Angewandte Physiologie

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Angewandte Physiologie
Band 2: Organsysteme verstehen
Bearbeitet von
Louis Gifford, Rik Gosselink
erweitert, überarbeitet 2005. Buch. 608 S. Hardcover
ISBN 978 3 13 117082 8
Format (B x L): 170 x 240 cm
Weitere Fachgebiete > Medizin > Vorklinische Medizin: Grundlagenfächer >
Physiologie, Pathophysiologie
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Lernen und Gedächtnis
Die Parkinson-Krankheit stellt das bekannteste
Krankheitsbild einer Basalganglienstörung dar. Sie
wird durch den massiven Untergang dopaminerger Neuronen der Pars compacta der Substantia nigra hervorgerufen.
7.6
Lernen und Gedächtnis
7.6.1
Vorbemerkungen, Begriffe und
Definitionen
Das ZNS verfügt in hohem Maße über die Fähigkeit
zur plastischen Veränderung. Der Begriff der Plastizität wird im Alltag unterschiedlich genutzt. Im Folgenden wird mit Plastizität eine Grundeigenschaft
des ZNS bezeichnet. Der Begriff steht hier für die Fähigkeit des ZNS zur Anpassung an veränderte Umweltbedingungen bzw. an Beanspruchung. Plastizität ist die Grundlage von Lernprozessen, wenngleich umgekehrt nicht jede plastische Veränderung Lernen gleichzusetzen ist.
Lernen kann als grundlegender Prozess der Aneignung neuer Erfahrungen, Kenntnisse und Fertigkeiten definiert werden, der zu einer relativ stabilen
Veränderung des Verhaltens oder des Verhaltenspotenzials führt. Unter Gedächtnis wird allgemein
die Fähigkeit verstanden, die erlernten Erfahrungen, Kenntnisse und Fertigkeiten zu bewahren. Dabei können die Prozesse der Speicherung (dieser
deckt sich mindestens teilweise mit dem Lernen),
der Festigung (und Pflege) des Gespeicherten (Konsolidierung) und des Abrufs unterschieden werden.
Lernen und Gedächtnis sind für eine erfolgreiche
Lebensführung in einer wechselnden Umwelt unentbehrlich. Sie gewährleisten eine Anpassung an
veränderte Umweltbedingungen. Dies trifft sowohl
auf das tägliche Leben als auch und gerade auf Situationen zu, in denen sich der Organismus nach
Schädigungen oder Läsionen an die veränderten Bedingungen anpassen muss. Dabei erschließen wir
uns neue Aspekte der Umwelt, entdecken Regelmäßigkeit in ihr, identifizieren Gefahrenquellen und
eignen uns neue motorische und soziale Verhaltensweisen zur Sicherung des individuellen Überlebens an. Die Fähigkeit zu lernen repräsentiert somit
eine zentrale Voraussetzung für die Überlebensfähigkeit (Miltner u. Weiss 1999).
Lernen beruht keinesfalls nur auf individuellen
Erfahrungen. So werden durch Kommunikation
zwischen den Individuen von Generation zu Generation Erfahrungen weitergegeben. Aber auch die
stammesgeschichtliche Entwicklung schlägt sich in
Form genetischer Vorgaben nieder, sodass grundle-
gende Fähigkeiten und Verhaltensweisen genetisch
determiniert angelegt sind. Diese Fähigkeiten und
Fertigkeiten werden im Laufe der individuellen Entwicklung modifiziert. Die lange aufrechterhaltene
Trennung von angeborenem und erworbenem Verhalten und Wissen ist somit heute verworfen.
Zusammenfassung: Gedächtnis: Begriffe und
Definitionen
Lernen und Gedächtnis sind für eine erfolgreiche
Lebensführung in einer wechselnden Umwelt unentbehrlich. Lernen kann dabei als der grundlegende Prozess der Aneignung neuer Erfahrungen,
Kenntnisse und Fertigkeiten definiert werden. Er
führt zu einer relativ stabilen Veränderung des Verhaltens oder des Verhaltenspotenzials, während
unter Gedächtnis die Fähigkeit verstanden wird, erlernte Erfahrungen, Kenntnisse und Fertigkeiten zu
bewahren. Dabei können die Prozesse der Speicherung (dieser deckt sich mindestens teilweise mit
dem Lernen), der Festigung des Gespeicherten
(Konsolidierung) und des Abrufs unterschieden
werden.
