte aus vielen solcher Streuereignissen eine Streuwinkel-Verteilung σ(θ) (Wirkungsquerschnitt für die Streuung um den Winkel θ) an, die die Häufigkeit (Wahrscheinlichkeit) angibt, mit der die einzelnen Streuwinkel θ (von 0° bis 180°) im Experiment beobachtet wurden. Falls die Atommaterie (und die elektrischen Ladungen) gleichmäßig und diffus über das ganze Atomvolumen verteilt wäre, sollten die α-Teilchen am ausgedehnten Atom „weich" gestreut werden. Große Streuwinkel (etwa > 90°) sollten praktisch nicht vorkommen (Fig. 5a), d.h. man würde eine mit zunehmendem Streuwinkel stark abfallende Winkel Verteilung erwarten. Statt dessen wurden im Experiment zwar selten, aber wesentlich häufiger, 482 Fig. 5. Streuung von α-Teilchen an einem Atom (Rutherford-Experiment). Im unrealistischen Fall (a) ist die Atommaterie gleichmäßig verteilt; es treten nur kleine Streuwinkel auf. Im realistischen Fall (b) befindet sich tief im Inneren des Atoms ein kleiner, schwerer, positiv geladener Kern; es treten auch große Streuwinkel auf als für ein diffuses Atom erwartet, auch große Streuwinkel (θ > 90°) gemessen, ja sogar Streuwinkel nahe 180° beobachtet, bei denen das gestreute α ungefähr in die ursprüngliche αStrahl-Richtung zurückfliegt. Die einzig mögliche Deutung dieses überraschenden Meßergebnisses war die Annahme, daß es im Inneren des streuenden Atoms einen kleinen, schweren, positiv geladenen Kern gibt. Wenn ein α-Teilchen in die unmittelbare Nähe dieses kleinen Kerns gelangt, so erfährt es die dort wirksame, wegen des kleinen Abstandes r besonders große elektrische Coulombkraft (∝ 1/r2) des Kerns und wird durch sie in einer „harten" Streuung stark aus seiner ursprünglichen Richtung, d.h. unter großem Streuwinkel abgelenkt (Fig. 5b). Damit waren die Atomkerne im Inneren der Atome entdeckt. Die Rutherfordschen Streuexperimente lieferten also Auskunft über die innere Struktur der Atome, wobei die benutzten Strahlteilchen als „Sonden" dienten, mit denen diese Struktur „abgetastet" wurde. In ähnlicher Weise wurden in späteren Jahren die räumliche Ausdehnung und die innere Struktur der Atomkerne selbst in zahllosen Streuexperimenten der Kernphysik mit verschiedenen Strahlteilchen, insbesondere Photonen, Elektronen und Protonen, erforscht. Dabei wurden auch diese Kerne als ausgedehnte, aus Protonen und Neutronen zusammengesetzte Objekte erkannt und in ihrem Aufbau näher untersucht. Hier sind nun zwei Arten von Streuprozessen voneinander zu unterscheiden, nämlich die einfachere elastische Streuung und die kompliziertere inelastische Streuung. Bei einer elastischen Kollision eines Strahlteilchens, etwa eines Protons p, mit einem Atomkern A wird das Proton vom Kern als Ganzem gestreut. Dabei bleibt der Kern unversehrt; er wird nur angestoßen und verläßt als unverändertes Ganzes den Streuprozeß (pA → pA). Bei der inelastischen Streuung dagegen reagiert das Strahlteilchen mit einem oder mehreren Nukleonen im Kern. Dabei wird der getroffene Kern in seine Bestandteile, d.h. in einzelne Nukleonen, oder größere Kernbruchstücke auseinandergerissen; ja es können sogar, wenn die Energie des Strahlteilchens groß genug ist, zusätzliche Teilchen, meistens Pionen, erzeugt werden. Diese Teilchenerzeugung kommt dadurch zustande, daß ein Teil der kinetischen Energie des Strahlteilchens umgesetzt wird