Leseprobe - UVK Verlagsgesellschaft

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Einleitung
Die Soziologie des Körpers fragt nach der sozialen Konstitution des menschlichen Körpers. Sie zeigt, wie der Körper im Schnittpunkt von Individuum
und Gesellschaft wechselseitig durchdrungen ist und der Körper über
individuelle Verarbeitungsprozesse gesellschaftlicher Strukturen verfasst ist.
Grundlegend lassen sich dort drei zentrale Zugänge unterscheiden: Ein gesellschaftlich-objektivistischer Zugang fokussiert die Perspektive auf die Gesellschaft und untersucht die gesellschaftliche Konditionierung des Körpers.
Fragen nach dem körperlichen Ausdruck oder den körperlichen Umgangsweisen werden über gesellschaftliche Strukturzusammenhänge und die daran
angeschlossenen Handlungsvollzüge beantwortet. Prominentes Beispiel ist
etwa der Körper in der Disziplinargesellschaft, der Gegenstand einer umfassenden gesamtgesellschaftlichen Disziplinierung, Überwachung und
Kontrolle ist und in vielfältigen Gefängnis- und Bestrafungsstrukturen festgelegt wird.1 Demgegenüber steht ein individuell-subjektivistischer Zugang,
der die individuelle Körperarbeit und das subjektive Körpermanagement in
den Mittelpunkt stellt. Zum einen ist dort die Inszenierung und Gestaltung
des Körpers weitgehend dem Individuum überlassen, das einem postulierten
Zwang zur Notwendigkeit der Körpergestaltung ausgeliefert ist2 und zum
anderen werden Fragen nach der Körpergestaltung oder dem Körperempfinden mit einem spürbaren Leib beantwortet. Der individuelle Zugang
zur sozialen Welt ist dort an leiblich-sinnliche Erfahrungen, Emotionen und
Empfindungen gekoppelt, die das soziale Umfeld mit Bedeutungen und Sinn
versehen.3 Der dritte Zugang ist schließlich ein integrativer Versuch, der den
Körper als soziales Arrangement versteht, das zwischen Individuum und
Sozialität ausgehandelt wird. Dementsprechend bestimmt etwa Pierre
Bourdieu den Körper als Ort der habituellen Dispositionen, die tief in den
Körper eingeschrieben sind und als „einverleibte, zur Natur gewordene und
damit als solche vergessene Geschichte“4 die soziale Praxis körperlich
zwischen Individuum und Gesellschaft festlegt.
1
Siehe hierfür Foucault 1994, der eindrucksvoll zeigt, wie im 19. Jahrhundert die Körper durch
eine zunehmende Hygienisierungskampagne gesellschaftlich geformt werden.
2
Siehe beispielsweise Hitzler 2002.
3
Siehe hierfür etwa die Studie von Neckel 1991, der auf den Zusammenhang von Status und
Scham hinweist oder die Überblicksdarstellungen zur Soziologie der Emotionen von Flam 2002
und Gerhards 1988 sowie die weiterführende Schrift von Vester 1991.
4
Bourdieu 1993, S. 105.
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Während diese theoretischen Positionen die grundlegenden Zugänge auf
den Körper festlegen, ist die Themenbreite in der Soziologie des Körpers
weit gestreut. So finden sich unter anderem explizit körpersoziologische
Studien zu Körper und Identität5, zu körperlichen Ausdrucksformen im Internet6, zu dem Körper als gesellschaftliches Ordnungsproblem7, zu einer
fragmentarischen körperfundierten Handlungstheorie, die im Anschluss an
das Körperverständnis von Bourdieu den Körper als Agens bestimmt,8 oder
zu Körpercodes in der Werbung.9 Darüber hinaus lassen sich einzelne
Forschungsrichtungen aufzeigen, die körpersoziologische Fragen aufgreifen
und sich in unterschiedlichen Perspektiven mit der sozialen Dimension der
Körperlichkeit auseinandersetzen. Zu nennen sind insbesondere die Sozialmedizin, die Sport- und Geschlechtersoziologie sowie die Kultur- und
Medizingeschichte. Während die Sozialmedizin und die Sportsoziologie den
menschlichen Körper zum Teil in den Mittelpunkt ihrer Analysen stellen und
den Körper einerseits als Träger von Krankheiten und Gesundheitsrisiken
und andererseits als „aufs Spiel gesetzte Körper“10 analysieren, zeigt die
Geschlechtersoziologie die Bedeutung der sozialen Konstruktion der
Geschlechter und die damit einhergehende soziale Ungleichheit der
Geschlechtskörper. Demgegenüber analysieren die Kultur- und Medizingeschichte die Bedeutung der Körperlichkeit im historischen Verlauf und
dokumentieren unter anderem, wie unterschiedliche Hygienevorstellungen,
Werte und Körpermodelle den Umgang und die Wahrnehmung von menschlichen Körpern konditionieren und dahingehend gesellschaftliche Reglements
inszenieren.11
Trotz dieser körpersoziologischen Vielfalt lassen sich einige Gemeinsamkeiten und Annahmen aufzeigen, die sich implizit oder explizit in den
Körpersoziologien wieder finden:
1. Die Soziologie des Körpers, die als etablierte soziologische Fachdisziplin seit den 1990er Jahren besteht, lässt sich wissenschaftshistorisch auf
eine Anzahl von klassischen Arbeiten zurückführen, die auch für die neueren
körpersoziologischen Untersuchungen noch entscheidende Problemstellungen und Lösungsversuche anbieten. Als Klassiker12 und Referenzen
5
Gugutzer 2002.
