Reserpin - Sucht und Selbsthilfe

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Reserpin
Reserpin ist eine natürlich vorkommende chemische Verbindung, die als Arzneistoff eingesetzt wird. Es ist
ein Indolalkaloid einiger Pflanzen aus der Gruppe der Schlangenwurze, welches vor allem über die
Rauvolfia serpentina aus der indischen Heilkunst Eingang in die westliche Medizin fand. Hier wurde Reserpin
einer jener Arzneistoffe, mit denen die Ära der modernen Psychopharmakologie begann. Zuerst in der
Psychiatrie als Neuroleptikum bei Schizophrenie eingesetzt, erlangte es insbesondere als Mittel gegen
Bluthochdruck große Bedeutung. Während ihm infolge der Erforschung seines Wirkmechanismus, welcher
auf der Verarmung von Botenstoffen zentraler und peripherer Nervenzellen beruht und auf eine
Aktivitätshemmung des sympathischen Nervensystems hinausläuft, nach wie vor ein hoher Stellenwert in
der neurochemischen Forschung zukommt, hat es seine klinische Bedeutung heutzutage zum größten Teil
eingebüßt: Aufgrund zahlreicher Nebenwirkungen ist es nach der Einführung wesentlich effizienterer
Medikamente nicht mehr das Mittel der Wahl.
Herkunft
Reserpin wird aus den Wurzeln von Kletterpflanzen der Unterfamilie Rauvolfioideae gewonnen, primär aus
der Indischen Schlangenwurzel (Rauvolfia serpentina), die einen Reserpin-Gehalt von 0,04–0,05 % besitzt,
aber auch aus der mexikanischen Rauvolfia heterophylla und der australischen Bitterrinde („Iodstrauch";
Tabernaemontanaorientalis, auch Asternia constricta). Eine wichtige Alternativquelle ist heute die
afrikanische Rauvolfia vomitoria.
Geschichte
In Indien findet die Wurzel der dort auch als „Sarpagandha" bezeichneten Rauvolfia serpentina, welche auch
Yohimbin enthält, bereits seit Jahrhunderten vor allem als Beruhigungsmittel, aber auch als Allheilmittel
Verwendung. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde berichtet, dass eines der über zwanzig Alkaloide der
Pflanze eine blutdrucksenkende Wirkung besäße. Der erste Artikel, der sich mit dem psychiatrischen Einsatz
von Reserpin auseinandersetzte, wurde im Jahr 1931 von den Indern Sen und Bose veröffentlicht, welche
von guten Behandlungserfolgen bei Geisteskrankheiten mit gewalttätigen und manischen Symptomen
berichteten. 1949 wurde durch einen Bericht Vakils im „British Health Journal" die blutdrucksenkende
Wirkung der Rauvolfia auch in der westlichen Welt bekannt.
Reserpin wurde erstmals 1952 durch Emil Schlittler aus der Rauvolfia serpentina isoliert. Ihm gelang kurze
Zeit später auch die Aufklärung der chemischen Struktur. Zwei Jahre später wurde es zum ersten Mal vom
amerikanischen Psychiater Nathan S. Kline für die Behandlung von Psychosen empfohlen und klinisch
eingesetzt – zwei Jahre nach Chlorpromazin, gegen das es sich als Mittel bei schizophrenen Psychosen
letzten Endes nicht durchzusetzen vermochte, obgleich Reserpin nach 1952 vorübergehend eines der
meistverwandten Präparate bei der Behandlung psychiatrischer Erkrankungen wurde. Im selben Jahr wurde
auch von Freis erstmals von Patienten berichtet, die nach Gaben hoher Dosen depressiv geworden waren.
1958 publizierte Robert Burns Woodward die erste Totalsynthese des Reserpins. In Großbritannien wurde
Reserpin aufgrund seiner enormen Nebenwirkungen für einige Jahre vom Markt genommen. Ende der
1970er war Reserpin weitläufig durch neue, bessere Wirkstoffe ersetzt.
