Regenerative Medizin und Biologie

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Regenerative Medizin und Biologie
Die Heilungsprozesse unseres Körpers verstehen und nutzen
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und Bioverfahrenstechnik, Stuttgart
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Redaktion
Dr. Karsten Schürrle
Autoren
Dr. Rüdiger Marquardt,
Dr. Karsten Schürrle,
DECHEMA e. V., Frankfurt/M.
Gestaltung
Christian Beck, Frankfurt/M.
Druckerei
Druckhaus Münster, Kornwestheim
Bonn, Berlin 2005
Gedruckt auf Recyclingpapier
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Regenerative Medizin und Biologie
Die Heilungsprozesse unseres Körpers verstehen und nutzen
VORWORT
Vorwort
Das Bundesministerium für Bildung und
Forschung fördert Forschung für den Menschen. Damit ist nicht
nur gemeint, dass Forschungsergebnisse zu
einer verbesserten
Gesundheitsversorgung beitragen können. Forschung für
den Menschen bedeutet auch – und dies gilt
in besonderer Weise bei den Entwicklungen der modernen
Biomedizin – dass sie in einem angemessenen ethischen und
rechtlichen Rahmen stattfindet.
Regenerative Technologien gehören zu den innovativsten
Zukunftsfeldern der modernen biomedizinischen und biologischen Forschung und Anwendung. Die Möglichkeit, die
Selbstheilungskräfte des Körpers gezielt zur Behandlung
von Krankheiten zu mobilisieren, ist für die Gesundheit
vieler Menschen eine überaus wichtige, wirtschaftlich sehr
viel versprechende und wissenschaftlich höchst faszinierende
Perspektive.
Konkret umfassen die Regenerativen Technologien die Erhaltung beziehungsweise Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit und damit Lebensqualität bei Patienten – auch bei
bisher nicht therapierbaren Krankheitsbildern. Gleichzeitig
birgt sie auf längere Sicht betrachtet ökonomische Potenziale
bei der Behandlung selbst: Wo es über die Stimulierung körpereigener Mechanismen zu einer Reparatur im Sinne einer
echten Regeneration kommt, kann auf Implantate aus Stoffen, die dem Organismus fremd und unverträglich sind, auf
lange Sicht immer öfter verzichtet werden. Auch aufwändige
Folgebehandlungen wie Dialyse oder Folgeoperationen
könnten in Zukunft unterbleiben. Vorbild ist dabei die Natur
selbst: Sie liefert mit Wirbeltieren, bei denen ganze Organe
oder Körperteile nachgebildet werden, die beeindruckendsten Beispiele für das dahinter stehende Potenzial.
Schon heute zeigen sich erstaunliche Beispiele, unter anderem die Möglichkeit, Hautverbrennungen durch aus Zellen
nachgezüchtete Haut zu heilen – oder die Option, patienteneigenen Knorpel zu züchten, um ihn in verletzte Gelenke
oder als Bandscheibenersatz zu transplantieren. Diese Ansätze sind bereits praxistauglich. Sie wurden von Forschergruppen in Deutschland entwickelt und werden auch von
deutschen Biotechnologiefirmen vermarktet. Diese Erfolge
sind nur durch gemeinsame Anstrengungen, vor allem durch
die Zusammenarbeit von Grundlagenforschung, Klinik und
Industrie möglich.
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert
gezielt die Ausschöpfung der Potenziale der Biomedizin.
Mit dem im Jahr 2000 geschaffenen Förderschwerpunkt
„Tissue Engineering“ unterstützte das Bundesministerium
für Bildung und Forschung mit 38 Millionen Euro wichtige
Akzentsetzungen insbesondere bei jungen Unternehmen.
Ziel ist es, in Deutschland aus den bestehenden Strukturen
heraus ein international wettbewerbsfähiges Produkt- und
Dienstleistungsspektrum zu etablieren. Daher werden vor
allem Kooperationen zwischen kleinen und mittleren Unternehmen und Forschungseinrichtungen aus Medizin sowie
Natur- und Ingenieurwissenschaften gefördert. Zusätzlich
zu den genannten öffentlichen Fördermitteln konnten nochmals etwa 26 Millionen Euro private FuE-Mittel mobilisiert
werden.
Darüber hinaus wird in dem BMBF-Förderschwerpunkt „Biologischer Ersatz von Organfunktionen“ das Potenzial von
Stammzellen zur Therapie verschiedener volkswirtschaftlich
relevanter Erkrankungen wie zum Beispiel Parkinson, Diabetes, Osteoporose und Herzinfarkt ausgelotet. Mit einem
Volumen von neun Millionen Euro für drei Jahre ist der
Förderschwerpunkt Mitte 2001 gestartet und umfasst derzeit 32 laufende Projekte.
Zur Fortführung dieser Förderung ist im September 2004 ein
neuer Förderschwerpunkt zur „Zellbasierten, regenerativen
Medizin“ ausgeschrieben worden. Dabei soll das bisherige
Fördervolumen mit einem Umfang von drei Millionen Euro
im Jahr beibehalten werden. Die geförderten Projekte werden sich überwiegend im Vorfeld der Anwendung bewegen
zur Vorbereitung einer späteren klinischen Anwendung.
Diese Broschüre gibt einen Überblick über den Stand der Entwicklung, skizziert das Potenzial der Regenerativen Technologien und wagt einen Blick in die Zukunft. Die enormen
Chancen, die sich dabei abzeichnen, müssen wir nutzen in
unser aller Sinne: als mögliche Patienten und für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Deutschlands.
Edelgard Bulmahn
Bundesministerin für Bildung und Forschung
4
INHALTSVERZEICHNIS
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
3
Einleitung
5
Medizinische Grundlagen
6
Zellen- und Differenzierungspotenziale
Immunologie
Stammzellen
Reproduktives und therapeutisches Klonen
Tissue Engineering in der Praxis: einige Beispiele
Haut
Gelenkknorpel
Bandscheiben
Knochenmark und Blutzellen
Extrazelluläre Trägermaterialien – Grundlage des Fortschritts
Ohren
Herzklappen
Gefäße
Ansätze mit Stammzellen
Knochen
Entwicklung der Methoden der modernen Medizin
Die Züchtung von Zellen und Geweben
Herzmuskel
Luftröhre
Pankreas
Niere
Leber
Nerven
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30
Embryonale Stammzellen – die internationale Situation
32
Nationale und internationale Förderaktivitäten
35
Die Zulassung von Tissue-Engineering-Produkten
36
Fallbeispiel für die Zulassung eines TE-Produkts
37
Interview mit Prof. Dr. Christoph Gleiter
38
Regenerative Medizin – die Zukunft hat schon begonnen
40
Wird sich die regenerative Medizin durchsetzen?
Glossar
42
43
EINLEITUNG
5
Einleitung
Die Medizin steht vor großen Entwicklungen. Dank der rasant wachsenden Einblicke in zelluläre Prozesse verstehen
wir die molekularbiologischen Mechanismen hinter den
Selbstheilungskräften unseres Körpers zunehmend besser.
Diese Selbstheilungskräfte gezielt zu nutzen, bedeutet eine
wesentliche Erweiterung der Heilkunst um therapeutische
Optionen, die oft unter dem Schlagwort der Regenerativen
Medizin zusammengefasst werden.
Einige Anwendungen wurden bereits Realität. Dazu zählen
Knorpel- und Hautersatz, die durch das Tissue Engineering –
das heißt die intelligente Kombination von Hightechmaterialien und Zellkulturen – verfügbar wurden. Hier haben insbesondere deutsche Forschergruppen und Biotechunternehmen viel geleistet. Trotz der Verfügbarkeit dieser Produkte
sind aber manche Probleme auf dem Weg zum Markterfolg
noch nicht gelöst worden. So leidet die Kommerzialisierung
unter den in Europa uneinheitlichen Zulassungsregularien
und der zögerlichen Erstattungspraxis der Krankenversicherungen, wodurch letztlich die Aussichten der jungen Unternehmen auf Einnahmen schwinden und sich Investoren oftmals verhalten zeigen.
Dennoch hat die Regenerative Medizin ihre Zukunft noch vor
sich. Die aufregenden Ergebnisse haben bereits viel versprechende Projekte etwa zur Reparatur defekter Gewebebereiche angestoßen, die langfristig zur Therapie schwerer und
weit verbreiteter Krankheiten wie Herzinfarkte, Neurodegenerativer Erkrankungen und Diabetes geeignet sein dürften.
Das ökonomische Potenzial derartiger Therapien wird als beachtlich eingeschätzt – nicht zuletzt in der Entlastung der
Gesundheitssysteme.
Gegenwärtig sind die komplexen Kausalitäten der biologischen Regenerationsmechanismen noch weitgehend unverstanden. Hier steht die biomedizinische Grundlagenforschung gerade erst am Anfang. Vieles bleibt aufzuklären,
zum Beispiel wie nah adulte, embryonale oder Nabelschnurblutstammzellen an das jeweilige Therapieziel heranführen.
Diese spannenden Fragen müssen ergebnisoffen, nüchtern
und bei Wahrung der ethischen Grundsätze angegangen
werden, die notwendigen materiellen und rechtlichen Voraussetzungen dafür sind gegeben.
Der "Heilige Gral" der Regenerativen Medizin ist schließlich
die Bildung bzw. Züchtung von ganzen Ersatzorganen und
Gliedmaßen aus Zellen der Patienten. Auch wenn dieses Ziel
noch in sehr weiter Ferne liegt, werden jetzt die ersten Schritte dahin gemacht. Denn die Natur hat uns bei Wirbeltieren
wie Reptilien und Amphibien bereits vorgemacht, dass dies
möglich ist.
6
MEDIZINISCHE GRUNDLAGEN
Medizinische Grundlagen
Bereits Hippokrates erkannte die Bedeutung der Selbstheilungskräfte des Körpers für die Therapie von Krankheiten. Dass Zellen bei Krankheits- und Heilungsprozessen im Mittelpunkt stehen, wurde im 19. Jahrhundert klar.
Heute versteht man viele ihrer Mechanismen und lernt,
sie gezielt für die Therapie zu aktivieren und zu nutzen.
Die ersten überlieferten Ansätze einer rationalen Auseinandersetzung mit menschlichen Krankheiten, zumindest im
abendländischen Raum, werden häufig Hippokrates zugeschrieben, der rund 400 Jahre vor Christus gewirkt und eine
eigene Lehre begründet hat. Der Hippokratische Eid der
Mediziner erinnert noch heute an ihn. Hippokrates und seinen Schülern ist es zu verdanken, dass Krankheiten nicht
mehr als göttliche Strafe oder als Wirken von Dämonen
Aderlass
begriffen wurden, sondern als Fehlfunktionen des Körpers,
die man behandeln konnte. Für Hippokrates ging es darum
die Patienten genau zu beobachten und sie entsprechend zu
pflegen, also die Selbstheilungskräfte des Körpers gezielt zu
unterstützen – angesichts des fehlenden Verständnisses für
Krankheitsursachen keine schlechte Methode.
Erst um das Jahr 1840 herum setzte sich die Erkenntnis durch,
dass Pflanzen, Tiere und der Mensch aus einer großen Viel-
zahl einzelner Zellen aufgebaut sind. Die Zelle ist das verbindende Element aller Lebewesen, von den einzelligen Urtierchen, die schon Leuwenhook unter dem Mikroskop beobachtet hatte, bis hin zum Elefanten oder Wal. Diese Erkenntnisse
und das zunehmende Verständnis der Organe und Funktionen des menschlichen Körpers ermöglichten eine neue Vorstellung von Krankheit und neue Konzepte für Therapien. So
konnte Rudolf Virchow, ein Berliner Arzt und Politiker, unter
anderem den zellulären Ursprung vieler Krankheiten erkennen. Virchow setzte sich auch sehr für den Aufbau eines staatlichen Gesundheitswesens ein.
Das 19. Jahrhundert erwies sich insgesamt als technik- wie
forschungsfreundlich und verhalf auch der Medizin zu wichtigen Fortschritten. So ist das Stethoskop, noch heute ein
Standard-Utensil der Ärzte, eine Erfindung des frühen 19.
Jahrhunderts. Auch fanden in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts Schmerzmittel wie Morphin als aktiver Bestandteil
des Opiums identifiziert, oder Narkosemittel wie Lachgas,
Äther und Chloroform erstmals breite und gezielte Anwendung. Das ermöglichte wiederum umfangreiche und schwierige chirurgische Eingriffe. Die Medizintechnik, also die Entwicklung und der Einsatz speziell entwickelter Geräte für
Diagnostik und Therapie, machte seit dieser Zeit große Fortschritte. Eine moderne medizinische Versorgung greift ja wie
selbstverständlich auf Katheter, künstliche Gelenke, Herzschrittmacher, Zahnimplantate und vieles mehr zurück.
Auch mikrochirurgische Verfahren können nur dank der Entwicklung neuer Geräte eingesetzt werden. In der Pharmazie,
bei der Entwicklung und Bereitstellung von Medikamenten,
wurden gleichfalls große Fortschritte gemacht.
Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte man bereits Methoden, um Organe außerhalb eines Körpers funktionstüchtig zu
halten. Dazu wurden die isolierten Organe nicht mit Blut,
sondern mit speziell dafür entwickelten Nährlösungen durchspült. Auch die Transplantation menschlicher und tierischer
Organe versuchte man. Allerdings scheiterten diese und auch
spätere Versuche an den oft heftigen und bis dahin unverstandenen Abstoßungsreaktionen der Empfänger. Erst in den
1950er Jahren gelang Ärzten in Boston eine erfolgreiche Nierentransplantation beim Menschen, wobei Spender und
Empfänger eineiige Zwillinge waren und daher Abstoßungsreaktionen unterblieben. Die eigentliche Ära der Organtransplantationen begann im Jahr 1967 mit der erfolgreichen Ver-
MEDIZINISCHE GRUNDLAGEN Zellen und Differenzierungspotenziale
7
sich nun auch die Möglichkeit, das hohe Leistungspotenzial
menschlicher Körperzellen für therapeutische Zwecke zu nutzen. Was die Schule des Hippokrates begründet hat, nämlich
die Unterstützung der Selbstheilungskräfte des Körpers, wird
von der modernen Medizin in verblüffender Weise aufgenommen und weiterentwickelt.
Zellen und Differenzierungspotenziale
Herz-OP
pflanzung eines menschlichen Herzens durch Christian Barnard. Mittlerweile hatte man gelernt, Spender und Empfänger hinsichtlich einer möglichst guten Gewebeverträglichkeit zu klassifizieren und man setzte radioaktive Bestrahlungen oder Zytostatika ein, um die Immunantwort des
Empfängers zu unterdrücken. Es bedurfte allerdings noch
der Entwicklung besserer Medikamente, mit denen die
Immunabwehr ohne allzu gravierende Nebenwirkungen
kontrolliert werden konnte, bevor die Methode der Organtransplantation ihren Siegeszug antrat.
Die Medizin hat sich in den letzten 200 Jahren enorm
entwickelt und es ist für uns heute
selbstverständlich, dass hochmoderne Techniken und Medikamente zur Verfügung stehen, mit
Mitochondrium
denen Verletzungen versorgt,
Krankheiten gelindert oder geheilt
werden können. Viele Erkrankungen kann man allerdings nur in
den Symptomen, nicht aber in den
Kernhülle
Ursachen bekämpfen. Bei OrganZellkern
transplantationen ist die Nachfrage heute weit größer als das verGolgi-Apparat
fügbare Angebot. Leiden wie
Krebs, Schlaganfall und Herzinfarkt können nur unzureichend
behandelt werden. Die steigende
Zellmembran
Lebenserwartung führt dazu, dass
altersbedingte Krankheiten eine
immer größere Rolle spielen, worGlattes endoaus neue Anforderungen an die
plasmatisches
medizinische Versorgung resultieRetikulum
ren. Dank des Wissens um den Aufbau und das Funktionieren des
menschlichen Körpers eröffnet
Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte nicht nur die Erkenntnis gebracht, dass Organismen aus einer Vielzahl
einzelner Zellen aufgebaut sind. Man hatte auch die Eizelle
entdeckt und untersucht, wie sich aus dieser einzelne Gewebeschichten und schließlich ganze Lebewesen entwickeln
konnten. Trotz dieser frühen Einsicht gehört es noch heute
zu den größten und spannendsten Herausforderungen in den
Lebenswissenschaften zu verstehen, wie dieser Vorgang
genau abläuft. Auch der menschliche Organismus entsteht in
seiner komplexen Gesamtheit mit rund 60 Billionen Zellen
aus nur einer einzigen Zelle, der befruchteten Eizelle. Im Menschen bilden sich über 200 Zelltypen aus, die unterschiedlich
spezialisiert sind und verschiedene Aufgaben wahrnehmen.
Es leuchtet sofort ein, dass eine Leberzelle anders funktionieren muss als eine Herz- oder Hautzelle und dass rote Blutkörperchen andere Funktionen haben als weiße. Wie es zu dieser
Spezialisierung kommt ist noch nicht endgültig geklärt. Klar
ist aber, dass alle Zellen eines Organismus grundsätzlich über
die gleiche genetische Ausstattung verfügen und damit im
Prinzip jede Aufgabe übernehmen könnten. Die unterschied-
Raues endoplasmatisches Retikulum
Ribosom
Kernkörperchen
Zentralkörperchen
Glykogentröpfchen
Freie Ribosomen
Zytoplasma
Mikrotubulus
Zille
Golgi-Veskel
Zellen und Differenzierungspotenziale MEDIZINISCHE GRUNDLAGEN
8
Immunologie
Mehr als ein Dutzend verschiedener Immunzellen, fünfzig Botenstoffe
(Zytokine) und zahlreiche weitere Substanzen arbeiten im ebenso komplexen wie intelligenten Netzwerk des Immunsystems zusammen, um
unseren Organismus gegen verschiedenste Arten von Eindringlingen und
Amokläufern zu schützen.
Fresszellen nehmen bakterielle Eindringlinge ins Zellinnere auf und zerstören sie dann.
B-Zellen tragen auf ihrer Oberfläche gleiche, aber von Zelle zu Zelle verschiedene Antikörper.
Nach der Aktivierung durch ein Antigen vermehrt sich eine B-Zelle und
bildet Hunderte von so genannten Plasmazellen, von denen jede den
gegen den Eindringling passenden Antikörper in großer Menge – etwa
2.000 Antikörper pro Sekunde – produziert. Antikörper heften sich an
freie Antigene der Erreger und markieren diese damit zur Vernichtung
durch Fresszellen. Die Markierung wird durch zusätzliche Anhaftung von
Komplementfaktoren, das sind immunologische Wirksubstanzen aus
der Leber, verstärkt. Die Fresszellen – Makrophagen oder Granulozyten – werden durch Botenstoffe der T-Zellen aktiviert.
Folikuläre
dendritische
Immunzellen
präsentieren den
B-Lymphozyten
Antigene und
regen sie zur Bildung von Antikörpern an.
Eosinophile
Granulozyten
sind vor allem an
der Abwehr von
Würmern beteiligt
und verantwortlich für Entzündungen bei allergischem Asthma.
T-Lymphozyten
zerstören von
Viren befallene Zellen und regulieren
die Immunantworten.
Noch als Student hatte der spätere Nobelpreisträger Karl Landsteiner zu Anfang des 20. Jahrhunderts das menschliche Blut in
vier Hauptgruppen unterteilen können, die untereinander verträglich waren. Menschen mit der gleichen Blutgruppe können
sich gegenseitig Blut spenden, ohne dass dies beim jeweiligen
Empfänger zu Problemen führt. Stimmen die Blutgruppen
dagegen nicht überein, dann kann es je nach Kombination zu
Verklumpungen und schweren Problemen bis hin zum Tod des
Empfängers kommen. Diese Tatsache hatte dazu geführt, dass
die immer wieder einmal versuchten und gelegentlich sogar
erfolgreichen Bluttransfusionen vor der Entdeckung Landsteiners in Europa meist verboten waren. Landsteiner beschrieb
übrigens knapp 40 Jahre nach Entdeckung der vier hauptsächlichen Blutgruppen zusammen mit Alexander Wiener auch den
Rhesusfaktor, ein weiteres wichtiges Blutgruppen-Merkmal.
Ursache für die Unterschiedlichkeit der Blutgruppen sind Strukturen auf den Oberflächen der Blutzellen, die man als Antigene
bezeichnet. Landsteiner setzte seine Forschungen Anfang des
20. Jahrhunderts fort und entwickelte gemeinsam mit anderen
die Theorie, dass die Antigene von bestimmten Eiweißen im Blut,
den Antikörpern, erkannt und gebunden werden. Als Antigene
konnten dabei nicht nur Strukturen auf Zelloberflächen dienen,
sondern ein riesiges Reservoir fast beliebiger Substanzen.
Das Immunsystem des Menschen ist außerordentlich komplex.
Unablässig überprüfen spezialisierte Zellen, ob fremde Stoffe in
den Körper eingedrungen sind. Ist dies der Fall, dann wird eine
Kaskade von Aktivitäten gestartet in deren Folge die Fremdstoffe unschädlich gemacht werden. Auch wenn es sich bei den
fremden Stoffen um Viren und Bakterien handelt, die Körperzellen infizieren und sich dort quasi verstecken, werden sie von
den Immunzellen aufgespürt. Dabei erkennen die Immunzellen veränderte Strukturen auf den Oberflächen der befallenen
Zellen und töten diese Zellen ab. Die Vermehrung der Bakterien
und Viren wird dadurch unterbunden.
Unser Immunsystem kann praktisch jede beliebige molekulare
Struktur erkennen und mit ihr wechselwirken. Während ein
neuer Mensch heranwächst, „lernen“ die Immunzellen
zunächst, die Zellen des eigenen Körpers als „nicht fremd“ zu
behandeln. Tatsächlich sieht dieser „Lernprozess“ so aus, dass in
einer definierten Entwicklungsphase alle Immunzellen, die mit
Neutrophile
Granulozyten
attackieren Bakterien und setzen
Entzündungsstoffe frei.
Basophile
Granulozyten
sind für allergischen Reaktionen
im Blut verantwortlich.
Plasmazellen
gehen aus B-Zellen
hervor und produzieren wie diese
Antikörper.