Funken 2002; 2005.
7
Turner 1996.
8
Meuser 2002; 2006.
9
Wilk 2002.
10
Alkemeyer et al. 2003.
11
Zu nennen sind vor allem die Arbeiten von Ariès und Duby 1989 et al.; Corbin 1996; Frey
1997; Lorenz 2000; Penz 2001 und Vigarello 1988.
12
So schreibt etwa Luhmann (1977, S. 17 f.): „Klassisch ist eine Theorie, wenn sie einen Aussagezusammenhang herstellt, der in dieser Form später nicht mehr möglich ist, aber als Desiderat
oder als Problem fortlebt. Die Bedingungen dieser Form sind historische, sie können als solche
ermittelt werden. Was aber der Klassiker selbst den Späteren zu sagen hat, liegt auf der Ebene
6
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der Körpersoziologie gelten die Arbeiten von Pierre Bourdieu, Norbert Elias,
Michel Foucault, Erving Goffman, Marcel Mauss und George Herbert Mead.
Vor allem der grundlagentheoretisch bedeutende und auf einem Vortrag beruhende Essay „Die Techniken des Körpers“13 aus dem Jahr 1934 von Marcel
Mauss zeigt aufschlussreich über einen gesellschaftlichen Vergleich, wie
natürlich erscheinende menschliche Bewegungsabläufe wie Gehen oder
Schwimmen in verschiedenen Gesellschaften unterschiedlich ausgeprägt
sind, so dass menschliche Bewegungsabläufe hinreichend nur über zusätzliche soziologische Erklärungsansätze aufzuklären sind.14
2. Die grundlegende These körpersoziologischer Arbeiten besteht in der
Annahme, dass sich soziale Ordnungen, soziale Hierarchien und soziale
Strukturen in den Körper einschreiben und der Körper damit gesellschaftlich
konstruiert ist. Das heißt nicht, dass der Körper ausschließlich gesellschaftlich definiert ist, sondern vielmehr, das dieser je nach theoretischem Zugang
mehr oder minder gesellschaftlichen Einflüssen unterliegt, die mit
individuellen Körperarbeiten kombiniert werden (müssen). So ist unter
anderem der Körper in sozialen Situationen eine mögliche Ressource für eine
spezifische Definition der Situation aufgrund der Ablesemöglichkeiten gesellschaftlicher Ordnungskriterien wie der soziale Status und ihrer Verarbeitung durch das individuelle Körpermanagement.15
3. Eine der zentralen Diagnosen körpersoziologischer Arbeiten ist die
Feststellung eines »Körperbooms«, einer »Wiederkehr des Körpers« oder
einer »Aktualität des Körpers« seit etwa den 1980er Jahren, die das
diagnostizierte Faszinosum Körper beschreiben. Die zunehmende
Thematisierung des Körpers lässt sich zum einen an verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen ablesen, in denen anhand zahlreicher Faktoren wie
die anwachsende Zahl von Publikationen mit expliziten somatischen Bezug
oder die Etablierung einer Soziologie des Körpers die Aktualität des Themas
»Körper« belegt wird, und zum anderen über eine im historischen Vergleich
zunehmende Auseinandersetzung der Menschen mit ihrem eigenen Körper.
Indizien hierfür sind beispielsweise soziale Events wie die Ausstellung
»Körperwelten«, die ansteigende Zahl von Schönheitsoperationen, die zudem
der Theorie. (...) Der Text bleibt aktuell, solange seine Problemstellung kontinuierbar ist. Er
bleibt maßgebend in einem ambivalenten Sinne: Man kann an ihm ablesen, was zu leisten wäre,
aber nicht mehr: wie es zu leisten ist.“
13
Siehe Mauss 1989, S. 199 ff.
14
Nach den biologischen Verhaltenskonzeptionen sind gerade fehlende Differenzen Hinweise,
die auf eine biologische Regulierung und biologische Verhaltensprogramme verweisen. Siehe
Bühl 1982; Eibl-Eibesfeld 1985; Ekman 1988; Voland 2000; Wilson 1980; Zippelius 1992.
15
Insbesondere Erving Goffman verweist hierauf immer wieder in seinen Schriften. So zeigt
Goffman (1975) beispielsweise in seiner Studie über beschädigte Identitäten, wie Individuen
Strategien entwickeln, um Stigmata, die als körperliche Zeichen Aussagen über den Träger
geben, zu vermeiden oder offensiv damit umzugehen und somit grundlegend zu den spezifischen
Situationsdefinitionen beizutragen.
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den gesellschaftlichen Diskurs über medizinisch-technische Reproduktionsverfahren und Gestaltungsfähigkeiten mitbestimmen, Schlagworte wie
»Strahlend weiße Zähne«, »Anti-Aging« oder »Porentief rein«, die soziale
Öffnung des Sports, der als Massenphänomen sich in alle gesellschaftlichen
Großgruppen nachweisen lässt oder die zunehmenden Möglichkeiten der
individuellen Körpergestaltung wie beispielsweise Piercings oder Tätowierungen.