in die Massen der erzeugten Teilchen, da ja nach der Einstein-Gleichung (s.o.) Masse eine Form von Energie ist und eine Energieform in eine andere unter Erhaltung der Gesamtenergie umgewandelt werden kann. Während die elastische Kern-Streuung Auskunft gibt über die räumliche Ausdehnung eines Kerns und über die Verteilungen von Masse und Ladung innerhalb dieses Kernvolumens, erfahren wir aus der inelastischen Streuung direkt die innere Struktur eines Kerns, d.h. aus welchen kleineren Bausteinen er zusammengesetzt ist. Zur Untersuchung einer Kernstruktur in einem Streuexperiment sind wesentlich höhere Energien (Impulse) (E ≈ 100 MeV) der Strahlteilchen erforderlich als zur Erforschung einer Atomstruktur (E ≈l keV), und zwar aus folgendem Grund: Ganz allgemein ist nach dem TeilchenWellen-Dualismus der Quantentheorie einem Teilchen mit dem Impuls p eine Wellenlänge λ(de Broglie-Wellenlänge) mit ( λ = λ/ 2π ) λ= hc pc (2) zugeordnet; sie ist also um so kleiner, je größer der Impuls des Teilchens ist. Soll nun mit einem solchen Teilchen, z.B. einem Elektron, eine Struktur von der räumlichen Ausdehnung ∆x „abgetastet" werden, so darf die zugehörige Wellenlänge des Teilchens, d.h. seine Lokalisierbarkeit, nicht größer als ungefähr ∆x sein. Je kleiner also das zu untersuchende Objekt, die zu erkennende Struktur ist, um so kürzer muß die Wellenlänge, d.h. um so größer muß nach (2) der Impuls und damit die Energie der abtastenden Teilchen sein.2 Anders ausgedrückt: Ein Objekt (z.B. Atomkern, Nukleon), das bei niedriger Energie als punktförmig erscheint, kann sich bei höherer Energie als ausgedehntes Gebilde mit einer inneren Struktur erweisen. Die umgekehrte Proportionalität zwischen der Energie der Strahlteilchen und der Größe des aufzulösenden Objekts, die auch schon in der Beziehung (l) zum Ausdruck kam, läßt sich noch auf eine andere Weise verstehen. Je kleiner ein materielles Objekt ist, um so fester sind die Bestandteile, aus denen es zusammengesetzt ist, aneinander gebunden: Die Bindungskräfte der Atome in einem Molekül sind schwächer als die der Elektronen an den Kern in einem Atom, letztere sind schwächer als die Bindungskräfte zwischen den Nukleonen in einem Kern und schließlich diese wiederum schwächer als die Bindung der Quarks in einem Nukleon. Will man daher die innere Struktur eines solchen Objekts näher erforschen, indem man es in einem inelastischen Streuexperiment in seine Bausteine zerlegt und diese mißt, so muß die Energie der Strahlteilchen, mit denen man die Bindung dieser Bausteine gegen ihre Bindungskräfte aufbricht, um so größer sein, je kleiner das Objekt ist. Zur Untersuchung der Proton- und Neutronstruktur, unterhalb von ca. 10-13 cm, sind daher relativ hohe Energien der Strahlteilchen, über ca. 100 MeV, erforderlich. Die elastische Elektron-Nukleon-Streuung Die räumliche Ausdehnung von Proton (p) und Neutron (n) wurde in Experimenten zur elastischen Streuung von Elektronen (e) erforscht. Die elastische ep-Streuung, ep → ep (Fig. 6a), geschieht durch die elektromagnetische Kraft, d.h. durch Photon-Austausch (Fig. 6b). Die allgemeinste Formel für den Wirkungsquerschnitt σ(θ) wurde von Rosenbluth hergeleitet; sie ist wesentlich komplizierter als die ursprüngliche Rutherford-Formel, die Rutherford aus dem Coulomb2 Dieser Sachverhalt ist schon aus