Die Bedeutung des Reserpin liegt – eingedenk der Tatsache, dass es in der Therapie weitläufig durch
bessere Substanzen ersetzt wurde –, vor allem in seinem Einfluss auf die Grundlagenforschung der
modernen Neuropsychopharmakologie und Neuropsychiatrie: In den 1950er- und 1960er-Jahren wurden
Reserpin und sein Wirkmechanismus intensiv erforscht, wodurch viele neue Erkenntnisse über
biochemische Prozesse erlangt wurden, so etwa über den Stoffwechsel der biogenen Amine, die
Entdeckung regional verminderter Konzentration des Neurotransmitters Dopamin im ZNS bei
Parkinsonpatienten oder die Wegbereitung für die Entwicklung zahlreicher Antidepressiva auf Grundlage der
Beobachtung des Reserpin-Antagonismus des MAO-Hemmers Iproniazid und des Trizykliums Imipramin.
Heute ist Reserpin in pharmakologisch relevanter Menge nur noch in Kombinationspräparaten mit Diuretika
im Handel. Die beiden einzigen Präparate, die noch zu den 3000 verordnungshäufigsten gehören, sind
Briserin N® (Kombination mit dem Thiazid-Diuretikum Clopamid von Novartis) und Triniton® (Kombination
mit dem Antihypertonikum Dihydralazin und dem Thiazid-Diuretikum Hydrochlorothiazid von Apogepha).
Deren Verordnungshäufigkeit nimmt jedoch ebenfalls ab, obwohl Briserin N®, gemessen an DDD, immer
noch das am dritthäufigsten verordnete Antisympathotonikumpräparat ist. Gegenüber dem jeweiligen
Vorjahr nahm 2005 die ärztliche Verschreibung von Briserin N® um 13,1 % ab und sank auf 29,5 Millionen
DDD, im Folgejahr um 14,5 % auf 25,2 Millionen DDD; bei Triniton® ging sie 2005 um 6,9 % und 2006 um
weitere 16 % zurück und sank zuerst auf 6,9 Millionen, dann 5,8 Millionen DDD. Auch ein homöopathisches
Präparat, Homviotensin® (von Homviora), enthält u. a. den Reinstoff, wobei die verwendete Potenz D3 32
mg keine sichere antihypertensive Wirkung mehr erlaubt.
Die Pharmakologen Hartmut Porzig und Stefan Engelhardt vermuten, dass der Arzneistoff weniger in Verruf
geraten wäre, hätte man früher nicht dergestalt hohe Dosen (gegeben wurden zur antihypertensiven
Therapie bis zu 5 mg am Tag, zur neuroleptischen bis zu 20 mg) mit dementsprechend ausgeprägten
Nebenwirkungen verabreicht, sondern deutlich niedrigere und gleichsam ausreichend wirksame Mengen.
Die heute üblichen Tagesdosen liegen zwischen 0,05 mg und 0,25 mg.
Seit einiger Zeit gibt es Versuche, Reserpin-Derivate zu entwickeln, denen eine bessere Verträglichkeit
beschieden sein soll als ihrem Vorgänger. Einen Ansatz hierfür, Reserpin-Methonitrat, stellten die Inder
Sreemantula, Boini und Nammi 2004 vor.
Pharmakologie
Wirkmechanismus
Die Wirkung von Reserpin auf den Säugetierorganismus lässt sich in eine periphere und eine zentrale
Komponente unterteilen. Während erstere für die Senkung des Blutdrucks ausschlaggebend ist, gehen auf
letztere die Wirkungen zurück, deretwegen es zuerst als Neuroleptikum eingesetzt wurde und heute obsolet
ist.
Die antihypertone Wirkung beruht auf einer Verarmung des Neurotransmitters Noradrenalin im
postganglionären Sympathikus. Daher kann sich, gleichwohl sich die zentralen sympathischen Nervenzellen
häufiger entladen als zuvor, der Reiz nicht in die Peripherie fortsetzen. Als Folge dieser Hemmung des
Sympathikus kann neben einer Senkung der Herzfrequenz (Bradykardie) auch die gewünschte Senkung des
Blutdrucks beobachtet werden. Die antipsychotische Wirkung des Reserpins wird mit einer beobachteten
Verringerung der Dopamin- und Serotoninkonzentration im Zentralnervensystem in Verbindung gebracht. Mit
einer neuroleptischen Potenz von 20–50 CPZi zählt es zu den hochpotenten Neuroleptika.