4. Fragen nach der Ontologie des Körpers und möglichen Körperdefinitionen werden – wenn überhaupt – mit einer Dichotomie des Körpers
beantwortet, die schließlich über eine Körper-Leib Vorstellung beantwortet
werden. Zumeist unter ausschließlichem Bezug auf die philosophischanthropologischen Arbeiten von Helmuth Plessner, Maurice Merleau-Ponty
und Hermann Schmitz16 wird dem Körperhaben ein Körpersein zugeordnet,
das den individuellen Zugang zur Welt nicht nur körperlich festlegt, sondern
auch an einen sinnlich-spürbaren Leib koppelt, der über die physiologische
Wahrnehmung des Sehens, Hörens, Riechens, Tastens und Schmeckens
hinausgeht und als ein grundlegender, stets intersubjektiv angelegter leiblich
spürbarer Zugang zum Körper verstanden wird.
Die vorliegende Studie bricht nun mit zwei der verbreiteten Prämissen der
Körpersoziologie und radikalisiert den Gedanken der sozialen Konditionierung von Marcel Mauss. Nicht nur natürlich erscheinende Bewegungsabläufe sind hier sozial bedingt, sondern der gesamte Körper ist bis hin zu
den genetischen Dispositionen auch sozial festgelegt und über die aufeinander bezogenen Pole von Ich, Gesellschaft und Natur definiert.
Gegenüber der Vorstellung einer einfachen Dichotomie von Körper und
Leib17 stellt diese Arbeit die Körperschematheorien und die daran anschließende Ausarbeitung zu einer Leibschematheorie vor, die neben einer
leiblich angelegten sinnlichen Wahrnehmung des eigenen Körpers zusätzlich
aufzeigt, wie der Körper den Wünschen, Vorstellungen und Handlungen der
Individuen entzogen ist. Darüber hinaus ist es über die Ausarbeitung der
Leibschemata auch möglich, die philosophisch anspruchsvollen Konzepte18
16
Den prägnantesten Einstieg in die phänomenologische Philosophie des Leibes findet sich in
Schmitz 1985.
17
Für einige produktive und anregenden körpersoziologischen Studien, die mit der philosophisch
angelegten Differenzierung von Körper und Leib sowie dem daran angeschlossenen und von
Plessner entlehntem Konzept von Körperhaben und Körpersein arbeiten siehe Gugutzer 2002;
Jäger 2004 und Lindemann 1993.
18
Für die Tragweite der Philosophie des Leibes und ihre dahingehende schwierige soziologische
Einschätzung siehe etwa die Studien von Kalb 2000 zur Leiblichkeit bei Nietzsche oder den
Überblick von Waldenfels 2000 über die Phänomenologie des Leibes. Dort zeigt sich unter
anderem, wie philosophisch weitreichend diese Differenzierung angelegt ist und wie eng die
Unterscheidung von Körper und Leib an die europäische Ideengeschichte angeschlossen ist.
Darüber hinaus ist aber kritisch einzuwenden und das ist sowohl philosophisch als auch soziologisch aufschlussreich, inwieweit das Leibkonzept den angestrebten Anspruch einer Über-
18
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handlungssoziologisch zu übersetzen und darüber schließlich theoretisch aufzuzeigen, wie kognitive Handlungsentwürfe körperpraktisch umgesetzt und
wie soziale Strukturen verkörpert werden.
Entgegen der prominenten und kaum hinterfragten Annahme einer gesellschaftlichen Aktualität des Körpers, die auch als eine körpersoziologische
Version der Individualisierungsthese gelesen werden kann, versucht die
nachstehende Arbeit die Grenzen einer »Wiederkehr des Körpers« und einer
Aktualität der Körperthematik aufzuzeigen. Als Gründe für eine derzeitige
Aktualität werden zum einen gesellschaftlichen Entwicklungen19 angeführt
und zum anderen auf die Vernachlässigung einer Körperthematik in der
Geschichte der Soziologie20 verwiesen. Kontrastierend hierzu liest sich einerseits die Sozialgeschichte, die zeigt, dass der Körper im 19. Jahrhundert einer
der zentralen gesellschaftlichen Diskurse ist.21 Beispiele hierfür sind etwa die
anthropologischen und medizinischen Studien von Guillaume-Benjamin
Duchenne oder Alphonse Bertillon, die eng an die Entstehung der Fotografie
windung des cartesianischen Dualismus tatsächlich einlöst, der alles Seiende in res ex extensae
und res cogitantes, in eine Objekt- und Gedankenwelt, in Körper und Geist unterteilt. Es entsteht
nämlich der Eindruck, dass der Leib vielfach als eine zusätzliche Instanz begriffen wird, die
neben dem Körper und dem Geist besteht und die darüber eben nicht den cartesianischen
Dualismus überwindet.