Mastzellen
sind an der
Auslösung
allergischer
Reaktionen
im Gewebe
beteiligt.
MEDIZINISCHE GRUNDLAGEN Zellen und Differenzierungspotenziale
bestimmten Oberflächenstrukturen auf den normalen Körperzellen interagieren, absterben. Dadurch wird erreicht, dass die
normalen, unveränderten Zellen des Körpers für das eigenen
Immunsystem unsichtbar werden. Aus der Vielzahl an Strukturen, die unser Immunsystem dann ein Leben lang erkennt, werden zunächst einmal diejenigen gezielt entfernt, die für das
jeweilige Individuum typisch sind.
Diese Strukturen bezeichnet man auch als Gewebsantigene. So
wie sich ein Mensch vom anderen unterscheidet, unterscheiden
sich auch die Gewebsantigene voneinander. Jeder Mensch hat
seine ganz eigenen, individuell geformten Gewebsantigene.
Ausnahmen sind hier nur genetisch identische Individuen wie
eineiige Zwillinge – bei der Diskussion um das therapeutische
Klonen werden wir auf diesen Umstand zurückkommen. Die
Gewebespezifität ist bei Transplantationen sehr problematisch,
da das Immunsystem ja nur eigene Körperzellen toleriert, die
Zellen des Spenderorgans dagegen als fremd erkennt und
angreift. Als Folge davon kommt es zu Abstoßungsreaktionen.
Man ist heute in der Lage, die Verträglichkeit von Geweben
unterschiedlicher Individuen aufgrund einer Klassifizierung
der Gewebsantigene vorherzusagen – die Heftigkeit einer
Immunreaktion kann je nach Typ dieser Gewebsantigene sehr
unterschiedlich sein. Der Erfolg einer Transplantation hängt
deshalb von der richtigen Typisierung der Gewebe ab. Aber
auch davon, dass eine immer noch vorhandene Immunreaktion
durch Medikamente unterdrückt wird.
Der aufmerksame Leser wird sich vielleicht fragen, warum es
beim Blut dann nur so wenige Hauptgruppen gibt. Auch hier
müssten sich die Blutzellen ja eigentlich von Individuum zu
Individuum unterscheiden. Grund dafür ist die Tatsache, dass
die roten Blutkörperchen, die Erythrozyten, als einziger Zelltyp
keine Gewebsantigene mehr auf der Oberfläche tragen. Deswegen spielen hier nur zwei andere Antigene eine Rolle, die
man als A und B bezeichnet. Die Erythrozyten tragen entweder
nur das A-Antigen (Blutgruppe A), das B-Antigen (Blutgruppe
B), beide Antigene (Blutgruppe AB) oder keines dieser Antigene
(Blutgruppe 0) auf der Oberfläche.
Eine andere Besonderheit stellt die Transplantation der Hornhaut des Auges dar. Die fehlende Abstoßung beruht hier darauf,
dass in der klaren Hornhaut keine Blutgefäße und daher auch
keine Immunzellen vorhanden sind, da die Ernährung der
Hornhaut über das Tränensekret erreicht wird.
Makrophagen
vernichten hauptsächlich bakterielle Eindringlinge.
Natürliche
Killerzellen
greifen entartete
und viral infizierte Zellen an.
Dendritische
Zellen in Geweben
nehmen Antigene
auf, die sie T-Lymphozyten präsentieren.
9
liche Spezialisierung wird dadurch festgelegt, dass in jedem
Zelltyp nur eine definierte Teilmenge der verfügbaren Gene
aktiv ist.
Trotz ihrer unterschiedlichen Aufgaben verfügen menschliche Zellen über gemeinsame Elemente. Dazu gehört eine
Membran, die den Zellinhalt, das Zytoplasma, von der Umgebung abgrenzt und der Zelle die Form gibt. Weiterhin verfügen die Zellen über einen Zellkern, in dem die genetische
Information gespeichert ist und aus dem diese Information,
je nach Bedarf, abgerufen wird (die roten Blutkörperchen
sind hier einzigartig, weil sie im Zuge ihrer Spezialisierung
den Zellkern verlieren). Außerdem verfügen die Zellen über
Ribosomen, die so genannten Proteinfabriken, an denen die
genetische Information in Eiweiße, die Proteine, übersetzt
wird. Und weil alle Prozesse Energie verbrauchen gibt es Mitochondrien, in denen die biochemische Energie mit Hilfe
von molekularem Sauerstoff erzeugt wird. Zwei weitere wichtige Zellelemente sind das Endoplasmatische Reticulum, eine
Art Transportnetz innerhalb der Zelle und der Golgi-Apparat,
mit dessen Hilfe beispielsweise festgelegt wird, ob ein neu
hergestelltes Eiweiß im Zellkern, in der Zellmembran oder in
einem anderen Teil der Zelle landet – oder von der Zelle in
die Umgebung abgegeben wird.
Die einzelnen Zelltypen unterscheiden sich in Funktion und
Gestalt teils ganz erheblich. Die menschliche Zelle mit dem
größten Zellkörper ist die weibliche Eizelle, die mit 200
Mikrometer Durchmesser – dem Fünftel eines Millimeters –
sogar mit bloßem Auge gerade noch erkannt werden kann.
Nervenzellen können, mit den zur Signalleitung notwendigen langen Fortsätzen, den Axonen, sogar bis zu einem
Meter lang werden. Die Beschreibung der rund 200 unterschiedlichen Zelltypen würde den Rahmen dieser Broschüre
sprengen. Erwähnt seien aber noch die unterschiedlichen
Zelltypen im Blut. Der wohl bekannteste Typ, das rote Blutkörperchen – wissenschaflich als Erythrozyt bezeichnet –
ist für den Transport von Sauerstoff und
Kohlendioxid zuständig. Das eisenhaltige Protein Hämoglobin, das dies
bewerkstelligt, ist für die rote Färbung
der Zellen und damit des Bluts verantwortlich. Die anderen rund zehn
Typen, die summarisch als weiße Blutkörperchen bezeichnet werden, stellen
das Abwehrsystem des Körpers gegen
Eindringlinge wie Bakterien und Viren
dar oder sind als Blutplättchen an der
Blutgerinnung beteiligt.
Rote Blutzellen
Die roten Blutkörperchen verlieren im Zuge ihrer außerordentlich hohen Spezialisierung ihren Zellkern. Das Vorhandensein genetischer Information, die im Zellkern lokalisiert
ist, stellt allerdings eine zwingende Voraussetzung für die
Teilung und damit Vermehrung der Zellen dar. Die Erythro-
10
Zellen und Differenzierungspotenziale MEDIZINISCHE GRUNDLAGEN
Knochenmark
Zwei Arten adulter
eosinophiler
rote Blutbasophiler
BlutstammStammzellen gibt es
körperchen Granulozyt
Granulozyt
zelle
im Knochenmark:
Blutstammzellen, aus
denen sich die VorläuMonozyt
Megakaryozyt
fer der verschiedenen
Blutzellen bilden, und
StromaStromazellen, aus
zelle
denen Fett-, Knorpelund Knochenzellen
multipotente
Fettzelle
myeloide
Stammzelle
hervorgehen. StromaVorläuferzelle
zellen könnten auch
neutrophile
die Vorläufer der
lymphoide Zelle
mesenchymale
mesenchymalen
VorläuferStammzelle
zelle
Osteoblast
Blutplättchen
Stammzellen und der
multipotenten adulten Vorläuferzellen
MAPC T-Lymphozyt
(MAPCs) sein, sie sind
dendritische Zelle
vielleicht sogar mit
ihnen identisch. Adulte Zellen, denen
StammzelleigenschafB-Lymphozyt
natürliche Killerzelle
ten zugeschrieben
wurden, hat man mittlerweile in vielen Geweben gefunden: Gehirn, Haut, Muskel, Leber, Zahnpulpa, Auge, Pankreas, Blutgefäße und im MagenDarm-Trakt. Noch ist unklar, ob es sich um organtypische Stammzellen oder um eingewanderte Blutstammzellen aus dem
Knochenmark handelt.
zyten haben zwar eine recht lange Lebenszeit, doch sterben
sie nach rund 120 Tagen ab und müssen ersetzt werden. Man
hat errechnet, dass pro Minute rund 350 Millionen neue rote
Blutkörperchen gebildet werden. Hier zeigt sich, dass die
neuen Eythrozyten aus so genannten Vorläuferzellen entstehen, die man auch als Stammzellen bezeichnet. Stammzellen
sind undifferenzierte Zellen, die sich in den unterschiedlichen Geweben finden und die Fähigkeit haben, sich in alle
Zelltypen des jeweiligen Gewebes entwickeln zu können. Die
Blutstammzellen sind im Knochenmark lokalisiert – wir werden ihnen in dieser Broschüre noch häufiger begegnen.
Neben den Blutstammzellen findet sich im Knochenmark
übrigens noch ein weiterer Typ von Stammzellen, aus denen
Stroma-, Fett-, Knorpel- und Knochenzellen entstehen können.
Aus den Blutstammzellen des Knochenmarks gehen aber
nicht nur die roten Blutkörperchen hervor, sondern auch
alle anderen Zelltypen des Bluts. Das umgebende Milieu
1
der Stammzellen entscheidet darüber, in welche Richtung sie
sich nach ihrer Aktivierung entwickeln. Dabei vollzieht sich
diese Entwicklung in mehreren Schritten. Aus einer Blutstammzelle gehen beispielsweise lymphoide und myeloide
Vorläuferzellen hervor, die nicht mehr alle, aber doch noch
verschiedene Zelltypen des Bluts generieren können. Viele
der Faktoren, die für eine solche Reifung wichtig sind, kennt
man heute. Verwiesen sei hier nur auf das Erythropoietin,
oder kurz EPO1, das für die Bildung der roten Blutkörperchen
von entscheidender Bedeutung ist. Wie bei zahlreichen anderen solcher Faktoren handelt es sich bei EPO um ein Protein,
das mit Rezeptoren auf der Oberfläche der Blutstammzellen
interagiert und damit die Reifung der Zellen beeinflusst.
Die meisten Gewebe sind in der Lage, sich zu regenerieren
und verfügen über entsprechende Stammzellen. Man
bezeichnet solche gewebespezifischen Stammzellen auch als
adulte Stammzellen. Selbst im Gehirn, das man noch bis vor
kurzem für nicht regenerationsfähig gehalten hatte, wurden
Da EPO in der Niere gebildet wird leiden viele Nierenkranke an einer Anämie, also einer zu geringen Zahl von roten Blutkörperchen. Unter
Einsatz molekularbiologischer und biotechnischer Methoden kann EPO seit einigen Jahren als Medikament zur Verfügung gestellt und diesen Menschen dadurch wirksam geholfen werden. EPO hat sich zu einem der umsatzstärksten Medikamente überhaupt entwickelt. Die
blutbildenden Eigenschaften bergen aber auch die Gefahr von Missbrauch zum Beispiel im Leistungssport.
MEDIZINISCHE GRUNDLAGEN Stammzellen
11
befruchtete
Eizelle (1. Tag)
sie entdeckt. Allerdings diskutieren die Fachleute noch darüber, ob die adulten Stammzellen tatsächlich in den entsprechenden Geweben bevorrated werden, oder nicht vielleicht
aus dem Knochenmark stammen – also vielleicht eigentlich Blutstammzellen sind – und in
die jeweiligen Gewebe einwandern. Unter dem
Einfluss der dortigen Umgebung könnten sie
dann umprogrammiert werden und zur Bildung der gewebespezifischen Zelltypen führen.
Daneben haben manche, besonders mesenchymale, Gewebe die Fähigkeit zur Dedifferenzierung. Ausdifferenzierte Zellen können im Falle
einer veränderten Mikroumgebung stillgelegte Funktionen reaktivieren und sich auch wieder teilen. Beim Menschen ist diese Fähigkeit
im Fall von Läsionen oder Knochenbrüchen für
die Wundheilung oder das Zusammenwachsen
der Knochen von ausschlaggebender Bedeutung. Bei manchen niederen Tieren können
sogar ganze Gliedmaßen nachgebildet werden.
Die Diskussion darüber, welche Zellen und Zelltypen an diesen Phänomenen beteiligt sind, ist
wissenschaftlich sehr interessant. Sie hat auch
medizinische Konsequenzen wenn es um die
Beantwortung der Frage geht, welche Verfahren zur Behandlung von Krankheiten entwickelt und eingesetzt werden sollen.
Bläschenkeim
(5.-6. Tag)
innere Zellmasse
Becherkeim
(14.-16. Tag)
embryonale Keimblätter und einige
davon abstammende Gewebe
und Organe
Wandzellen
wachsende Kolonien
von embryonalen
Stammzellen
Entoderm
(inneres Keimblatt)
Bauchspeicheldrüse, Leber, Schilddrüse, Lunge,
Blase, Harnröhre
Stammzellen
Zu Beginn des Wachstums von Säugetieren, wenn aus der
befruchteten Eizelle durch die ersten Teilungen acht Zellen
entstanden sind, hat jede dieser Zellen noch die Fähigkeit,
einen vollständigen Organismus zu bilden. Diese Zellen
bezeichnet man als totipotent. Wenn sich durch weitere Teilungen die Zahl der Zellen erhöht, beginnen sie sich zu spezialisieren. In der so genannten Blastozyste, einer kugelförmigen Masse von rund 150 Zellen, lassen sich bereits eine
äußere und eine innere Zellmasse unterscheiden. Bei einer
Schwangerschaft entwickeln sich aus der äußeren Zellgruppe nach Einnistung der Blastozyste in die Gebärmutter Plazentaanteile, aus der inneren Zellmasse entwickelt sich der
eigentliche Fötus.
Die Zellen der inneren Zellmasse werden als embryonale
Stammzellen bezeichnet. Sie sind in den Blickpunkt des Interesses geraten, weil sie sich in Kulturschalen vermehren lassen
und in praktisch alle Zelltypen eines Organismus ausdifferenzieren können. Diese Fähigkeit nennt man Pluripotenz. Die
embryonalen Stammzellen können zwar noch fast alle Zelltypen bilden, aber keinen vollständigen Organismus mehr;
Mesoderm (mittleres Keimblatt)
Knochenmark,
Skelettmuskeln,
glatte Muskulatur,
Herzmuskel, Blutgefäße, Nierenkanälchen
Ektoderm (äußeres Keimblatt)
Haut, Neuronen,
Hypophyse,
Augen, Ohren
Etwa eine Woche nach Befruchtung der Eizelle ist der menschliche Keim zu einer Art Hohlkugel aus 100 bis 150 noch undifferenzierten Zellen, dem so genannten Bläschenkeim (Blastozyste),
gewachsen. Dessen innere Zellen sind noch pluripotent, d.h. aus
ihnen kann jeder Zelltyp des Körpers hervorgehen. Man kann sie
als "embryonale Stammzellen" im Labor kultivieren. Aus der
Schale des Bläschenkeims entwickelt sich später die Plazenta. In
der dritten Woche beginnen die Zellen im Inneren des nun
Becherkeim genannten Gebildes drei Zellschichten, die Keimblätter, auszubilden. Aus den drei Keimblättern gehen schließlich die
verschiedenen Organe und Gewebe hervor.
diese Unterscheidung zwischen Pluripotenz und Totipotenz
wird bei der Diskussion der rechtlichen Rahmenbedingungen (siehe Seite 32) noch eine wichtige Rolle spielen.
Auf dem Gebiet der Stammzellforschung werden laufend
neue Erkenntnisse gewonnen und die bisherigen Lehrmeinungen geraten ins Wanken. Auch die Aussage, dass sich aus
embryonalen Stammzellen keine Keimzellen entwickeln
können, stimmt so nicht mehr. Der deutsche Forscher Hans
Schöler und sein Team konnten kürzlich in den USA Kulturen
von embryonalen Stammzellen der Maus zur Bildung von
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Follikeln und von Eizellen anregen. Einer japanischen Forschergruppe gelang es kurz darauf aus embryonalen Stammzellen Spermien herzustellen. Diese Experimente bedeuten
nicht nur wissenschaftlichen Erkenntniszuwachs, sondern
werfen auch für Juristen und Ethiker neue Fragen auf. Denn
die Grenze zwischen Pluripotenz und Totipotenz ist womöglich weniger eindeutig zu ziehen als bisher angenommen.
Die meisten Erkenntnisse hinsichtlich der Bedeutung von
embryonalen Stammzellen verdanken wir der Forschung an
tierischen Zellen. Ihr hohes Differenzierungspotenzial macht
diesen Zelltyp nun aber auch für medizinische Anwendungen sehr interessant, da man sich vorstellen kann, dass embryonale Stammzellen die Funktion geschädigter Gewebeteile übernehmen können. Für einen solchen Einsatz sind
tierische Zellen wegen der bekannten Abstoßungsreaktionen
ungeeignet und man muss mit menschlichen Zelllinien arbeiten. Von experimentellen Schwierigkeiten einmal ganz
abgesehen, ergeben sich bei der Forschung an menschlichen
Zellen nun auch eine ganze Reihe ethischer Fragen. Denn um
embryonale Stammzellen zu gewinnen muss man die Blastozyste zerstören und tötet damit den Embryo ab. Die rechtlichen und ethischen Aspekten der embryonalen Stammzellforschung werden in einem der nachfolgenden Kapitel
behandelt (siehe Seite 32 ). Dank der Methoden der in vitro
Stammzellen MEDIZINISCHE GRUNDLAGEN
Befruchtung ist man heute in der Lage, menschliche Embryonen außerhalb des Mutterleibes zu erzeugen. Doch nicht nur
das. Man kann heute auch das genetische Material einer
Eizelle gegen das genetische Material einer Körperzelle austauschen und diese so veränderte Eizelle zu weiteren Teilungsschritten anregen. Dass mit dieser Methode das Klonen
gelingt und sich gesunde Organismen entwickeln, hatte man
bis zur Geburt des Klonschafs Dolly im Juli 1996 bei Wirbeltieren für unmöglich gehalten. Auch eineiige Zwillinge sind
zwar genetisch identisch, entstehen aber dadurch, dass sich
eine normal befruchtete Eizelle zu teilen beginnt und in
einer frühen Phase zwei getrennte Zellverbände entstehen,
die sich dann zu eigenen Individuen entwickeln. Die Zwillinge sind zwar genetisch identisch, von Mutter und Vater aber
sind sie genetisch so verschieden wie andere Kinder auch.
Dolly dagegen war die genetische Kopie nur eines „Elternteils“. Anfang 2004 hat eine koreanische Forschergruppe
gezeigt, dass die bei Dolly angewandte Methode prinzipiell
auch beim Menschen zu funktionieren scheint.
Mit den beschriebenen Verfahren lassen sich im Gedankenexperiment für jedes menschliche Individuum embryonale
Stammzellen herstellen, die genetisch mit ihm identisch
sind. Man benötigt dazu eine Eizelle, aus der der Kern entfernt wird, und führt statt dessen einen Zellkern ein, den man
MEDIZINISCHE GRUNDLAGEN Stammzellen
aus einer Körperzelle des jeweiligen Individuums gewonnen
hat. Die Eizelle wird zur Teilung angeregt und aus der sich bildenden Blastozyste werden dann die Stammzellen gewonnen. In der therapeutischen Vision lassen sich anschließend
aus den Stammzellen beliebige Zelllinien erzeugen, die zu
keinerlei immunologischen Abstoßungsreaktionen mehr
führen. Wenngleich bei dieser Vorgehensweise nicht daran
gedacht ist, fertige Menschen zu klonen, sondern allein die
Gewinnung der embryonalen Stammzellen das Ziel ist, stehen ihr doch schwer wiegende ethische Bedenken entgegen.
In Deutschland ist dieses therapeutische Klonen, wie in zahlreichen anderen Ländern auch, verboten. In anderen Staaten
dagegen ist es unter Auflagen erlaubt (s. Seite 32 ).
Bereits seit einigen Jahren wird das Einfrieren von Stammzellen praktiziert, die im Nabelschnurblut enthalten sind.
Unmittelbar nach der Geburt eines Kindes wird Nabelschnurblut gewonnen und nach entsprechender Behandlung eingefroren. Dieses Blut enthält relativ viele Stammzellen, deren
Differenzierungspotenzial derzeit Thema intensiver Forschungen ist. Einleuchtend ist, dass die Stammzellen aus diesem Blut für das Individuum später von Nutzen sein können,
sollte es an einer Erkrankung wie Leukämie leiden, die ja
Blutzellen betrifft. Womöglich können diese Stammzellen
aber auch bei anderen Erkrankungen eingesetzt werden, je
nachdem, über welches Differenzierungspotenzial sie tatsächlich verfügen. Sie scheinen sich sogar für die Übertragung auf andere Individuen recht gut zu eignen, da sie – aus
noch nicht gänzlich verstandenen Gründen – weniger immunogen sind als andere Zellen. Allerdings zeigt sich hier auch
sehr deutlich, dass die Forschung an und mit Stammzellen,
gleich welchen Ursprungs sie sind, noch ganz am Anfang
steht.
Eine weitere Quelle für Stammzellen können menschliche
Föten sein. Insbesondere aus den sich bildenden Geschlechtsdrüsen der Föten können Stammzellen gewonnen werden,
die in ihren Eigenschaften den embryonalen Stammzellen
sehr ähneln. Diese fötalen Stammzellen sind in der Lage, wie
embryonale Stammzellen in die Zelltypen aller drei Keimblätter zu differenzieren. Die Gewinnung und Verwendung
solcher fötalen Stammzellen wird nicht nur unter wissenschaftlichen, sondern auch unter ethischen Gesichtspunkten
kritisch diskutiert.
Embryonale Stammzellen sind wegen ihrer Pluripotenz
besonders interessant, hinsichtlich ihrer Gewinnung aber
auch besonders umstritten. Nicht zuletzt deshalb sind die
adulten Stammzellen, beispielsweise die Blutstammzellen, in
den Fokus des Interesses gerückt. Unter ethischen Aspekten
wird die Verwendung von adulten Stammzellen als unkritisch gesehen, allerdings ist unklar, ob ihre Eigenschaften für
einen klinischen Einsatz ausreichend sind. Diese Frage ist
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aber auch mit Blick auf die embryonalen Stammzellen noch
nicht beantwortet. Man muss bei den Diskussionen über die
Verwendung der einen oder anderen Stammzelllinie immer
bedenken, dass wir uns noch in einer frühen Phase der Erforschung befinden. Bezeichnungen wie „Stammzelltherapien“,
die man immer wieder hört und liest, suggerieren einen fortgeschrittenen Entwicklungsstand, den es so nicht gibt.
