Manchmal erschrecken auch Krebsexperten vor Zahlen, die ihre

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Manchmal erschrecken auch Krebsexperten vor Zahlen, die ihre alltägliche Arbeit
widerspiegeln – besonders, wenn es um Therapien mit starken Nebenwirkungen geht. Ein
aktuelles Beispiel ist die Chemotherapie bei Brustkrebs. Von 100 Patientinnen, die eine
vorbeugende Chemotherapie bekommen, um Metastasen im Körper zu zerstören, brauchen nur
fünf Frauen diese Behandlung wirklich. Das heißt: 95 Patientinnen sind allein durch die
Operation und eine anschließende Strahlen- oder Tablettentherapie geheilt. Die Chemotherapie
ist bei diesen Frauen - rund 10.000 pro Jahr allein in Deutschland - völlig überflüssig.
Doch welche Frau entwickelt lebensgefährliche Metastasen und benötigt die Chemotherapie
tatsächlich - und welche nicht? Auf diese Frage mussten Brustkrebsspezialisten bei vielen
Patientinnen bislang unentschlossen mit den Schultern zucken. Die Tumormerkmale, die der
Pathologe liefert, wie zum Beispiel Geschwulstgröße und Aggressivität der Zellen, sagen wenig
über den Verlauf der Erkrankung aus. "Da fällt die Entscheidung, ob eine Chemotherapie
erforderlich ist oder nicht, oft, das muss man leider sagen, aus dem Bauch heraus", sagt
Professor Nadia Harbeck, Leiterin des Brustzentrums der Universitätsfrauenklinik Köln.
Weniger Bauchentscheidungen, dafür mehr Sicherheit: Das verspricht jetzt ein viel
diskutierter Tumortest, der an diesem Wochenende in Orlando (US-Staat Florida) auf dem mit
30 000 Experten weltweit größten Krebskongress präsentiert wurde. Der Test mit dem
kryptischen Kürzel "uPA/PAI-1" ist gedacht für alle Patientinnen, die zum ersten Mal an
Krebs erkranken und keinen Lymphknotenbefall haben. Er unterscheidet, ob es sich um
gefährliche metastasierende Tumoren handelt oder um ungefährlichere. Das belegen die
Studiendaten aus den letzten zehn Jahren.
Dabei spielen besonders heimtückische Eiweiße des Tumorgewebes eine entscheidende Rolle.
Sie ermöglichen, dass sich einzelne Krebszellen aus dem Tumor herauslösen. Das eine
namengebende Enzym hilft den Tumorzellen zudem, in benachbarte Gewebe und Gefäße
einzudringen und sich so im Körper zu verteilen. Auch das andere Eiweiß unterstützt diesen
Prozess. Niedrige Werte dieser Stoffe bedeuten demnach: Der Tumor wird nicht streuen - eine
Chemotherapie ist überflüssig. Hohe Konzentrationen zeigen: Das Risiko für Metastasen ist
groß - die Chemotherapie sollte gemacht werden.
Studien belegen: Nach einer auf diese Weise gut begründeten Therapieempfehlung können
die meisten Patientinnen mit den Nebenwirkungen der Chemotherapie besser umgehen. "Wir
können den Patientinnen mit hohen Werten jetzt mit sicherer Überzeugung sagen, dass sie
exzellent auf die Chemotherapie ansprechen werden. Das heißt, sie haben unbedingt einen
Nutzen von dieser Therapie", erläutert Nadia Harbeck.
Dennoch findet man den Biomarker-Test, der an der Universitätsklinik in München unter
anderem von Nadia Harbeck entwickelt wurde, nur in wenigen deutschen Brustzentren. Der
Grund: Ein Teil des Tumors muss sofort nach der OP schockgefroren werden, um die
Biomarker nachweisen zu können. Und das ist vielen Ärzten zu aufwendig. "Es war für uns
an allen Zentren bis vor zehn Jahren Standard und Tradition, Tumorgewebe direkt auf Eis zu
legen", kontert Professor Christoph Thomssen vom Zentrum für Frauenheilkunde der
Universitätsklinik in Halle/Saale. "Diese Methode wieder einzuführen, sollte kein Problem
sein."
Der zweite Grund: die Finanzierung. Die Krankenkassen übernehmen die Kosten von circa
200 Euro bislang nicht, obwohl jede eingesparte Chemotherapie im ambulanten Bereich bis
zu 10.000 Euro weniger Kosten bedeutet. So müssen die Zentren den Test momentan
innerhalb der Pro-Kopf-Pauschale von 3000 bis 3500 Euro verrechnen, die sie für eine
stationäre Brustkrebsbehandlung abrechnen dürfen. Für viele Kliniken ein Problem. Unter
anderem am Brustzentrum in Berlin-Buch wird der uPA/PAI-1-Test seit Anfang des Jahres
dennoch angeboten. Keine leichte Arbeit, wie Professor Michael Untch von der Helios-Klinik
berichtet. "Es muss alles stimmen, die Ärzte und Pathologen müssen motiviert sein. Und
irgendwo muss in der Verwaltung die Stimme sein, die sagt: 'Ich verlass mich auf euch, ihr
macht das gut, ich unterstütze euch'."
Die Daten aus Orlando vom Wochenende haben auch die Deutsche Krebsgesellschaft
überzeugt. In den nächsten Tagen werden Patienteninformationen zu dem Biomarker-Test
online abrufbar sein. Die Experten hoffen so, dass ein großer Teil der 10 000 überflüssigen
Chemotherapien in Deutschland in jedem Jahr verhindert werden können. Vorausgesetzt, der
Test wird in allen Brustzentren angeboten.
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