Die innere Struktur von Proton und Neutron

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Wissenschaften
Die innere Struktur von
Proton und Neutron
Teil I
Norbert Schmitz
Max-Planck-Institut für Physik und
Astrophysik, D-8000 München
This article reviews on a rather elementary level the
various Steps which have led to our present
knowledge of the internal structure of the nucleons
(proton and neutron), consisting of valence quarks,
sea quarks and gluons. Whilst experiments on elastic
electron-nucleon scattering have yielded information
on the shape of the nucleons and their Charge and
magnetic moment distributions, their internal quarkparton structure has been investigated in deepinelastic lepton-nucleon scattering experiments,
which have led to a determination of the quark, antiquark and gluon momentum distributions inside the
proton and neutron. The present attempts to overcome
the confinement of the nucleon's constituents, i.e. to
produce a quark-gluon plasma in heavy-ion collisions
at high energies are discussed.
Naturwissenschaften 75, 479 - 488 (1988) © Springer-Verlag 1988
Die Frage, woraus Materie bestehe und was ihre kleinsten
Bausteine seien, hat die Naturphilosophen und
Naturforscher seit dem Altertum beschäftigt; auf der Suche
nach diesen letzten elementaren Bausteinen ist die moderne
Naturwissenschaft zu immer kleineren Einheiten
vorgedrungen (Fig. l). Der erste wichtige Schritt auf diesem
Wege war die Entdeckung der Atome, von denen 92
verschiedene Arten in der Natur vorkommen. Dies sind die
„chemischen Elemente", vom leichtesten und einfachsten
Atom, dem Wasserstoff-Atom, bis zum schwersten Atom,
dem Uran-Atom. Aus Atomen sind die Moleküle zusammengesetzt, die in endloser Vielzahl in der unbelebten und
belebten Natur existieren oder von den Chemikern
synthetisiert werden, von den einfachsten, aus wenigen
Atomen aufgebauten Molekülen bis hin zu den Makromolekülen der organischen Materie, die aus Tausenden
verschiedener
Atome
bestehen
können.
Riesige
Anhäufungen von Atomen oder Molekülen bilden die von
unseren
Sinnesorganen
direkt
wahrnehmbaren
makroskopischen Körper und Gegenstände.
Auf der anderen Seite sind die Atome nicht unteilbar;
sie können in noch kleinere Materie-Einheiten zerlegt
werden, wie die bahnbrechenden Streuexperimente von
Rutherford und seinen Mitarbeitern vor etwa 80 Jahren
(1911) zum ersten Mal gezeigt haben. Wie die Atomphysik
lehrt, besteht ein Atom aus einem elektrisch positiv
geladenen Atomkern im Atom-Inneren und einer ihn
umgebenden Hülle aus elektrisch negativ geladenen
Elektronen. Dabei ist die geometrische Ausdehnung eines
Atoms, von der Größenordnung 10-8 cm, durch die
Elektronenhülle gegeben, während der winzig kleine
Atomkern zehn- bis hunderttausendmal kleiner ist, also
einen Durchmesser von nur 10-13 bis 10-12 cm besitzt.
Andererseits ist die Masse eines Atoms fast ganz im Kern
konzentriert; die Masse der Atomhülle ist gegenüber der
Masse des Kerns praktisch vernachlässigbar. Diese Größenund Massenverhältnisse ähneln denjenigen in unserem
Planetensystem, dessen Gesamtmasse praktisch ganz auf
die im Vergleich zur Ausdehnung des gesamten Systems
winzig kleine Sonne entfällt.
Bei der näheren Untersuchung der Atomkerne in der
Kernphysik stellte sich heraus, daß auch die zahlreichen
verschiedenen Atomkerne keine kleinsten, unzerlegbaren
Einheiten darstellen, sondern aus positiv geladenen
Protonen und neutralen Neutronen zusammengesetzt sind,
die man gemeinsam als Nukleonen (Kernteilchen)
bezeichnet. Jedes „chemische Element" ist durch die
Anzahl der Protonen im Kern gekennzeichnet; z.B. ist der
Wasserstoffkern ein einzelnes Proton, der Urankern besitzt
92 Protonen. Da die positive Protonladung und die negative
Elektronladung dem Betrage nach gleich sind, ist im
elektrisch neutralen Atom die Anzahl der Protonen im Kern
gleich der
479
Fig. l. Schematische Darstellung des Aufbaus der Materie
Anzahl der Elektronen in der Hülle. Die Anzahl der
Neutronen im Kern kann bei fester Protonenzahl im
allgemeinen verschiedene Werte annehmen; diese verschiedenen Kerne bezeichnet man als die Isotope eines
Elements. Da Proton und Neutron ungefähr 1800mal so
schwer wie ein Elektron sind, ist die ganze Masse eines
Atoms in seinem Kern konzentriert. Während die
Elektronen in der Atomhülle im Mittel große Abstände
voneinander haben und das relativ große Volumen eines
Atoms daher im wesentlichen „leerer Raum" ist, sind die
Nukleonen im winzig kleinen Atomkern eng beieinander,
d.h. dicht gepackt.
Die drei Teilchenarten Elektron, Proton und Neutron, aus
denen in der kurz skizzierten Weise die Atome aufgebaut
sind, wurden lange Zeit in der Elementarteilchenphysik als
kleinste Materiebausteine, d.h. als echte Elementarteilchen
angesehen. Für das Elektron gilt dies auch heute noch; mit
der Meßgenauigkeit bisheriger Experimente wurde keine
räumliche Ausdehnung des Elektrons festgestellt (r < 10-16
cm); es kann daher als mathematischer Punkt angesehen
werden. Proton und Neutron dagegen besitzen eine
räumliche Ausdehnung von ca. 10-13 cm, wie Experimente
in Stanford (USA) vor allem in den 50-er und 60-er Jahren
zum ersten Male gezeigt haben. Mehr noch: Masse,
elektrische Ladung und andere physikalische Eigenschaften
der beiden Nukleonen sind nicht diffus über ihre räumliche
Ausdehnung verteilt, sondern in punktförmigen inneren
Konstituenten, von Feynman Partonen genannt,
konzentriert. Proton und Neutron besitzen demnach eine
„körnige" innere Struktur; sie bestehen aus Partonen, die
später als die 1964 von Gell480
Mann und Zweig eingeführten Quarks identifiziert werden
konnten. Nach unserem heutigen Verständnis ist ein Nukleon
im wesentlichen aus drei Quarks zu- sammengesetzt, die
durch starke Bindungskräfte im Nukleon zusammengehalten
werden. Nicht Proton und Neutron, sondern die
punktförmigen Quarks sind also (wie das Elektron) als echte
Elementarteilchen, d.h. als kleinste Materie-Bausteine
anzusehen.