19
So nennen Hahn und Meuser (2002, S. 12 f) den Feminismus, der unter anderem durch die
Kritik an der männlichen Herrschaft den weiblichen Körper der gesellschaftspolitischen und
wissenschaftlichen Diskussion eröffnet, die ökologische Bewegung und ihrem Verweis auf die
Korrelation von intakter Natur und Lebensqualität, die zunehmende Alterung der Gesellschaft
und den neuen Anforderungen an das medizinisch-gesundheitliche System sowie die Konsumkultur in deren Folge Fitness und körperliches Wohlbefinden die kulturelle Sphäre überzeichnen.
20
Zentrale Gründe für eine Nichtthematisierung des Körpers sind nach Schroer (2005, S. 11 ff)
die Dominanz der cartesianischen Denkweise, die die Sozialität ausschließlich in die Köpfe der
Individuen verlegt und damit der Idee einer Verkörperung der Gesellschaft entgegensteht, das
Bemühen der Soziologie um Autonomie und Abgrenzung gegenüber anderen Wissenschaftsdisziplinen, die zunehmende Bedeutungslosigkeit des Körpers, der in einer technisierten
Arbeitswelt zunehmend entlastet ist, wie es etwa Silberzahn-Jandt (1993) an der Entkörperlichung der Wascharbeit dokumentiert, und der zusätzlich im Zuge einer von Norbert Elias
(1998) diagnostizierten Zivilisationstheorie immer größeren Kontrollmöglichkeiten unterworfen
ist, sowie den Schwierigkeiten der Sozialwissenschaften mit einem der Natur zugeordnet biologischen Medium umzugehen.
21
So vermerkt auch schon Bette (1989, S. 42 f) kritisch hinsichtlich der Diagnose einer Körperaufwertung im 20. Jahrhundert: „Von einer allgemeinen Verdrängung und Unterdrückung im
Rahmen des europäischen Zivilisationsprozesses kann alleine schon mit Blick auf die Ausdifferenzierung des Sports aus der volkstümlichen Bewegungskultur und den ständischen
Leibesübungen geschichteter Gesellschaften nicht geredet werden – ganz zu schweigen von
medizinischen, künstlerischen, pädagogischen, wirtschaftlichen, politischen und wissenschaftlichen Thematisierungen. Sowohl die Genese der für Europa traditionellen Bewegungskultur in
Gestalt von Tanz, Gymnastik, Sport, Spiel und Turnen als auch die neueren Körpermoden im
letzten Drittel dieses Jahrhunderts belegen sehr deutlich, daß parallel zur »unterirdischen«
Geschichte des Körpers auch eine oberirdische verlaufen ist. (...) Es ist sicherlich verfehlt, lediglich mit Blick auf neuere Entwicklungen von einer »Wiederkehr des Körpers« zu reden.“
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19
gekoppelt sind; die sozialpolitischen Disziplinierungsmaßnahmen; die Anfänge der Frauenbewegung und des Feminismus, die zum Teil bedingt durch
das politische und geistige Erbe des Bürgertums die Frau aus dem bisherigen
sozialen Kontexten herauslösen; die kontroversen Diskurse über Sexualität
und Nacktheit sowie die Adaption außereuropäischer Kulturmuster, die das
Verhältnis zu dem eigenen Körper in den europäischen Lebenswelten
ändern.22 Andererseits arbeitet auch Robert Gugutzer körpersoziologische
Frage- und Problemstellungen in verschiedenen klassischen Schriften heraus
wie etwa von Emile Durkheim, Karl Marx, George Herbert Mead, Talcott
Parsons, Georg Simmel, Herbert Spencer und Max Weber.23 Hinzu kommen
zahlreiche Arbeiten und Untersuchungen aus anderen sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen wie etwa der Ethnologie, der Sozialanthropologie oder der Geschichte, so dass die Annahme eine von der Soziologie beziehungsweise den Sozial- und Kulturwissenschaften nicht bearbeitete
Körperthematik so nicht zutrifft. Vielmehr ist zu vermuten, dass analog zu
einer mikrosoziologisch argumentierenden und akteursbezogenen Soziologie
die Frage nach dem Körper in der Geschichte der Soziologie infolge der Vielfalt der makrosoziologischen Arbeiten und ihren Positionen im Feld der
Soziologie, wie sie prominent etwa die Arbeiten von Talcott Parsons in den
1950er und 1960er Jahren einnehmen, »unsichtbar« geblieben ist.24 Letztlich
ist daher zu fragen, ob die diagnostizierte »Aktualität des Körpers« wirklich
eine Renaissance des Körpers im ausgehenden 20. Jahrhundert darstellt oder
ob die Auseinandersetzung der Menschen mit ihrem Körper nicht vielmehr
als ein grundlegendes Axiom der Sozialität zu verstehen ist und dementsprechend die diagnostizierte gesellschaftliche Renaissance des Körpers über
Modernisierungsprozesse und eine Änderung des gesellschaftlichen und
kulturellen Möglichkeitsraums aufzuklären ist.25
22
Siehe hierfür Ewing (1994), der einen instruktiven Überblick über die Faszination des Körpers
im 19. Jahrhundert gibt und diese an die Geschichte der Fotografie anschließt. Und Sennett
(2002, S. 243 ff) zeigt, dass das Durchbohren der Brustwarzen schon in Paris im ausgehenden
19. Jahrhundert bei höhergestellten Frauen keine Seltenheit ist und hierdurch den jeweiligen
Körpern eine distinktiv- anrüchige Aura verleiht. Demnach sind Piercings kein gesellschaftliches
Phänomen, das ausschließlich mit Subkulturen verknüpft ist und sich erst ab den späten 1970er
Jahren verbreitet.