Womöglich muss man gar keine Stammzellen isolieren, um
ihre prinzipiellen Fähigkeiten dennoch zu nutzen. Alle Körperzellen (mit Ausnahme der Keimzellen) verfügen ja über
die gleiche genetische Ausstattung und damit auch über das
gleiche genetische Potenzial. Wie das Beispiel des Somatischen Zellkerntransfers belegt, ist der Kern einer ausdifferenzierten Zelle noch einmal zu einem völligen „Neustart“ in der
Lage. Deshalb ist es theoretisch vorstellbar, dass man Zellen
oder Zellverbände in einem Organismus quasi vor Ort reprogrammiert und zunächst „dedifferenziert“, um sie dann
Auch Nabelschnurblut ist eine Quelle für Stammzellen
durch nachfolgendes Wachstum und eine vom Umfeld neu
induzierte Differenzierung eventuelle Schäden ausgleichen
zu lassen. Dies würde dann unmittelbar im betroffenen Organismus geschehen. Dass der Körper über das Potenzial verfügt, kleinere Schäden selbst zu reparieren, sehen wir am
Beispiel eines Muskelfaserrisses. Vielleicht lässt sich dieses
Potenzial einmal auf größere verletzte Areale ausdehnen und
auf Gewebetypen, die sich normalerweise nicht selbst regenerieren können. Aus heutiger Sicht sind dies rein theoretische Optionen, die aber zeigen, welch vielfältige Möglichkeiten sich aus unserer wachsenden Kenntnis zellulärer Abläufe
einmal ergeben könnten.
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Reproduktives und therapeutisches Klonen MEDIZINISCHE GRUNDLAGEN
Reproduktives und therapeutisches Klonen
Bei der Befruchtung dringt ein Spermium in eine Eizelle ein. Der männliche Zellkern (mit einem einfachen Chromosomensatz) verschmilzt mit dem weiblichen (ebenfalls mit einfachem Chromosomensatz) und generiert damit den Zellkern der
befruchteten Eizelle, der nun über einen doppelten Chromosomensatz verfügt. Das neu entstehende Individuum erhält so
eine einzigartige genetische Ausstattung, die aus einer Kombination der mütterlichen und väterlichen Erbsubstanz besteht.
Der nun vorhandene doppelte Chromosomensatz wird bei allen nachfolgenden Teilungen der Eizelle gleichmäßig auf die
Tochterzellen verteilt. 1 Beim Klonen wird das Spiel der Natur um neue Erbgutvarianten umgangen und eine bereits vorhandene Erbinformation gezielt eingesetzt und vervielfältigt. Dazu wird aus einer Eizelle der ursprüngliche Zellkern entfernt. In
diese entkernte Eizelle setzt man anschließend den Zellkern ein, den man zuvor aus einer normalen Körperzelle desselben
oder eines anderen Individuums isoliert hat. Die Erbinformation, über die eine so behandelte Eizelle verfügt, ist identisch mit
der Erbinformation des Spenders. Somit wird auch das Individuum, das nach der beschriebenen Methode entsteht, mit
dem Spender genetisch identisch sein. Die Methode wird als
Somatischer Kerntransfer
bezeichnet.
Mit dieser Methode sind im
Tierversuch bereits zahlreiche
Klone generiert worden. Beim
Menschen ist man sich weltweit einig, das reproduktive
Klonen – das eine Schwangerschaft und die Geburt geklonter Menschen zum Ziel hätte –
zu ächten (siehe Seite 32). Beim
therapeutischen Klonen gehen
die Meinungen dagegen auseinander. Das therapeutische
Klonen zielt nicht auf Schwangerschaft und Geburt ab, sondern auf die technische Gewinnung embryonaler Stammzellen, die sich über die Methode des somatischen Zellkerntransfers herstellen lassen.
Diese embryonalen Stammzellen wären mit den Spenderzellen genetisch identisch und bei
einem medizinischen Einsatz
am Spender wäre nicht mit
immunologischen Abstoßungsreaktionen zu rechnen.
1 Eine Ausnahme sind nur die Keimzellen, also Samen- oder Eizellen; bei deren Bildung wird der doppelte Chromosomensatz – unter viel-
fältigen Umlagerungen des Erbguts – wieder auf die Hälfte reduziert.
TISSUE ENGINEERING Haut
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Tissue Engineering in der Praxis:
einige Beispiele
Schon heute leben schätzungsweise 25.000 Menschen in
Europa mit in vitro gezüchteten Haut-, Knorpel- oder
Knochenzellen. Zudem sind viele neue Ansätze in der
klinischen Forschung – darunter auch Verfahren, die
das Potenzial von adulten Stammzellen nutzen.
Haut
Die Behandlung von großflächigen Hautverletzungen ist das
bislang erfolgreichste Anwendungsgebiet für das Tissue
Engineering. Jedes Jahr verlieren Tausende Menschen durch
Verbrennungen oder Verätzungen große Flächen ihrer Haut.
Auf noch größere Fallzahlen summieren sich die schweren
Formen des Diabetes mellitus mit Entzündungen an den
Extremitäten, denen viel Haut zum Opfer fällt. In diese Fällen
wird die Transplantation von „Ersatzhaut" notwendig,
die idealerweise
vom Patienten
stammt und daher
nicht abgestoßen
wird.
Haut, histologisch
Kleinere Verletzungen werden routinemäßig durch Transplantation von Hautgewebe aus intakten Körperregionen behandelt. Sind größere Flächen betroffen, muss aber Ersatzgewebe gezüchtet
werden. Dabei werden Zellen aus
einer briefmarkengroßen Hautbiopsie in vitro kultiviert, bis sie auf
eine Fläche von
etwa Spielkartengröße herangewachsen ist. EntGezüchteter Hautersatz
scheidend bei
diesem Vermehrungsprozess sind die Vorläuferzellen für
epidermale Keratinozyten, jene Zellen aus denen die Oberfläche unserer Haut besteht. Die Vorläuferzellen beginnen
sich nach wenigen Tagen zu vermehren. Unter organtypischen Kulturbedingungen differenzieren sie dann aus und
bilden in einem komplexen Prozess innerhalb von zwei
Wochen ein Gewebe, das in seinem dreidimensionalen Aufbau der menschlichen Epidermis weitgehend entspricht. Die
Mediziner können das Ersatzgewebe dann auf die vorbehandelte Wunde aufbringen.
Zur Hautregeneration bei tiefen Wunden erforscht man
mit dem „semisynthetischen Hautersatz” gegenwärtig eine
Methode, die die Regenerationsfähigkeit des Körpers nutzt.
Hier wird eine bioabbaubare poröse Matrix verwendet, in die
Makrophagen, Fibroblasten, Lymphozyten und Gefäße eindringen können. Diese Komponenten sind für die Wundheilung wichtig. Man legt eine Schicht dieses Materials auf die
Wunde und schließt sie vorübergehend durch eine luft- und
wasserdurchlässige Silikonfolie nach außen ab. Nachdem
sich die Gewebebasis regeneriert hat, entfernt man die Silikonschicht und transplantiert darauf schließlich eine in vitro
kultivierte Ersatzhaut.
Erfolgreich transplantierte Ersatzhäute erfüllen
zumindest ihre
wichtigste Funktion, das darunter
liegende Gewebe
von der Umwelt
Hautscheibe
abzuschirmen.
Allerdings ist das Erscheinungsbild anders als das der „normalen” Haut. Die neue Haut hat meistens eine andere Textur
und ähnelt eher Narbengewebe. Bis jetzt muss man bei Hauttransplantationen
auch das Fehlen
sowohl von Haar
und Schweißdrüsen
als auch Pigmenten
in Kauf nehmen.
Vielleicht aber
nicht mehr lange:
In den Haarfollikeln
von Mäusen fanden
sich nämlich Stamm- Bioreaktor mit Endprodukt
16
zellen, aus denen sich auch Haar entwickelt. Einzelne dieser
Stammzellen ließen sich zu Tausenden von identischen Tochterzellen vermehren, die nach der Transplantation in haarloses Hautgewebe ein Fell bildeten. Wie das natürliche Vorbild
bestand es aus Haut, Follikeln, Haar und Fett absondernden
Drüsen, was beweist, dass die Stammzellen in verschiedene
Zelltypen der Haut ausdifferenzieren können. Wenn sich die
Experimente beim Menschen erfolgreich wiederholen lassen, käme man der perfekten Ersatzhaut ein gutes Stück
näher.
Seit mehr als 20 Jahren bieten spezialisierte Unternehmen
die Erzeugung von Ersatzhaut an. In Deutschland sind es kleine und mittlere Unternehmen (KMU) aus dem Biotechnologiesektor. Ihre Technologie variiert in den Herstellungsverfahren und Applikationsformen. Ein Unternehmen
beispielsweise züchtet die Ersatzhaut aus Keratinozyten-Vorläuferzellen, die in den Haarwurzeln vorkommen. Eine andere Firma entwickelte „Haut aus der Tube": Die aus der Invitro-Kultur gewonnenen, noch teilungsfähigen Hautzellen
werden mit einem biologischen Kleber in die verletzte
Region injiziert, wo sie weiterwachsen und die Wunde verschließen.
Gelenkknorpel TISSUE ENGINEERING
die hartgummiartige Beschichtung der Gelenkknochen
naturgemäß ausgesetzt ist, vergrößern sich die Schäden.
Häufig entsteht eine schmerzhafte Arthrose und oft wird
der Einbau eines künstlichen Gelenks unvermeidlich.
Doch es gibt therapeutische Alternativen mit Hilfe des Tissue
Engineering von Knorpelgewebe. Seit etwa zehn Jahren ist
das als Autologe Chondrozyten-Transplantation (ACT)
bekannte Verfahren etabliert. In der Praxis gibt es mittlerweile zahlreiche Varianten, die oftmals von Kleinen und Mittleren Unternehmen (KMU) entwickelt und auf den Markt
gebracht wurden. Das Prinzip ist recht einfach: Aus einer kleinen, chirurgisch entnommenen Probe des Kniegelenk-Knorpelgewebes werden im Labor Chondrozyten (Knorpelzellen)
isoliert und in eine Nährlösung gegeben. Denn im Knie selbst
teilen sich Knorpelzellen sehr selten – nur alle paar Monate
oder Jahre. Durch das Herauslösen aus dem Zellverband
Gelenkknorpel
Alter, übermäßiger Leistungssport oder Übergewicht können
auf die Gelenke gehen. Abnutzung und Degeneration von
Gelenkknorpelgewebe sind in den Industrieländern weit verbreitet. Allein in Deutschland sind 1,5 Millionen Menschen
wegen degenerativer Gelenkerkrankungen in Behandlung
und jährlich erleiden 80.000 Menschen Verletzungen des
Knorpels im Kniegelenk. Durch die hohe Belastung – in Spitzenwerten bis zum Siebenfachen des Körpergewichts – der
Fast ein Viertel unserer Körpereiweiße sind Kollagene –
hochmolekulare Eiweiße, die dem Binde- und Stützgewebe des Körpers Stabilität geben. Auch die reißfesten Sehnen bestehen aus Kollagenfasern, deren Grundeinheit
immer eine Dreifachhelix aus langen Aminosäureketten
ist. Bemerkenswert an diesen Ketten ist das häufige Vorkommen der Aminosäure Hydroxylprolin, deren Struktur die Dreifachwindung ermöglicht. Man unterscheidet
Typ1- und Typ2-Kollagene. Typ1-Kollagen ist der Hauptbestandteil von Haut und Sehnen. Das aus miteinander vernetzten Strängen (Fibrillen) bestehende Typ2-Kollagen
bildet ein zähes dreidimensionales Netzwerk, aus dem
der Knorpel aufgebaut ist. Der Gelenkknorpel besteht im
Wesentlichen aus Knorpelzellen (Chondrozyten) und der
extrazellulären Kollagenmatrix, die einen hohen Wasseranteil enthält. Im gesunden Zustand besitzt der Knorpel eine glatte Oberfläche – wichtig für die 'reibungslose'
Funktion des Gelenks.
Extremsport kann zu Gelenkschäden führen
dedifferenzieren Chondrozyten zu fibroblastoiden Zellen, die
in der Lage sind, sich zu teilen. Danach werden diese Zellen
in den Gelenkknorpel transplantiert. In der intakten Umgebung des erhaltenen Knorpels differenzieren sie dann wieder
zu Chondrozyten und produzieren Kollagen II. Die dedifferenzierten Zellen können auch zu Fettzellen oder Osteoblasten ausdifferenzieren.
Damit sind die Voraussetzungen für die Reparatur des Gelenkknorpels geschaffen, für die zahlreiche Verfahrensvarianten entwickelt wurden: Die Chirurgen entfernen zunächst
das schadhafte Knorpelgewebe. In manchen Ansätzen überzieht man dann die Stelle mit Knochenhaut, die an anderer
Stelle entfernt wurde. In den Hohlraum injizieren sie dann
eine Lösung der gezüchteten Zellen. Dort bildet sich innerhalb der folgenden Wochen wieder Knorpelgewebe –
TISSUE ENGINEERING Bandscheiben
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delt man Bandscheibenvorfälle durch Entfernen des ausgetretenen Knorpelgewebes – entweder minimal invasiv mit
Hilfe des Endoskops oder durch eine Operation. In Deutschland sind es jährlich mehr als 60.000 Operationen. Sie führen
meistens zum Abklingen der Beschwerden. Der Gewebeverlust kann aber von der Bandscheibe selbst nicht ersetzt werden und abgesehen davon, dass die Bandscheibe nun „dünner" geworden ist, lässt sich durch die Operation die
Degeneration nicht aufhalten. Weitere Verschleißerscheinungen führen oft erneut zu Rückenschmerzen. Hier bietet
das Tissue Engineering eine offensichtliche Therapiealternative. Denn was für kaputte Kniegelenke funktioniert, ist auch
für die Behandlung beziehungsweise die Regeneration von
beschädigten Bandscheiben interessant. Schließlich bestehen beide aus Knorpel. Im Sommer 2004 brachte ein Teltower
Reinraumlabor
zunächst noch weich und wenig belastbar, dann immer besser vernetzt und fester werdend. Das Verfahren, auch Peterson-Verfahren genannt, ist bereits bei einigen Tausend
Patienten erfolgreich eingesetzt worden. Aber es bleibt noch
viel Raum für Verbesserungen. Zum Beispiel hat der gezüchtete Knorpel nicht die Stabilität des Originals. Das liegt daran,
dass die in der Petrischale kultivierte Chondrozyten mit
zunehmender Teilungszahl die Fähigkeit verlieren, das Knorpelkollagen vom Typ2 zu bilden. Sie verhalten sich dann eher
wie normale Bindegewebszellen. Biotechfirmen entwickelten daher Herstellungsverfahren für komplette Matrices aus
KollagenTyp2, die transplantiert werden können. Diese
Ansätze nutzten bereits vorgegebene Matrices aus Typ1-Kollagen, die zum Beispiel aus tierischen Sehnen präpariert wurden. Unter In-vitro-Kulturbedingungen wachsen die isolierten Chondrozyten des Patienten in das Geflecht hinein,
vermehren sich und wandeln das Typ1-Kollagen in eine Typ2Kollagen-Matrix um. Die beschädigte Partie des Knorpels
wird vor der Transplantation ausgestanzt und dann durch ein
gleich großes Stück des Zuchtknorpels ersetzt, das in einigen
Varianten noch mit Fibrinkleber fixiert wird. Die Patienten
können die Gelenke bereits nach vier bis sechs Wochen wieder belasten. In Deutschland werden pro Jahr rund 600 solcher Behandlungen vorgenommen.
Tissue-Engineering-Unternehmen ein Verfahren zur Autologen Bandscheibenzelltransplantation ADCT (Autologous
Disc Chondrocyte Transplantation) auf den Markt. Bei dieser
Therapie von Bandscheibenvorfällen werden dem Patienten
zunächst kleinste Mengen Bandscheibengewebe entnommen und die Zellen in Kultur aufbereitet. Die Transplantation
der körpereigenen Bandscheibenzellen erfolgt etwa drei
Monate nach der Entnahme. Unter örtlicher Betäubung injiziert man die Zellen in die Bandscheibe. Dort vermehren sie
sich und gleichen den Gewebeverlust aus, der durch den
Bandscheibenvorfall und die Operation entstanden war. Die
Degeneration der Bandscheibe wird aufgehalten.
Bandscheiben
Knochenmark und Blutzellen
Sie sind die Stoßdämpfer unserer Wirbelsäule: Scheiben aus
Knorpel mit hohem Wassergehalt, die, eingefasst von zähelastischen Dichtungsringen, zwischen den Wirbelknochen
sitzen. Sie können hohen Druck aushalten und sorgen damit
für die Flexibilität des Knochenkunstwerks. Wenn der äußere
Faserring spröde und rissig wird, kann der innere gallertartige Kern austreten und einen Bandscheibenvorfall verursachen. Quetscht die ausgetretene Knorpelmasse Nerven ein,
sind Lähmungserscheinungen die Folge. Chirurgisch behan-
Die Transplantation von Knochenmark beziehungsweise
Knochenmarkstammzellen ist ein wichtiger Schritt nach der
Chemotherapie von Krebserkrankungen, um dabei zerstörtes Knochenmark und Blutzellen zu regenerieren. Neben den
Krebszellen als eigentlichem Ziel treffen Zytostatika vor
allem die teilungsaktiven Zellen des Knochenmarks. Dieser
Effekt ist bei der Behandlung von Leukämien sogar beabsichtigt, um auszuschließen, dass entartete Blutzellen überleben.
Da auch Blutstammzellen zerstört werden, versiegt die Quel-
Knorpelgewebekonstrukt
18
Extrazelluläre Trägermaterialien TISSUE ENGINEERING
le für neue Blutzellen. Immunabwehr und Sauerstoffversorgung des Körpers geraten in Gefahr.
Voraussetzung für das Gelingen einer Knochenmark-Transplantation ist die Gewebeverträglichkeit zwischen Spender
allogenen Transplantation Verwendung, da hier im Vergleich zur Blutstammzell-Transplantation eine niedrigere
Rate an chronischen Abstoßungsreaktionen beobachtet
wurde.
Extrazelluläre Trägermaterialien – Grundlage
des Fortschritts
Die wichtigste Herausforderung beim Ersatz von Geweben
und Organteilen, beispielsweise Herzklappen oder Adern, ist
die Herstellung von dreidimensionalen Implantaten. Dafür
benötigt man eine entsprechend geformte extrazelluläre
Matrix (EZM), die die neu wachsenden Gewebezellen beherbergt. Die Trägermaterialien müssen hohen Ansprüchen
genügen: Sie sollen bioverträglich, steril, je nach Anwendung entweder langzeitstabil oder bioabbaubar und unterschiedlich flexibel sein. Außerdem müssen sie manchmal
auch porös sein, damit Zellen hinein wandern können und
dabei noch fest genug, um nicht schon bei der ersten mechanischen Belastung zu zerreißen. Als Ausgangsmaterial kommen Kunststoffe (zum Beispiel bioabbaubare Poly-Hydroxyester), anorganische Substrate und aus biologischem Material
gewonnene Gerüstsubstrate, meistens Kollagen, infrage.
Die Vielfalt der möglichen Konstrukte ist beeindruckend:
schwammartige Schichten, wässrige und gummiartige Gele,
und Empfänger. Dafür sind Eiweißmoleküle, die so genannten HLA-Moleküle (Humane Leukozyten Antigene) auf der
Oberfläche jeder Körperzelle verantwortlich. Sie sind in ihrer
Komposition für ein Individuum einmalig und unverwechselbar. Die Transplantation von einem Fremdspender (allogene Knochenmark-Transplantation) ist nur möglich, wenn
Spender und Empfänger in wichtigen Merkmalen
des HLA-Musters übereinstimmen, was aber nur
selten vorkommt. Abweichungen im HLA-Typ können zu heftigen Immunreaktionen führen. Die
allogene Knochenmarktransplantationen ist bei
Leukämien der Standard, da eine autologe Transplantation wegen der Gefahr der Übertragung von
Leukämiezellen nicht sinnvoll ist. Zur Senkung der
Sterblichkeitsraten durch Infektionen werden vom
gleichen Spender auch virusspezifische T-Zellen
isoliert, im Labor expandiert und dem Patienten
zusammen mit den Stammzellen transplantiert.
Mitte der 80er Jahre gelang es, auch Stammzellen
aus dem Blut für Transplantationen zu nutzen.
Dabei halfen gentechnisch hergestellte blutbildende (hämatopoetische) Wachstumsfaktoren bei
der Mobilisierung und Vermehrung der Stammzellen. Vor einer Krebs-Chemotherapie stimuliert
man damit die Bildung der Blutstammzellen im
Körper des Patienten. Dann wird ein Teil aus dem
Blut isoliert, eingelagert und ihm nach der Chemotherapie refundiert. Die rekombinanten Wachstumsfaktoren haben dieser Therapieform schnell
zum Durchbruch verholfen. Im Jahr 2000 wurden
in Deutschland 2.105 autologe und 1.438 allogene
Stammzell-Transplantationen durchgeführt. Als
Stammzellquelle hat das Knochenmark bereits an
Synthetische Biomaterialien imitieren die Komplexität der natürlichen extraBedeutung verloren. Es findet fast nur noch bei der
zellulären Matrices. Dargestellt sind Strategien zu ihrer Herstellung
TISSUE ENGINEERING Ohren
zementharte Träger und flexible, faserhaltige Röhren – der
Zusammenarbeit von Materialwissenschaft und Medizin sind
kaum Grenzen gesetzt. Neuartige Trägermaterialien sondern
sogar Botenstoffe ab, die Vorläuferzellen anlocken oder das
Wachstum der hinzugefügten Zellen anregen und beschleunigen.