Auf zellulärer Ebene beruht der Wirkmechanismus des Reserpins auf der „Entspeicherung" biogener Amine
wie den Botenstoffen Dopamin, Serotonin und Noradrenalin. Es bindet an die nicht selektiven vesikulären
Monoamintransporter in den Membranen der Speichervesikel, woraufhin die Botenstoffe nicht mehr in die
Vesikel der präsynaptischen Nervenendigungen aufgenommen werden können. Insbesondere hemmt es die
Neusynthese von Noradrenalin aus Dopamin, da diese im Innern der Vesikel stattfindet. Außerhalb dieser
werden biogene Amine vom Enzym Monoaminooxidase („MAO") zu Aldehyden, Ammoniak und
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Wasserstoffperoxid abgebaut, was zur Folge hat, dass die Menge an Noradrenalin, die bei Erregung
freigesetzt werden kann, verringert wird. Zu hohe Dosierungen führen zu einer irreversiblen Schädigung der
Speicherversikel, welche daraufhin neugebildet werden müssen, was einige Tage bis Wochen dauert.
Pharmakokinetik
Das peroral eingenommene Reserpin gelangt zuerst in den Magen und von dort aus in den Darm, wo es
rasch resorbiert wird. Die Resorptionsrate ist bei erhöhtem pH-Wert des Magensaftes gesteigert, da der
Magen nicht nur schneller entleert wird, sondern das schwach basische Reserpin zudem weniger protoniert
wird und im Darm – dessen Milieu ohnehin vergleichsweise alkalisch ist – schließlich weniger in elektrisch
geladener Form vorliegt, wodurch es von den Darmzellen besser resorbiert werden kann. Über die Pfortader
erreicht es anschließend erstmals die Leber und unterliegt daraufhin sowohl einem First-Pass-Effekt als
auch einem enterophepatischen Kreislauf; in der Folge lassen sich dem Reserpin, welches nurmehr zu
50–60 % verfügbar ist, zwei Halbwertszeiten von 4,5 h bzw. 270 h zuordnen. Maximale Konzentrationen des
Stoffs im Blut finden sich etwa ein bis zwei Stunden nach Applikation. Reserpin wird zu 96 % an
Plasmaproteine gebunden, großteils an Albumin, zu einem Teil aber auch an Lipoproteine. Über die
Blutbahn gelangt das Reserpin in die peripheren und zentralen Nervengewebe, in denen es seine arzneilich
genutzte Wirkung entfaltet. Da die Bindung an die neuronalen Vesikel irreversibel ist, bedarf es
vergleichsweise sehr kleiner Mengen des Alkaloids, um sehr große Mengen von Aminen aus ihnen zu
„entspeichern". Die Wirkung des gebundenen Anteils überdauert so den allgemeinen Abfall der
Konzentration im Gewebe. Da derart geringe Mengen mit früheren Mitteln nicht aufgespürt werden konnten,
wurde irrtümlicherweise angenommen, die Wirkdauer des Stoffes übersteige die seiner tatsächlichen
Anwesenheit am Wirkort wesentlich. Dieser Umstand prägte seine Bezeichnung als hit and run drug. Im
weiteren wird der Löwenanteil des Reserpins verstoffwechselt und anschließend überwiegend mit den
Fäkalien (etwa 60 % innerhalb von vier Tagen) ausgeschieden, teilweise auch über den Urin (etwa 8 %).
Zur Elimination findet in Darm und Leber eine enzymatische Umwandlung statt, die polare und damit besser
ausscheidbare
Substanzen
erzeugt.