der Optik des Mikroskops bekannt: Die Wellenlänge des benutzten Lichtes muß um so kleiner sein, je kleiner das zu beobachtende Objekt ist; das räumliche Auflösungsvermögen eines Mikroskops ist also um so besser, je kürzer die Wellenlänge des Lichtes (d.h. je größer die Energie der Lichtquanten) ist. 483 Rutherford-Formel sind in der Rosenbluth-Formel die folgenden Punkte berücksichtigt: Fig. 6. a) Elastische Elektron-Proton-Streuung, ep → ep. E und E’ sind die Energien des Elektrons vor bzw. nach der Streuung; θ ist sein Streuwinkel. b) Feynman-Diagramm für die elastische ep-Streuung durch Photon-Austausch. Das Photon (γ ) bewirkt einen Impulsübertrag Q vom punktförmigen Elektron auf das ausgedehnte Proton (a) Es sind die Gesetze der Relativitäts- und Quantentheorie, d.h. der Quantenelektrodynamik anzuwenden; (b) das Proton erfährt durch die Streuung einen elastischen Rückstoß; (c) Elektron und Proton besitzen einen Eigendrehimpuls („Spin", anschaulich: Rotation um eine eigene innere Achse) und damit ein inneres magnetisches Moment (sie können anschaulich als zwei kleine magnetische Dipole angesehen werden); dadurch treten sie in elektromagnetische Wechselwirkung miteinander nicht nur aufgrund ihrer Ladung, sondern auch durch ihre magnetischen Momente; (d) das Proton besitzt eventuell (im Gegensatz zum Elektron) eine räumliche Ausdehnung und damit eine Dichte-Verteilung seiner Ladung und seines magnetischen Moments innerhalb dieser Ausdehnung. Dieser letzte Punkt ist der wichtigste; eine mögliche Ausdehnung des Protons soll ja in elastischen epStreuexperimenten erforscht werden. Beschrieben wird diese Ausdehnung (die „Form" des Protons) durch zwei sogenannte Formfaktoren in der Rosenbluth-Formel, GE(Q) für die Verteilung der elektrischen Ladung und GM(Q) für die Verteilung des magnetischen Moments. Die beiden Formfaktoren hängen ab vom sogenannten Impulsübertrag Q vom einlaufenden Elektron über das ausgetauschte Photon (Fig. 6b) auf das Proton, wobei Q bei fester Strahlenergie E durch den Streuwinkel θgegeben ist und von Q=0 für θ=0 mit zunehmendem θ anwächst bis zu einem Maximalwert Q max = 2 E 60 90 120 Streuwinkel ?[°] Fig. 7. Abhängigkeit des Impulsübertrags Q (durchgezogene Kurven, linke Skala) und der Energie E’ des gestreuten Elektrons (gestrichelte Kurven, rechte Skala) vom Streuwinkel θ in der elastischen Elektron-Proton-Streuung, für zwei Elektron-Energien: E = l GeV (l) und E = 10 GeV (2) schen Kraftgesetz und den Gesetzen der Newtonschen Mechanik für die Streuung eines punktförmigen Teilchens an der Ladung eines punktförmigen schweren Kerns hergeleitet hatte. (Bei den niedrigen Energien der RutherfordExperimente konnte der Kern noch als punktförmig angesehen werden.) Im Unterschied zur 484 Mc² 2 E + Mc² bei θmax = 180° (M = Protonmasse) (Fig. 7). Die Formfaktoren G(Q), die im allgemeinen mit wachsendem θ abfallen, geben an, wie stark bei einem bestimmten Q, d.h. beim zugehörigen Streuwinkel θ, die Streuung an einem ausgedehnten Proton im Vergleich zur Streuung an einem punktförmigen Proton reduziert ist. (Die Streuung an einem ausgedehnten Objekt führt ja, wie im Zusammenhang mit den Rutherford-Experimenten beschrieben, im Vergleich zur punktförmigen Streuung zu einer Unterdrückung größerer Streuwinkel.) Konstante, d.h. von Q unabhängige Formfaktoren