Die Erforschung der inneren Struktur von Proton und
Neutron und unser heutiges Bild von ihr sollen in diesem
Artikel beschrieben werden. Zunächst behandelt das folgende
Kapitel die verschiedenen Kräfte (Wechselwirkungen), die
zwischen Elementarteilchen wirksam sind. Die moderne
Teilchenphysik fragt nämlich nicht nur danach, welche
Teilchen es gibt und welche Eigenschaften sie besitzen,
sondern auch nach den Wechselwirkungen zwischen ihnen.
Um mit Streuexperimenten vertraut zu machen, wird
dargelegt, wie man aus solchen Experimenten Auskunft über
die Ausdehnung und innere Struktur von Atomen und
Atomkernen gewonnen hat und warum man immer höhere
Energien benötigt, um immer kleinere Objekte zu erforschen.
Dann wird die räumliche Ausdehnung des Protons und
Neutrons behandelt. Das letzte Kapitel von Teil I beschreibt
das Quark-Modell der Hadronen-Klassifikation und die
zwischen den Quarks durch Gluonen-Austausch wirksamen
Kräfte. Die innere Struktur von Proton und Neutron, d.h. ihre
Zusammensetzung aus Partonen (Quarks, Antiquarks, Gluonen), wird in Teil II besprochen. Das letzte Kapitel diskutiert
die
heutigen
Versuche,
in
hochenergetischen
Zusammenstößen schwerer Kerne ein Quark-Gluon-Plasma
zu erzeugen und dadurch die „Einkerkerung" der Quarks in
einzelnen Nukleonen aufzuheben.
Kräfte und Teilchen
Man kennt heute vier Kräfte in der Natur, die sich durch ihre
Stärke und durch die Reichweite ihrer Wirksamkeit
voneinander unterscheiden: die starke Kraft, die
elektromagnetische Kraft, die schwache Kraft und die
Gravitationskraft.
Dabei
ist
die
Gravitation
(Massenanziehung) im Vergleich zu den drei anderen Kräften
so schwach, daß sie sich nur bei makroskopischen
Massenanhäufungen, etwa in der Astronomie, bemerkbar
macht und bei den winzig kleinen Massen der
Elementarteilchen praktisch keine Rolle spielt. Sie wird daher
im folgenden nicht weiter behandelt.
Am längsten bekannt ist die elektromagnetische Kraft. Sie
bindet z.B. in einem Atom die Elektronen in der Hülle an den
Atomkern, etwa im Wasserstoffatom (H-Atom) das negativ
geladene Elektron an das positiv geladene Proton. Diese
Bindung, d.h. die Anziehung der
Fig. 2. a) Schematische Darstellung des Wasserstoffatoms, in dem das Proton
(p) und das Elektron (e) durch den Austausch von Photonen (γ
aneinandergebunden sind. b) Feynman-Diagramm für den Austausch von
Photonen im Wasserstoffatom
Fig. 3. Feynman-Diagramm für die Kernkraft zwischen zwei Protonen durch
π0-Austausch
beiden entgegengesetzten Ladungen, kommt zustande
durch die elektrischen Felder, die Elektron und Proton
umgeben. Bei der quantitativen Behandlung des H-Atoms
kann man jedoch nicht die klassische Elektrodynamik
anwenden; es herrschen vielmehr im Mikrokosmos eines
Atoms die Gesetze der Quantentheorie, in unserem Fall der
relativistischen Quantenelektrodynamik (QED). Nach ihr
ist die Energie des elektromagnetischen Feldes gequantelt,
sie besteht aus kleinen Energieportionen (Energiequanten),
den Photonen (Lichtteilchen). Nach der QED-Theorie
kommt die Wechselwirkung zwischen Proton und Elektron
im H-Atom dadurch zustande, daß zwischen ihnen ständig
Photonen ausgetauscht werden; ein einzelner Austauschprozeß besteht darin, daß z.B. das Proton ein Photon
emittiert und dieses kurz danach vom Elektron absorbiert
wird (oder umgekehrt) (Fig. 2a). Figur 2b zeigt diesen
ständigen Austausch von Photonen im H-Atom in einem
sogenannten Feynman-Diagramm, in dem die einzelnen in
Raum und Zeit existierenden Teilchen als Linien dargestellt
sind. Das Photon ist also der Übermittler (Träger, Quant)
der elektromagnetischen Kraft zwischen geladenen
Teilchen.
Auch die beiden anderen Kräfte, die starke und die
schwache Kraft, beruhen auf dem Austausch entsprechender Teilchen als Wechselwirkungsträger. Die starke
Kraft ist u.a. für die starken Kernkräfte verantwortlich, die
in einem Atomkern die Protonen und
Neutronen eng und fest aneinander binden. Sie kommen
dadurch zustande, daß zwischen den Nukleonen vor allem
Pionen ausgetauscht werden. (Während das Nukleon in
zwei Ladungszuständen vorkommt, nämlich als Proton und
Neutron, gibt es für das Pion (π) drei Ladungszustände: das
positiv geladene π+, das negativ geladene π- und das
neutrale π0.) Z.B. sind im Helium-Kern, bestehend aus zwei
Protonen und zwei Neutronen, die beiden Protonen
aneinandergebunden durch π0-Austausch (Fig. 3). Da die
starke Kraft sehr viel stärker ist als die elektromagnetische
Kraft, übertrifft die starke Anziehung der beiden Protonen
bei weitem ihre elektrische Abstoßung.