23
Siehe für diese punktuelle „verdeckte Geschichte des Körpers“ Gugutzer 2004, S. 23 ff.
24
Dies zeigt eindrucksvoll der gemeinsame Konsens der Aufsätze „Bringing men back in“ von
Homans 1964 und „Bringing bodies back in: a decade review“ von Frank 1990.
25
Diesbezüglich ist die empirische Feststellung einer sozialen Öffnung des Sports und einer erhöhten sportlichen Aktivität, die mit den Attraktivitätsmerkmalen Fitness und Schlankheit einhergehen, auf den gesteigerten Möglichkeitsraum und die veränderten Lebensbedingungen
zurückzuführen, die neben neuen Sporttechniken und –Arten, auch Änderungen im Gefüge der
sozialen Ungleichheiten beinhalten. Siehe hierzu unter anderen die instruktive Studie über
Soziale Ungleichheiten im Sport von Nagel 2003 sowie die Daten des Statistischen Bundesamtes
(1985; 1992; 1997; 2002). Dort zeigt sich beispielsweise, dass der Anteil der Mitglieder von
20
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Vor diesem Hintergrund und angelehnt an das handlungssoziologische
Programm von Max Weber sowie an Emile Durkheims Diktum, Soziales
durch Soziales zu erklären26, fragt die nachstehende Arbeit nach sozial ungleichen Körpern und einem Körper, der zwischen den Individuen und der
Gesellschaft ausgehandelt wird. Gegenstand ist die These, dass sich soziale
Strukturen über Handlungsvollzüge in die Körper einschreiben und sich
damit auch an den Körpern ablesen lassen. Ausgehend von einer Realität, die
sich nicht von Naturgesetzen ableitet, sondern die sich vielmehr durch
menschliche Aushandlungsprozesse zusammensetzt und dahingehend der
„gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit“27 objektive Faktizität verleiht, ist der spezifische Körper einer sozialen Ordnung unterworfen, die
dieser selbst mit anderen produziert und die an ihm ablesbar ist. An dem
Körper konkretisieren sich demnach über körperliche Handlungspraktiken
soziale Ordnungsprinzipien wie sozialer Status und hierarchische Symbole,
die sich als körperlicher Ausdruck sozialer Ungleichheiten manifestieren und
in den Körper einschreiben. In diesem Sinne ist etwa die aristokratische
Blässe als eine Verkörperung von Standesunterschieden zu verstehen, die es
vor allem gesellschaftlich höhergestellten Frauen ermöglicht ihr Standesbewusstsein körperlich zu inszenieren.28 Im Zuge der „Erlebnisgesellschaft“29, in der eine zunehmende Ästhetisierung von Lebensbereichen
diagnostiziert wird, bekommt die Gestaltung und Modellierung des eigenen
Körpers eine besondere Konnotation. Die Wahl und Farbe der Frisur oder die
Entscheidung für beziehungsweise gegen Körperschmuck beschreiben dort
die Auseinandersetzung des Ichs mit seinem Körper als Metamorphose und
verweisen auf die spezifischen Problematiken, die mit wechselnden körperlichen Äußerlichkeiten und der stereotypisierenden Wahrnehmung durch Andere einhergehen. Dieses ästhetische Bewusstsein und die ästhetischen Auseinandersetzungen verteilen sich aber nicht in allen gesellschaftlichen Bereichen gleichermaßen, sondern werden, wie unter anderem die Soziologie
der sozialen Ungleichheiten aufzeigt, durch soziale Strukturen gebrochen und
in verschiedenen gesellschaftlichen Teilungsdimensionen unterschiedlich
ausdifferenziert.
Sportvereinen zwischen 1970 und 1984 von 8,3 Millionen auf 16,5 Millionen angestiegen ist und
seit den 1990er Jahren in etwa bei 21 Millionen stagniert.
26
Konkret schreibt Durkheim (1984a, S. 186): „Wir müssen also die Erklärung des sozialen
Lebens in der Natur der Gesellschaft selbst suchen.“
27
Berger und Luckmann 1996.
28
Diese bleiche weiße Haut, die literarisch oft als alabasterfarbenen bezeichnet wird, ist anfänglich auf die spezifische Lebensführung zurückzuführen, die aufgrund standesbewusster Kleidung
und dem jeweiligen Fehlen von Sonneneinstrahlung entstanden ist und im Kontrast zu der
sonnengebräunten Haut der arbeitenden Bevölkerung zu sehen ist. Im Laufe der Zeit zeichnet
diese Blässe zunehmend eine Verkörperung von Status und dahingehend auch ein Schönheitsideal aus, dem schließlich viele Mädchen folgen. Siehe hierfür Hardach-Pinke 2000.
29
Schulze 2000.