Mittlerweile gibt es zahlreiche Tissue-Engineering-Produkte,
die auf extrazellulären Trägermaterialien basieren. Um die
Probleme mit der Struktur und Durchblutung der Ersatzgewebe gleichzeitig zu lösen, nutzt man zur Erzeugung der
besiedelten Matrices eine Art „dreidimensionaler Tintenstrahldrucker”: Der Druckkopf wird mit einem Gemisch aus
Zellen und Füllmitteln geladen und spritzt dann Schicht für
Schicht Zellen in beliebige Formen. Gegenwärtig testet man
das Verfahren bei der Regeneration von fehlenden Knochen.
Nach genauer Vermessung der Lücke im Tomografen wandelt ein Computerprogramm die zweidimensionalen Röntgenbilder in ein dreidimensionales Modell um. Auf Grundlage dieser Maße wird das gesuchte Implantat entworfen und
hergestellt.
Ohren
Paradebeispiel für die Wiederherstellung eines ganzen Körperteils durch Tissue Engineering ist das Ohr. Ohren bestehen
im Wesentlichen aus Knorpel. Daher liegt es nahe, eine aus
geeignetem Material wie ein Ohr geformte Matrix mit patienteneigenen Chondrozyten zu besiedeln. Forscher der Berliner
Charité wählen hierfür stabile biokompatible Fasermateria-
Ohrrekonstruktion: Silikonform (li.), rekonstruierter Ohrlappen.
lien als Träger kombiniert mit Gelmatrices aus Agarose, Alginat und Hyaluronsäure, in die zuvor kultivierte Chondrozyten gut hineinwachsen können. Außerdem umgibt aus dem
Blut des Patienten gewonnenes Fibrin die Zellen als Klebstoff.
Nach Transplantation unter die Haut einer Labormaus reift
das Konstrukt zu einem kompletten Ohr heran, dessen Gehalt
19
an Typ2-Kollagen die gewünschte Bildung von ohrtypischem
'Glas-Knorpel' (Hyalin-Knorpel) anzeigt. Die spektakulären
Bilder gingen um die Welt.
Freiburger Mediziner verpflanzten einem Patienten erfolgreich einen im Labor hergestellten Ohrknorpel. Zur Rekonstruktion seines verstümmelten Ohres waren ihm zuvor
Knorpelzellen aus einer Rippe entnommen worden. Die Zellen wurden über einige Wochen in Kultur vermehrt und
zusammen mit Fibrin in eine Ohrform gegossen. Dabei entstand ein formstabiles Transplantat, das bei der Verpflanzung
mit einem Hautlappen überzogen wurde.
Herzklappen
Herzklappen arbeiten als Einweg-Ventile. Sie verhindern,
dass das Blut in die Herzvorhöfe oder in die Kammern zurückfließt. Etwa 2,5 Milliarden Mal öffnen und schliessen sie sich
bis zum 70. Lebensjahr. Der Aufbau der drei Segel einer natürlichen Herzklappe ist entsprechend angepasst: Die Oberseite
ist mit Kollagen verstärkt, die Unterseite
besteht hauptsächlich
aus Elastin, damit sich
die Segel in Flussrichtung biegen und in
die Gegenrichtung
gut schließen.
Von Geburt an, nach
Infektionen oder aus
Altersgründen können
die Herzklappen Fehler
aufweisen. Dann
kommt es zu AblageIn vitro hergestellte dreiseglige Herzrungen von Kalk und
klappe
Zellmaterial und das
führt schließlich zu Verwachsungen und zur Blockade der
Klappe. Seit Jahren werden Herzklappenprothesen routinemäßig in die Herzen von Betroffenen eingebaut – weltweit
etwa 275.000 pro Jahr. Als Ersatz dienen mechanische Kunststoff- und Metallherzklappen. Sie erleichtern und verlängern
das Leben dieser Menschen, haben aber auch Nachteile: Zum
Beispiel müssen die Betroffenen wegen des Risikos der
Gerinnselbildung weiterhin Gerinnungshemmer einnehmen, was die Gefahr von Magen- und Hirnblutungen erhöht.
Ihre Haltbarkeit ist meistens begrenzt und vor allem bei Kindern werden Mehrfachoperationen erforderlich, da die
Kunstklappen nicht mitwachsen. Biologisch gewonnene
Herzklappen stammen von Schweinen und Rindern. Sie
machen Gerinnungshemmer überflüssig, aber es besteht
immer ein Risiko, dass sich der Organismus gegen die Fremdkörper wehrt.
Aus diesen Gründen suchen Tissue-Ingenieure nach Alternativen. Viele Versuche zielen darauf ab, „körpereigene” Herz-
Gefäße TISSUE ENGINEERING
20
klappensegel ausgehend von autologen Zellen zu züchten.
Sie sind besonders für die Behandlung von Kindern interessant, um die drei bis sieben Operationen bis zum Erwachsenenalter zu vermeiden.
Ein Ansatz nutzt die Kollagenmatrix von Schweine-Aortaklappen als Gerüst für das neue Herzklappensegel. Sie sind in
Geometrie und Abmessungen dem menschlichen Pendant
vergleichbar bestehen ebenfalls aus einem mit Herzzellen
bewachsenen Kollagen-Stützgerüst. Zur Umwandlung einer
solchen Klappe in ein für den Menschen verträgliches „Ersatzteil” entfernt man mittels Chemikalien alle Zellen und
-bestandteile aus dem Gewebe. Besonders wichtig ist die Zerstörung aller DNA-Moleküle, um zu verhindern, dass möglicherweise Erbgut von Viren zurückbleibt. Die nun zellfreie
Matrix aus Kollagen und Elastin hat immer noch eine für die
Echokardiografische Darstellung der Tissue Engineerten Herzklappen acht Wochen nach Implantation
Blutdurchfluss, um den Bedingungen im lebenden Organismus nahe zu kommen. Nach zwei Wochen im Bioreaktor
haben sich die Zellen der Herzklappen in Schichten organisiert und verstärkt. Werden solche Klappen jungen Schafen
eingepflanzt, ähnelten sie im Verlauf von fünf Monaten
immer mehr einer natürlichen Klappe: Sie werden dünner
und strukturierter und unterscheiden sich makroskopisch
nicht mehr von den natürlichen Herzklappen.
Gefäße
Nach Einbau der
künstlichen Herzklappe
Transplantation geeignete Konsistenz. Einige Monate nach
der Transplantation ist eine solche Klappe dann in vivo mit
Fibroblasten und Endothelzellen besiedelt und verfügt über
die Fähigkeit zur Erneuerung. Das Konzept hat den Vorteil,
dass man ein beinahe perfektes Klappendesign übernimmt
und daher geeignete „hämodynamische” Bedingungen herrschen. Das Verfahren ist bereits im klinischen Einsatz. Mediziner aus Zürich und Aachen entwickelten gemeinsam vollständig autologe Herzklappen mit Hilfe von bioabbaubaren
Polymeren. Das Material ist in der Hitze formbar und wird
von Zellen leicht besiedelt. Es ist chemisch so konzipiert, dass
es sich bis zum Zeitpunkt der Implantation komplett aufgelöst hat. Dann besteht die Herzklappe nur noch aus autologem Gewebe. Zur Besiedlung der Matrix im Bioreaktor verwenden die Forscher aus Blut- oder Nabelschnurstammzellen
hervorgegangene Fibroblasten. Während des Wachstums
belasten sie die entstehende Klappe mit einem künstlichen
Der Bedarf an transplantierbaren Adern nach Verletzungen,
Bypassoperationen und schweren Thrombosen ist groß.
Nicht immer gelingt es, ihn durch körpereigene, an anderen
Stellen entnommene Gefäße zu decken. Für Bypass-Operationen werden gewöhnlich Teile aus Beinvenen des Patienten,
aus Arterien seines Brustkorbs oder des Unterarms verwendet. Bei etwa einem Fünftel der Patienten ist das jedoch nicht
möglich, weil aufgrund von Entzündungen oder krankhafter
Teflonbypass
TISSUE ENGINEERING Ansät ze mit Stammzellen
Erweiterungen keine geeigneten Gefäße vorhanden sind.
Und die Gefäßprothesen aus Kunststoff haben ihre Tücken:
40 Prozent solcher künstlichen Bypässe sind nach einem Jahr
bereits nicht mehr durchgängig, da der Kunststoff zur
Gerinnselbildung führen kann.
Also ein klarer Auftrag für das Tissue Engineering, autologen
Ersatz zu entwickeln. Ein früher Ansatz war echte Bastelarbeit: Ein zusammenhängender in vitro kultivierter Gewebemantel aus glatten Muskelzellen wurde zu einer Röhre
gerollt. Die Außenfläche der „Rolle” ließ man anschließend
von Fibroblasten besiedeln, dann die Innenseite von Endothelzellen. Die dreischichtige Prothese konnte bereits Drücken von 2.000 mmHg standhalten. Mit Gefäßprothesen, die
auf Polymergerüsten basieren sind wir heute bereits einen
Schritt weiter. Paradebeispiel sind Kunststoffröhren aus PGA
(Polyglycolsäure 92Prozent /Milchsäure 8Prozent), die mit
Fibroblasten, glatten Muskelzellen und Endothelzellen besiedelt werden. Setzt man diese Konstruktionen während des
Wachstums in einem Durchflussbioreaktorsystem pulsierenden Flüssen aus, erhält man konditionierte Gefäßprothesen,
die histologisch natürlichem Gefäßgewebe gleichen und bessere biomechanische Eigenschaften aufweisen als nicht-konditionierte Konstrukte. Diese Gefäßprothesen, genauer autologe endothelialisierte Prothesen, sind bereits im klinischen
Einsatz. Die Anforderungen an die Gerüstsubstanz der Ersatzgefäße sind sehr hoch, so dass Alternativen zu PGA gesucht
wurden. Zum Beispiel Polytetrafluorethylen (PTFE), vulgo
Teflon. Es ist ein interessantes Material mit Blick auf Flexibilität, Druck- und Reißfestigkeit. Zudem ist die Gefahr der
Abstoßung durch Abwehrreaktionen des Immunsystems sehr
gering. Leider macht die Teflonoberfläche, von der sprichwörtlich alles abfällt, Schwierigkeiten, wenn es um die Besiedelung mit Zellen zur Befestigung an die vorhandenen Gefäße geht. Mittlerweile gelingt es, Schichten von glatten
Muskelzellen und Endothelzellen darauf zu züchten. Man
verwendet dafür unter definierten Strömungsbedingungen
kultivierte autologe mikrovaskuläre Endothelzellen (MVEC).
Sie werden auf das mit Fibrinkleber präparierte Kunststoffröhrchen aufgebracht und heften sich in der künstlichen
Blutströmung besonders gut an das Prothesenmaterial an.
Die Eigenschaften dieser Ersatzgefäße sind viel versprechend
und erste klinische Versuche wurden bereits gestartet.
21
Knochen
Unfälle oder Tumoren können Knochen schädigen und zum
Verlust von Knochen führen. Für den Ersatz von Knochen
sind gute Voraussetzungen durch das Tissue Engineering
gegeben: Das Knochengewebe wird von speziellen Zellen,
den Osteoblasten, gebildet. Die Osteoblasten selbst bilden
sich aus Knochenmarkstammzellen. Als Gerüstmaterial
kommt die anorganische Knochensubstanz aus Calciumphosphat/Hydoxyapatit in Frage. Besonders hilfreich ist hier
die Möglichkeit, in der porösen Matrix bestimmte Knochenwachstumsproteine oder -faktoren (bone morphogeneic factor, BMP) einzulagern. Sie sorgen dafür, dass die Zellen „angelockt” werden und in das Material hineinwachsen. Die USamerikanische Zulassungsbehörde Food and Drug Administration (FDA) hat rekombinantes BMP-2 bereits für orthopädischeAnwendungen zugelassen. Ein geradezu spektaku-
Ansätze mit Stammzellen
Über das enorme Potenzial von embryonalen und adulten
Stammzellen wurde bereits an anderer Stelle berichtet
(siehe Seite 11). An dieser Stelle sollen einige fortgeschrittene
Forschungsprojekte vorgestellt werden, die in Pilotversuchen
die klinische Phase bereits erreicht haben.
Konstruktion eines Ersatzkiefers
22
Entwicklung der Methoden der modernen Medizin
Grundlagenforschung
Was ist eigentlich Grundlagenforschung? Definitionen gibt
es viele, nicht zuletzt von der Europäischen Kommission
(„Supplement zum Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, Nr. C45/14 vom 17.02.1996“), die dazu folgendes verlautbart: „Unter Grundlagenforschung versteht die Kommission
eine Erweiterung der wissenschaftlichen und technischen
Kenntnisse, die nicht auf industrielle oder kommerzielle Ziele
ausgerichtet sind.” Diese Abgrenzung der Grundlagenforschung von der anwendungsorientierten Forschung gibt
immer wieder Anlass zu interessanten Diskussionen. Relativ
unstrittig ist, dass die Grundlagenforschung in erster Linie
unseren Wissensdrang befriedigt und eine schlichte Konsequenz der menschlichen Neugierde ist. Ziel der Grundlagenforschung ist der Erkenntnisgewinn an sich ohne den Wert
der Erkenntnis an eine spätere Verwertbarkeit zu knüpfen
oder zu fragen, ob die neuen Erkenntnisse in das herrschende
Weltbild passen.
Eine zwanghafte Entkoppelung von Grundlagenforschung
und Verwertbarkeit ist allerdings nicht sinnvoll, ganz im
Gegenteil. Die Grundlagenforschung ist für die größten Innovationsschübe verantwortlich, da sie unverhofft Türen in völliges Neuland aufstößt und damit Anwendungsgebiete eröffnet, die zuvor nicht gesehen worden sind. Das gilt für die
Erfindung des Telefons ebenso wie für die Entwicklung der
Biotechnologie: Wer hätte sich vor 40 Jahren träumen lassen,
dass menschliche Gene in Mikroorganismen eingebaut und
zur Herstellung hochwertiger Medikamente genutzt werden
können? Heute arbeiten allein in der Biotechnologie-Industrie der USA, wo die neuen Möglichkeiten schnell in kommerzielle Anwendungen umgesetzt worden sind, mehr als
200.000 Menschen in meist hoch qualifizierten und gut
bezahlten Jobs.
Bedeutung gentechnischer Methoden
Mit der Entwicklung gentechnischer Methoden um 1970
erhielt auch die Medizin wichtige Impulse. Das betrifft zum
einen die Produktion von Medikamenten auf Proteinbasis, die
man Biopharmazeutika nennt. Zum anderen aber auch die
Entwicklung diverser Zellkulturtechniken oder völlig neuer
Ansätze wie den der Gentherapie, auf den weiter unten noch
kurz eingegangen wird. Überragende Bedeutung haben gentechnische Methoden auch in der Diagnostik erlangt; die
Möglichkeit zur Individualisierung der Medizin, von der
heute immer wieder die Rede ist, wäre ohne den Einsatz gentechnischer Methoden nicht denkbar. Auch der genetische
Fingerabdruck, der beim Identifizieren von Personen heute
fast schon routinemäßig eingesetzt wird, ist ein Resultat gentechnischer Arbeiten.
Das erste Medikament aus gentechnischer Herstellung war
das Humaninsulin, das von der Firma Genentech, dem ersten
Biotechnologie-Unternehmen weltweit, entwickelt wurde.
Die Pharmafirma Eli Lilly brachte es (in Zusammenarbeit mit
Genentech) schon im Jahr 1982 auf den Markt. Die Gentechnik
ermöglicht den Austausch von Erbinformation über die
Artengrenzen hinweg; für die Produktion von Humaninsulin
war das menschliche Gen für Insulin auf Bakterien übertragen worden, aus denen man nun in großen Mengen Vorläuferformen des Hormons gewinnen konnte. Das aktive Hormon konnte man dann aus diesen Vorläuferformen mittels
proteinchemischer Methoden herstellen. Das skizzierte Verfahren ist das bei der Herstellung von Biopharmazeutika übliche Vorgehen. Man identifiziert die genetische Information
für ein menschliches Protein, isoliert diese und überträgt sie
dann auf Mikroorganismen oder Zellkulturen, von denen das
entsprechende Protein in großen Mengen produziert werden
kann. Natürlich muss man zunächst erst einmal wissen, welche Funktion das interessierende Protein hat und ob es sich als
Biopharmazeutikum eignet. Gerade auch bei der Aufklärung
dieser Sachverhalte sind gentechnische Verfahren unverzichtbar geworden.
Neben der Entwicklung gentechnischer Methoden kam es um
1975 zu einer weiteren bahnbrechenden Neuerung. Den späteren Nobelpreisträgern Köhler und Milstein gelang es erstmals, Monoklonale Antikörper herzustellen. Antikörper sind
Proteine, die von bestimmten Zellen des Immunsystems gebildet und ins Blut abgegeben werden. Der Körper verfügt über
eine enorme Zahl Antikörper produzierender Zellen, die
jeweils definierte und in der Struktur einzigartige Antikörpervarianten produzieren. Die Situation ist hier ähnlich wie bei
den Gewebsantigenen (siehe Seite 8). Findet einer dieser Antikörper eine molekulare Struktur, ein Antigen, an das er binden kann, dann werden in einer Kaskade von Reaktionen die
Prozesse ausgelöst, die wir als Immunantwort bezeichnen. Als
Teil dieser Immunantwort beginnt auch die Zelle, die den bindenden Antikörper ursprünglich produziert hat, sich zu teilen
und mit ihren Tochterzellen größere Mengen und weitere
Varianten des Antikörpers zu produzieren. Diese Varianten
sind wichtig, weil sie die Zielstruktur oft noch besser binden
können als der ursprüngliche Antikörper und die Immunantwort dadurch noch effektiver wird.
Im Blut zirkuliert zu jeder Zeit eine fast unüberschaubare Zahl
von Antikörpern unterschiedlicher Struktur, um jedes eindringende Virus oder Bakterium binden und in der Folge
unschädlich machen zu können. Die komplexe Mischung der
verschiedenen Antikörper und bestimmte Subklassen von
ihnen konnte man schon seit längerem isolieren und für
medizinische oder andere Zwecke einsetzen. Die passive Impfung basiert darauf. Hier infiziert man Spender, beispielsweise Pferde, gezielt mit einem Antigen. Als Folge der Immun-
23
Grundoperation der Gentechnik: Ein Stück fremder DNA (blau),
das ein ganzes Gen enthalten kann, wird mit Hilfe von “DNAScheren” und “DNA-Kleber” in einen Ring aus bakterieller DNA,
ein so genanntes Plasmid, eingefügt. Das Wirtsbakterium nimmt
das rekombinante Plasmid auf , vermehrt es wie sein natürliches
Erbgut und produziert die darauf codierten Proteine.
antwort reichern sich im Blut der Pferde verschiedene Antikörper gegen dieses Antigen an, die man dann isolieren und
für eine passive Schutzimpfung verwenden kann.
Köhler und Milstein gelang es, ganz gezielt nur eine einzelne
Zelle aus der Vielzahl Antikörper produzierender Zellen zu
isolieren und anschließend in Kultur zu vermehren. Die Nachkommen dieser einen Zelle produzieren alle die exakt gleiche
Antikörpervariante, so dass von dieser nun größere Mengen
hergestellt werden können. Man spricht dann von Monoklonalen Antikörpern. Wichtig ist dabei, dass man die Bindungseigenschaften dieser Monoklonalen Antikörper durch geeignete Verfahren im voraus bestimmen kann. Da es sich um nur
einen genau definierten Typ von Antikörper handelt, ist die
Wechselwirkung mit seiner Zielstruktur hochselektiv und gut
reproduzierbar – im Gegensatz zu Ergebnissen, die man mit
Mischungen unterschiedlicher Antikörpervarianten erhält.
Man kann die Bindungseigenschaften zum Beispiel technisch
nutzen um andere Proteine zu binden und zu reinigen. Durch
den Einsatz gentechnischer Methoden wurden die Eigenschaften der Monoklonalen Antikörper immer weiter optimiert; heute sind Monoklonale Antikörper und ihre Abkömmlinge auch die Basis für äußerst wirksame Medikamente, etwa
gegen Krebs.
Wichtige Aufschlüsse wurden auch über den molekularen
Aufbau von Genen gewonnen. Man konnte nun vergleichen,
wie sich die Gene von gesunden und von
kranken Menschen unterscheiden. Bei der
Bluterkrankheit tritt beispielsweise eine
Veränderung in dem Gen auf, das die Information zur Herstellung eines Proteins mit
Namen Faktor VIII trägt. Dadurch wird das
Protein fehlerhaft und kann seine wichtige
Funktion in der Blutgerinnung nicht mehr
ausüben. Solche Veränderungen an Genen
lassen sich heute relativ leicht nachweisen
und sind die Grundlage moderner diagnostischer Verfahren. Es wird aber auch daran
gearbeitet, in bestimmte Zellen der Patienten fehlerfreie Gene einzuführen, die dann
zur Produktion eines funktionalen Proteins
führen sollten. Diese als somatische Gentherapie bezeichneten Verfahren sind interessant, weil sie eine Korrektur von Krankheitsursachen ermöglichen könnten. Allerdings
ergeben sich bei klinischen Erprobungen immer wieder Probleme, die vor einem breiteren Einsatz der Methode noch
gelöst werden müssen.
Im Jahr 2000 wurde die Analyse der genetischen Gesamtinformation des Menschen, des menschlichen Genoms, vorläufig
beendet. Eine gewaltige wissenschaftliche Leistung, die gern
mit der Mondlandung verglichen wird. In den Mittelpunkt
des Interesses ist nun die Frage gerückt, welche genetische
Information zu welchem Zeitpunkt in einer Zelle abgerufen
wird und wie die einzelnen Gene und Proteine miteinander
wechselwirken.
Die
Methoden sind so weit
verfeinert worden, dass
nun versucht wird den
Zustand aller Gene in
einer Zelle gleichzeitig
zu analysieren. Die Aktivitäten gleicher Zellen
unter
unterschiedlichen Bedingungen
werden studiert, kranke Zellen werden mit
gesunden Zellen verglichen, und die verschiedenen Stadien in
der Entwicklung eines Lebewesens werden untersucht. Damit
nähert man sich auch der Beantwortung der Frage, warum
bei grundsätzlich gleicher genetischer Ausstattung die Zellen
eines Organismus so viele unterschiedliche Funktionen übernehmen können.