Während des π0-Austauschs in Fig. 3 ist der EnergieErhaltungssatz verletzt: Es tritt zusätzlich ein π0 auf, dessen
Masse m nach der Einstein-Gleichung einer Energie von E
= mc2 (c = Lichtgeschwindigkeit) äquivalent ist. Nach der
Heisenbergschen
Unschärferelation E ⋅t = h
(h =
Plancksches Wirkungsquantum dividiert durch 2π) ist eine
solche Verletzung des Energiesatzes um den Betrag E
während der kurzen Zeit t möglich, die das π0 benötigt, um
von einem Proton zum anderen Proton in Fig. 3 zu
gelangen. Daraus erhält man für die Reichweite R der
Kernkraft (= Abstand der beiden Protonen im Kern) die
Beziehung
R=
hc
mc ²
(1)
mit hc = 197 MeV · fm (l fm = l fermi = 10-13 cm)1. Mit der
π0-Masse m = 135 MeV/c2 (d.h. mc2 = 135 MeV) ergibt
sich somit für die starken Kernkräfte eine sehr kleine
Reichweite von R ≈ 1,5fm.
Die aus der Unschärfe-Relation sich ergebende MasseReichweite-Beziehung (l) gilt für alle Kräfte. Nach ihr ist
die Reichweite einer Kraft um so größer (kleiner), je kleiner
(größer) die Masse des Teilchens ist, das die Kraft
überträgt. Die elektromagnetische Kraft, die durch das
masselose Photon übertragen wird, hat eine unendliche
Reichweite; sie nimmt zwar nach dem Coulombschen
Kraftgesetz mit dem Abstand r zwischen zwei Ladungen
wie 1/r2 ab, macht sich aber auch bei makroskopischen
Abständen bemerkbar, während die starke Kraft nur bei sehr
kleinen Abständen (von der Größenordnung der
Atomkerne) wirksam wird. Auf diesem Unterschied beruht
auch die dichte Packung der Nukleonen in einem Atomkern
und damit seine Kleinheit einerseits und die weiträumige
Verteilung der Elektronen in der Atomhülle andererseits.
Die schwache Kraft, die z.B. den Zerfall eines freien (d.h.
nicht in einem stabilen Atomkern gebundenen)
1
Die gebräuchliche Energieeinheit in der Mikrophysik ist das Elektronvolt,
das ist die Energie, die ein Elektron mit der Elementarladung e beim
Durchlaufen einer Spannung von l Volt gewinnt. 103 eV = l keV (Kilo-eV),
l06 eV = l MeV (Mega-eV), l09 eV = l GeV (Giga-eV), 1012eV = l
TeV(Tera-eV).
481
Neutrons in Proton, Elektron und Antineutrino (n → pe- ν )
nach eipner mittleren Neutron-Lebensdauer von t = 15 min
bewirkt (Fig. 4), wird durch die drei schweren Bosonen W+,
W- und Z0 übertragen. Diese Teilchen wurden 1983 am
Europäischen Forschungszentrum für Teilchenphysik
CERN in Genf als freie Teilchen entdeckt; sie besitzen eine
Masse von ca. 90 GeV/c2 (m = 81,8 GeV/c2 für W±, m =
92,6 GeV/c2 für Z0) und sind damit ungefähr 100-mal (!) so
schwer wie das Proton. Aus dieser hohen Masse ergibt sich
nach (l) für die schwache Kraft die extrem kleine
Reichweite von ca. 2·10-3 fm (d.h. ungefähr ein Tausendstel
der starken Reichweite). Die schwache Kraft ist aufgrund
der hohen W- und Z-Masse bei niedrigen Energien sehr viel
schwächer als die elektromagnetische Kraft, während sie
bei sehr hohen Energien (» 100 GeV) ungefähr so stark wie
die elektromagnetische Kraft wird. Dies hat 1967 mit zu der
wichtigen und folgenreichen Entdeckung von Salam und
Weinberg beigetragen, daß die schwache und die
elektromagnetische Kraft zwei Erscheinungsformen ein und
derselben Kraft, der sogenannten elektroschwachen
Wechselwirkung sind.
Fig. 4. Feynman-Diagramm für den Zerfall des Neutrons (n) in Proton (p),
Elektron (e-) und Antineutrino ( ν ),n → pe- ν . Die schwache Kraft wird
durch das W--Boson übertragen
Streuexperimente zur Erforschung der
Atom- und Kern-Struktur
Grundlage für alle Strukturuntersuchungen in der Mikrophysik sind Streuexperimente, wie sie zum ersten Mal
von Rutherford und Mitarbeitern zur Untersuchung der
inneren Struktur von Atomen durchgeführt wurden.
Rutherford lenkte einen Strahl von α-Teilchen
(Heliumkernen) aus radioaktiven Kernzerfällen auf eine
dünne Metallfolie (z.B. Gold), um den Zusammenstoß von
α-Teilchen mit einzelnen Atomen in der Folie zu
untersuchen. Er maß mit einem geeigneten α-Detektor um
die Folie herum die Winkel θ, um die die einzelnen aTeilchen durch die Atome der Folie aus ihrer
ursprünglichen Richtung abgelenkt („gestreut") wurden,
und fertigte aus vielen solcher Streuereignissen eine
Streuwinkel-Verteilung σ(θ) (Wirkungsquerschnitt für die
Streuung um den Winkel θ) an, die die Häufigkeit
(Wahrscheinlichkeit) angibt, mit der die einzelnen
Streuwinkel θ (von 0° bis 180°) im Experiment beobachtet
wurden. Falls die Atommaterie (und die elektrischen
Ladungen) gleichmäßig und diffus über das ganze
Atomvolumen verteilt wäre, sollten die α-Teilchen am
ausgedehnten Atom „weich" gestreut werden. Große
Streuwinkel (etwa > 90°) sollten praktisch nicht
vorkommen (Fig. 5a), d.h. man würde eine mit
zunehmendem Streuwinkel stark abfallende Winkel
Verteilung erwarten. Statt dessen wurden im Experiment
zwar selten, aber wesentlich häufiger,
482
Fig. 5. Streuung von α-Teilchen an einem Atom (Rutherford-Experiment).