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21
Der Aufbau der nachfolgenden Studie ist in drei Untersuchungsschritte
unterteilt. Der erste Untersuchungsschritt versucht grundlegend theoretisch
aufzuzeigen, dass Körper gesellschaftlich angelegt sind und wie eine Vergesellschaftung von Körpern handlungssoziologisch zu verstehen ist. Dies
beinhaltet vor allem die Ausarbeitung eines theoretischen Modells, das versucht den Körper an der Schnittstelle „zwischen Bewußtsein und Sein“30 zu
identifizieren und die These der Einschreibung von sozialen Strukturen
plausibel herauszustellen. In einer kritischen Aufarbeitung der Arbeiten von
Pierre Bourdieu und über eine Weiterentwicklung der handlungstheoretisch
angelegten Persönlichkeitstheorie von George Herbert Mead arbeitet diese
Studie einen Begriff körperlich vermittelter Handlungspraxis heraus, der die
nebulösen Formulierungen der habituellen sozialen Praxis plastisch darstellt
und an historisch festgelegte gesellschaftliche Strukturbedingungen anschließt. Handeln ist hier nicht ausschließlich als bewusste und körperferne
zweckrationale Tätigkeit aufzufassen, die einem ausschließlich denkendem
Akteur zugeschrieben werden kann, sondern immer an einen Körper angeschlossen, der handlungssoziologisch als Quasi-Akteur zu verstehen ist. In
diesem Kontext sind schließlich auch die Körperschematheorien und die
daran angeschlossene Ausarbeitung zu einer Leibschematheorie zu sehen, die
aufzeigen, wie Handlungsentwürfe körperpraktisch umgesetzt werden und
der eigene Körper den Individuen über eine handlungspraktische Zwischeninstanz entzogen ist.
Während der erste Untersuchungsschritt versucht aufzuzeigen, dass
Körper und Psyche auch gesellschaftlich angelegt sind und sich soziale
Strukturen in die Körper einschreiben (Inkorporierungsthese), versucht der
zweite Untersuchungsschritt historische Nachweise anzuführen. Wenn sich
nämlich gesellschaftliche Strukturen in die Körper schreiben, müssen sich
auch sozialhistorische Prozesse und grundlegende gesellschaftliche Strukturveränderungen an den Körpern ablesen lassen. Diesbezüglich arbeitet der
zweite Abschnitt die historische Genese der Körperlichkeit und damit die
historische Ausgangslage der derzeitigen Körper auf. Diese historische
Skizze dient einerseits einem ersten systematischen Zugang und illustriert
andererseits, dass die historisch nachweisbaren Unterschiede zwischen den
Körpern nicht nur auf biologische Determinanten und Verhaltensprogramme
zurückgeführt werden können, sondern dass die Unterschiede vor allem
soziale Differenzen sind, die im Aushandlungsprozess zwischen den
Individuen und der Gesellschaft festgelegt werden und die an die konkreten
epochalen Logiken angeschlossen sind. Als eine der bedeutenden Entwicklungen der körperlichen Einschreibungen und Verhaltensregulierungen
ist die zunehmende Disziplinierung des Körpers anzuführen, die neben
Michel Foucault insbesondere Norbert Elias in seinen psychogenetischen und
30
Hradil 1992.
22
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sozialgenetischen Untersuchungen aufzeigt und die sich beispielsweise im
Tanz, im Sport sowie in verschiedenen Reinlichkeitsvorstellungen
manifestiert.31 Von Interesse für eine Körpergeschichte sind darüber hinaus
Fragen, die neben dem konkreten Umgang auch die Sichtweise des Körpers
betreffen. So diktieren in den vergangenen Jahrhunderten vor allem die Ideen
der abendländlichen Philosophie, die christlichen Dogmen der Kirche, die
gesellschaftlichen Moralvorstellungen sowie der wissenschaftliche Stand der
Medizin den Umgang und die Wahrnehmung des Körpers. Aufschlussreich
dokumentiert dies unter anderen die Studie von George Vigarello, die hinreichend und detailliert aufzeigt, wie die Vorstellung von Wasser auf der
Haut sich neben unterschiedlichen hygienischen Standards und
medizinischen Theorien auch in gesellschaftlichen Interaktionen nachweisen
lässt.32 Aufgrund bedeutender sozialhistorischer Prozesse dokumentiert vor
allem die Zeit um die Jahrhundertwende des 19. und 20. Jahrhunderts
zentrale körperlich ablesbare Veränderungen. Die Anfänge der Frauenbewegung und des Feminismus stellen das bisherige konventionelle Frauenbild in Frage und leiten Prozesse ein, die bis heute nachwirken und die
Körper beeinflussen. Die fragmentarische Herauslösung der Frau aus den
zeitgenössischen sozialen Kontexten spiegelt sich plastisch in der Befreiung
des weiblichen Körpers aus dem Korsett und in der gesellschaftlichen Verbreitung der Praxis des Fahrradfahrens wider.33 Die Wahrnehmung der
Sexualität, die aufkommende Filmindustrie und das Modebewusstsein sind
zudem beispielhafte Phänomene, die grundlegende Änderungen der gesellschaftlichen Blicke auf den Körper bewirken.
Der dritte Untersuchungsschritt der Arbeit vergegenwärtigt den
historischen Abriss und fragt auf der Grundlage der historischen Prozesse
nach den derzeitigen Körpern im Kontext gesellschaftlicher Ordnungsmuster.