Die
Hauptmetaboliten
Reserpsäuremethylester,
Trimethoxybenzoesäure (TMBS) und in geringerem Umfang Reserpsäure – entstehen durch von Esterasen
vermittelte Spaltung der beiden Esterbindungen des Reserpin. Neben diesem hydrolytischen Weg des
Abbaus findet, katalysiert von mikrosomalen Leberenzymen, oxidative Demethylierung der mittleren
Methoxygruppe des TMBS-Rests statt. Das Produkt kann vom Organismus anschließend leichter
hydrolysiert werden, wobei statt TMBS Syringasäure gebildet wird. Im Vergleich zur Ausgangssubstanz sind
die Metaboliten pharmakologisch weitgehend inaktiv.
Reserpin-Methonitrat (RMN) überwindet die Blut-Hirn-Schranke aufgrund des quartärnisierten Amins – ein
Amin, das kovalent mit vier Kohlenstoff-Atomen verbunden ist und dadurch eine positive Ladung trägt –
erheblich schwerer, was dazu führt, dass deutlich weniger Substanz in das ZNS eintritt, als es bei Reserpin
der Fall ist, und zentralnervöse Nebenwirkungen (Parkinson-Symptomatik, Sedierung) stark vermindert
werden.
Neben- und Wechselwirkungen
Wie die der meisten Antisympathotonika kann auch die Reserpingabe eine Reihe mithin schwerwiegender
Nebenwirkungen nach sich ziehen. Da Reserpin die Katecholamin-Verfügbarkeit mindert und so den
Sympathikotonus senkt, Acetylcholin – welches einen eigenen Carrier für den Eintritt in die Vesikel besitzt –
jedoch unbeschadet lässt, überwiegt in Folge die Aktivität des Parasympathikus, und es können
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Pupillenverengung, Hängelider, Schwellung der Nasenschleimhaut (durch seröse Sekretion in diese, sog. „
Reserpin-Schnupfen"), Libido- und Potenzverlust, Durchfall, Magen- und Zwölffingerdarmgeschwüre
auftreten. Aus denselben Gründen kann es neben Bradykardie infolge der beeinträchtigten reflektorischen
Blutdruckregulation auch zu einem lagebedingten Blutdruckabfall kommen, der vor allem bei raschem
Aufrichten des Körpers so heftig sein kann, dass plötzlich Bewusstlosigkeit eintritt. Das durch Reserpin
gesenkte Herzzeitvolumen normalisiert sich bei chronischer Verabreichung jedoch wieder, da mit dem
Blutdruck der Gefäßwiderstand abnimmt.
Reserpin kann in die Muttermilch eintreten und die Leibesfrucht schädigen. Kinder, deren Mütter im letzten
Drittel der Schwangerschaft Reserpin genommen haben, leiden später häufiger an Trink- und
Atemstörungen, Neugeborene können lethargisch sein, beim Fötus kann es zur Bradykardie kommen.
Ebenso kann Reserpin Menstruationsbeschwerden hervorrufen.
Im ZNS zeigt sich insbesondere der Mangel an Dopamin und Serotonin, welcher zu
extrapyramidalmotorischen Störungen, Parkinsonismus, Sedierung und depressiven Verstimmungen bis hin
zur Suizidalität führen kann.
Paul Willner betont jedoch, dass die weit verbreitete Annahme, Reserpin verursache Depression, auf einer
Reihe von Berichten aus den 1950ern basiert, im Rahmen derer depressive Patienten nach Goodwin et al.
falsch diagnostiziert worden wären. Diese hatten die den damaligen Berichten zu Grunde liegenden Daten
erneut ausgewertet und waren zu dem Ergebnis gekommen, dass mit Reserpin behandelte Patienten dazu
neigten, eine Pseudodepression zu zeigen, die durch psychomotorische Verlangsamung, Müdigkeit und
Anhedonie gekennzeichnet ist, jedoch nicht kognitive Erscheinungen der Depression wie Hoffnungslosigkeit
oder Schuldgefühle aufwies. Lediglich 5–9 % der Patienten hätten demnach Symptome einer primären
Depression gezeigt, und diese hätten obendrein bereits eine Vorgeschichte affektiver Störungen gehabt.