Im unrealistischen Fall (a) ist die Atommaterie gleichmäßig verteilt; es
treten nur kleine Streuwinkel auf. Im realistischen Fall (b) befindet sich tief
im Inneren des Atoms ein kleiner, schwerer, positiv geladener Kern; es
treten auch große Streuwinkel auf
als für ein diffuses Atom erwartet, auch große Streuwinkel (θ
> 90°) gemessen, ja sogar Streuwinkel nahe 180° beobachtet,
bei denen das gestreute α ungefähr in die ursprüngliche αStrahl-Richtung zurückfliegt. Die einzig mögliche Deutung
dieses überraschenden Meßergebnisses war die Annahme,
daß es im Inneren des streuenden Atoms einen kleinen,
schweren, positiv geladenen Kern gibt. Wenn ein α-Teilchen
in die unmittelbare Nähe dieses kleinen Kerns gelangt, so
erfährt es die dort wirksame, wegen des kleinen Abstandes r
besonders große elektrische Coulombkraft (∝ 1/r2) des Kerns
und wird durch sie in einer „harten" Streuung
stark aus seiner ursprünglichen Richtung, d.h. unter großem
Streuwinkel abgelenkt (Fig. 5b). Damit waren die
Atomkerne im Inneren der Atome entdeckt. Die
Rutherfordschen Streuexperimente lieferten also Auskunft
über die innere Struktur der Atome, wobei die benutzten
Strahlteilchen als „Sonden" dienten, mit denen diese
Struktur „abgetastet" wurde.
In ähnlicher Weise wurden in späteren Jahren die räumliche
Ausdehnung und die innere Struktur der Atomkerne selbst
in zahllosen Streuexperimenten der Kernphysik mit
verschiedenen Strahlteilchen, insbesondere Photonen,
Elektronen und Protonen, erforscht. Dabei wurden auch
diese Kerne als ausgedehnte, aus Protonen und Neutronen
zusammengesetzte Objekte erkannt und in ihrem Aufbau
näher untersucht. Hier sind nun zwei Arten von
Streuprozessen voneinander zu unterscheiden, nämlich die
einfachere elastische Streuung und die kompliziertere
inelastische Streuung. Bei einer elastischen Kollision eines
Strahlteilchens, etwa eines Protons p, mit einem Atomkern
A wird das Proton vom Kern als Ganzem gestreut. Dabei
bleibt der Kern unversehrt; er wird nur angestoßen und
verläßt als unverändertes Ganzes den Streuprozeß (pA →
pA). Bei der inelastischen Streuung dagegen reagiert das
Strahlteilchen mit einem oder mehreren Nukleonen im
Kern. Dabei wird der getroffene Kern in seine Bestandteile,
d.h. in einzelne Nukleonen, oder größere Kernbruchstücke
auseinandergerissen; ja es können sogar, wenn die Energie
des Strahlteilchens groß genug ist, zusätzliche Teilchen,
meistens Pionen, erzeugt werden. Diese Teilchenerzeugung
kommt dadurch zustande, daß ein Teil der kinetischen
Energie des Strahlteilchens umgesetzt wird in die Massen
der erzeugten Teilchen, da ja nach der Einstein-Gleichung
(s.o.) Masse eine Form von Energie ist und eine
Energieform in eine andere unter Erhaltung der
Gesamtenergie umgewandelt werden kann. Während die
elastische Kern-Streuung Auskunft gibt über die räumliche
Ausdehnung eines Kerns und über die Verteilungen von
Masse und Ladung innerhalb dieses Kernvolumens,
erfahren wir aus der inelastischen Streuung direkt die innere
Struktur eines Kerns, d.h. aus welchen kleineren Bausteinen
er zusammengesetzt ist.
Zur Untersuchung einer Kernstruktur in einem Streuexperiment sind wesentlich höhere Energien (Impulse) (E ≈
100 MeV) der Strahlteilchen erforderlich als zur
Erforschung einer Atomstruktur (E ≈l keV), und zwar aus
folgendem Grund: Ganz allgemein ist nach dem TeilchenWellen-Dualismus der Quantentheorie einem Teilchen mit
dem Impuls p eine Wellenlänge λ(de Broglie-Wellenlänge)
mit ( λ = λ/ 2π )
λ=
hc
pc
(2)
zugeordnet; sie ist also um so kleiner, je größer der Impuls
des Teilchens ist. Soll nun mit einem solchen Teilchen, z.B.
einem Elektron, eine Struktur von der räumlichen
Ausdehnung ∆x „abgetastet" werden, so darf die zugehörige
Wellenlänge des Teilchens, d.h. seine Lokalisierbarkeit,
nicht größer als ungefähr ∆x sein. Je kleiner also das zu
untersuchende Objekt, die zu erkennende Struktur ist, um so
kürzer muß die Wellenlänge, d.h. um so größer muß nach
(2) der Impuls und damit die Energie der abtastenden
Teilchen sein.2 Anders ausgedrückt: Ein Objekt (z.B.
Atomkern, Nukleon), das bei niedriger Energie als
punktförmig erscheint, kann sich bei höherer Energie als
ausgedehntes Gebilde mit einer inneren Struktur erweisen.
Die umgekehrte Proportionalität zwischen der Energie der
Strahlteilchen und der Größe des aufzulösenden Objekts, die
auch schon in der Beziehung (l) zum Ausdruck kam, läßt
sich noch auf eine andere Weise verstehen. Je kleiner ein
materielles Objekt ist, um so fester sind die Bestandteile,
aus denen es zusammengesetzt ist, aneinander gebunden:
Die Bindungskräfte der Atome in einem Molekül sind
schwächer als die der Elektronen an den Kern in einem
Atom, letztere sind schwächer als die Bindungskräfte
zwischen den Nukleonen in einem Kern und schließlich
diese wiederum schwächer als die Bindung der Quarks in
einem Nukleon. Will man daher die innere Struktur eines
solchen Objekts näher erforschen, indem man es in einem
inelastischen Streuexperiment in seine Bausteine zerlegt und
diese mißt, so muß die Energie der Strahlteilchen, mit denen
man die Bindung dieser Bausteine gegen ihre
Bindungskräfte aufbricht, um so größer sein, je kleiner das
Objekt ist. Zur Untersuchung der Proton- und
Neutronstruktur, unterhalb von ca. 10-13 cm, sind daher
relativ hohe Energien der Strahlteilchen, über ca. 100 MeV,
erforderlich.
Die elastische Elektron-Nukleon-Streuung
Die räumliche Ausdehnung von Proton (p) und Neutron (n)
wurde in Experimenten zur elastischen Streuung von
Elektronen (e) erforscht. Die elastische ep-Streuung, ep →
ep (Fig. 6a), geschieht durch die elektromagnetische Kraft,
d.h. durch Photon-Austausch (Fig. 6b). Die allgemeinste
Formel für den Wirkungsquerschnitt σ(θ) wurde von
Rosenbluth hergeleitet; sie ist wesentlich komplizierter als
die ursprüngliche Rutherford-Formel, die Rutherford aus
dem Coulomb2
Dieser Sachverhalt ist schon aus der Optik des Mikroskops bekannt: Die
Wellenlänge des benutzten Lichtes muß um so kleiner sein, je kleiner das
zu beobachtende Objekt ist; das räumliche Auflösungsvermögen eines
Mikroskops ist also um so besser, je kürzer die Wellenlänge des Lichtes
(d.h. je größer die Energie der Lichtquanten) ist.