24
Die Züchtung von Zellen und Geweben
Die Gewebe in einem Organismus weisen hoch funktionelle
Strukturen auf. In vitro kultivierte Gewebekonstrukte unterscheiden sich davon meistens sehr deutlich. Die Annäherung
an das natürliche Vorbild hängt entscheidend von den Kulturbedingungen ab. Unbefangene Formulierungen wie „die Zellen wurden vermehrt/gezüchtet” mögen den Eindruck
erwecken, dass es sich bei der In-vitro-Züchtung von Zellen
und Geweben um etablierte, unkomplizierte Routineschritte
handele. Dem ist nicht so: Die Prozessentwicklung für das Tissue Engineering ist ausgesprochen schwierig und technisch
anspruchsvoll. Die Herausforderungen stellen sich auf allen
Ebenen, angefangen von der Gewinnung und Vermehrung
der Zellen, der Auswahl der Trägermaterialien und dem Reaktordesign bis hin zu den strengen Auflagen der Zulassungsbehörden an das Herstellungsverfahren (Good Manufacturing
Practice, GMP).
Unter Tissue Engineering versteht man auf Zellen basierende Therapien, die oftmals Trägermaterialien (manchmal in
Kombination mit Wachstumsfaktoren) nutzen, um gewünschte, meist räumliche Gewebestrukturen zu ersetzen.
Man verwendet in den meisten Fällen Zellen, die vom Patienten selbst stammen, so genannte autologe Zellen. Sie liefern
dem entsprechend gut verträgliche Transplantate. Stammen
die Zellen von anderen Menschen, spricht man von allogenen
Zellen. Zellen tierischer Herkunft finden sich in xenogenen
Transplantaten.
Die Herstellung künstlicher Gewebe beim Tissue Engineering
läuft grob unterteilt in drei Schritten ab:
Bioreaktor zur Züchtung von Knorpelzellen
1. Zunächst werden die autologen oder allogenen Zellen in
Vorkulturen angezogen, um sie in Wachstumsphasen und
in ausreichender Menge auf das entsprechend der Anwendung vorgeformte Trägermaterial auftragen zu können.
2. Die ‚geimpfte’ Matrix wird dann in stationärem Milieu kultiviert bis man die Anhaftung der Zellen an das Trägermaterial feststellt. Hier kommt es darauf an, dass die Zellen optimale Wachstumsbedingungen vorfinden. Dazu gehören
die wichtigen Kontakte zur Matrix und zu anderen Zellen.
Jeder Zelltyp stellt ganz individuelle, oftmals zeitlich variable Ansprüche an seine Umgebung, die durch die möglichst genaue Schaffung der natürlichen „Mikroumgebung” der Zellen erfüllt sein müssen.
3. Nur wenn diese Anforderungen erfüllt sind, lässt sich das
Konstrukt schließlich in Reaktoren unter kontinuierlicher
Nährstoff- und Luftzufuhr zu funktionalen Geweben ausreifen, wobei möglichst physiologische Bedingungen einzuhalten sind.
Ausdifferenzierte Körperzellen lassen sich meistens nicht so
ohne weiteres in vitro vermehren. Das liegt unter anderem
daran, dass sie sich in den Geweben auch nicht beliebig teilen
dürfen. Andernfalls gäbe es keine klar begrenzten Gewebestrukturen und Organe. Die Ausnahme sind Tumorzellen, die
sich bekanntermaßen ungehemmt teilen und die Organe zerstören. Diese Fähigkeit macht man sich in der Bioprozesstechnik zunutze, indem man Immunzellen eines bestimmten Typs
mit speziellen Tumorzellen (Myelomzellen) fusioniert. Die
daraus resultierenden Hybridomazellen weisen die Eigenschaften der Immunzellen auf, sind aber wie die Tumorzellen
in der Zahl ihrer Teilungszyklen nicht begrenzt. Sie eignen
sich deshalb für große Zellkulturen zur Produktion wertvoller Proteine, zum Beispiel rekombinanter Antikörper (siehe Seite 8). Für Zelltherapien sind die Zellen verständlicherweise
ungeeignet.
Einige somatische Zelltypen sind in vitro vermehrbar und können therapeutisch zum Ersatz
ausgefallener Gewebezellen genutzt werden.
Dazu gehören zum Beispiel Knorpelzellen oder
die Stammzellen des Knochenmarks. Eine Invitro-Kultur frisch isolierter Zellen eines Gewebes wird als Primärkultur bezeichnet. Nachdem
die Zellen sich ungestört teilen und wachsen
konnten, müssen sie spätestens wenn sie den
Schalenboden komplett bedecken auf neue Kulturgefäße verteilt werden (Subkultivierung).
Andernfalls stellen sie das Wachstum ein und
sterben ab. Sind Zellen mehr als siebzigmal
nach der Primärisolation ohne Einschränkung
subkultivierbar, was nicht oft der Fall ist, spricht
man von kontinuierlichen Zelllinien.
25
In der Praxis steckt die Züchtung menschlicher Zellen meistens voller Tücken. Zum Beispiel bleiben die Eigenschaften
der in vitro kultivierten Zellen nicht lange konstant. Sie können ihre Spezifität verlieren (Dedifferenzierung) oder im Verlauf der Teilungen andere Eigenschaften ausprägen. Zur Kultivierung von Zellen mancher Gewebetypen, die nicht in der
Kulturschale wachsen, muss man den Weg über Stammbeziehungsweise Vorläuferzellen (siehe Seite 11) beschreiten.
Diese werden zunächst in vitro vermehrt und differenzieren
dann in vivo, induziert durch geeignete Signale, in Gewebezellen aus. Zahlreiche praktische Probleme bei der Kultivierung sind noch nicht gelöst. So weiß man noch nicht genug
über die Faktoren, die die Differenzierung der Stammzellen
steuern und kann deshalb nicht immer verhindern, dass sich
die Zellen in der Kultur in unerwünschte Richtungen entwickeln oder entarten.
Die verfahrenstechnischen Herausforderungen sind ebenfalls groß. Für die Zufuhr von Nahrung und Sauerstoff und den
Abtransport von Stoffwechselabfallprodukten und Kohlendioxid musste die Bioprozesstechnik zahlreiche apparative
Lösungen finden. Petrischalen, deren Kulturmedium nicht
kontinuierlich ausgetauscht werden kann, eignen sich eher
für Primärkulturen, wobei die rasch zunehmende Belastung
des Mediums durch Stoffwechselprodukte der Zellen die Kulturdauer begrenzt. Kulturflaschen mit Rührer sind aufgrund
der größeren Kulturmedienvolumina auch für die längere
Phase der Matrixbesiedlung vorteilhaft. Gewebekonstrukte
hängen an einem Faden in der Flüssigkeit und sind wegen des
am Gefäßboden rotierenden Magnetrührers einer permanenten Strömung ausgesetzt. Sie ermöglicht den Abtransport der
Abfallprodukte aus dem Inneren des Konstrukts. Derartige
Kulturen können über Wochen wachsen, sofern das Eindringen von Bakterien oder Viren vermieden wird. Eine andere
Lösung sind „rotierende Bioreaktoren”, bei denen die stetige
Bewegung der Nährflüssigkeit durch die Drehung des trommelförmigen Kulturgefäßes erzeugt wird. Diese Reaktoren
gibt es auch als nicht-geschlossene Systeme mit der Möglichkeit, das Nährmedium kontinuierlich durch frisches zu ersetzen. Die genannten Reaktortypen eignen sich für Knorpel und
dünnlagige Zellschichten (Epithel), wo kein Kapillarnetz zum
Transport von Nährstoffen und Sauerstoff notwendig ist. Wo
es aber auf die „tief gehende” Versorgung ankommt, kann
man die Zellen mittels Hohlfasern kultivieren. Die Zellen haften an den Innen- und Außenseiten der vom Nährmedium
durchströmten Fasern. Es gibt unterschiedlich dimensionierte Hohlfaserreaktoren, deren Module in Größe und Zahl der
Hohlfaserbündel variieren. In der Zellkulturtechnik hat sich
dieser Reaktortyp bei der Herstellung von monoklonalen
Antikörpern aus Säugerzellkulturen durchgesetzt. Der wichtigste Reaktortyp für die Gewebezüchtung sind Perfusionsreaktoren. In den Perfusionskulturen umspült frisches Kulturmedium die darin reifenden Gewebekonstrukte, welche über
Träger mechanisch fixiert sind. Wenn man das Medium kontinuierlich durch neues ersetzt, lassen sich konstante Ernährungsbedingungen realisieren. Mit diesen Reaktortypen ist es
auch möglich, Konstrukte gleichzeitig mit unterschiedlichen
Medien zu versorgen, zum Beispiel Nierenzellepithelien, die
wie im Körper auf der einen Seite von urinartigem und auf der
anderen Seite von serumartigem Medium umspült werden.
Die Bioprozessentwicklung erfordert die Zusammenarbeit
von Fachleuten aus verschiedenen Disziplinen – Zellbiologen,
Materialwissenschaftler, Verfahrenstechniker und Mediziner.
In Deutschland ist diese Expertise an zahlreichen Universitätsstandorten vorhanden. Dort haben die Forscher auch Unter-
25
Knorpelzüchtung im Reinraumlabor
nehmen gegründet, die Tissue- Engineering-Produkte entwickeln, herstellen und vermarkten. Die Errichtung und der
Betrieb von Pilotanlagen und Produktionseinheiten verschlingen große finanzielle Mittel, oft zweistellige MillionenEuro-Beträge. Die hohen Ansprüche der Good Manufacturing
Practice an Reinheit, Sterilität und Qualität der eingesetzten
Materialien und Produkte machen unter anderem auch spezielle bauliche Voraussetzungen erforderlich: Hintereinander „geschaltete”, durch Schleusen abgetrennte Bereiche
gewährleisten in den Produktionsräumen Reinraumbedingungen wie sie nur noch in der Chipindustrie erreicht werden. Die Institute und Firmen müssen in der Regel ein striktes
Qualitätsmanagement nachweisen, um die Zulassung zu
erhalten und zu behalten. Auch wenn nicht produziert wird,
fallen weiterhin hohe Betriebskosten an, da die Anlagen und
die Luft- und Wasserversorgung immer betriebsbereit und
steril gehalten werden müssen.
Herzmuskel TISSUE ENGINEERING
26
läres Beispiel für das „Engineering” von Knochen lieferten im
Sommer 2004 Mediziner der Universität Kiel. Ihnen gelang
es, den durch einen Tumor zerstörten Unterkiefer eines 56
Jahre alten
Patienten funktional zu rekonstruieren. Zunächst
entwarf man am
Computer die
Form des fehlenden Unterkieferstücks. Nach dieser Vorlage
entstand ein
Das Kieferknochenkonstrukt wächst im
Geflecht aus
Rückenmuskelgewebe des Patienten
Titandraht, in das
heran
die Knochenmineralien, durchmischt mit Knochenmarkzellen des Patienten, modelliert
wurden. Zur Stimulierung des Zellwachstums hatte man
auch BMP hinzugefügt. Die gesamte Konstruktion wurde
dann in den rechten Rückenmuskel unterhalb des Schulterblatts eingepflanzt, damit unter den körpereigenen Wachstumsbedingungen Knochenzellen heranreifen konnten und
ein zunehmend festgefügteres Knochengewebe bildeten.
Nach sieben Wochen operierten die Ärzte den Unterkieferteil
mitsamt Blutgefäßen und einigen Muskelsträngen aus dem
Rückenmuskel heraus. Sie setzten es in den Mund des Patienten ein, um dort mit dem vorhandenen Rest des Kiefers
zusammenzuwachsen. Noch (Stand Winter 2004) hält das
Titandrahtgerüst die Neukonstruktion zusammen. Es soll
später entfernt werden, wenn der zusammengewachsene
Unterkiefer stabil genug geworden ist. Heute ist das Verfahren längst kein Einzelbeispiel mehr: Ein finnisches Team
konnte auf diese Weise sogar die komplette Vorderstirnplatte einer Patientin ersetzen.
ration von Herzmuskelgewebe mit Hilfe von Zellen. Man verwendet sowohl ausdifferenzierte Herzmuskelzellen und Skelettmuskelzellen als auch adulte, embryonale und fötale
Stammzellen.
Ansätze, Herzmuskelzellen (Myokardzellen) in vitro im Bioreaktor zu züchten und dann als „Ersatzmuskel” zu transplantieren, verfolgt man seit Anfang der 1990er Jahre. Die körper-
Mit dem Katheter können Stammzellsuspensionen in das
Infarktgewebe injiziert werden
eigenen Zellen werden etwa drei Wochen vor der Herzoperation entnommen, dann speziell aufbereitet und für die Injektion in den geschädigten Herzmuskel kultiviert. Die Herausforderungen an die Konstrukte und ihre Herstellung sind
aber sehr hoch, so dass sie die klinische Praxis noch nicht erreicht haben.
In den letzten Jahren hat die Stammzellforschung der Regenerativen Medizin neue Impulse zur Behandlung von kardiovaskulären Krankheiten gegeben. Zwar findet man im Her-
Herzmuskel
Jährlich erleiden 300.000 Menschen in Deutschland einen
Herzinfarkt. Wird ein Herzinfarkt bemerkt ist es meistens
schon zu spät. Die Öffnung der Arterien durch Gerinnungshemmer und Operationen kann nicht mehr verhindern, dass
von der Blutzufuhr abgeschnittene Bereiche des Herzmuskels absterben. Dabei fallen unterschiedlich große Partien
des Muskels aus, es bilden sich Narben aus Bindegewebe und
häufig bleiben Funktionsstörungen unterschiedlichen Ausmaßes zurück. Die Patienten bleiben in ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkt – vom Risiko erneuter Vorfälle einmal
abgesehen. Langfristige therapeutische Optionen sind rar,
denn Muskelgewebe ist nicht sehr regenerationsfähig.
Weltweit laufen gegenwärtig zahlreiche Studien zur Regene-
Herzmuskelgewebe
TISSUE ENGINEERING Luf tröhre
zen nur sehr selten undifferenzierte Zellen und ihre Fähigkeit
zur Neubildung von Muskelzellen ist wenig ausgeprägt. In
vitro konnte man sie immerhin in mindestens drei Gewebearten – Herzmuskel, Blutgefäßmuskel und Innenhaut von Blutgefäßen – verwandeln. Ob und in welchem Ausmaß sie die
Umwandlung auch in vivo vollziehen, ist aber bislang noch
unbeantwortet. Natürlicherweise sind sie vermutlich nur für
kleinere Reparaturarbeiten vorgesehen. Ihnen auf die Sprünge zu helfen, ist auf unterschiedlichen Wegen versucht worden. Bislang ergeben die verschiedenen Ansätze aber noch
kein einheitliches Bild.
Auch adulte Stammzellen aus dem Knochenmark sind in der
Lage, Herzmuskelgewebe zu bilden. In Mäuseexperimenten
wurden die isolierten, mit so genannten Markergenen
gekennzeichneten Zellen in das abgestorbene Gewebe injiziert. Nach einigen Wochen fand man dort neu gebildete Zellen, die Charakteristika von Herzmuskelzellen aufwiesen und
mitunter synchron mit den vorhandenen Herzmuskelzellen
kontrahierten. Da sie auch die Markergene der Stammzellen
trugen, gab es keinen Zweifel über ihre Herkunft. Es stellte
sich bald heraus, dass die Qualität der Knochenmarkzellen
entscheidend ist und sich besonders daraus hervorgegangene so genannte endotheliale Vorläuferzellen eignen, die
bereits eine bestimmte Entwicklungsrichtung eingeschlagen
haben. Dieser Therapieansatz wird nun auch in klinischen
Versuchen beim Menschen getestet.
Noch gibt es viele offene Fragen. Man weiß nur wenig über
das Schicksal der in den Herzmuskel injizierten Stammzellen.
So ist immer noch umstritten, inwieweit es sich bei den neu
gebildeten Zellen tatsächlich um echte Herzmuskelzellen
handelt. Manche Experimente deuten darauf hin, dass die
Vorläuferzellen mit vorhandenen Muskelzellen fusionieren.
Nach anderen Untersuchungen bilden die Stammund Vorläuferzellen gar nicht in dem erwarteten Ausmaß Herzmuskelzellen, sondern tragen unter anderem durch die Ausschüttung von Boteneiweißen zur
Erholung des geschädigten Herzgewebes bei. Das
legen In-vivo-Experimente mit stammzelltypischen
Botenstoffen nahe, die zur Ausdifferenzierung von
embryonalen Stammzellen in funktionstüchtige
Muskelzellen notwendig sind. In diesen Experimenten zeigte sich, dass Stammzelltherapien bei der großen Mehrheit der behandelten Patienten zu einer signifikanten Kräftigung des Herzens führten. Dieser
interessante Befund soll nun in einer europaweiten
Studie genauer überprüft werden.
Luftröhre
Patienten mit Atemwegstumoren sind postoperativ
oft auf einen Tubus im Hals angewiesen um atmen zu
können. Der Beatmungsschlauch verursacht dabei
eine chronische Verletzung der Luftröhre, die häufige
27
Krankenhausaufenthalte erfordert, denn bakterielle Infektionen sind fast zwangsläufig. Dann müssen diese Patienten
„gefenstert” werden. Sie liegen auf der Intensivstation und
haben große Öffnungen im Brustkorb, um Eiter und Bakterien abfließen zu lassen. Forscher des Fraunhofer-Instituts für
Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik in Stuttgart fanden
eine Methode, um die Luftröhre nach erfolgreicher Behandlung der Infektionen wieder schließen zu können. Wichtig ist
die Herstellung der hauchzarten Blutgefäße, die die Luftröhre umgeben. Die Forscher isolieren die entsprechenden Blutgefäße aus Schweinedarm. Die Zellen werden chemischenzymatisch entfernt, sodass die feinen Wandstrukturen
als zellfreie Kollagen-Röhren übrig blieben. Was so einfach
klingt, bedeutet viel Arbeit und ist ein schwieriges Verfahren.
Die Kollagenwand der feinen Kapillaren müssen anschließend mit menschlichen Endothelzellen ausgekleidet werden.
Dazu dient die In-vitro-Besiedlung mit Knochenmarkstammzellen des Patienten, die sich auf der Kollagenmatrix in Endothelzellen ausdifferenzieren. Unter idealen Kulturbedingungen beginnen die Zellen, die Schweinematrix, das heißt
die Wand, abzubauen und ihre eigene Wand aus menschlichen Kollagenen zu synthetisieren. Dieser Umbau wird als
Remodelling bezeichnet.
Im Ergebnis erhält man menschliche Blutgefäße, die genau
zu dem Patienten passen, von dem die Stammzellen aus dem
Knochenmark stammten. Die gezüchtete Gefäßwand wird
schließlich in das „Fenster” transplantiert, wo sie anwächst
und die Luftröhre wieder verschließt. Insgesamt vier Patienten tragen inzwischen solche biologischen Hautpflaster auf
ihrer Luftröhre. Der erste Patient konnte bereits 14 Tage nach
der Operation das Krankenhaus verlassen.
Pankreas TISSUE ENGINEERING
28
Weiter von der klinischen Erprobung entfernt sind Stammzelltherapien zur Regeneration anderer lebenswichtiger
Organe, Pankreas, Leber oder Nervenzelle. Im Tierversuch
sind diese Konzepte zum Teil bereits erfolgreich umgesetzt
worden; manche Ergebnisse sind aber noch widersprüchlich.
Das zeigt einmal mehr, wie schwierig und langwierig der
Transfer von ‚reiner’ Wissenschaft in die Anwendung ist.
Pankreas
Diabetes mellitus ist in Industrieländern zu einer Volkskrankheit geworden. In den USA leiden 16 Millionen und in
Deutschland vier Millionen Menschen daran. Die mit 95 Prozent Anteil häufigste Form ist Diabetes Typ II, der so genannte
Altersdiabetes. Die Körperzellen reagieren nur schwach auf
den Botenstoff, der ihnen bei der Zuckeraufnahme hilft. Bei
Diabetes vom Typ I ist der zerstörerische Angriff des Immunsystems auf die Insulin produzierenden ß-Zellen des Pankreas
Langerhans‘sche Insel
beta-Zelle
delta-Zelle
alpha-Zelle
Kapillare
Drüsenbläschen
Grund der Krankheit. Diabetes kann dank gentechnisch hergestellten Insulins behandelt, aber nicht kuriert werden. Das
individuelle Ausmaß der Krankheit und die Beeinträchtigungen können gravierend sein.
Was liegt näher, als zerstörte Pankreaszellen zu regenerieren,
um Diabetes langfristig zu heilen? Die Insulin produzierenden ß-Zellen kommen in kugelförmigen Kolonien auf der
Bauchspeicheldrüse, den so genannten Langerhans'schen
Inseln, vor. Ständig sterben ß-Zellen ab und werden in einem
noch unverstandenen Prozess durch neue ersetzt. Kann der
Körper die Inselzellen nicht mehr regenerieren, fällt auch die
Insulinproduktion ab. Leider ist die Kultivierung von funktionalen ß-Zellen nicht möglich. Aber vielleicht mit Stammzel-
len? Adulte Pankreas-Stammzellen und Vorläuferzellen hat
man noch nicht zweifelsfrei identifizieren können. Man vermutet sie im Gewebe der Drüsengänge. Nach neuesten
Berichten hätten die sehr seltenen Zellen sogar die Charakteristika von pluripotenten Stammzellen. Damit wären sie für
die Regenerative Medizin als Alternative zu embryonalen
Stammzellen von großem Interesse. Eine Züchtung von „ßZellen” aus Nicht-Pankreaszellen gelang im Tierversuch mit
Stammzellen des Knochenmarks (MSCs), die nach Transplantation in das Inselgewebe des Pankreas umdifferenzierten.
Ihre Kapazität zur Insulinproduktion war aber sehr gering.