würden also keine Reduktion, d.h. ein punktförmiges Proton bedeuten (Fig. 8). Allgemein erhält man durch Transformation der beiden Formfaktoren aus dem Impulsraum in den Ortsraum (Fourier-Transformation) direkt die (über die Zeit gemittelten) Dichte-Verteilungen ρ(r) von Ladung und magne- Fig. 8. Schematische Darstellung a) dreier möglicher Dichteverteilungen ρ(r) des Protons als Funktion des Abstands r vom Mittelpunkt und b) der zugehörigen Abhängigkeiten des Formfaktors G(Q) vom Impulsübertrag Q: (I) punktförmiges Proton - konstanter Formfaktor, (2) Proton mit scharfem Rand - oszillierender Formfaktor (die Kurve stellt den Betrag des Formfaktors dar), (3) Proton mit exponentiell abnehmender Dichte ρ(r)=ρ0e-ar - Dipolformfaktor. Der Fall (3) entspricht annähernd der Wirklichkeit Scheibe mit scharfem Rand). Aus einer glatten Q-Abhängigkeit dagegen ist auf ein Proton mit einem ausgeschmierten, unscharfen Rand zu schließen (Fig. 8). Je steiler G(Q) mit zunehmendem Q abfällt, je stärker also große Impulsüberträge und damit große Streuwinkel unterdrückt sind, um so ausgedehnter ist das Proton. Die Aufgabe eines Experiments zur elastischen ep- bzw. enStreuung besteht also darin, die Formfaktoren von Proton und Neutron zu messen und dadurch Aufschluß über die geometrische „Form" der beiden Nukleonen zu gewinnen. Solche Experimente wurden seit 1955 von Hofstadter an der Stanford-Universität und später von mehreren Physikergruppen an verschiedenen anderen ElektronenBeschleunigern (Cornell, Orsay, Cambridge USA, DESY in Hamburg), vor allem seit 1966 am Zwei-MeilenLinearbeschleuniger des Stanford Linear Accelerator Centers (SLAC) durchgeführt. Dabei konnten im Laufe der Jahre immer höhere Elektron-Energien, d.h. Impulsüberträge, und damit eine immer feinere räumliche Auflösung erreicht werden. Insbesondere ermöglichte der SLAC-Beschleuniger mit Elektronen bis zu 20 GeV Messungen bis Q ≈5 GeV (entsprechend r ≈0,04 fm). Ein solches Experiment besteht darin, daß man den Elektronenstrahl auf ein mit flüssigem oder gasförmigem Wasserstoff gefülltes „Target" schießt und mit einem magnetischen Spektrometer und geeigneten Detektoren (etwa Cerenkov- und Szintillationszählern) die unter bestimmten Winkeln θ gestreuten Elektronen nachweist und ihre Energien mißt. Aus diesen Messungen wird dann eine Winkelverteilung σ(θ) angefertigt, aus der mit Hilfe der Rosenbluth-Formel die Formfaktoren bestimmt werden. Da es zwar freie Protonen (Wasserstoff-Kerne), aber keine freien Neutronen gibt, verwendet man für die Formfaktoren des Neutrons ein mit Deuterium (schwerem Wasserstoff) gefülltes Target; ein Deuterium-Kern (Deuteron) besteht aus einem Proton und einem Neutron; man mißt also die Streuung am Deuteron, subtrahiert die aus den Wasserstoff-Experimenten bekannte Streuung am Proton und erhält so die Streuung am Neutron. Die Ergebnisse der zahlreichen Experimente für die Proton(p)- und Neutron(n)-Formfaktoren lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: [GeV²] p Fig. 9. Der magnetische Formfaktor G M (Q ) / µ p des Protons in Ab2 hängigkeit von Q . Die Punkte stellen die SLAC-Meßwerte, die Kurve stellt die Dipol-Funktion GD(Q) dar tischem Moment des Protons als Funktionen des Abstands r vom Proton-Mittelpunkt. Ein ausgedehntes Proton mit einem scharfen Rand z.B. würde eine