483
Rutherford-Formel sind in der Rosenbluth-Formel die
folgenden Punkte berücksichtigt:
Fig. 6. a) Elastische Elektron-Proton-Streuung, ep → ep. E und E’ sind die
Energien des Elektrons vor bzw. nach der Streuung; θ ist sein Streuwinkel. b)
Feynman-Diagramm für die elastische ep-Streuung durch Photon-Austausch.
Das Photon (γ
) bewirkt einen Impulsübertrag Q vom punktförmigen Elektron
auf das ausgedehnte Proton
(a) Es sind die Gesetze der Relativitäts- und Quantentheorie, d.h. der Quantenelektrodynamik anzuwenden;
(b) das Proton erfährt durch die Streuung einen elastischen
Rückstoß;
(c) Elektron und Proton besitzen einen Eigendrehimpuls
(„Spin", anschaulich: Rotation um eine eigene innere
Achse) und damit ein inneres magnetisches Moment (sie
können anschaulich als zwei kleine magnetische Dipole
angesehen
werden);
dadurch
treten
sie
in
elektromagnetische Wechselwirkung miteinander nicht
nur aufgrund ihrer Ladung, sondern auch durch ihre
magnetischen Momente;
(d) das Proton besitzt eventuell (im Gegensatz zum
Elektron) eine räumliche Ausdehnung und damit eine
Dichte-Verteilung seiner Ladung und seines magnetischen
Moments innerhalb dieser Ausdehnung.
Dieser letzte Punkt ist der wichtigste; eine mögliche
Ausdehnung des Protons soll ja in elastischen epStreuexperimenten erforscht werden. Beschrieben wird
diese Ausdehnung (die „Form" des Protons) durch zwei
sogenannte Formfaktoren in der Rosenbluth-Formel, GE(Q)
für die Verteilung der elektrischen Ladung und GM(Q) für
die Verteilung des magnetischen Moments. Die beiden
Formfaktoren hängen ab vom sogenannten Impulsübertrag
Q vom einlaufenden Elektron über das ausgetauschte
Photon (Fig. 6b) auf das Proton, wobei Q bei fester Strahlenergie E durch den Streuwinkel θgegeben ist und von Q=0
für θ=0 mit zunehmendem θ anwächst bis zu einem
Maximalwert
Q max = 2 E
60
90
120
Streuwinkel ?[°]
Fig. 7. Abhängigkeit des Impulsübertrags Q (durchgezogene Kurven, linke
Skala) und der Energie E’ des gestreuten Elektrons (gestrichelte Kurven,
rechte Skala) vom Streuwinkel θ in der elastischen Elektron-Proton-Streuung,
für zwei Elektron-Energien: E = l GeV (l) und E = 10 GeV (2)
schen Kraftgesetz und den Gesetzen der Newtonschen
Mechanik für die Streuung eines punktförmigen Teilchens an
der Ladung eines punktförmigen schweren Kerns hergeleitet
hatte. (Bei den niedrigen Energien der RutherfordExperimente konnte der Kern noch als punktförmig angesehen
werden.) Im Unterschied zur
484
Mc²
2 E + Mc²
bei θmax = 180° (M = Protonmasse) (Fig. 7). Die
Formfaktoren G(Q), die im allgemeinen mit wachsendem
θ abfallen, geben an, wie stark bei einem bestimmten Q,
d.h. beim zugehörigen Streuwinkel θ, die Streuung an
einem ausgedehnten Proton im Vergleich zur Streuung an
einem punktförmigen Proton reduziert ist. (Die Streuung an
einem ausgedehnten Objekt führt ja, wie im
Zusammenhang mit den Rutherford-Experimenten
beschrieben, im Vergleich zur punktförmigen Streuung zu
einer Unterdrückung größerer Streuwinkel.) Konstante, d.h.
von Q unabhängige Formfaktoren würden also keine
Reduktion, d.h. ein punktförmiges Proton bedeuten (Fig. 8).
Allgemein erhält man durch Transformation der beiden
Formfaktoren aus dem Impulsraum in den Ortsraum
(Fourier-Transformation) direkt die (über die Zeit
gemittelten) Dichte-Verteilungen ρ(r) von Ladung und
magne-
Fig. 8. Schematische Darstellung a) dreier möglicher Dichteverteilungen
ρ(r) des Protons als Funktion des Abstands r vom Mittelpunkt und b) der
zugehörigen Abhängigkeiten des Formfaktors G(Q) vom Impulsübertrag
Q: (I) punktförmiges Proton - konstanter Formfaktor, (2) Proton mit
scharfem Rand - oszillierender Formfaktor (die Kurve stellt den Betrag
des Formfaktors dar), (3) Proton mit exponentiell abnehmender Dichte
ρ(r)=ρ0e-ar - Dipolformfaktor. Der Fall (3) entspricht annähernd der
Wirklichkeit
Scheibe mit scharfem Rand). Aus einer glatten Q-Abhängigkeit dagegen ist auf ein Proton mit einem ausgeschmierten, unscharfen Rand zu schließen (Fig. 8). Je steiler
G(Q) mit zunehmendem Q abfällt, je stärker also große
Impulsüberträge und damit große Streuwinkel unterdrückt
sind, um so ausgedehnter ist das Proton.
Die Aufgabe eines Experiments zur elastischen ep- bzw. enStreuung besteht also darin, die Formfaktoren von Proton
und Neutron zu messen und dadurch Aufschluß über die
geometrische „Form" der beiden Nukleonen zu gewinnen.