Der Begriff der Plastizität stellt im Zusammenhang
mit Lernen und Gedächtnis eine Grundeigenschaft
des ZNS dar, die die Fähigkeit zur Anpassung an
veränderte Umweltbedingungen bzw. an Beanspruchung ausdrückt.
7.6.2
Gedächtnis
Gedächtnissysteme
Aus der Vielzahl der auf uns einströmenden Informationen werten wir nur einen Bruchteil dieser Informationen bewusst aus, lernen noch weniger
oder speichern es gar für lange Zeit. Unter dem
Aspekt der Zeitspanne und der Menge aufgenommener Informationen lassen sich folgende Gedächtnissysteme unterscheiden (Abb. 7.47):
– Sensorisches Gedächtnis
– Kurzzeitgedächtnis u. Arbeitsgedächtnis
– Langzeitgedächtnis.
Das sensorische Gedächtnis (sensorischer Speicher)
hat eine hohe Speicherkapazität und eine Zeitspanne der Speicherung von 0,5 – 1 s Für die wichtigsten
Modalitäten (visuell, auditiv, somatosensorisch)
existieren eigene, unabhängige Speicher.
Das Kurzzeitgedächtnis hat eine deutlich geringere Speicherkapazität als das sensorische Gedächtnis. In ihm werden Informationen bis zu einer Zeit-
van den Berg, Angewandte Physiologie, Band 2: Organsysteme verstehen und beeinflussen (ISBN 3131170824), 䊚 2005 Georg Thieme Verlag KG
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354
7 Zentralnervensystem
Wiedergabeleistung
Langzeitgedächtnis
Abb. 7.47 Verschiedene Gedächtnissysteme (nach Birbaumer,
Schmidt).
Wiedergabe
sensorisches
Gedächtnis
Verblassen
Arbeitsgedächtnis
liso g
n un
o
K ier
d
Kurzzeitgedächtnis
ko g
n un
Er
ie
d
Vergessen
ankommende
Information
dauer von Minuten gespeichert. Die Ergebnisse der
letzten Jahre belegen, dass auch das Kurzzeitgedächtnis keine Einheit darstellt, sondern mindestens aus einem visuell-räumlichen und einem phonologischen Speicher (für sprachliche Informationen) sowie einer zentralen Exekutive besteht, die
wiederum weitgehend unabhängig voneinander
agieren. Weniger deutlich zeigt sich die Abgrenzung zum Arbeitsgedächtnis, das ebenfalls eine begrenzte Speicherkapazität und eine Zeitspanne im
Minutenbereich für die aufgenommenen Informationen besitzt. Ihm kommt jedoch eine Sonderstellung hinsichtlich der Kommunikation mit dem
Langzeitgedächtnis, aber auch in Bezug auf das Bewusstwerden der Inhalte dieses Speichers zu. So
glauben einzelne Autoren, dass der Inhalt des Speichers mit dem aktuellen Bewusstsein gleichzusetzen ist.
Das Langzeitgedächtnis besitzt eine nahezu unbegrenzte Speicherkapazität und lässt wenigstens
eine teilweise permanente Speicherung zu (leider
scheint das jedoch nur bei Pflege der Gedächtnisinhalte oder für besonders wichtige Informationen
zuzutreffen).
Zusammenfassung: Gedächtnissysteme
Hinsichtlich der Menge an Informationen sowie der
Zeitdauer ihrer Speicherung, lassen sich das sensorische, das Kurzzeit- mit dem Arbeits- und das
Langzeitgedächtnis voneinander abgrenzen.
Implizites und explizites Gedächtnis
Aus dem bisher Dargestellten ließe sich schlussfolgern, dass ein einheitliches Langzeitgedächtnis
existiert, in dem die verschiedenen Informationen
gespeichert werden. Anfang der 50er Jahre wurde
jedoch nachgewiesen, dass eine solche Position
nicht mehr haltbar ist, wobei ein Fallbericht sehr
berühmt wurde (siehe Klinik). Der Patient wurde
über Jahre hinweg sehr intensiv untersucht.