oszillierende Q-Abhängigkeit der G(Q) zur Folge haben (vergleichbar dem Interferenzmuster mit Maxima und Minima bei der Beugung von Licht an einer kleinen p G (Q ) = E G p (Q ) M µ = G n (Q) M µ n ≈G (Q ); G ≈0. D E (3) n p Dabei sind µ die magnetischen Momente (gemessen in Einheiten des Kernmagnetons): µp = 2,79, µn = -1,91. GD(Q) („Dipol-Formfaktor") ist eine empirische Funktion von Q,, G 2 1 -1 (Q ) = mit a = 0,84 GeV =ˆ 4,26 fm (4) D 1 ² / ² + Q a 485 die die gemessenen Formfaktoren ziemlich gut beschreibt (Fig. 9). Die Fourier-Transformierte dieses DipolFormfaktors ist eine exponentiell abfallende DichteVerteilung (Fig. 8) ρ(r) = ρ0·e-ar mit a = 4,26 fm-1. (5) Mit diesem Ergebnis ist nachgewiesen, daß Proton und Neutron eine räumliche Ausdehnung besitzen. Die Verteilungen von Ladung des Protons, magnetischem Moment des Protons und magnetischem Moment des Neutrons haben dieselbe Form; sie fallen mit wachsendem Abstand vom Nukleon-Zentrum ungefähr exponentiell ab. Der Rand von Proton und Neutron ist also unscharf. Für ihren mittleren Radius erhält man R = 12 / a = 0,81 fm. Die mittlere Ladungsdichte des Neutrons ist überall null; das Neutron wechselwirkt also elektromagnetisch nur durch sein magnetisches Moment. (Es wäre denkbar, daß das Neutron z.B. im Inneren positiv, nach außen hin negativ geladen wäre, wobei sich diese Ladungen zur Gesamtladung null aufheben. Dies ist jedoch experimentell nicht der Fall.) Nachdem die räumliche Ausdehnung der Nukleonen nachgewiesen war, ergab sich die Frage nach ihrer inneren Struktur. Diese wurde seit etwa 1967 in Experimenten zur inelastischen Elektron-Nukleon-Streuung untersucht. Später wurden statt Elektronen auch andere Leptonen (Myonen, Neutrinos und Antineutrinos) als „Sonden" zum „Abtasten" der Nukleon-Struktur benutzt. Bevor jedoch diese inelastische Streuung in Teil II besprochen wird, sollen im folgenden zunächst das Quark-Modell der Hadronen und die Kräfte zwischen den Quarks behandelt werden. Das Quark-Modell der Hadronen und die Kräfte zwischen den Quarks Der erste Hinweis darauf, daß Proton und Neutron aus noch kleineren Konstituenten zusammengesetzt sind, kam nicht aus Streuexperimenten, sondern aus dem Quark-Modell für die Klassifikation der Hadronen, das nun kurz beschrieben werden soll. Im Laufe der Jahre (seit etwa 1935) wurden zunächst in der Kosmischen Höhenstrahlung, später an den großen Teilchenbeschleunigern zusätzlich zum Elektron, Photon und den beiden Nukleonen weitere Teilchen in großer Anzahl entdeckt, die in energiereichen Zusammenstößen erzeugt werden und nach einer kurzen Lebensdauer in leichtere Teilchen zerfallen. Alle bisher bekannten Teilchen lassen sich einteilen in drei Klassen, nämlich in Leptonen, Hadronen und Wechselwirkungs-Bosonen (Photon, W- und Z-Boson). Bisher kennt man sechs Leptonen, das Elektron e-, das Myon µ-, das Tauon τ- und die zugehörigen Neutrinos, die man zu drei Lepton-Familien zusammenfas- 486 Fig. 10. Oktett der Baryonen mit Spin J = ½ und Parität P = + l im 4 - IZDiagramm (IZ = z-Komponente des Isospins, Y = Hyperladung). In Klammern sind die drei Valenz-Quarks angegeben, aus denen das jeweilige Baryon besteht sen kann: (e-, νe), (µ-, νµ) und (τ,ντ). Da es zu jedem Teilchen ein Antiteilchen gibt, kommen drei Antilepton-Familien hinzu: (e+, ν e ), (µ+, ν µ ) und (t, ντ ). Die Leptonen nehmen an der starken Wechselwirkung nicht teil, sie sind unempfindlich gegenüber der starken Kraft (so wie ein neutrales Teilchen ein elektrisches Feld nicht „fühlt"). Die geladenen Leptonen (e, µ, τ) nehmen an der elektromagnetischen und schwachen, die Neutrinos nur an der schwachen Wechselwirkung teil. Die Hadronen nehmen an allen drei Wechselwirkungen, insbesondere auch an der starken Wechselwirkung teil. Sie werden eingeteilt in Mesonen (z.B.