Ausgehend von der These, dass in gegenwärtigen Gesellschaften das Gefüge
der sozialen Ungleichheiten ein zentrales Strukturierungsprinzip ist
(Strukturierungsthese), versucht schließlich der dritte Abschnitt unter Berücksichtigung der empirischen Studie von Pierre Bourdieu über die
31
Elias 1998 sowie exemplarisch Corbin 1996; Eder 1993; Frey 1997; Lippe 1988; Nitschke
1989; Vigarello 1988.
32
Vigarello 1988.
33
„Im Jahre 1905 konstatierte Rosa Mayreder, Protagonistin der frühen österreichischen Frauenbewegung, daß das Fahrrad mehr zur Emanzipation der Frau beigetragen habe als alle Bestrebungen der Frauenbewegung zusammengenommen. Heute, wo jede zweite Frau ein Bike
kauft, wo modische Radlerhosen Knie freilassen und »Damen« im Vorprogramm der »Tour de
France« rennfahren, scheint diese Ansicht reichlich merkwürdig. Und doch – Rosa Mayreder
hatte recht. Allerdings ist der Status Quo von den Radpionierinnen hart erkämpft worden.“
(Maierhof und Schröder 1993, S. 7). Siehe darüber hinaus auch für die Auswirkungen auf die
weibliche Kleidung und eine dahingehende Änderung der weiblichen Körper Ober 2005 sowie
für eine gesellschaftsgeschichtliche Aufarbeitung des Korsetts Böth 1994; Heszky 1925; Junker
und Stille 1988; Kunzle 1982; Rosenbach 1903.
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23
französische Klassengesellschaft sowie der Untersuchung über die Erlebnisgesellschaft von Gerhard Schulze die schon in der historischen Skizze aufgezeigten sozial ungleichen Körper systematisch nachzuweisen und auf
Körper hinzuweisen, die an das Gefüge der sozialen Ungleichheiten angeschlossen und über diese zu erklären sind. Einen Zusammenhang zwischen
Körpern und dem Strukturgefüge der sozialen Ungleichheiten zeigen darüber
hinaus auch anthropologische Studien, die etwa nachweisen, dass die feststellbaren sozialen Unterschiede der Körpergrößen sich nach dem zweiten
Weltkrieg infolge der der gesamtgesellschaftlich verbesserten Ernährungssituation zwar verringert haben, derzeit aber immer noch etwa 2 cm erreichen.34 Und auch die zu beobachtenden Unterschiede der Körpergewichte
sind, wie gesundheitssoziologische Studien hinreichend nachweisen, vor
allem auf die ungleichen Lebensbedingungen zurückzuführen und über das
Gefüge der sozialen Ungleichheiten aufzuklären.35 Konkrete körperliche Ungleichheiten und unterschiedliche körperliche Sicht- und Umgangsweisen
lassen sich schließlich auch an der Studie von Jean-Claude Kaufmann über
die Interaktionsordnung am Strand nachweisen. Dort zeigt Kaufmann, wie
über Blicklizenzen das körperliche Inszenieren reguliert und territorial aufgeteilt wird und sich darüber körperliche Hierarchien im Kontext von vorzeigbaren und nicht vorzeigbaren Körpern herausbilden. Aufschlussreich
zeigt sich dies insbesondere beim Ausziehen am Strand und der grundlegenden Frage: wer darf sich wie zeigen? Demnach ist das Enthüllen der
weiblichen Brüste am Strand hinreichend nur über Attraktivitätsmerkmale,
die auf die sozialen Positionen in der Sozialstruktur hinweisen, und die
soziale Strandordnung zu verstehen, die sich unter anderem über verschiedene Scham- und Peinlichkeitsschwellen in die Körper und Psychen der
Akteure einschreibt und darüber die Entscheidungsfreiheit der Frauen nachweisbar einschränkt.36
Die Arbeit schließt mit einer zusammenfassenden Betrachtung und einem
Ausblick auf weiterführende Forschungen.
Methodisch schließt die theoretische Ausarbeitung an die Arbeiten von
Ernst Cassirer, Jürgen Habermas, Talcott Parsons und Max Weber an, die ihr
eigenes Theoriesystem erst über die Auseinandersetzung mit anderen
theoretischen Positionen entwickeln.37 Diese „Theoriegeschichte in
34
Greil 2001; Kriwy et al. 2003.
Robert Koch-Institut 2003; 2005; Spiekermann 2008.
36
Kaufmann 1996.