Im Falle einer toxischen Überdosierung fallen Herzschlagfrequenz, Blutdruck und Körpertemperatur ab
(wobei dem initial Blutdruck- und Herzfrequenzsteigerung vorausgehen können), die Schleimhäute
schwellen an und es kommt zu Benommenheit, evtl. treten auch Krämpfe auf.
Bei vorausgegangener Gabe von tri- oder tetrazyklischen Antidepressiva kommt es zu einem als
Reserpinumkehr bezeichneten Effekt: Tri- und Tetrazyklika verhindern, dass bereits in den synaptischen
Spalt entlassene Transmitter wieder in die präsynaptischen Nervenendigungen aufgenommen werden,
wodurch nicht nur die Reserpinwirkung umgangen wird, sondern die motorische Erregung sogar gesteigert
wird. Nach Vorbehandlung mit Reserpin wirken indirekte Sympathomimetika nicht, während die Wirkung
direkter Sympathomimetika und von Hemmstoffen der Monoaminoxidase durch Reserpin verstärkt wird. Die
den Blutzuckerspiegel senkende Wirkung von Antidiabetika wird von ihm verstärkt, wogegen die
Antiparkinsonwirkung von Bromocriptin und Levodopa gestört werden kann. Bei gleichzeitiger Einnahme von
Narkotika, Opioiden oder dem Konsum von Alkohol verstärken sich die sedativen Effekte der Substanzen
gegenseitig; zu einer Verstärkung des hypotensiven Effekts kommt es in Kombination mit Vasodilatatoren
und Thiaziddiuretika. Letzteres macht man sich therapeutisch zunutze: Durch die fixe Kombination von
Reserpin mit den Diuretika, welche einen völlig anderen Wirkmechanismus besitzen, gleichsam aber eine
Blutdrucksenkung bewirken, reichen deutlich niedrigere Dosen aus, womit auch eine wesentliche Milderung
der Nebenwirkungen einhergeht. Zu einer Verstärkung des neuroleptischen Effekts, ohne Beeinflussung der
Blutdruckwirkung, kommt es bei gleichzeitiger Einnahme von Phenothiazinen. Im Falle paralleler Einnahme
von herzwirksamen Glykosiden kann es aufgrund der Verstärkung der Wirkung letzterer zu
Herzrhythmusstörungen kommen.
Indikation und Applikation
Der therapeutische Einsatz von Reserpin wird vor dem Hintergrund dieser Nebenwirkungen in den gängigen
Lehrbüchern sehr unterschiedlich bewertet. Während in manchen die gute Verträglichkeit niedrigdosierten
Reserpins und seine Eignung als Kombinationspartner bei unzureichender Therapie mit einem einzelnen
anderen Antihypertonikum hervorgehoben wird, lehnen andere Autoren die Reserpingabe rundheraus ab,
vor allem Martin Wehling spricht sich dagegen aus und bemängelt, dass es noch immer „in einem sehr
beliebten Präparat enthalten [ist], das aufgrund seines niedrigen Preises gerne verschrieben wird"
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. Auch die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft führt die fortwährende Verordnung von
Briserin N® und Triniton® u. a. auf niedrige Tagestherapiekosten zurück, erachtet es aber als billiger und
sinnvoller, sich zunächst auf Diuretika zu beschränken. Sie betont aber, dass bei bereits auf ReserpinKombipräparate gut eingestellten Patienten, die diese Medikation auch gut vertragen, kein Grund besteht,
etwas an ihr zu ändern.
Diagnostisch kann Reserpin genutzt werden, um den Verdacht auf ein Karzinoid zu bestätigen. Bei diesem
Reserpin-Test handelt es sich um einen Provokationstest, der auf die endokrine Aktivität des Tumors abzielt:
Der Tumor produziert sehr große Mengen Serotonin, das durch Reserpin aus den Tumorzellen freigesetzt
wird und die karzinoidtypische Symptomatik incl. einer drastisch erhöhten Konzentration des SerotoninAbbauprodukts 5-HIES im Urin auslöst.