π, K, η, ρ, ω usw.) mit ganzzahligem Spin (in Einheiten von h ) und Baryonen (z.B. Nukleon N, Λ, Σ, Ξ, ∆ usw.) mit halbzahligem Spin. Im Gegensatz zu den wenigen Leptonen wurde eine große Anzahl verschiedener Hadronen entdeckt, insbesondere seit ca. 1960 die zahlreichen „Resonanz"-Teilchen, die durch die starke Wechselwirkung zerfallen und deshalb extrem kurze Lebensdauern von ca. 10-23 s besitzen. Heute kennt man, wenn man die verschiedenen Ladungszustände eines Hadrons (z.B. π+, π0, π- für das Pion) nicht einzeln zählt und auch die zugehörigen Antihadronen nicht mitrechnet, über 100 verschiedene Hadronen. Es war schon früh offensichtlich, daß die zahlreichen Hadronen nicht alle als echte, kleinste Elementarteilchen angesehen werden können; so kompliziert kann die Natur nicht sein. Tatsächlich ließen sich verwandte Hadronen zu sogenannten Multipletts zusammenfassen. Das Multiplett z.B., in das die beiden Nukleonen p und n gehören, ist ein Oktett, das außerdem noch die Baryonen Σ, Λ und Ξ enthält (Fig. 10). Eine natürliche Erklärung fand diese Klassifikation der Hadronen in Multipletts, d.h. die Existenz dieser Multipletts, durch das von Gell-Mann und Zweig 1964 eingeführte Quark-Modell der Hadronen. Dieses Modell besagt in seiner ursprünglichen Form: Es gibt drei kleine, elementare (zunächst hypothetische) Bausteine (Konstituenten) der Hadronen, von Gell-Mann „Quarks" genannt (u, d und s), und die drei zugehörigen Antiquarks (u, d , s ), aus denen die Hadronen zusammengesetzt sind; und zwar ist ein Meson M ein gebundener Zustand aus einem Quark q und einem Antiquark q (M = qq , z.B. π+ = ud , π- = du ), während ein Baryon B aus drei Quarks besteht (B = qqq, z.B. p = uud, n = udd, Fig. 10). Alle Eigenschaften der Hadronen ergeben sich aus den Eigenschaften der Quarks und Antiquarks. Z.B. besitzen die Quarks drittelzahlige Ladungen (in Einheiten der Elementarladung e): Qu = 2/3, Qd = Qs = -1/3. Hieraus ergeben sich z.B. die Ladungen von Proton und Neutron: Qp = 2Qu + Qd = 2 · 2/3 – 1/3 = 1; Qn = Qu + 2Qd = 2/3 - 2 · 1/3 = 0. Ein weiteres Beispiel: Da die Quarks den Spin ½ haben und sich der Spin eines Hadrons aus den Spins und den ganzzahligen Bahndrehimpulsen der Quarks im Hadron vektoriell und gequantelt zusammensetzt, haben die Mesonen (mit 2 Konstituenten) ganzzahligen, die Baryonen (mit 3 Konstituenten) halbzahligen Spin. In den Jahren 1974 und 1977 wurden schwere Hadronen mit neuartigen Eigenschaften („Charm" und „Beauty" genannt) entdeckt, die die Einführung zweier weiterer, schwerer Quark-Arten (c und b) und damit eine Erweiterung des ursprünglichen Quark-Modells mit nur drei Quarks erforderlich machten. Heute hat man gute Gründe anzunehmen, daß es insgesamt sechs Quark-Arten gibt, von denen das sechste Quark, das t-Quark mit der Eigenschaft „Truth", wegen seiner großen Masse noch nicht gefunden