Solche Experimente wurden seit 1955 von Hofstadter an der
Stanford-Universität
und
später
von
mehreren
Physikergruppen an verschiedenen anderen ElektronenBeschleunigern (Cornell, Orsay, Cambridge USA, DESY in
Hamburg), vor allem seit 1966 am Zwei-MeilenLinearbeschleuniger des Stanford Linear Accelerator Centers
(SLAC) durchgeführt. Dabei konnten im Laufe der Jahre immer höhere Elektron-Energien, d.h. Impulsüberträge, und
damit eine immer feinere räumliche Auflösung erreicht
werden. Insbesondere ermöglichte der SLAC-Beschleuniger
mit Elektronen bis zu 20 GeV Messungen bis Q ≈5 GeV
(entsprechend r ≈0,04 fm). Ein solches Experiment besteht
darin, daß man den Elektronenstrahl auf ein mit flüssigem
oder gasförmigem Wasserstoff gefülltes „Target" schießt und
mit einem magnetischen Spektrometer und geeigneten
Detektoren (etwa Cerenkov- und Szintillationszählern) die
unter bestimmten Winkeln θ gestreuten Elektronen nachweist und ihre Energien mißt. Aus diesen Messungen wird
dann eine Winkelverteilung σ(θ) angefertigt, aus der mit
Hilfe der Rosenbluth-Formel die Formfaktoren bestimmt
werden. Da es zwar freie Protonen (Wasserstoff-Kerne), aber
keine freien Neutronen gibt, verwendet man für die
Formfaktoren des Neutrons ein mit Deuterium (schwerem
Wasserstoff) gefülltes Target; ein Deuterium-Kern
(Deuteron) besteht aus einem Proton und einem Neutron;
man mißt also die Streuung am Deuteron, subtrahiert die aus
den Wasserstoff-Experimenten bekannte Streuung am Proton
und erhält so die Streuung am Neutron.
Die Ergebnisse der zahlreichen Experimente für die
Proton(p)- und Neutron(n)-Formfaktoren lassen sich
folgendermaßen zusammenfassen:
[GeV²]
p
Fig. 9. Der magnetische Formfaktor G M (Q ) / µ p des Protons in Ab2
hängigkeit von Q . Die Punkte stellen die SLAC-Meßwerte, die Kurve
stellt die Dipol-Funktion GD(Q) dar
tischem Moment des Protons als Funktionen des Abstands r vom Proton-Mittelpunkt. Ein ausgedehntes
Proton mit einem scharfen Rand z.B. würde eine oszillierende Q-Abhängigkeit der G(Q) zur Folge haben
(vergleichbar dem Interferenzmuster mit Maxima und
Minima bei der Beugung von Licht an einer kleinen
p
G (Q ) =
E
G
p
(Q )
M
µ
=
G n (Q)
M
µ
n
≈G (Q ); G ≈0.
D
E
(3)
n
p
Dabei sind µ die magnetischen Momente (gemessen in
Einheiten des Kernmagnetons): µp = 2,79, µn = -1,91. GD(Q)
(„Dipol-Formfaktor") ist eine empirische Funktion von Q,,
G
2
 1

-1
(Q ) = 
 mit a = 0,84 GeV =ˆ 4,26 fm (4)
D
1
²
/
²
+
Q
a


485
die die gemessenen Formfaktoren ziemlich gut beschreibt
(Fig. 9). Die Fourier-Transformierte dieses DipolFormfaktors ist eine exponentiell abfallende DichteVerteilung (Fig. 8)
ρ(r) = ρ0·e-ar mit a = 4,26 fm-1.
(5)
Mit diesem Ergebnis ist nachgewiesen, daß Proton und
Neutron eine räumliche Ausdehnung besitzen. Die
Verteilungen von Ladung des Protons, magnetischem
Moment des Protons und magnetischem Moment des
Neutrons haben dieselbe Form; sie fallen mit wachsendem
Abstand vom Nukleon-Zentrum ungefähr exponentiell ab.
Der Rand von Proton und Neutron ist also unscharf. Für
ihren mittleren Radius erhält man R = 12 / a = 0,81 fm.
Die mittlere Ladungsdichte des Neutrons ist überall null;
das Neutron wechselwirkt also elektromagnetisch nur durch
sein magnetisches Moment. (Es wäre denkbar, daß das
Neutron z.B. im Inneren positiv, nach außen hin negativ
geladen wäre, wobei sich diese Ladungen zur
Gesamtladung null aufheben. Dies ist jedoch experimentell
nicht der Fall.)
Nachdem die räumliche Ausdehnung der Nukleonen
nachgewiesen war, ergab sich die Frage nach ihrer inneren
Struktur. Diese wurde seit etwa 1967 in Experimenten zur
inelastischen Elektron-Nukleon-Streuung untersucht. Später
wurden statt Elektronen auch andere Leptonen (Myonen,
Neutrinos und Antineutrinos) als „Sonden" zum „Abtasten"
der Nukleon-Struktur benutzt. Bevor jedoch diese
inelastische Streuung in Teil II besprochen wird, sollen im
folgenden zunächst das Quark-Modell der Hadronen und
die Kräfte zwischen den Quarks behandelt werden.
Das Quark-Modell der Hadronen und die
Kräfte zwischen den Quarks
Der erste Hinweis darauf, daß Proton und Neutron aus noch
kleineren Konstituenten zusammengesetzt sind, kam nicht
aus Streuexperimenten, sondern aus dem Quark-Modell für
die Klassifikation der Hadronen, das nun kurz beschrieben
werden soll.
Im Laufe der Jahre (seit etwa 1935) wurden zunächst in der
Kosmischen Höhenstrahlung, später an den großen
Teilchenbeschleunigern zusätzlich zum Elektron, Photon
und den beiden Nukleonen weitere Teilchen in großer
Anzahl entdeckt, die in energiereichen Zusammenstößen
erzeugt werden und nach einer kurzen Lebensdauer in
leichtere Teilchen zerfallen. Alle bisher bekannten Teilchen
lassen sich einteilen in drei Klassen, nämlich in Leptonen,
Hadronen und Wechselwirkungs-Bosonen (Photon, W- und
Z-Boson). Bisher kennt man sechs Leptonen, das Elektron
e-, das Myon µ-, das Tauon τ- und die zugehörigen Neutrinos, die man zu drei Lepton-Familien zusammenfas-
486
Fig. 10. Oktett der Baryonen mit Spin J = ½ und Parität P = + l im 4 - IZDiagramm (IZ = z-Komponente des Isospins, Y = Hyperladung). In Klammern
sind die drei Valenz-Quarks angegeben, aus denen das jeweilige Baryon
besteht
sen kann: (e-, νe), (µ-, νµ) und (τ,ντ). Da es zu jedem Teilchen
ein Antiteilchen gibt, kommen drei Antilepton-Familien
hinzu: (e+, ν e ), (µ+, ν µ ) und (t, ντ ). Die Leptonen nehmen
an der starken Wechselwirkung nicht teil, sie sind
unempfindlich gegenüber der starken Kraft (so wie ein
neutrales Teilchen ein elektrisches Feld nicht „fühlt"). Die
geladenen Leptonen (e, µ, τ) nehmen an der
elektromagnetischen und schwachen, die Neutrinos nur an
der schwachen Wechselwirkung teil.