Generell kontraindiziert ist Reserpin bei einer Vorgeschichte depressiver Episoden, bei bestehenden Magenund Zwölffingerdarmgeschwüren sowie bei Asthma bronchiale.
Heute wird Reserpin als Blutdrucksenker in der Langzeittherapie üblicherweise per os gegeben, im früheren
psychiatrischen Einsatz waren aber auch intramuskuläre Injektionen üblich.
Chemie
Bei Reserpin handelt es sich um ein Indolalkaloid der Epialloyohimban-Reihe, was bedeutet, dass sein
Grundgerüst dem des Yohombins entspricht, die Ringe C und D aber ebenso wie die Ringe D und E cisverknüpft sind. Dieses pentazyklische Grundgerüst ist das der Reserpsäure. Es ist zweifach verestert: Die
Säuregruppe an C-16 ist methyliert, die Hydroxygruppe der Reserpsäure an C-18 ist mit 3,4,5Trimethoxybenzoesäure verestert.
Beide Ester sind für die pharmakologische Aktivität von Reserpin von Bedeutung. Die im Rahmen der
Metabolisierung in vivo stattfindenden Esterspaltungen lassen sich auch in vitro durchführen.
Reserpsäuremethylester lässt sich selektiv durch Hydrolyse unter schonenen Bedingungen erhalten.
Reserpin ist eine schwache Base, wobei das Stickstoffatom N-4 mit einem pKs-Wert von 6,6 (bei 25 °C) die
größte Basizität aufweist, dementsprechend erfolgt dort auch die Aufnahme von Protonen. Mit einem
Oktanol-Wasser-Verteilungskoeffizienten (log KOW) von 3,3 handelt es sich um eine deutlich lipophile
Substanz. Dementsprechend wird sie in Wasser nicht, in Chloroform dagegen optimal gelöst, doch ist diese
Lösung des labilen Alkaloids gerade im Tageslicht nur von geringer Haltbarkeit, während die Lösung in
Ethanol zwar schwerer vonstatten geht, jedoch bezüglich der Stabilität unter den organischen
Lösungsmitteln am günstigsten ist.
Das feine, kristalline Pulver, als welches Reserpin vorliegt, rangiert farblich zwischen weiß, gelblich und
einem bleichen Gelbbraun, färbt sich unter Lichteinfluss aber allmählich dunkler.
Reserpin hat einen spezifischen Drehwinkel von ?116° bis ?128° bei 20 °C im Natriumlicht.
Analytik
Mit Reserpin lassen sich verschiedene Farbreaktionen durchführen. In essigsaurer Lösung wird ihm mit
Natriumnitrit Wasserstoff abgespalten, es entsteht 3,4-Dehydroreserpin. Dieses ist eine gelbgrün
fluoreszierende Anhydroniumverbindung, die ein langwelliges Absorptionsmeximum von 388 nm besitzt.
Reserpin selbst absorbiert maximal bei 296 nm.
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Biosynthese
Die Biosynthese des Reserpins beginnt – wie auch die aller anderen Epiyohimban-Alkaloide – bei
Strictosidin. Dieses entsteht durch Mannich-artige Kondensation aus Tryptamin und Secologanin.
Strictosidin wird zu 3-epi-Dehydrocorynantheinaldehyd umgewandelt. Hierfür wird es zuerst am C-3
epimerisiert, die Beta-D-Glucose wird hydrolytisch abgespalten, der spätere Ring D geschlossen und der
spätere Ring E geöffnet. Die Reihenfolge, in der diese Reaktionen stattfinden, ist noch unbekannt.
Anschließend wird 3-epi-Dehydrocorynantheinaldehyd in drei Reaktionsschritten zu Reserpsäuremethylester
umgewandelt:
Zuerst wird die Doppelbindung bei N-4 stereospezifisch hydriert, so dass 3-epi-Corynantheinaldehyd
vorliegt. Dann wird der spätere Ring E zwischen C-17 und C-18 geschlossen und die entstehende
Doppelbindung zwischen C-19 und C-20 hydriert. Schließlich entsteht nach Hydroxylierung an C-18 und
Hinzufügen zweier CH3O-Gruppen Reserpsäuremethylester.