Nicht nur deshalb sind Zweifel an der Natur dieser „ß-Zellen”
angebracht. Ähnliche Ergebnisse erzielte man durch die invitro-Umwandlung von humanen Inselzellen in Vorläuferzellen unter bestimmten Kulturbedingungen. Diese Vorläuferzellen konnten gut vermehrt werden und bildeten nach
Transfer in Pankreasgewebe Inselkolonien. Ihre Insulinproduktion war ebenfalls sehr gering.
Niere
In Deutschland werden jährlich etwa 2.200 Nieren transplantiert, das entspricht nur einem geringen Teil des Bedarfs. Die
vielen Patienten auf der Warteliste sind bis dahin mitunter
über Jahre auf die Dialyse angewiesen. Bei 53.000 gemeldeten Dialysepatienten (im Jahr 2000) und durchschnittlich
drei Dialysen pro Woche sind das etwa 8,3 Millionen Behandlungen pro Jahr. Den Patienten geht es chronisch schlecht.
Diese bedrückende Situation ist Motivation genug, nach
langfristig erfolgreichen Therapien zu suchen. Die Transplantation von Schweinenieren wäre möglich, ist unter anderem aber wegen der gravierenden Immunreaktionen der
Empfänger sehr problematisch. Bessere Aussichten hat die
Transplantation von Nieren aus Schweineembryonen, die zur
Zeit im Tierversuch erprobt wird. Nicht älter als 28 Tage sind
diese Organe nur einen Millimeter groß und noch ohne Blutgefäße. Aufgrund der fehlenden Gefäße sind sie kaum immunogen. Nach der Transplantation wachsen sie im Empfängerorganismus zu funktionsfähigen, korrekt vaskularisierten
Nieren heran, deren Gefäße und Blutzellen dann natürlich
vom Empfänger stammen. Zudem gibt es Ansätze, durch
gentechnische Veränderungen von Schweinezellen die
immunologische Fremdartigkeit der Xenotransplantate zu
reduzieren. Die geschilderten Verfahren haben aber immer
noch gravierende Nachteile, insbesondere die möglichen
Infektionsrisiken durch Schweineviren.
Dies ist wieder eine Herausforderung für das Tissue Engineering. Ideal wäre zweifellos die Regeneration beziehungsweise Reparatur des ausgefallenen Organs durch humane,
am besten autologe Zellen. Noch versteht man nicht viel von
den Vorgängen bei der Bildung von Nierengewebe, aber einige Optionen sind absehbar. So fand man bereits Vorläuferzellen verschiedener Nierengewebetypen, zum Beispiel En-
TISSUE ENGINEERING Leber
dothelvorläuferzellen (EPCs), intraglomuläre Mesangialvorläuferzellen und Tubulivorläuferzellen (hervorgegangen aus
Knochenmarkstammzellen), die wahrscheinlich zur Regeneration der Gewebe dienen. Noch lassen sich diese seltenen
Zellen in vitro nicht gezielt zur Bildung von Nierengeweben
Dialyse
anregen. In vivo wurde aber bereits beobachtet, dass die Vorläuferzellen in der richtigen Gewebeumgebung zu funktionalen Nierenzellen ausdifferenzieren.
Leber
Die gesunde Leber ist in großem Umfang zur Selbstregeneration fähig. Bei starker Schädigung durch Fibrosen und Zirrhosen – meistens als Folge von Infektionen mit Hepatitis B und C
oder von Akoholmissbrauch – wird diese Fähigkeit stark eingeschränkt. In seltenen Fällen regeneriert das Organ nach
einer Therapie wieder – aber sehr langsam. Oft ist eine Transplantation erforderlich, aber Spenderorgane sind rar. Um
diese kritischen, oftmals langen Phasen zu überbrücken,
haben Ingenieure „Ersatzlebern” entwickelt, die – der künstlichen Niere oder der Herz-Lungen-Maschine vergleichbar –
außerhalb des Körpers (extracorporal) arbeiten und hindurchgepumptes Blut beziehungsweise Blutplasma von
Abbauprodukten und Giftstoffen befreien. Ein System beruht
auf der Reinigungsleistung von Albumin. Das Protein transportiert die „Lebertoxine” ab, die durch eine Membran aus
dem Blut in eine Kammer mit der Albuminlösung diffundiert
sind. Die Lösung durchläuft ein Recycling durch ein Kolonnensystem, in dem die Gifte vom Albumin getrennt werden,
welches dann erneut Toxine aus dem Blut aufnehmen kann.
Das Kreislaufsystem ist bereits auf dem Markt und wird von
einem deutschen Unternehmen weltweit angeboten. Die
Blutreinigung ist aber nur eine der Leistungen der Leber. Das
Organ hat noch viele andere Aufgaben, zum Beispiel den
Abbau von Biomolekülen. Wer könnte diese Aufgaben besser
29
übernehmen als Leberzellen (Hepatozyten), die darauf spezialisiert sind? Neue Konzepte der „Künstlichen Leber” basieren deshalb auf der Züchtung von Hepatozyten, die in geeigneten Bioreaktoren heranwachsen, wo sie mit dem
Blutplasma in Kontakt kommen. Zwei Probleme sind dabei zu
lösen: Wie züchtet man die Hepatozyten? Und welches
Design muss der Bioreaktor haben? Für das Design der
„Künstlichen Leber” als Bioreaktor scheinen sich Hohlfaserkonstruktionen zu eignen, an denen Zellen gut wachsen können und gleichzeitig großflächig von Flüssigkeiten umströmt
werden.
Erste Erfolge hatten amerikanische Mediziner mit immobilisierten Leberzellen von Schweinen. Allerdings sind Schweinezellen problematisch: Sie können das Immunsystem des
Patienten provozieren und heftige Abwehrreaktionen hervorrufen. Zudem besteht das Risiko, dass sie möglicherweise
schweinetypische Viren übertragen. Da sich humane Hepatozyten, von Tumorzellen abgesehen, schlecht vermehren
lassen, kommen aus praktischen Gründen nur aus Stammzellen gezüchtete Leberzellen in Frage. Die Forschung mit adulten Leberstammzellen arbeitet auf Hochtouren, um die idealen Wachstumsbedingungen und molekularen Signale zu
finden, die diese Stammzellen zur Differenzierung in Hepatozyten veranlassen. Mit Knochenmarkstammzellen gelang
bereits die Züchtung von Hepatozyten, leider aber nur in
vivo. Stammzellen dürften auch der Schlüssel zur Ideallösung
sein, der in-vivo-Regeneration der Leber, und die Patienten
von der Abhängigkeit von extracorporalen Ersatzleben
befreien.
System zur Blutreinigung, künstliche Leber
30
Nerven
Ner ven TISSUE ENGINEERING
spiegel der Patienten erhöht und einige Symptome waren
verschwunden. Die Erkrankten waren aber nur scheinbar
genesen, denn die Degeneration des Hirngewebes hatte sich
nicht aufhalten lassen. Die Gesamtzahl der auf diese Weise
behandelten Patienten kam daher über 18 nicht hinaus.
Mit steigender Lebenserwartung in den Industrieländern
bedrohen neurodegenerative Erkrankungen die Gesundheit
der Bevölkerung. Altersdemenz (Morbus Alzheimer) und
Morbus Parkinson stehen hier an erster Stelle. Allein in
Deutschland sind rund 250.000 Menschen von Morbus Parkinson betroffen. Hinzu kommen Suchtfolgeerscheinungen,
Krebs, Multiple Sklerose und Verletzungen. Sehr selten treten
auch Fälle der Creutzfeldt-Jacob-Krankheit auf. Wegen fehlender therapeutischer Optionen ist die Wiederherstellung
neuronaler Gewebe mittels Stammzellen eine verlockende
Perspektive. Das therapeutische Potenzial dieser Ansätze ist
schwer einzuschätzen. Noch sehr widersprüchlich sind die
bisherigen Forschungsergebnisse. Häufig folgen auf Erfolgsmeldungen unmittelbar widersprechende Veröffentlichungen – was einmal mehr zeigt, wie mühselig und zugleich
spannend die biomedizinische Forschung ist.
Bereits 1989 hatte man in Pionierversuchen in den USA Parkinsonpatienten mittels fötaler Stammzellen behandelt. Bei
der Krankheit sterben Gehirnzellen ab, die den Botenstoff
Dopamin produzieren, der für die Kommunikation zwischen
den Nervenzellen wichtig ist. Die Folgen der Zerstörung sind
unkontrolliertes Zittern und Lähmungserscheinungen. Vier
Jahre nach der Zelltransplantation hatten sich die Dopamin-
Neurale Vorläuferzellen, die sich in vitro zu Gliazellen (grün)
und Nervenzellen (rot) differenzieren. Blau: Zellkerne
Nervengewebe
Bis vor wenigen Jahren galt das Dogma, dass sich neuronale
Gewebe nach ihrer Bildung im Säuglingsalter nicht mehr
regenerieren können. Dann entdeckte man bei Mäusen und
Ratten, später auch bei Affen, dass sie durchaus in der Lage
sind, abgestorbene oder entfernte Partien des Hirn-Nervengewebes zu ersetzen. In bestimmten Regionen des Mittelhirns fand man schließlich neuronale Vorläuferzellen – auch
beim Menschen. Die multipotenten Zellen bilden verschiedene Typen von Nervenzellen: Astrozyten, Neuronen und Oligodendrozyten (Glossar). Leider bereiten Kultivierung und
gezielte Differenzierung dieser Zellen große Probleme, die
vor einem therapeutischen Einsatz gelöst sein müssen. Zum
Beispiel sind Blutgefäßzellen, genauer deren Endothelzellen,
für die gewünschte Ausdifferenzierung in Neuronen notwendig. Wie man die kultivierten Vorläuferzellen gezielt in
bestimmte Regionen des Zentralen Nervensystems (ZNS)
lockt, um dort die „richtig” ausdifferenzierten Zelltypen in
der „richtigen” Zahl und nur die „richtigen” Verknüpfungen
mit den „richtigen” Partnerzellen zu erhalten, sind noch
ungelöste Fragen. Vermutlich müssen auch je nach Krankheit Kombinationen von Zellen aus unterschiedlichen Stadien verwendet werden.
Die Regeneration von Nervengewebe durch embryonale
Stammzellen wird ebenfalls intensiv untersucht. Neben den
ethischen Aspekten sind auch bei embryonalen Stammzellen
viele der bereits angesprochenen Fragen noch offen. Unter
anderem bereitete die Neigung der Zellen Probleme, in Kul-
TISSUE ENGINEERING Ner ven
31
tur bevorzugt Oligodendrozyten zu bilden. Die Kultivierung
mit Wachstumsfaktoren auf einem Rasen von Nährzellen
(feeder cells) hat diese Verhältnisse verbessert. Dabei reicht
es, einzelne embryonale Stammzellen in der Kulturschale zu
vermehren und dann auf eine Grundlage aus bestimmten
Bindegewebezellen (Stromazellen) zu schichten. Innerhalb
weniger Tage entwickeln sich Dopamin-produzierende
Zellen mit Neuronen-Morphologie. Viele Unklarheiten zum
Beispiel über die Stabilität der erzeugten ‚Nervenzellen', ihre
man auch bei adulten hämatopoetischen Stammzellen (siehe
Seite 10), die nach gegenwärtigem Forschungsstand in viele
Gewebe transdifferenzieren können. Sie sind gut kultivierbar,
was wichtig ist, um die für therapeutische Zwecke meistens
notwendigen Zellzahlen von mehr als fünf Milliarden zu erreichen. Manche Wissenschaftler vermuten, dass Blutstammzellen natürlicherweise zur Reparatur aller Gewebe geeignet
sind, Nervengewebe eingeschlossen. Dafür gibt es deutliche
Hinweise: Amerikanische Forscher fanden bei drei Frauen
Funktionstüchtigkeit und das Risiko der Entartung sind aber
noch nicht ausgeräumt.
Von großem Interesse sind daher Versuche, in denen zunächst aus den embryonalen Stammzellen neuronale
Stamm- und Vorläuferzellen erzeugt werden. In Zellkulturen
und in Tiermodellen zeigte sich bereits das Potenzial der so
gezüchteten Nervenvorläuferzellen: Nach der Transplantation in das Empfängergewebe integrierten sich die Vorläuferzellen morphologisch und funktionell. Sie wanderten in verschiedene Hirnregionen ein, wo sie dann nicht nur selbst
elektrisch aktiv wurden und Aktionspotenziale feuerten, sondern auch Signale aus dem Empfängergehirn erhielten und
verarbeiteten. Ein Ziel der auf Vorläuferzellen basierenden
Konzepte ist es, Epilepsie-Patienten zu therapieren.
Regenerationspotenzial für neuronale Gewebe vermutet
sechs Jahre nach einer Knochenmarktransplantation Stammzellen im Gehirn, die Y-Chromosomen enthielten. Alle drei
Patientinnen waren gegen Leukämie behandelt worden und
hatten hämatopoetische Stammzellen aus dem peripheren
Blut männlicher Spender erhalten. Da die Frauen keine Söhne
hatten, konnten diese als Quelle für die Y-Chromosom-positiven Zellen ausgeschlossen werden. Menschliche mesenchymale Stammzellen aus dem Knochenmark ließen sich auch in
vitro in Nervenzellen verwandeln, die im Parkinson-Tiermodell nach der Transplantation ins Gehirn Krankheitssymptome linderten. Japanische Forscher hatten dazu die Zellen mit
einem Gen ausgestattet, das im Zusammenspiel mit einem
Wachstumsfaktor die Entwicklung der Stammzellen zu Neuronen dirigierte.
32
Internationale Situation EMBRYONALE STAMMZELLEN
Embryonale Stammzellen –
die internationale Situation
Gewinnung, Einfuhr und Forschung an embryonalen
Stammzellen werden rechtlich weltweit sehr unterschiedlich bewertet. Schon innerhalb der Europäischen
Union decken die gesetzlichen Bestimmungen ein breites
Spektrum ab, eine endgültige Verständigung über die
Forschung an embryonalen Stammzellen fehlt noch.
Der Einsatz von menschlichen embryonalen Stammzellen in
Forschung und Therapie wird weltweit diskutiert und unterschiedlich bewertet. Bereits die gesetzlichen Regulierungen
der Stammzellforschung in den Ländern Europas decken ein
breites Spektrum ab.
In Deutschland ist die Gewinnung (Entnahme) von menschlichen embryonalen Stammzellen aus Embryonen verboten.
Auch die Einfuhr und Verwendung von menschlichen embryonalen
Stammzellen ist laut dem
„Gesetz zur Sicherstellung
des Embryonenschutzes
im Zusammenhang mit
der Einfuhr und Verwendung menschlicher
embryonaler Stammzellen" vom 1. Juli 2002
(Stammzellengesetz)
grundsätzlich verboten
und kann nur ausnahmsweise durch eine staatliche Kontrollbehörde, das
dem Gesundheitsministerium unterstellte RobertKoch-Institut in Berlin,
genehmigt werden. Eine
der Voraussetzungen für
eine solche Genehmigung
ist, dass die embryonalen
Stammzellen bereits vor
Deutscher Bundestag
dem Stichtag 1. Januar 2002 vorhanden waren. Weiterhin
muss es sich bei den verwendeten Embryonen um überzählige Embryonen handeln, und es durfte kein Entgelt für die
Überlassung derselben gezahlt worden sein. Außerdem dürfen die Forschungsarbeiten an diesen Zellen nur dann durchgeführt werden, wenn sie hochrangigen Forschungszielen
dienen und sich der angestrebte Erkenntnisgewinn mit dem
konkreten Forschungsprojekt voraussichtlich nur durch die
Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen
erreichen lässt. Bis zum Dezember 2004 wurden sieben solcher Genehmigungen erteilt.
Mit dem Stammzellgesetz wurde ein Kompromiss gefunden,
der die gegenläufigen moralischen Bewertungen und die
unterschiedlichen Interessen respektiert und somit sicherstellt, dass dieses wichtige Forschungsgebiet unter Beachtung hoher ethischer Anforderungen auch in Deutschland
weiterverfolgt werden kann. Einige Forscher beklagen allerdings, dass die Qualität der vor dem 1. Januar 2002 gewonnenen Stammzelllinien für manche Fragestellungen nicht ausreiche und deshalb neue Linien gewonnen werden müssten.
Weitere Einwände richten sich in die Zukunft. Es sei fragwür-
Internationale Situation
33
dig, die vielleicht einmal verfügbaren auf embryonalen
Stammzellen basierenden Therapieverfahren anzuwenden
ohne auch die dazugehörenden problematischen ethischen
Aspekte mitgetragen zu haben. Auch befürchtet man, dass
diese Therapien mit hohen Lizenzgebühren verbunden sein
werden, die dann aus dem deutschen Versicherungssystem
ins Ausland abfließen werden.
In ihrem am 28.07.2004 vorgelegten ersten Erfahrungsbericht über die Durchführung des Stammzellgesetzes hat die
Bundesregierung festgestellt, dass sich die Regelungen des
Gesetzes bisher bewährt haben. Die aufgrund des Stammzell-
In der Schweiz regelt seit kurzem ein Bundesgesetz die Forschung an embryonalen Stammzellen (Stammzellenforschungsgesetz). Es erlaubt unter strengen Voraussetzungen,
Stammzellen aus überzähligen Embryonen zu gewinnen und
an diesen Zellen zu forschen. Es darf aber kein Embryo zu Forschungszwecken hergestellt werden. Die überzähligen
Embryonen müssen aus der künstlichen Befruchtung stammen. Die Ein- und Ausfuhr überzähliger Embryonen über die
Landesgrenze und der Handel mit überzähligen Embryonen
oder embryonalen Stammzellen sind untersagt.
EMBRYONALE STAMMZELLEN
Griechenland, Spanien, Finnland, die Niederlande und
Schweden gestatten ebenfalls die Gewinnung von Stammzellen aus überzähligen Embryonen. Belgien und Großbritannien haben die freizügigsten Regelungen bezüglich der
Stammzellforschung. In beiden Ländern ist es nicht nur erlaubt im Land selbst Stammzellen aus überzähligen Embryonen zu gewinnen. Es dürfen auch menschliche Embryonen
zur Erforschung von Therapien für sehr schwere Krankheiten
genutzt werden, die durch Zellkerntransfer hergestellt wurden (therapeutisches Klonen). Allerdings muss in Großbritannien dafür eine Lizenz bei der British Human Fertilisation and
Embryology Authority eingeholt werden. Bis zum Dezember
2004 wurde nur eine solche Lizenz, auf ein Jahr befristet,
einem Forscherteam in Newcastle erteilt.
Stammzelllabor in Korea
gesetzes verfügbaren humanen embryonalen Stammzellen
sind für die derzeitige Grundlagenforschung ausreichend
geeignet. Wie bei allen Regelungen wissenschaftlicher Sachverhalte muss aber die weitere wissenschaftliche Entwicklung aufmerksam verfolgt und sorgfältig geprüft werden, ob
und inwieweit neue wissenschaftliche Ergebnisse, insbesondere neue Perspektiven für die medizinische Therapie, in der
Zukunft zu neuen Abwägungen führen.
Im internationalen Vergleich ist hinsichtlich Existenz und
materiellem Gehalt vorhandener Regelungen beziehungsweise etablierter Standards eine große Heterogenität festzustellen. Dennoch ist in den letzten Jahren eine zunehmende
Tendenz zur Etablierung spezialgesetzlicher Normen für
diese Bereiche zu erkennen, die überwiegend unter
bestimmten Voraussetzungen auch eine fremdnützige Forschung an menschlichen Embryonen zulassen.
So ist zum Beispiel in Frankreich nach der im August 2004 in
Kraft getretenen Novelle der Bioethik-Gesetze die Forschung
an überzähligen Embryonen – also auch die Gewinnung von
Stammzellen – und an embryonalen Zellen ausnahmsweise
und für einen Zeitraum von fünf Jahren unter bestimmten
Voraussetzungen nach Genehmigung durch eine zentrale
staatliche Behörde zulässig. Die Einfuhr embryonaler Zellen
und Gewebe zu Forschungszwecken ist nach Genehmigung
durch die Behörde ebenfalls zulässig.
Bei der EU-Förderung durch das 6. Forschungsrahmenprogramm sind zentrale bioethische Leitlinien für die Finanzierung biowissenschaftlicher Forschungsarbeiten festgeschrieben. So werden Forschungsarbeiten zum reproduktiven
Klonen, zur Keimbahnintervention und zur Züchtung
menschlicher Embryonen zu Forschungszwecken einschließlich des therapeutischen Klonens nicht aus EU-Mitteln finanziert. Allerdings konnte auf EU-Ebene keine endgültige Verständigung darüber erzielt werden, wie man mit der
Stammzell-Unternehmen in Korea
34
embryonalen Stammzellforschung umgeht. Denn nach den
geltenden Regelungen können mit EU-Mitteln alle aktuell
verfügbaren embryonalen Stammzelllinien in Forschungsprojekten verwandt werden – ohne dabei einen bestimmten
Stichtag berücksichtigen zu müssen, bis zu dem die Stammzellen erzeugt wurde, wie von Deutschland mit anderen Mitgliedstaaten in den Verhandlungen gefordert. Doch hat das
Kabinett der alten EU-Kommission im Februar 2004 in Ergänzung zu den rechtlich bindenden Vorgaben intern beschlossen, die Gewinnung von Stammzellen aus überzähligen
Embryonen ebenfalls nicht mit EU-Mitteln zu fördern. Ein
Antrag auf Forschungsförderung durch die EU muss
zunächst einer wissenschaftlichen Gutachterkommission
vorgelegt werden. Daraufhin wird er von einer Ethik-Kommission bewertet, bevor er dem Programmausschuss der EU
zur Förderung vorgeschlagen wird. Ob ein solcher Antrag
angenommen wird oder nicht, darauf können die Mitgliedsstaaten Einfluss nehmen, die gegebenenfalls mit einer qualifizierten Mehrheit die Förderung eines Projektes letztlich
unterbinden können. Die Antragsteller müssen sich bei der
Durchführung der Projekte an die in ihrem Land jeweils geltenden Gesetze halten. Bis Dezember 2004 sind von der EU
zwei Projekte mit menschlichen embryonalen Stammzellen
zur Förderung bewilligt worden. In beiden Projekten wird
mit Stammzellen gearbeitet, die vor dem deutschen Stichtag
gewonnen wurden.