ist. Diese sechs Quarks lassen sich (analog den sechs Leptonen) zu den drei Quarkfamilien (u,d), (c,s), (t,b) und den drei zugehörigen Antiquarkfamilien zusammenfassen. Alle bisher bekannten Hadronen können aus Quarks und Antiquarks aufgebaut und damit in die vom Quark-Modell vorausgesagten Multipletts eingeordnet werden; es gibt unter den zahlreichen Hadronen kein einziges, das nicht ins Quark-Modell hineinpaßt. Damit ist eine enorme Vereinfachung erreicht: Nicht die vielen Hadronen, sondern die sechs Quarks sind als echte Elementarteilchen anzusehen, in Analogie dazu, daß nicht die 92 verschiedenen Atomkerne, sondern die beiden Nukleonen als Bausteine der Materie zu betrachten sind. Während der Aufbau unserer gewöhnlichen Materie mit den Teilchen der ersten Quark- und Leptonfamilie erklärt werden kann, treten die Teilchen der zweiten und dritten Familien nur bei hochenergetischen Prozessen im Weltall und an den Teilchenbeschleunigern auf. Durch welche Kraft werden die Quarks z.B. im Nukleon aneinander gebunden? Für die Wechselwirkung zwischen den Quarks bzw. Antiquarks, also auch für die Bindung der drei Quarks in einem Nukleon, ist die starke Kraft verantwortlich. Für sie wurde, in Analogie zur Quantenelektrodynamik (QED, S. 481) für die elektromagnetische Kraft, die Theorie der Quantenchromodynamik (QCD) entwickelt. Nach ihr kommt die starke Kraft durch den Austausch von Gluonen („Leim-Teilchen", die den „Leim" für den Zusammenhalt der Quarks im Nukleon darstellen) zustande, entsprechend dem Photon-Austausch bei der elektromagnetischen Wechselwirkung (Fig. 2, 6b). Die Eigenschaft der Quarks, die diesen Gluon-Austausch, d.h. die Emission bzw. Absorption eines Gluons ermöglicht, hat man „Farbe" („Farbladung") genannt, entsprechend der elektrischen Ladung, durch die in der QED z.B. ein Elektron ein Photon emittieren bzw. absorbieren kann. Während jedoch ein Elektron (oder jedes andere geladene Teilchen) eine feste Ladung besitzt (-1 für das Elektron), kommt jedes Quark in drei Farben (rot r, grün g, blau b)3 vor, d.h. die Farbladung eines Quarks kann die drei verschiedenen „Farbwerte" r, g, b annehmen.4 Dies hat zur Folge, daß es in der QCD acht verschiedene Gluonen gibt, während es in der QED nur ein Photon gibt. Diese Gluonen besitzen selbst wieder die Eigenschaft „Farbe", im Gegensatz zum Photon, das keine Ladung trägt, d.h. elektrisch neutral ist. Die Gluonen sind also die Träger (Übermittler) der starken Kraft (der „Farbkräfte") zwischen Quarks und Antiquarks, entsprechend dem Photon als Träger der elektromagnetischen Kraft; sie halten die Quarks im Nukleon zusammen. Nicht die durch Meson-Austausch (Fig. 3) vermittelten Kräfte zwischen Hadronen, sondern die Farbkräfte zwischen Quarks und Antiquarks sind die eigentlichen, fundamentalen Kräfte der starken Wechselwirkung, da die Quarks und Antiquarks und nicht die aus ihnen zusammengesetzten Hadronen - die eigentlichen Elementarteilchen sind. Die Existenz der Eigenschaft „Farbe" für die Quarks und der damit verbundenen Gluonen wurde inzwischen in mehreren verschiedenartigen Experimenten nachgewiesen. 