Die Hadronen nehmen an allen drei Wechselwirkungen,
insbesondere auch an der starken Wechselwirkung teil. Sie
werden eingeteilt in Mesonen (z.B.π, K, η, ρ, ω usw.) mit
ganzzahligem Spin (in Einheiten von h ) und Baryonen (z.B.
Nukleon N, Λ, Σ, Ξ, ∆ usw.) mit halbzahligem Spin. Im
Gegensatz zu den wenigen Leptonen wurde eine große
Anzahl verschiedener Hadronen entdeckt, insbesondere seit
ca. 1960 die zahlreichen „Resonanz"-Teilchen, die durch die
starke Wechselwirkung zerfallen und deshalb extrem kurze
Lebensdauern von ca. 10-23 s besitzen. Heute kennt man,
wenn man die verschiedenen Ladungszustände eines Hadrons
(z.B. π+, π0, π- für das Pion) nicht einzeln zählt und auch die
zugehörigen Antihadronen nicht mitrechnet, über 100
verschiedene Hadronen.
Es war schon früh offensichtlich, daß die zahlreichen
Hadronen nicht alle als echte, kleinste Elementarteilchen
angesehen werden können; so kompliziert kann die Natur
nicht sein. Tatsächlich ließen sich verwandte Hadronen zu
sogenannten Multipletts zusammenfassen. Das Multiplett
z.B., in das die beiden Nukleonen p und n gehören, ist ein
Oktett, das außerdem noch die Baryonen Σ, Λ und Ξ enthält
(Fig. 10). Eine natürliche
Erklärung fand diese Klassifikation der Hadronen in
Multipletts, d.h. die Existenz dieser Multipletts, durch das
von Gell-Mann und Zweig 1964 eingeführte Quark-Modell
der Hadronen. Dieses Modell besagt in seiner
ursprünglichen Form: Es gibt drei kleine, elementare
(zunächst hypothetische) Bausteine (Konstituenten) der
Hadronen, von Gell-Mann „Quarks" genannt (u, d und s),
und die drei zugehörigen Antiquarks (u, d , s ), aus denen
die Hadronen zusammengesetzt sind; und zwar ist ein
Meson M ein gebundener Zustand aus einem Quark q und
einem Antiquark q (M = qq , z.B. π+ = ud , π- = du ),
während ein Baryon B aus drei Quarks besteht (B = qqq,
z.B. p = uud, n = udd, Fig. 10). Alle Eigenschaften der
Hadronen ergeben sich aus den Eigenschaften der Quarks
und Antiquarks. Z.B. besitzen die Quarks drittelzahlige
Ladungen (in Einheiten der Elementarladung e):
Qu = 2/3, Qd = Qs = -1/3. Hieraus ergeben sich z.B. die
Ladungen von Proton und Neutron: Qp = 2Qu + Qd = 2 · 2/3
– 1/3 = 1; Qn = Qu + 2Qd = 2/3 - 2 · 1/3 = 0. Ein weiteres
Beispiel: Da die Quarks den Spin ½ haben und sich der
Spin eines Hadrons aus den Spins und den ganzzahligen
Bahndrehimpulsen der Quarks im Hadron vektoriell und
gequantelt zusammensetzt, haben die Mesonen (mit 2
Konstituenten) ganzzahligen, die Baryonen (mit 3
Konstituenten) halbzahligen Spin.
In den Jahren 1974 und 1977 wurden schwere Hadronen mit
neuartigen Eigenschaften („Charm" und „Beauty" genannt)
entdeckt, die die Einführung zweier weiterer, schwerer
Quark-Arten (c und b) und damit eine Erweiterung des
ursprünglichen Quark-Modells mit nur drei Quarks
erforderlich machten. Heute hat man gute Gründe
anzunehmen, daß es insgesamt sechs Quark-Arten gibt, von
denen das sechste Quark, das t-Quark mit der Eigenschaft
„Truth", wegen seiner großen Masse noch nicht gefunden
ist. Diese sechs Quarks lassen sich (analog den sechs
Leptonen) zu den drei Quarkfamilien (u,d), (c,s), (t,b) und
den drei zugehörigen Antiquarkfamilien zusammenfassen.
Alle bisher bekannten Hadronen können aus Quarks und
Antiquarks aufgebaut und damit in die vom Quark-Modell
vorausgesagten Multipletts eingeordnet werden; es gibt
unter den zahlreichen Hadronen kein einziges, das nicht ins
Quark-Modell hineinpaßt. Damit ist eine enorme Vereinfachung erreicht: Nicht die vielen Hadronen, sondern die
sechs Quarks sind als echte Elementarteilchen anzusehen, in
Analogie dazu, daß nicht die 92 verschiedenen Atomkerne,
sondern die beiden Nukleonen als Bausteine der Materie zu
betrachten sind. Während der Aufbau unserer gewöhnlichen
Materie mit den Teilchen der ersten Quark- und
Leptonfamilie erklärt werden kann, treten die Teilchen der
zweiten und dritten Familien nur bei hochenergetischen
Prozessen im Weltall und an den Teilchenbeschleunigern
auf.
Durch welche Kraft werden die Quarks z.B. im Nukleon
aneinander gebunden? Für die Wechselwirkung zwischen
den Quarks bzw. Antiquarks, also auch für die Bindung der
drei Quarks in einem Nukleon, ist die starke Kraft
verantwortlich. Für sie wurde, in Analogie zur
Quantenelektrodynamik (QED, S. 481) für die
elektromagnetische
Kraft,
die
Theorie
der
Quantenchromodynamik (QCD) entwickelt. Nach ihr
kommt die starke Kraft durch den Austausch von Gluonen
(„Leim-Teilchen", die den „Leim" für den Zusammenhalt
der Quarks im Nukleon darstellen) zustande, entsprechend
dem Photon-Austausch bei der elektromagnetischen
Wechselwirkung (Fig. 2, 6b). Die Eigenschaft der Quarks,
die diesen Gluon-Austausch, d.h. die Emission bzw.