Abschließend wird Reserpsäuremethylester mit 3,4,5-Trimethoxybenzoyl-CoA an der Hydroxygruppe am C18 zu Reserpin verestert.
Totalsynthese
Obgleich Reserpin überwiegend aus Rauvolfia-Arten isoliert wird, ist eine vollsynthetische Herstellung
möglich. In einer über 16 Reaktionsschritte verlaufenden Synthese gelang Woodward 1958 die erste
(konstitutionelle) Herstellung von Reserpin. 1958 war die Totalsynthese von Reserpin ein Meilenstein der
organischen Chemie. Aufgrund seiner komplexen Struktur ist es mittlerweile ein Klassiker und Ziel
zahlreicher Totalsynthesen geworden. Einen Weg der stereospezifischen Totalsynthese etablierte 1989
Gilbert Stork. Seit der Erstsynthese wurden einige alternative Zugänge entwickelt.
Die Totalsynthese nach Woodward nimmt ihren Anfang beim Aufbau des Rings E, welcher fünf der sechs
Stereozentren des Reserpinmoleküls enthält. Die Edukte sind 1,4-Benzochinon und Penta-2,4diensäuremethylester. Zwischen dem Chinon und dem Dien kommt es zu einer Diels-Adler-Reaktion, deren
Produkt bereits drei der benötigten fünf Stereozentren enthält.
Die Reduktion des entstandenen endo-Addukts mit Aluminiumtriisopropylat wird über die cis-Verknüpfung
der beiden entstandenen Ringe so gesteuert, dass vor allem der gezeigte ?-Alkohol entsteht. Da sich eine
der beiden Hydroxygruppen in räumlicher Nähe zum Carbonsäuremethylester befindet, bildet sich ein
Lacton.
Die Reaktivität der beiden Doppelbindungen in den Ringen ist gegenüber Elektrophilen verschieden: Bei der
Bromierung des C11H12O3 reagiert nur die Doppelbindung des späteren E-Rings, da sie geringfügig
elektronenreicher ist.
Durch den elektrophilen Angriff des Broms bildet sich unter Abspaltung eines Bromidions das
Bromoniumion. Der Sauerstoff der Hydroxygruppe öffnet diesen Dreiring durch nukleophilen Angriff an dem
Kohlenstoffatom, das sterisch günstiger gelegen ist, so dass ein Furan entsteht.
Im Folgenden wird das Brom über den nukleophilen Angriff eines Methanolations substituiert, wobei der
erste der zahlreichen Methylester des Reserpin entsteht: Nachdem Bromwasserstoff eliminiert wurde und
das ?,?-ungesättigte Lacton entstanden ist, wird es vom Methanolation angegriffen. Der Angriff durch das
Methanolation erfolgt aufgrund des Lactons und des Ethers von der ?-Seite, also von unterhalb der
Zeichenebene, womit das fünfte Stereozentrum des E-Rings entsteht.
Danach erfolgt die zweite Bromierung: N-Bromsuccinimid greift elektrophil an der Doppelbindung an, die im
dritten Schritt nicht von Br2 aufgebrochen werden konnte. Das entstehende Bromoniumion wird durch
nukleophilen Angriff von Wasser von der ?-Seite transdiaxial geöffnet. Für die Reaktion dient Schwefelsäure
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als Katalysator.
Anschließend wird das Produkt mit Chromsäure oder Chromtrioxid oxidiert.
Der nächste Schritt besteht in einer komplexen Reaktion, im Rahmen derer das Bromatom entfernt, zwei
Ringe aufgebrochen und ein Acetatrest hinzugefügt werden.
