Nervensysteme Mit dem Wissen um die Funktion des Nervensystems wächst die ethische Verantwortung, dieses Wissen einzusetzen: Sollen oder dürfen Mediziner Lähmungen, Hirntumore oder Schwachsinn heilen? Rechtfertigt eine solche Heilung die Injektion von Drogen oder den chirurgischen Eingriffen ins Gehirn? Darf ein Chirurg Teile des Limbischen Systems und damit Gefühle entfernen, auch wenn es sich dabei um die krankhafte Furcht vor Spinnen handelt? Oder Prüfungsangst? Sind medizinische Korrekturen im Gehirn überhaupt zu verantworten? – Eingriffe in das Gehirn bedeuten Eingriffe in die Persönlichkeit eines Menschen. 81 Nervensysteme 1 Evolutionsprinzipien Vergleicht man die neuronalen Systeme im gesamten Tierreich, so wird der Zusammenhang zwischen stammesgeschichtlichem Alter der betreffenden Tiergruppe und dem Entwicklungsstand des vorhandenen Nervensystems deutlich. Die Zunahme von Ausmaß und Komplexität der Nervensysteme zielt aus evolutionsbiologischer Sicht auf Leistungssteigerung: Informationstransport und -verarbeitung wurden im Laufe der Evolution effizienter. Den Höhepunkt dieser Entwicklung bildet das Gehirn. Diese „Weiter“- oder „Höher“-Entwicklung untermauert die Evolutionstheorie. Erkennbare Evolutionsprinzipien in der Entwicklung von Nervensystemen sind zunehmende Größe, Zentralisation und Differenzierung. 1.1 Nervennetze oder diffuse Nervensysteme Hohltiere werden wegen ihrer Körperarchitektur so genannt: eine dreischichtige Körperwand umschließt einen zentralen Hohlraum. Dieser dient der Verdauung und Vereilung der Nährstoffe. Diffus: lat. diffundere zerstreuen Netze aus locker verbundenen Neuronen (Abb. 47 A) sind die Nervensysteme von Hohltieren, also von Süßwasserpolypen, Korallen und Quallen. Mit diesem in ihrer äußeren Körperwand liegenden Zellnetz steuern Hohltiere z. B. ihre Tentakel- oder Schirmbewegungen. Uneffizienz und Langsamkeit charakterisieren solche diffusen Nervennetze. Auch die Wand des menschlichen Darmtraktes ist von einem vergleichbaren Nervennetz ausgekleidet. Anders als Hohltiere besitzen Würmer bereits ein Vorder- und Hinterende. Daraus ergibt sich eine bevorzugte Richtung der Fortbewegung und deshalb war eine Verdichtung von Sinneszellen und Nervenzellen am Kopfende vorteilhaft. Einfach gebaute Plattwürmer besaßen als erste Lebewesen ein kleines Gehirn, das die Signale der Kopforgane verarbeitete (Abb. 47 B). Von diesem ersten Zentrum des Nervensystems ausgehend ziehen zwei Markstränge nach hinten in den Körper. Diese Trennung von zentralem Nervensystem und Nervenzellen außerhalb dieses Zentrums setzte sich entwicklungsgeschichtlich fort. 82 Nervensysteme 1.2 Das Strickleiternervensystem Ganglion = Nervenknoten: Ansammlung von Nervenzellen. Cephalisation: Konzentrierung von Neuronen zu Gehirnen. Riesenaxone: ­ siehe S. 56 Kommissur: Querstrang im Strickleiternervensystem. Konnektiv: Längsstrang im Strickleiternervensystem. Urmundtiere (= Protostomier): Während der Keimesentwicklung entwickelt sich der Mund aus dem Urmund und der After wird neu gebildet. Neumundtiere (= Deuterostomier): Während der Keimesentwicklung entwickelt sich der After aus dem Urmund und der Mund wird neu gebildet. Ein nächster Entwicklungsschritt war die Konzentration vieler Nervenzellkörper in so genannten Ganglien. Weichtiere wie Schnecken und Tintenfische besitzen wenige, große, auseinander liegende Ganglien. Im Kopfbereich der Tintenfische entstand durch Cephalisation ein neuronales Zentralorgan. Dieses Zentralorgan oder Gehirn ist über Riesenaxone mit Ganglien im Körper und vor allem mit Muskeln verbunden. Die Körper der Ringelwürmer (z. B. Regenwurm) und Gliedertiere (z. B. Krebse, Spinnen, Insekten) sind in Segmente gegliedert. In jedem Körpersegment befindet sich ein Paar Ganglien, die durch eine Kommissur quer verbunden sind. Konnektive verbinden die Ganglien längs zum Strickleiter-Nervensystem. Die „Strickleiter“ aus Ganglien und Faserverbindungen liegt stets auf der Bauchseite der Tiere und wird deshalb auch als Bauchmark bezeichnet. Nach der Lage der Hauptnervenstränge unterscheidet man Bauchmarktiere von den Rückenmarktieren. Diese Tiergruppen überschneiden sich größtenteils mit den Gruppen der Urmund- bzw. Neumundtiere. Die großen Nervenknoten im Kopf der Tiere nennt man nach ihrer Lage Ober- und Unterschlundganglion (Abb. 47 C). Besonders große, teilweise verschmolzene Ganglien findet man bei Fluginsekten auch im Brustbereich, wo sie der koordinierten Innervierung der Flugmuskulatur dienen. A B C Abb. 47: Überblick über verschiedene Nervensysteme: (A) Nervennetze, (B) Zentrum im Nervensystem, (C) Strickleiter-Nervensystem. 83