37
Insbesondere die Schriften von Ernst Cassirer sind diesbezüglich lange Zeit nur als Referate
über Philosophiesysteme verstanden worden, die ausschließlich für die Geschichte der Philosophie noch von Bedeutung sind. Ähnlich lesen sich auch einige Rezensionen zu der Studie über
kommunikatives Handeln von Habermas, die dementsprechend auf die Aufarbeitung der darin
enthaltenden Referate verweisen. Aufschlussreich sind darüber hinaus für eine konkrete Version
von Theoriearbeit die Schriften Talcott Parsons. So zeigt Parsons (1973) dezidiert auf, wie ein
theoretisches System aufgebaut sein sollte, wie Theoriearbeit funktioniert, wie empirische Be35
24
STEUERWALD, Körper und soziale Ungleichheit. ISBN 978-3-86764-292-7
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systematischer Absicht“, die Harald Wenzel als „[d]as Abarbeiten an den
Problembeständen, unter Umständen auch an den Lösungsmitteln der soziologischen Klassiker“38 beschreibt, versteht sich demnach als eine Aufarbeitung und Weiterführung schon vorhandener Theoriesysteme. Neben den
entsprechend nötigen Referaten und den daran angeschlossen Theorievergleichen wird dementsprechend unter anderem über Analogieschlüsse gearbeitet und die daraus abgeleiteten theoretischen Schlussfolgerungen in das
auszuarbeitende theoretische System eingearbeitet. Wie es das soziologische
Programm der historisch vergleichenden Analysen von Max Weber schon
aufzeigt, bedingt dies aber auch, dass einige theoretische Annahmen aufeinander bezogen werden, die so in den Originalarbeiten nicht vorgesehen
sind.39
Insgesamt stellt die Untersuchung aber nur eine erste Annäherung an die
Thematik von Körper und sozialen Ungleichheiten dar, die unverständlicherweise bisher nicht explizit systematisch aufgearbeitet worden ist.40
Diesbezüglich unterliegt die Arbeit verschiedenen thematischen und sachlichen Grenzen. Allein die historische Skizze, die in dieser verdichteten Form
unter einer expliziten ungleichheitssoziologischen Fragestellung bisher nicht
zugänglich ist, unterliegt zahlreichen Einschränkungen. Die groben
Restriktionen sind hier einerseits durch den zeitlichen Rahmen ab dem 15.
obachtungen in theoretische Systeme eingebaut werden können und was hinreichende
theoretische Erklärungen sind. Neben Parsons sind hierfür auch die Schriften von Niklas
Luhmann aufschlussreich, die über Parsons hinaus aufzeigen, wie Theoriearbeit mit Entscheidungen für oder gegen bestimmte Annahmen funktioniert. Siehe hierfür exemplarisch
Luhmann 2008. Ein wesentlicher Unterschied ist aber, dass Luhmann nicht vorrangig über die
Theoriegeschichte arbeitet. Siehe hierzu Luhmann 1987, S. 7 ff. Für ein methodisch zum Teil
differentes Vorgehen von Theorievergleichen siehe die instruktiven Abhandlungen von Schmid
2009 und Weiss 1999.
38
Wenzel 1990, S. 11. Und pointiert bemerkt Wenzel (ebd., S. 11 f; kursiv i.O.) über Parsons`
Theoriearbeit: „Theoriegeschichte ist für ihn nie nur eine Abfolge von Ideensystemen gewesen,
sondern Analyse eines Handlungsfeldes: dessen Strukturierung nicht nur aufzudecken, dessen
Beitrag nicht nur festzuschreiben, anwaltschaftlich zu vertreten, sondern auch unter neuen Gesichtspunkten weiterzuführen sei.“
39
So sind beispielsweise die empirischen Beobachtungen der Säuglingsforschung und die
theoretischen Systeme der Entwicklungspsychologie folgenreich für die Körperschematheorien,
die ihre eigenen Entwicklungslogiken nur ungenügend aufarbeiten. Denn wenn theoretisch ein
Körperschema vorausgesetzt wird, das sich vor allem in der präverbalen Entwicklungsphase über
motorische Abläufe und sinnliche Wahrnehmungen ausbildet, müssen auch die entwicklungspsychologischen Modelle berücksichtigt werden, die entsprechende kindliche Entwicklungsphasen aufarbeiten.
40
In körpersoziologischen Studien finden sich wenige Studien, die sozial ungleiche Ausprägungen von Körpern analysieren. Diese beschränken sich dann oft auf einzelne körperliche
Bereiche wie etwa der Sammelband Koppetsch (2000), der sich an der Korrespondenz von
Attraktivität und sozialem Status abarbeitet. Auch aus der Soziologie der sozialen Ungleichheiten finden sich keine systematischen Studien, die sich mit sozial ungleichen Körpern auseinandersetzen, sondern höchstens implizit enthalten. Siehe für eine Auswahl den dritten Teil
dieser Arbeit.
STEUERWALD, Körper und soziale Ungleichheit. ISBN 978-3-86764-292-7
© UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2010
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Jahrhundert und durch den geographischen Raum markiert, der vorwiegend
auf die Schnittstelle der europäischen Sozialräume Deutschland und Frankreich beschränkt bleibt. Andererseits ist die Geschichteskizze der Körper auf
eine Untersuchung der Körpergrößen und der Körpergewichte, die körpersoziologisch bisher nur unzureichend zur Kenntnis genommen werden, sowie
auf die Dimensionen von Schönheit und Hygiene begrenzt. Zudem beschränkt sich die Analogie zwischen dem Habitus und dem Interaktionsmodell von Mead auf den Versuch, das Habituskonzept zu reparieren sowie
in einigen Punkten zu konkretisieren und versteht sich damit nicht als einen
umfassenden Theorienvergleich. Als Einstieg in die nachfolgenden Ausführungen folgen zuerst eine Begriffsdefinition des Körpers und eine mögliche Antwort auf die Frage: Was ist der Körper?
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STEUERWALD, Körper und soziale Ungleichheit. ISBN 978-3-86764-292-7
© UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2010
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