Klinik: Patient H.M
Der 27-jährige Patient H.M. litt mehr als 10 Jahre an
einer therapieresistenten Epilepsie, die ihn arbeitsunfähig machte und kein annähernd normales Leben führen ließ. Er hatte täglich sich wiederholende epileptische Anfälle, bevor er in eine operative
Entfernung der medialen Anteile des Temporallappens einwilligte (Abb. 7.48). Nach der Operation
war die Häufigkeit der Anfälle stark reduziert.
Allerdings hatte H.M. einen schwerwiegenden Gedächtnisverlust. Er verlor nämlich vollständig die
Fähigkeit, ein Langzeitgedächtnis auszubilden.
Zwar erinnerte er sich an alle Ereignisse und Daten
vor der Operation, auch seine Sprache und sein Intelligenzquotient erwiesen sich vor und nach der
Operation als überdurchschnittlich, es war ihm jedoch unmöglich geworden, neu Gelerntes über Minuten hinaus (Kurzzeitgedächtnis) zu behalten. So
vergaß er Namen und Aussehen des Therapeuten,
van den Berg, Angewandte Physiologie, Band 2: Organsysteme verstehen und beeinflussen (ISBN 3131170824), 䊚 2005 Georg Thieme Verlag KG
Lernen und Gedächtnis
operante Konditionierung, deren Erläuterung später in diesem Abschnitt erfolgt, zeigten keine Defizite.
Neuere Befunde zeigen explizite Lernleistungen in
geringem Ausmaß (Corkin, 2002), die möglicherweise auf eine morphologische Reorganisation
(siehe Kap. 7.6.3) zurückzuführen sind.
Bei der Untersuchung der Leistungen, die Patienten
mit bilateralen Läsionen des Temporallappens noch
erbringen können, finden sich einige Gemeinsamkeiten. Es zeigt sich, dass sie nicht an bewusstes Erinnern oder andere kognitive Fähigkeiten gebunden
sind und Aspekte von Automatisierung aufweisen.
Das bedeutet: Folgende prinzipiell verschiedene
Lern- und Gedächtnisformen können gefunden
werden:
8 cm
– Wissen, wie etwas zu tun ist
– Wissen über die Dinge, Orte, die Welt usw.
Abb. 7.48 Ausmaße der Resektion der medialen Temporallappen beim Patienten H.M. Die Resektion erfolgte
beidseitig symmetrisch, in der Abbildung wurde eine
Seite zur Darstellung der entfernten Strukturen intakt
belassen (nach Kandel et al.).
Dabei stellen das Lernen und der Abruf, wie etwas
zu tun ist, meist unbewusste Vorgänge dar. Diese
Lern- und Gedächtnisvorgänge werden implizit genannt. Das Wissen über Dinge, Orte, die Welt usw.,
das wir bewusst verfügbar halten, wird im Allgemeinen als explizites Gedächtnis bezeichnet. Annähernd synonym, aber nicht vollständig identisch
werden die Begriffe deklaratives Gedächtnis für explizites und nichtdeklaratives (nondeklaratives) Gedächtnis für implizites Wissen benutzt.
Abb. 7.49 zeigt, dass sich das deklarative und das
nichtdeklarative Gedächtnis weiter unterteilen las-
sobald dieser das Zimmer verließ. Der Abriss seines
Wohnhauses machte ihn unfähig, sich in der neuen
Umgebung zurechtzufinden, und selbst das Ableben eines Elternteils wurde ihm nicht bewusst. Es
zeigte sich jedoch, dass H.M. nicht vollständig lernunfähig war. Er war Gesunden in der Aneignung
neuer motorischer Fertigkeiten nicht unterlegen.
Auch Habituation, Sensitivierung, klassische und
Abb. 7.49 Unterteilung des Gedächtnisses in ein deklaratives und
ein nondeklaratives Gedächtnis
(nach Miltner, Weiss).
Gedächtnis
deklarativ
semantisch
(Fakten)
nondeklarativ
prozedural
(Fähigkeiten)
episodisch
perzeptuelles und
semantisches
Priming
assoziatives
klassische
Konditionierung
operante
Konditionierung
Lernen
nichtassoziatives
Habituierung
Sensitivierung
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