Absorption eines Gluons ermöglicht, hat man „Farbe"
(„Farbladung") genannt, entsprechend der elektrischen
Ladung, durch die in der QED z.B. ein Elektron ein Photon
emittieren bzw. absorbieren kann. Während jedoch ein
Elektron (oder jedes andere geladene Teilchen) eine feste
Ladung besitzt (-1 für das Elektron), kommt jedes Quark in
drei Farben (rot r, grün g, blau b)3 vor, d.h. die Farbladung
eines Quarks kann die drei verschiedenen „Farbwerte" r, g,
b annehmen.4 Dies hat zur Folge, daß es in der QCD acht
verschiedene Gluonen gibt, während es in der QED nur ein
Photon gibt. Diese Gluonen besitzen selbst wieder die
Eigenschaft „Farbe", im Gegensatz zum Photon, das keine
Ladung trägt, d.h. elektrisch neutral ist. Die Gluonen sind
also die Träger (Übermittler) der starken Kraft (der „Farbkräfte") zwischen Quarks und Antiquarks, entsprechend
dem Photon als Träger der elektromagnetischen Kraft; sie
halten die Quarks im Nukleon zusammen. Nicht die durch
Meson-Austausch (Fig. 3) vermittelten Kräfte zwischen
Hadronen, sondern die Farbkräfte zwischen Quarks und
Antiquarks sind die eigentlichen, fundamentalen Kräfte der
starken Wechselwirkung, da die Quarks und Antiquarks und nicht die aus ihnen zusammengesetzten Hadronen - die
eigentlichen Elementarteilchen sind. Die Existenz der
Eigenschaft „Farbe" für die Quarks und der damit verbundenen Gluonen wurde inzwischen in mehreren verschiedenartigen Experimenten nachgewiesen.
3
Wie man sieht, verwendet man zur sprachlichen Benennung der
unanschaulichen, in unserer normalen Umwelt nicht wahrnehmbaren und
daher ungewohnten Eigenschaften, die in der Welt der Quarks angetroffen
werden, Ausdrücke aus dem täglichen Sprachgebrauch wie Farbe (rot,
grün, blau), Charm, Beauty, Truth usw. (Die „Farben" der QCD z.B. haben
also überhaupt nichts mit den gewöhnlichen Farben in der Optik zu tun.)
4
Ein Antiquark kommt in drei Antifarben r , g , b vor, entsprechend
dem Positron e+ (Anti-Elektron), das die zur Elektronladung
entgegengesetzte elektrische Ladung („Antiladung") besitzt, nämlich +1.
487
Fig. 11. Führt man einem π+ = ( ud ) Energie zu, so
werden nicht u und d voneinander getrennt; es
entsteht vielmehr aus der zugeführten Energie ein
Quark-Antiquark-Paar, z.B. dd , und damit in der
dargestellten Weise ein zusätzliches Meson (z.B. π0)
Dadurch, daß die Gluonen, im Gegensatz zum ungeladenen
Photon, selbst Farbe tragen, haben die Farbkräfte wesentlich
andere Eigenschaften als die elektromagnetische Kraft:
Während diese mit wachsendem Abstand zwischen zwei
Ladungen immer schwächer wird (∝ l/r2), werden jene mit
zunehmendem Abstand z.B. zwischen zwei Quarks immer
größer. Wollte man etwa in einem π+ (= ud ) das d Antiquark vom u-Quark trennen (π+-Dissoziation), so
müßte man mit zunehmendem Abstand zwischen u und
d eine immer höhere Energie aufwenden (ähnlich wie beim
Auseinanderziehen eines Gummibandes). Diese Energiezufuhr bewirkt jedoch schließlich nicht die Abtrennung
des d , sondern die Erzeugung eines Quark-Anti-quarkPaares, so daß als Ergebnis aus dem ursprünglichen π+Meson zwei Mesonen geworden sind (Fig. 11). Aus dieser
Überlegung ergibt sich die fundamentale Erkenntnis: Es
gibt keine freien Quarks, Antiquarks (und Gluonen); es
treten als freie, isolierte Teilchen nur solche Kombinationen
von Quarks und Antiquarks auf, in denen sich die Farben
aufheben, die also insgesamt farbneutral sind (so wie sich
z.B. im neutralen H-Atom die Ladungen von Proton und
Elektron aufheben), zwischen denen also keine Farbkräfte
wirksam sind (so wie zwischen zwei elektrisch neutralen
Teilchen keine elektrische Kraft wirkt). Die einzigen
einfachen Kombinationen, die farbneutral
488
sein können, sind qq und qqq, also die Mesonen und
Baryonen, deren Existenz und Beobachtbarkeit als einzelne
freie, voneinander getrennte Teilchen somit verständlich
wird. Innerhalb eines solchen Hadrons sind die Quarks und
Antiquarks fest gebunden („Confinement"). Während es
also freie elektrische Ladungen gibt (z.B. ein freies Elektron
oder Proton), gibt es keine freien Farbladungen und damit
keine freien (Anti-)Quarks und Gluonen. Tatsächlich ist die
intensive Suche nach ihnen in den verschiedenartigsten Experimenten und Materialien bisher ergebnislos verlaufen.
Umgekehrt werden bei kleinen Abständen, d.h. bei hohen
Energien, die Farbkräfte relativ schwach. In einem
hochenergetischen Proton z.B. verhalten sich die drei
Quarks uud daher wie quasi-freie Teilchen („asymptotische
Freiheit"), so daß ein solches Proton als ein Strahl quasifreier Quarks angesehen werden kann.
In Teil II dieser Arbeit werden die inelastische LeptonNukleon-Streuung und das Quark-Parton-Modell beschrieben, das unser heutiges Bild von der inneren Struktur
von Proton und Neutron darstellt. Schließlich behandelt das
letzte Kapitel die heutigen Versuche, in hochenergetischen
Zusammenstößen schwerer Kerne ein Quark-Gluon-Plasma
zu erzeugen und dadurch die „Einkerkerung" der Quarks in
einzelnen Nukleonen aufzuheben.
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