3 Wie man sieht, verwendet man zur sprachlichen Benennung der unanschaulichen, in unserer normalen Umwelt nicht wahrnehmbaren und daher ungewohnten Eigenschaften, die in der Welt der Quarks angetroffen werden, Ausdrücke aus dem täglichen Sprachgebrauch wie Farbe (rot, grün, blau), Charm, Beauty, Truth usw. (Die „Farben" der QCD z.B. haben also überhaupt nichts mit den gewöhnlichen Farben in der Optik zu tun.) 4 Ein Antiquark kommt in drei Antifarben r , g , b vor, entsprechend dem Positron e+ (Anti-Elektron), das die zur Elektronladung entgegengesetzte elektrische Ladung („Antiladung") besitzt, nämlich +1. 487 Fig. 11. Führt man einem π+ = ( ud ) Energie zu, so werden nicht u und d voneinander getrennt; es entsteht vielmehr aus der zugeführten Energie ein Quark-Antiquark-Paar, z.B. dd , und damit in der dargestellten Weise ein zusätzliches Meson (z.B. π0) Dadurch, daß die Gluonen, im Gegensatz zum ungeladenen Photon, selbst Farbe tragen, haben die Farbkräfte wesentlich andere Eigenschaften als die elektromagnetische Kraft: Während diese mit wachsendem Abstand zwischen zwei Ladungen immer schwächer wird (∝ l/r2), werden jene mit zunehmendem Abstand z.B. zwischen zwei Quarks immer größer. Wollte man etwa in einem π+ (= ud ) das d Antiquark vom u-Quark trennen (π+-Dissoziation), so müßte man mit zunehmendem Abstand zwischen u und d eine immer höhere Energie aufwenden (ähnlich wie beim Auseinanderziehen eines Gummibandes). Diese Energiezufuhr bewirkt jedoch schließlich nicht die Abtrennung des d , sondern die Erzeugung eines Quark-Anti-quarkPaares, so daß als Ergebnis aus dem ursprünglichen π+Meson zwei Mesonen geworden sind (Fig. 11). Aus dieser Überlegung ergibt sich die fundamentale Erkenntnis: Es gibt keine freien Quarks, Antiquarks (und Gluonen); es treten als freie, isolierte Teilchen nur solche Kombinationen von Quarks und Antiquarks auf, in denen sich die Farben aufheben, die also insgesamt farbneutral sind (so wie sich z.B. im neutralen H-Atom die Ladungen von Proton und Elektron aufheben), zwischen denen also keine Farbkräfte wirksam sind (so wie zwischen zwei elektrisch neutralen Teilchen keine elektrische Kraft wirkt). Die einzigen einfachen Kombinationen, die farbneutral 488 sein können, sind qq und qqq, also die Mesonen und Baryonen, deren Existenz und Beobachtbarkeit als einzelne freie, voneinander getrennte Teilchen somit verständlich wird. Innerhalb eines solchen Hadrons sind die Quarks und Antiquarks fest gebunden („Confinement"). Während es also freie elektrische Ladungen gibt (z.B. ein freies Elektron oder Proton), gibt es keine freien Farbladungen und damit keine freien (Anti-)Quarks und Gluonen. Tatsächlich ist die intensive Suche nach ihnen in den verschiedenartigsten Experimenten und Materialien bisher ergebnislos verlaufen. Umgekehrt werden bei kleinen Abständen, d.h. bei hohen Energien, die Farbkräfte relativ schwach. In einem hochenergetischen Proton z.B. verhalten sich die drei Quarks uud daher wie quasi-freie Teilchen („asymptotische Freiheit"), so daß ein solches Proton als ein Strahl quasifreier Quarks angesehen werden kann. In Teil II dieser Arbeit werden die inelastische LeptonNukleon-Streuung und das Quark-Parton-Modell beschrieben, das unser heutiges Bild von der inneren Struktur von Proton und Neutron darstellt. Schließlich behandelt das letzte Kapitel die heutigen Versuche, in hochenergetischen Zusammenstößen schwerer Kerne ein Quark-Gluon-Plasma zu erzeugen und dadurch die „Einkerkerung" der Quarks in einzelnen Nukleonen aufzuheben.