Auch mit Blick auf das therapeutische Klonen, also die Herstellung eines geklonten menschlichen Embryos zum Zweck
der Stammzellgewinnung, hat sich Deutschland mit den
meisten anderen europäischen Ländern wie zum Beispiel
Frankreich, Italien, Schweiz und Norwegen, für ein generelles Verbot entschieden. In Großbritannien und Belgien ist
hingegen das therapeutische Klonen unter Auflagen erlaubt;
damit vergleichbare Regelungen gelten auch in Israel, China
und Singapur. In den USA gibt es keine einheitliche bundesstaatliche gesetzliche Regelung. Das therapeutische Klonen
ist in einigen Bundesstaaten erlaubt, in anderen verboten.
Aus Bundesmitteln ist eine Förderung der Embryonenforschung nicht zulässig; bezüglich der embryonalen Stammzellforschung hat Präsident Bush am 09.08.2001 entschieden,
dass aus Bundesmitteln nur solche Stammzellforschung
gefördert werden darf, bei der mit embryonalen Stammzellen gearbeitet wird, die aus überzähligen Embryonen vor
dem 09.08.2001 gewonnen wurden. Die förderfähigen
Stammzelllinien sind in einem Register der NIH aufgelistet.
Der US-Bundesstaat Kalifornien beschloss im November 2004
eine Initiative zur Förderung der Stammzellforschung, für
die in den kommenden zehn Jahren drei Mrd. US$ zur Verfügung stehen werden, ähnliche Initiativen gibt es auch in
anderen Bundesstaaten.
Internationale Situation EMBRYONALE STAMMZELLEN
Gesetz zur Sicherstellung des
Embryonenschutzes im Zusammenhang mit Einfuhr und Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen
(Stammzellgesetz)
StZG vom 28. Juni 2002
§ 4 Einfuhr und Verwendung embryonaler Stammzellen
(1) Die Einfuhr und die Verwendung embryonaler Stammzellen ist verboten.
(2) Abweichend von Absatz 1 sind die Einfuhr und
die Verwendung embryonaler Stammzellen zu
Forschungszwecken unter den in § 6 genannten
Voraussetzungen zulässig, wenn
1. zur Überzeugung der Genehmigungsbehörde
feststeht, dass
a) die embryonalen Stammzellen in Übereinstimmung mit der Rechtslage im Herkunftsland dort vor dem 1. Januar 2002 gewonnen
wurden und in Kultur gehalten werden oder im
Anschluss daran kryokonserviert gelagert werden (embryonale Stammzell-Linie),
b) die Embryonen, aus denen sie gewonnen
wurden, im Wege der medizinisch unterstützten extrakorporalen Befruchtung zum Zwecke
der Herbeiführung einer Schwangerschaft
erzeugt worden sind, sie endgültig nicht mehr
für diesen Zweck verwendet wurden und keine
Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass dies aus
Gründen erfolgte, die an den Embryonen selbst
liegen,
c) für die Überlassung der Embryonen zur
Stammzellgewinnung kein Entgelt oder sonstiger geldwerter Vorteil gewährt oder versprochen wurde und
2. der Einfuhr oder Verwendung der embryonalen Stammzellen sonstige gesetzliche Vorschriften, insbesondere solche des Embryonenschutzgesetzes, nicht entgegenstehen.
(3) Die Genehmigung ist zu versagen, wenn die
Gewinnung der embryonalen Stammzellen
offensichtlich im Widerspruch zu tragenden
Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung
erfolgt ist. Die Versagung kann nicht damit
begründet werden, dass die Stammzellen aus
menschlichen Embryonen gewonnen wurden.
FÖRDERAKTIVITÄTEN Förderung des For t schrit t s
35
Nationale und internationale
Förderaktivitäten
Einige Industrieländer investieren bereits große Summen
in die Entwicklung der Regenerativen Medizin. In Asien
setzt man besonders auf die Stammzellforschung. Die
Bundesregierung und einige Bundesländer fördern die
Grundlagenforschung und die Umsetzung ihrer Ergebnisse in medizinische Produkte und Verfahren.
Die Regenerative Medizin befindet sich überwiegend im Stadium der Grundlagenforschung. Erst wenige Entwicklungen
aus dem Tissue Engineering sind bis zur kommerziellen
Anwendung gereift. Der Weg zum Markt ist lang, riskant und
kostspielig. In dieser typischen Frühphase einer Hochtechnologie kommt es entscheidend auf die Unterstützung auch aus
öffentlichen Quellen an. Forschung ist eine gesamtgesellschaftliche Investition. Eine positive Bilanz kann man oft
erst nach Jahrzehnten ziehen, wenn neue Technologien und
engagiertes Unternehmertum prosperierende Industrien
hervorgebracht haben, die meistens auch eine gesunde Peripherie von Zulieferern und Dienstleistern umgibt. Computerindustrie, Maschinen- und Flugzeugbau, die der Halbleitertechnik und der Materialforschung wesentliche Impulse
verdanken, sind hier Paradebeispiele. Ähnlich verhält es sich
mit der Pharmaindustrie, wo die Gentechnik für Nachschub
an Innovationen sorgt – Stichwort Insulin.
Abgesehen von den positiven Wirkungen auf Produktivität,
Arbeitsmarkt und damit für den Wohlstand einer Gesellschaft, fällt beim medizinischen Fortschritt auch ein hoher
Gewinn an Lebensqualität und -jahren ins Gewicht. Hier kann
die Regenerative Medizin entscheidende Beiträge leisten. In
vielen Industrieländern gibt es deshalb Programme zur Förderung der Forschung auf diesem Gebiet. Die Vereinigten
Staaten, Großbritannien, Frankreich, Schweden aber auch
China und Südkorea investieren große Summen. China und
Südkorea setzten dabei besonders auf die Stammzellforschung, die dort an einzelnen Zentren konzentriert ist. Der
internationale Wettbewerb zwingt auch die Mitgliedstaaten
der EU zu größeren gemeinsamen Anstrengungen. Deutschland und andere Mitgliedstaaten haben deshalb die stärkere
Berücksichtigung des Themas Regenerative Medizin im kommenden 7. EU-Forschungsrahmenprogramm (2006-2010)
vorgeschlagen.
In Deutschland unterstützten die Bundesregierung und einige Länder Forschungsprojekte und Initiativen im Bereich der
Regenerativen Medizin. Der Beitrag aus der molekularbiologischen Grundlagenforschung wird hauptsächlich über die
Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) und die MaxPlanck-Gesellschaft (MPG) aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) finanziert. Anwendungsnähere Fragestellungen der Regenerativen Medizin
bearbeiten auch Institute der Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren (HGF) und der Fraunhofer-Gesellschaft (FhG).
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF)
fördert die Umsetzung innovativer Forschungsergebnisse in
medizinische Produkte oder Verfahren. Die Förderung soll
dazu beitragen, den Weg von der Grundlagenforschung in
die medizinische Anwendung zu beschleunigen. Die dafür
notwendige enge Kooperation zwischen akademischen,
industriellen und klinischen Partnern wird durch maßgeschneiderte Programme unterstützt: Verbundprojekte im
Schwerpunkt „Tissue Engineering” des BMBF-Förderprogramms Biotechnologie ebenso wie die Vorhaben in den
Schwerpunkten „Biologischer Organfunktionsersatz” und
„Zellbasierte regenerative Medizin” des Gesundheitsforschungsprogramms. Über das BMBF-Gesundheitsforschungsprogramm werden auch „Kompetenzzentren für Medizintechnik” finanziert, die interdisziplinär Projekte aus der
Regenerativen Medizin bearbeiten. Das Thema findet sich
außerdem in zueinander komplementären Programmen zur
Zusammenarbeit in der klinischen Forschung, zur Unterstützung von jungen Unternehmen (BioChancePLUS und in
der Profilbildung der Bioregionen) und zur Förderung von
wissenschaftlichem Nachwuchs. Nicht zuletzt dank dieser
Maßnahmen sind rund 40 kleine und mittlere Unternehmen
(KMU) entstanden, die im Tissue-Engineering-Sektor aktiv
sind und Arbeitsplätze für hochqualifizierte Mitarbeiter
bieten.
36
ZULASSUNG VON TE-PRODUKTEN
Die Zulassung von Tissue-EngineeringProdukten
Die Zulassung von Tissue-Engineering-Produkten ist weltweit sehr uneinheitlich geregelt. Dabei ergeben sich aus
ihrem Hybridcharakter – einerseits medizintechnisches
Gerät wegen der Trägermaterialien, andererseits Medikament auf Grund der therapeutisch aktiven Zellen und
Wachstumsfaktoren – oft Klassifizierungsprobleme.
Ein großes Hindernis für die erfolgreiche Vermarktung von
Tissue-Engineering-Produkten bleibt die unübersichtliche
Regulierung der Zulassung sowohl in den USA als auch in der
EU. Sie ist auch auf die schwierige Eingruppierung in bereits
regulierte Produktklassen zurückzuführen, da Tissue-Engineering-Produkte gleichzeitig Charakteristika von Transplantaten, Biopharmazeutika (biologics) und Medizinprodukten (medical devices) aufweisen können.
Bei der amerikanischen FDA sind zur Zeit sowohl das Center
for Biologics Evaluation and Research (CBER) als auch das
Center for Devices and Radiological Health (CDRH) zustänFDA-Website
dig. In die CBER-Zuständigkeit fallen Gewebetransplantate
und Xenotransplantate aber keine humanen Organe. Auch
Tissue-Engineering-Produkte der „dritten Generation", die
zum Beispiel Zytokine aus bioaktiven Matrices sekretieren,
werden vom CBER geprüft. Unter CDRH-Zuständigkeit fallen
zum Beispiel Herzschrittmacher, Kontaktlinsen und Medikamentenpumpen. Die zwei FDA-Einheiten haben eine tissue
reference group eingerichtet. In der gegenwärtigen
Umstrukturierung der FDA zeichnet sich folgende Produktklassifizierung ab: Gewebe für Transplantationen einerseits
und Zell- und Gewebebasierte Produkte (C&TPs) andererseits.
Letztere bereiten aber immer noch Probleme bei der Zuordnung. Nach der 'FDA Modernisation Act 2002' wird es ein
Office of Combination Products geben, das in Kooperation
mit den Antragstellern für eine Einteilung mit interagency
consistency sorgen soll. Richtlinien für good tissue practice
sind in Vorbereitung.
In Europa sind Tissue-Engineering-Produkte bislang in den
EU-Mitgliedstaaten nach jeweils unterschiedlichen Verfahren zugelassen worden. Ein „consultation paper“ der EUKommission für einen harmonisierten Rechtsrahmen für
Tissue-Engineering-Produkte vom 6. April 2004 schlägt die
künftig zentralisierte Zulassung von allogenen Tissue-Engineering-Produkten durch die europäische Zulassungsbehörde EMEA vor, wobei autologe Gewebeprodukte weiterhin
unter nationale Zulassung fallen würden. Produkte tierischen Ursprungs und Produkte für die somatische Zelltherapie sind in die Regelungen nicht eingeschlossen. Die EU ließe
nach dem genannten Vorschlagspapier Tissue-EngineeringProdukte, die rekombinante Proteine enthielten, als Medizinprodukte zu, sofern das Protein nur Hilfsfunktion hat. In
Deutschland bedürfen autologe Produkte nur einer Herstellungserlaubnis nach dem Arzneimittelgesetz (AMG). Darüber
hinaus verlangen Krankenkassen klinische Studien als Wirksamkeits- und Kosteneffizienznachweis, bevor möglicherweise eine Kostenerstattung in Frage kommt (siehe Seite 42).
In den USA waren Ende 2004 fünf Tissue-Engineering-Produkte zugelassen, eines davon als medical device und vier als
biologics. In der EU waren zum gleichen Zeitpunkt 20 Hautersatz- (davon 15 autologe), 15 Knorpelersatz- (alle autolog),
und zwei autologe Knochenersatzprodukte auf dem Markt.
In Japan gab es 18 Tissue-Engineering-Unternehmen, aber
noch kein Tissue-Engineering-Produkt auf dem Markt. In
Korea waren zwei Produkte auf dem Markt.
ZULASSUNG VON TE-PRODUKTEN Fallbeispiel
Fallbeispiel für die Zulassung eines TE-Produkts
Das Produkt: Matrix-P-xenogene Pulmonalklappe vom Schwein.
Es handelt sich um Schweinepulmonalklappen, die in einem patentierten Verfahren vollständig von lebenden Zellen und Erbmaterial befreit wurden, um bei operativen Eingriffen entnommene oder angeboren missgebildete Pulmonalklappen physiologisch zu ersetzen.
Das Verfahren
Zertifizierung: Das Produkt ist in der EU als Medizinprodukt zugelassen. Zuständig als übergeordnete Behörde ist das deutsche Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) in Bonn. Die Zertifizierung selbst erfolgte über eine
benannte Stelle; in diesem Fall durch den TÜV Rheinland. Voraussetzung der Zulassung war ein validiertes Sterilisationsverfahren bei der Herstellung des Produktes.
Validierung: Ein Labor für „Funktions- und Sicherheitsprüfungen für Medizinprodukte", welches von der Zentralstelle der
Länder für Gesundheitsschutz bei Arzneimitteln und Medizinprodukten (ZLG) akkreditiert ist, übernahm die Validierung.
Die umfangreiche technische Dokumentation des Produktes sowie seiner Herstellung wurde schließlich abgenommen. Die
anmeldende Firma musste unter anderem das Vorhandensein eines Qualitätsmanagements gemäß DIN EN ISO 9001:2000
sowie den besonderen Anforderungen für Medizinprodukte nach DIN EN ISO 13485:2000(2003) nachweisen, um die gesetzlichen Voraussetzungen des Medizinproduktegesetzes (MPG) zu erfüllen.
Zulassung: CE-Zertifikate sind EU-weit gültig, müssen aber vom Vertreiber im jeweiligen Mitgliedstaat angemeldet werden.
Die Zulassungsprozess dauerte nur zwei Jahre und erforderte externe Dienstleistungen durch Beratungsgesellschaften. Allein
die Validierung des Sterilisationsverfahrens kostete einen fünfstelligen Betrag. Für die Einrichtung des Qualitätsmanagements
wurde eine ganze Personalstelle für etwa eineinhalb Jahre benötigt.
Gegenwärtig laufen Marketing-Aktivitäten des Unternehmens, das Produkt ist in einer Großklinik bereits im Einsatz.
37
38
Interview mit
Prof. Gleiter
INTERVIEW
unbedingt beachtet und so weit als möglich ausgeschlossen
werden müssen.
Zum anderen wird aber auch die Erfüllung von Erwartungen
eingefordert, wenn Patienten mit TE-Produkten behandelt
werden. Dazu zählen die Therapiemöglichkeit von bisher
nicht oder nur unbefriedigend behandelbaren Erkrankungen (zum Beispiel Ersatz von Herzmuskelgewebe nach einem
Infarkt), die – im Gegensatz zu Organen für eine Transplantation – zeitgerechte und nicht eingeschränkte Verfügbarkeit
von solchen Produkten oder auch die Verbesserung der Verträglichkeit einer Behandlung, zum Beispiel die Vermeidung
einer lebenslangen Therapie gegen eine mögliche Abstoßung.
WORIN UNTERSCHEIDEN SICH MIT
BLICK AUF DIE ZULASSUNG IN
DEUTSCHLAND TISSUE-ENGINEERINGPRODUKTE VON MEDIKAMENTEN?
Prof. Dr. Christoph Gleiter, Geschäftsführer des
Koordinierungszentrums Klinische Studien am
Universitätsklinikum Tübingen
Das Koordinierungszentrum Klinische Studien am Universitätsklinikum Tübingen (KKS-UKT gGmbH) wurde im Jahr
2000 als Tochtergesellschaft des Universitätsklinikums Tübingen gegründet. Das Unternehmen wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und dem Land
Baden-Württemberg unterstützt. Die Förderer haben das
Ziel, durch strukturelle Maßnahmen an den Hochschulen die
Qualität klinischer Forschung zu verbessern. Die KKS-UKT
gGmbH schafft bei Planung, Vorbereitung, Durchführung und
Auswertung von multizentrischen klinischen Studien die Voraussetzungen für die Einhaltung internationaler Standards
wie etwa den „Good Clinical Practice"-Leitlinien (GCP-ICH).
WELCHE ANFORDERUNGEN STELLEN
MEDIZINER AN TISSUE-ENGINEERINGPRODUKTE?
Zum einen handelt es sich um grundlegende Forderungen in
Bezug auf Qualität und Sicherheit der verwendeten TE-Produkte. Produktversagen, produktbedingte Infektionen oder
auch Entartung der im Produkt verwendeten Zellen sind
mögliche Risiken bei einer Therapie mit TE-Produkten, die
Entsprechend den Definitionen des Arzneimittelgesetzes
zählen TE-Produkte in Deutschland derzeit zu den Arzneimitteln. Mit Blick auf die Zulassung gelten für diese Produkte
somit dieselben Regeln wie für Medikamente. Je nachdem
welcher Zelltyp bei der Herstellung von TE-Produkten verwendet wird handelt es sich um ein Individualarzneimittel
oder um ein Fertigarzneimittel.
So gibt es TE-Produkte, deren Grundlage Zellen sind, die entweder vom Empfänger eines TE-Produkts selbst stammen
(autologe Zellen) oder in Kenntnis des zukünftigen Empfängers einem geeigneten Spender entnommen wurden (gerichtete allogene Zellen). Die mit solchen Zellen produzierten TEProdukte werden individuell für einen Patienten hergestellt,
sind also Individualarzneimittel und brauchen nach dem
Arzneimittelgesetz keine Zulassung für den therapeutischen
Einsatz.
Außerdem gibt es TE-Produkte, die mit humanen (allogenen)
oder nicht humanen (xenogenen) Zellen sozusagen auf Vorrat (ohne Kenntnis von Empfängermerkmalen) hergestellt
werden. Diese Produkte entsprechen der Definition eines Fertigarzneimittels nach dem Arzneimittelgesetz. In diesem Fall
müssen die Produkte vor ihrem therapeutischen Einsatz
zugelassen werden und dabei sämtliche zulassungsrelevanten Anforderungen erfüllen wie andere Arzneimittel auch.
Unabhängig davon, ob ein TE-Produkt für den therapeutischen Einsatz eine Zulassung benötigt oder nicht, muss der
Hersteller eine Herstellungserlaubnis von Seiten der Überwachungsbehörden einholen. Damit ist sichergestellt, dass das
TE- Produkt nach den Regeln der Guten Herstellungspraxis
(good manufacturing practice, GMP) produziert wird und ein
größtmögliches Maß an Qualität und Sicherheit für den
Patienten gewährleistet ist.
Der gesetzliche Status von TE-Produkten wird sich voraussichtlich noch im Jahr 2005 ändern. Derzeit wird von der
INTERVIEW
Europäischen Kommission eine Verordnung vorbereitet, mit
der TE-Produkte als Produktgruppe sui generis (Lex specialis)
direkt der europäischen Gesetzgebung unterstellt werden.
Damit wird der spezifischen Wirkungsweise von TE-Produkten entsprochen, die mit einer im wesentlichen struktur- und
funktionsorientierten Wirkung sich von Arzneimitteln mit
pharmakologischer, immunologischer oder metabolischer
Hauptwirkung abgrenzen lassen
39
WO SEHEN SIE DIE GRÖßTEN HINDERNISSE FÜR DEN ERFOLG DER REGENERATIVEN
MEDIZIN?
Die Herstellung und der Einsatz von innovativen, regenerativen Produkten verursachen hohe Kosten. Einsparungen
gegenüber den etablierten Therapien durch Langzeiteffekte
sind bisher nicht nachgewiesen worden. Aussagekräftige kliWELCHE ANTWORTEN SOLLEN DIE KLInische Daten, die die Wirksamkeit und Sicherheit/Verträglichkeit der Produkte belegen, stehen oftmals noch nicht in
NISCHEN STUDIEN VON TE-PRODUKTEN
ausreichendem Umfang zur Verfügung. In der Folge werden
LIEFERN?
die Kosten einer solchen Behandlung durch Selbstzahler und
Klinische Studien zum Ersteinsatz von TE-Produkten am Menin Ausnahmefällen durch private Krankenversicherungen
schen liefern Erkenntnisse zur Durchführbarkeit der Behanderstattet, nicht jedoch durch die gesetzlichen Krankenversilung mit dem Produkt beziehungsweise zur Sicherheit und
cherungen. Die Kostenerstattung für die Entwicklung und
Verträglichkeit der Behandlung und entHerstellung ist somit unzureichend.
sprechen damit den Phase-I-Studien der
Zweitens besteht auf Seiten der Patienten
„Langzeitergebnisse in
Arzneimittelentwicklung. Im Hinblick auf
und zum Teil auch der Ärzte ein Informaden regenerativen Charakter von TE-Protionsdefizit über die Möglichkeiten der Bewesentlichem Umfang
dukten sind die Studienteilnehmer allerhandlung mit innovativen regenerativen
können erst in einigen
dings ausschließlich Patienten.
Produkten, weshalb auch keine ausreichenJahren erwartet
Grundlegende Aussagen zur Wirkung und
de Nachfrage nach solchen Behandlungen
wiederum zur Sicherheit/Verträglichkeit
entsteht.
werden.”
werden in klinischen Studien gewonnen, in
Hinzu kommt, dass diese Produkte, weil sie
denen die Therapie mit einem TE-Produkt
momentan durch die nationale Gesetzgemit einer etablierten Kontrolltherapie verglichen wird. In der
bung geregelt sind, nicht unmittelbar auch europaweit
Arzneimittelentwicklung sind dies Studien der Phase II.
angeboten werden können. Der Kreis potenzieller Patienten
Den statistischen Beweis der Wirksamkeit und der Sicherheit
ist dadurch recht klein, für eine internationale Vermarktung
beziehungsweise Verträglichkeit der Behandlung mit einem
entstehen hohe Zusatzkosten durch Zulassung in jedem
TE-Produkt liefern prospektive, kontrollierte klinische StuLand.
dien mit zufälliger (randomisierter) Zuteilung der Patienten
in zwei Behandlungsgruppen sowie einer statistischen
WAS KÖNNTE MAN VERBESSERN?