Der erste Schritt hierbei ist eine radikalische, reduktive Debromierung. Das zugegebene Zink macht
zunächst einen Single-Electron-Transfer in das unbesetzte ?*-Orbital der C-Br-Bindung, wodurch letztere
sofort unter Bildung eines Bromidions gelöst wird. Es entsteht kurzfristig ein sekundäres, elektrophiles CRadikal, welches sofort ein zweites Elektron vom Zink bekommt und zum Anion wird – mesomeriestabilisiert
durch die benachbarte Carbonylgruppe –, welches von der Essigsäure protoniert wird. Die Lactonöffnung
verläuft analog dazu nach vorheriger Protonierung der Lacton-Carbonylgruppe am Sauerstoff (dies senkt die
Elektronendichte und damit die energetische Lage des ?*-Orbitals der zu öffnenden C-O-Bindung).
Im zweiten Schritt wird die entstandene Carboxygruppe mit Diazomethan methyliert.
Im dritten Schritt abstrahiert die schwache Base Pyridin das Proton aus dem ersten Schritt, wodurch ein
Enolat entsteht. Dieses reagiert im vierten Schritt sogleich zum ?-?-ungesättigten Keton zurück. Mit dem
dabei abgetrennten Sauerstoffatom bildet das Essigsäureanhydrid unter Abspaltung eines Acetatanions am
späteren C-18 ein Acetylester.
Als nächstes wird der spätere D-Ring aufgespalten. Hierfür wird zuerst die Doppelbindung mit
Osmiumtetroxid cis-dihydroxyliert, es entsteht ein Glykol.
Anschließend wird das Glykol oxidativ mittels Periodsäure gespalten, wodurch ein Aldehyd und ein
Ketoaldehyd entsteht. Letzteres wird von Periodsäure weiter über eine Ketosäure und deren
Decarboxylierung bis zur einfachen Carboxygruppe oxidiert.
Schließlich wird die Carboxygruppe mit Diazomethan methyliert, womit der E-Ring fertig aufgebaut ist.
Nun wird der Aldehyd mit dem Tryptamin 6-Methoxytryptamin zu einem Aldimin kondensiert, es bildet sich
also zwischen dem Kohlenstoff der Aldehydgruppe und dem Stickstoff der Aminogruppe unter
Wasserabspaltung eine Doppelbindung aus.
Anschließend wird das Aldimin mit Natriumborhydrid reduziert. Das Produkt cyclisiert spontan zu einem
Lactam. Durch Umsetzung mit Phosphoroxychlorid erfolgt der Angriff auf das Pyrrol (Bischler-NapieralskiReaktion), wodurch sich unter Ausbildung eines Iminiumions der C-Ring schließt. Anschließend reduziert
man das Iminiumion mit Natriumborhydrid.
Aufgrund der räumlichen Struktur des Edukts greift das Hydridanion jedoch von unterhalb der Molekülebene
an, wo es weniger gehindert wird. Zudem entsteht auf diese Art und Weise das thermodynamisch stabilere
Produkt, was zur Folge hat, dass das gebildete Molekül ein Epimer von Reserpin ist, aber noch nicht
Reserpin selbst: Zuerst muss die Konfiguration des neu entstandenen Stereozentrums am C-3 invertiert
werden. Hierzu werden zuerst zwei Ester mit Kaliumhydroxid hydrolytisch gespalten, so dass an C-16 eine
Carboxy- und an C-18 eine Hydroxygruppe entsteht, woraus mit Hilfe von Dicyclohexylcarbodiimid (DCC)
ein Lacton aufgebaut wird. Danach haben sich die Stabilitätsverhältnisse hinreichend geändert, dass mit
Pivalinsäure das Wasserstoffatom am C-3 in die nun stabilere ?-Position gerückt werden kann. Nach
Abschluss der Epimerisierung wird das Lacton wieder verseift.
Der letzte Schritt der Totalsynthese nach Woodward besteht in der Veresterung mit 3,4,5Trimethoxybenzoylchlorid zu racemischen (±)-Reserpin. Eine Trennung der Enantiomere gelingt durch
Derivatisieren mit Camphersulfonsäure und Trennung der Diastereomere, wodurch reines (?)-Reserpin
erhalten werden konnte.
Handelsnamen
Kombinationspräparate
Briserin (D), Brinerdin (A, CH), dysto-loges (D), Homviotensin (D, A), Hygroton-Reserpin (CH)
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Zitat
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