Abschätzung der Anzahl notwendiger Studienteilnehmer.
Die Behandlungsgruppen sind einmal Patienten, die mit
Ein wichtige Maßnahme zur Überwindung dieser Hindereinem TE-Produkt behandelt werden, und Patienten, die eine
nisse wären mehr valide klinische Studien mit aussagekräftietablierte Kontrolltherapie erhalten. Diese Studien entspregen und überprüfbaren Ergebnissen zur Wirksamkeit einer
chen den Phase-III-Studien bei der Prüfung von ArzneimitBehandlung und zu ihrem Kosten-/Nutzenverhältnis. Dies
teln. Klinische Studien mit TE-Produkten liefern somit im
ist primär die Aufgabe der Hersteller der Produkte, die aber
wesentlichen dieselben Ergebnisse wie Studien mit etablierhäufig auf Unterstützung angewiesen sind, da es sich um
ten Therapien, zum Beispiel Arzneimittelstudien.
kleinere Firmen handelt. Daneben sind auch Studien, durchTE-Produkte werden erst seit wenigen Jahren in der Therapie
geführt von unabhängigen Dritten, sehr wünschenswert,
klinisch eingesetzt. Aus diesem Grund können Langzeiterum aus einer neutralen Position zu untersuchen, ob der Eingebnisse in wesentlichem Umfang erst in einigen Jahren
satz von innovativen regenerativen Produkten eine langfriserwartet werden.
tige Verbesserung der Patientenversorgung bringt.
WAS BRINGEN SOLCHE LANGZEITSTUDIEN, SOWOHL BEI ARZNEIMITTELN
ALS AUCH BEI TE-PRODUKTEN?
Solche Studien können über den dauerhaften Erfolg einer
Behandlung wichtige Aussagen machen, damit auch über
die Kosten-Nutzen-Relation eines solchen Therapieprinzips.
Auch die anstehende, europaweit einheitliche rechtliche
Behandlung von innovativen, regenerativen Produkten
kann den Erfolg der Regenerativen Medizin unterstützen.
Dann könnten solche Produkte in ganz Europa angeboten
werden.
40
Die Zukunf t hat schon begonnen REGENERATIVE MEDIZIN
Regenerative Medizin – die Zukunft hat
schon begonnen
Gegenwärtig steht die Erforschung der erstaunlichen
Fähigkeiten von (Stamm-)zellen bei Reparatur- und Hei-
renzierung von Stammzellen im Knochenmark Verfahren
zur Züchtung empfängerkompatibler mesenchymaler (Glossar) Stammzellen möglich werden, die dann in Zellbanken
vorgehalten werden können.
lungsprozessen im Vordergrund, aber auch noch ganz am
Anfang. Die Vision, einmal ganze Organe regenerieren zu
können, gehört in die sehr ferne Zukunft. Dass sie im Tierreich längst Realität ist, motiviert die Forscher jedoch.
In unmittelbarer Zukunft erwarten Wissenschaftler Fortschritte bei bereits etablierten Therapien. Zum Beispiel beim
Hautersatz. Bislang erfüllte die gezüchtete Haut im Wesentlichen ihre Aufgabe als Barriere zur Abschirmung des Gewebes von der Umgebung. Weiteren Anforderungen, unter
anderem an Elastizität, Narbenfreiheit, Haarwuchs und Fettung genügte sie nicht. Nun sind Hautersatzprodukte in der
Entwicklung, die das Potenzial von Vorläuferzellen nutzen,
um funktionstüchtige Ersatzhaut zu bilden. In geeigneter
Abfolge und Schichtung aufgebracht, lassen sich die Zellen
durch Wachstumsfaktoren zur Bildung von verschiedenen
Zelltypen, zum Beispiel von Haar- und Fettzellen, anregen
und ergeben schließlich einen Aufbau, der dem der natürlichen Haut nahe kommt.
Ein anderes Beispiel ist die Knochenmarktransplantation.
Hier erwartet man, dass durch das Verständnis der Ausdiffe-
Ausgangspunkt von Regenerations- und Reparaturprozessen
sind oftmals Stammzellen. Auf sie richten sich viele Hoffnungen der Regenerativen Medizin. Die Erforschung ihrer Fähigkeiten steht, wie in den vorangehenden Kapiteln ausführlich
dargestellt, noch ganz am Anfang. Hier sind aber die
Zukunftsperspektiven klar: Viel Forschung! Unzählige Fragen sind noch zu klären, denn die Experimente liefern oft
noch widersprüchliche Resultate. Häufig ist die Herkunft der
beteiligten Zellen umstritten. Sind es seltene gewebetypische
Stammzellen, sind sie sogar pluripotent? Sind Vorläuferzellen beteiligt? Entstanden sie durch Rückdifferenzierung aus
den Gewebezellen? Oder waren eingewanderte Blutstammzellen verantwortlich? Manche Gewebetypen kann man
offensichtlich in vivo nur durch den Kontakt mit anderen Zellen aus Stammzellen züchten. Bei anderen Geweben, zum
Beispiel Nerven, ist man für die Regenerierung möglicherweise auf die pluripotenten embryonalen Stammzellen angewiesen. Über diese weiß man ebenfalls noch wenig, sie sind
erst seit 1998 in vitro kultivierbar.
In vivo lassen sie sich oft durch den Transfer in das Zielgewebe zur Differenzierung stimulieren. Oftmals erinnern die Verfahren, mit denen undifferenzierte Stammzellen in vitro zur
Ausdifferenzierung in Gewebezellen veranlasst werden, an
schlichtes Ausprobieren. Zu wenig versteht man derzeit das
Zusammenspiel der an der Kommunikation beteiligten Partner. Hier kommt es auf Wachstumsfaktoren an, die in
exakten Konzentrationen einzeln oder als Cocktails in präzise „getimten” Schritten zu den Kulturen gegeben werden müssen, auf Teppiche von „Fütterzellen” (feeder cells),
die als Grundlage vorhanden sein müssen und auf die
üblichen Randbedingungen von Nährstoffkonzentrationen, Belüftung und Temperaturprofilen und so weiter.
Besondere Beachtung, in erster Linie bei embryonalen
Stammzellen, verdient angesichts des Potenzials zur unbegrenzten Teilung das Risiko der Entartung in Tumor-
Ultimatives Ziel der Regenerativen Medizin ist es, ausgefallene Gewebe und Organe, ja ganze Körperteile komplett
zu ersetzen
REGENERATIVE MEDIZIN Die Zukunf t hat schon begonnen
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zellen. Stammzellforschung und Entwicklungsbiologie liefern kontinuierlich neue Einsichten in diese überaus komplexen Prozesse. Stück für Stück fügt sich das immense Puzzle zu
einem immer deutlicheren Bild zusammen und die modernen Methoden der Genom- und Proteomforschung sorgen
hier für großen Schub. Die bereits skizzierte intensive biomedizinische Forschung zur Regeneration von Geweben und
Organen profitiert unmittelbar von dieser Grundlagenforschung.
Ultimatives Ziel der Regenerativen Medizin ist es, ausgefallene Gewebe und Organe, ja ganze Körperteile komplett
zu ersetzen. Von diesem Ziel ist die Medizin heute noch weit
entfernt. Unerreichbar ist es jedoch keineswegs. Die bereits
erwähnte Regerationsfähigkeit unserer Leber und die stetige
Neubildung von Blutzellen unterstützen diese Annahme und
die Natur liefert zahlreiche beeindruckende Beispiele. Wer
hat nicht selbst schon in kleinkindlichem Forscherdrang
Regenwürmer zerteilt? Meistens ohne zu ahnen, dass einige
der Teile wieder zu kompletten Tieren regenerieren können.
Auch weiter aufwärts im Stammbaum der Evolution, bei
Schneckenarten und Weichtieren, findet man Arten, die
große Körperteile ersetzen können. Noch eindrucksvoller
Axolotl
sind die Beispiele unter den Wirbeltieren: Haifische, denen
ausgefallene Zähne während des gesamten Lebens nachwachsen oder Eidechsen, die ihren Verfolgern den windenden Schwanz als Beute überlassen und „heil” davonkommen.
Besonderer Aufmerksamkeit der Forscher erfreut sich zur
Zeit ein urtümlich aussehendes Amphibium, der Axolotl aus
dem Xochimilco-See in Mexiko. Der Lurch verblüfft mit der
Fähigkeit, abgetrennte Gliedmaßen, Augen, sogar Teile des
Herzens komplett regenerieren zu können. Am Max-PlanckInstitut für molekulare Zellbiologie und Genetik in Dresden
versucht man intensiv, dieses Geheimnis zu lüften, um sie
dereinst für die Medizin zu nutzen. Die Aufgabe ist sehr
Durchsichtig wie Glas erscheint der Schwanz eines jungen Axolotl beim Blick durch ein Mikroskop. Gut ist sichtbar ist die Segmentierung des knorpelartigen Rückgrats
schwierig und viel ist noch über die komplizierte Kommunikation zwischen den Zellen zu lernen, mit der die dafür notwendigen Signale zur Teilung, Zellwanderung, Ausdifferenzierung, Apoptose und so weiter ausgetauscht werden.
Wenn die molekulare Identität der Botenstoffe bekannt ist,
kann man untersuchen, ob menschliche Zellen die gleichen
Signale erkennen. Unwahrscheinlich ist es nicht, dass die
Reparaturmechanismen alte Erfindungen der Natur sind, so
dass sie auch bei Menschen und Säugetieren ablaufen könnten, die sie im Laufe der 350 Millionen Jahren seit der Trennung der gemeinsamen Vorfahren aufgegeben haben. Die
Dresdner Forscher fanden bereits heraus, dass die Blutgerinnung den Startschuss für die Regeneration des verletzten
Gewebes gibt, wobei ein Hormon freigesetzt wird, dass Reparaturzellen zum Ort der Verletzung lockt.
Die wichtigste Quelle für neue Einblicke in die Reparaturmechanismen ist die Entwicklungsbiologie. Sowohl bei der Entwicklung von Organismen als auch aus Entartungsprozessen
kann man viel über die Bildung von Geweben und ihre Heilung lernen. Experimente der Entwicklungsbiologen deuten
zum Beispiel darauf hin, dass embryonale Zellen bereits sehr
früh, das heißt schon ab dem 10.000-Zellstadium „wissen” zu
welchem Organ sie später gehören werden – ihre Rolle ist
bereits festgelegt. Die frühe Programmierung könnte auch
erklären, warum die Regenerationsfähigkeit von vielen
Gewebetypen höherer Tierarten begrenzt ist und warum
man bei ausgewachsenen Säugern sogar Signalstoffe findet,
die die Neubildung von Nervengewebe unterdrücken.
Viel versprechend ist die Forschung an Entwicklungsprozessen, die in späten Phasen stattfinden. Zum Beispiel die Zahnbildung. Sie ist im Organismus genetisch angelegt, wird aber
erst in späteren Stadien der Entwicklung gestartet. Das exakte Zusammenspiel vieler Faktoren in der Mikroumgebung
des Kieferknochens, von Zellpopulationen und Zell-Zell-Kon-
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Die Zukunf t hat schon begonnen REGENERATIVE MEDIZIN
reine Zukunftsmusik. Die bereits auf dem Markt befindlichen
Produkte zum Haut- und Knorpelersatz haben es schwer.
Hier gibt es geringere Fallzahlen und Marktvolumina und
zudem starke Konkurrenz durch etablierte Verfahren.
Das Potenzial zur Bildung von Zähnen ist bei Stammzellen, aber
auch bei den Zellen des abgebildeten Tumors vorhanden
Es muss noch Überzeugungsarbeit geleistet werden. Warum
sollte ein orthopädischer Chirurg über gezüchteten Knorpelersatz nachdenken, wenn er künstliche Gelenke einbauen
kann? Warum autologe Herzklappen einbauen, wenn es
doch mechanische gibt? Weshalb sollten Herzchirurgen
Stammzelltherapien zur Behandlung von Arhythmien erwägen, wenn doch Herzschrittmacher zur Verfügung stehen?
Die offensichtlichen Vorteile dieser Innovationen liegen
nicht immer in der unmittelbaren Anwendung. Erst ihr langfristiger Effekt macht oft den großen Unterschied: Prothesen
wie künstliche Gelenke und Herzschrittmacher müssen in
regelmäßigen Intervallen gewartet und ausgetauscht werden. Das bedeutet Folgekosten und Beeinträchtigung der
takten, von Signalstoffen und ihren Konzentrationsveränderungen bestimmt dabei, ob sich Zähne bilden. Die Tatsache,
dass bei manchen ausgewachsenen Säugetieren – sehr selten
auch beim Menschen – mehr als zweimal Zähne gebildet werden, ermutigt die Forscher, diese Vorgänge
genau aufzuklären, um den Prozess später
gezielt auszulösen. Britische Forscher konnten
im Tierversuch
zeigen, dass miteinander in Kontakt stehende
embryonale Mundepithelzellen und Mesenchymzellen sowohl adulte als auch embryonale Stammzellen zur Aktivierung von Genen
stimulieren, die für die Zahnbildung charakteristisch sind. Nach Transplantation in Nierengewebe bildeten sie Zahnstrukturen und Knochengewebe. Wurden embryonale Zahnanlagen in die Kieferknochen ausgewachsener
Tiere transplantiert, wuchsen sie dort zu Zähnen heran. Für Euphorie ist es aber viel zu früh.
Nur zu oft haben sich Resultate aus MäuseexIn vielen Fällen muss das Tissue Engineering mit etablierten Verfahren konkurrieren,
perimenten beim Menschen nur auf Umwegen
wie zum Beispiel hier mit künstlichen Kniegelenken
oder gar nicht wiederholen lassen.
Lebensqualität der Patienten. Transplantierte Ersatzgewebe
Wird sich die Regenerative Medizin
sind hier deutlich vorteilhafter. Es entfielen die Folgeoperadurchsetzen?
tionen und die Kostenbelastung über den gesamten Zeitraum wäre geringer. Die Kostenträger im Gesundheitswesen
Unbestritten hat die Regenerative Medizin ein großes Potenorientieren sich natürlich an den Belastungen der aktuellen
zial, nicht nur therapeutisch, sondern auch wirtschaftlich.
Budgets. Daher ist die Bereitschaft nicht hoch innovative
Das gilt besonders für Therapien, zu denen es keine AlternatiTherapien zu unterstützen, die zunächst recht teuer sind.
ve gibt. Die Aussicht, zum Beispiel einmal Diabetespatienten
Die ausbleibende Erstattung wird so zu einem Problem für
kurieren zu können, bedeutet neben dem unschätzbaren
die Entwicklung neuer Produkte. Solange keine Einnahmen
Gewinn an Lebensqualität für die Betroffenen eine immense
in Sicht sind, zögern die Investoren, weiterhin Geld in die
Entlastung des Gesundheitssystems und der Volkswirtschaft.
meist kleinen Unternehmen zu stecken. Allein in DeutschFür die USA allein summieren sich die direkten (92 Mrd. US$)
land betrifft das rund 40 Unternehmen. Am langfristigen
und indirekten Kosten (132 Md. US$) durch die chronische
Erfolg der Regenerativen Medizin zweifelt niemand. Doch
Krankheit auf stolze 224 Milliarden US$ pro Jahr. In ähnliche
darauf zu warten, dass dereinst ein spektakulärer Erfolg bei
Dimensionen der Kostensenkung stieße man bei gezüchteder Therapie einer der großen Volkskrankheiten der Regeneratem Nierenersatz oder mit der Heilung von neurodegeneratitiven Medizin insgesamt zum Durchbruch verhelfen wird, ist
ven Erkrankungen. Aber noch sind diese Therapieansätze
sicher keine Strategie für das Überleben der jungen Branche.
GLOSSAR
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Glossar
a l l o g e n e Z e l l e n / G e w e b e von Fremden stammende Zellen/ Gewebe
A r t h r o s e degenerative Gelenkerkrankung verschiedenster Ursache
A s t r o z y t e n Zellen des Nervengewebes mit sternförmigen Fortsätzen, gehören wie Oligoendrozyten zu den Gliazellen
a u t o l o g e Z e l l e n / G e w e b e vom Patienten selbst stammende Zellen/ Gewebe
C h o n d r o z y t e n Knorpelzellen
D i f f e r e n z i e r u n g Ausbildung von gewebetypischen Zellmerkmalen im Verlauf der Reifung unspezifischer Stamm- und Vorläuferzellen
E l a s t i n Hauptbestandteil des elastischen Bindegewebes
E n d o t h e l einlagige Zellschicht der Gefäßwände
E p i t h e l , e p i t h e l i a l Gewebe, das aus einer oder mehreren Schichten von fast lückenlos zusammengefügten Epithelzellen
besteht und keine Gefäße enthält
e x v i v o außerhalb des Körpers
E x p r e s s i o n hier: Produktion von Proteinen entsprechend der zugehörigen Gensequenzen
e x t r a c o r p o r a l außerhalb des Körpers
F DA Food and Drug Administration, US-amerikanische Zulasungsbehörde für Arzneimittel, Medizinprodukte und transgene
Nahrungsmittel
F i b r i n "Blutfaserstoff", der bei der Blutgerinnung entsteht
F i b r o b l a s t e n dem Mesenchym entstammende Zellen, an der Bildung von Interzellularsubstanz des Bindegewebes (Grund-,
Kittsubstanz, Bindegewebsfasern) beteiligt, werden danach zu Fibrozyten
F i b r o s e krankhafte Bindegewebsvermehrung in Organen
G l i a z e l l e n Zellen des Nervengewebes. Sie bilden das Zellgewebe, das die Räume zwischen Nervenzellen und Blutgefäßen ausfüllt. Sie bilden die Markscheiden und üben Stütz-, Nähr- und Phagozytosefunktionen aus
h ä m a t o p o e t i s c h blutbildend
i n v i t r o im Glas
i n v i v o im lebenden Organismus
K e r a t i n o z y t e n Keratin-bildende Zellen der Haut. Keratin ist Hauptbestandteil der Hornsubstanzen von Haut, Haaren und
Nägeln
M a k r o p h a g e n Zelltyp des Immunsystems, M. haben eine Schlüsselfunktion bei der Immunantwort, wo sie u.a. Killerzellen
aktivieren
M a t r i x , p l . m a t r i c e s Trägermaterial mit vorgegebener räumlicher Struktur
M e s a n g i u m , m e s a n g i a l stützendes Bindegewebe der Kapillarschleifen der Niere
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GLOSSAR
Mesenchym, mesenchymal
Muttergewebe des Bindegewebes. Gewebe aus sternförmig verzweigten, locker zu einem
dreidimensionalen Gitter angeordneten Zellen
M u l t i p o t e n z , m u l t i p o t e n t Eigenschaft von organ-assoziierten Stammzellen, sich in unterschiedliche Zelltypen des
Organs entwickeln zu können. Siehe dazu Seite 11
N e u r o n e n Für die Signalleitung im Nervensystem verantwortliche Nervenzellen. Sie verfügen überlange Fortsätze (Axons) und
sind nicht mehr vermehrungsfähig
N I H National Institutes of Health (USA)
O l i g o d e n d r o z y t e n Kleine und wenig verzweigte Gliazellen. Sie bilden als „Satellitenzellen“ der Nervenzellen die Markscheiden. s.a. Astrozyten
O s t e o b l a s t e n „Knochenmutterzelle” mesenchymalen Ursprungs; werden nach Abschluss des Knochenaufbaus zu Osteozyten.
P l u r i p o t e n z , p l u r i p o t e n t Potenzial von embryonalen Stammzellen, sich unter verschiedenen Bedingungen in Zelltypen verschiedener Organe zu differenzieren. Siehe dazu Seite 11
P r o l i f e r a t i o n Zellteilung und -vermehrung
S t r o m a z e l l e n Stromazellen des Knochenmarks sind wichtig für Proliferation und Differenzierung hämatopoetischer Stammund Vorläuferzellen (s. Abb. auf Seite 10). Sie unterstützen über die Ausbildung einer Matrix, die Expression von Adhäsionsmolekülen und die Herstellung von Zytokinen den ordnungsgemäßen Ablauf der Blutbildung. Sie produzieren den so sogenannten Stammzellfaktor (stem cell factor)
To t i p o t e n z , t o t i p o t e n t Eigenschaft früher Embryonalzellen (meistens bis zum 8-Zellstadium) sich auch nach Abtrennung vom Embryo zu einem kompletten Organismus entwickeln zu können. Siehe dazu Seite 11
X e n o t r a n s p l a n t a t Transplantat aus tierischen Zellen
Z i r r h o s e Sammelbegriff für Lebererkrankungen, verbunden mit Veränderung der Läppchenstruktur und Knotenbildung
Z y t o k i n e Signalstoffe der Zell-Zell-Kommunikation, die während der Immunantwort freigesetzt werden, z.B. Interleukine und
Interferone
Z y t o s t a t i k u m Wirkstoff, der die Zellteilungsaktivität stoppt
Diese Druckschrift wird im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit vom Bundesministerium für Bildung und Forschung unentgeltlich abgegeben. Sie ist nicht zum
gewerblichen Vertrieb bestimmt. Sie darf weder von Parteien noch von Wahlwerberinnen/Wahlwerbern oder Wahlhelferinnen/Wahlhelfern während eines
Wahlkampfes zum Zweck der Wahlwerbung verwendet werden. Dies gilt
für Bundestags-, Landtags- und Kommunalwahlen sowie für Wahlen zum
Europäischen Parlament.
Missbräuchlich ist insbesondere die Verteilung auf Wahlveranstaltungen und an
Informationsständen der Parteien sowie das Einlegen, Aufdrucken oder Aufkleben
parteipolitischer Informationen oder Werbemittel. Untersagt ist gleichfalls die
Weitergabe an Dritte zum Zwecke der Wahlwerbung.
Unabhängig davon, wann, auf welchem Weg und in welcher Anzahl diese Schrift
der Empfängerin/dem Empfänger zugegangen ist, darf sie auch ohne zeitlichen
Bezug zu einer bevorstehenden Wahl nicht in einer Weise verwendet werden, die
als Parteinahme der Bundesregierung zugunsten einzelner politischer Gruppen
verstanden werden könnte.
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