Orientierungslehrveranstaltung II, SS 009 / Sprachwissenschaft (Cichon): Warum gibt es sprachliche Veränderungen bzw. warum sind Sprachen dynamische Systeme? Ein kluger Mann, Ferdinand de Saussure, hat einmal gesagt: Die Sprache ist ein soziales Phänomen/"la langue est un fait social"; von ihm selbst nicht weiter verfolgter Gedanke, dennoch wichtige Grundaussage; Sprache dient den Menschen zur klassifikatorischen Ordnung der sie umgebenden Welt sowie der Verständigung über sie; in diesem Sinne ist Sprache ein Werkzeug; der Wert dieses Werkzeuges liegt dabei in der Präzision und Adäquatheit, mit der sie den Bezeichnungsbedarf einer Gesellschaft befriedigt; damit wird klar, dass die Sprache als System kein monolithischer, ein für allemal festgelegter Block ist, sondern ein bewegliches Gefüge, das sich in seiner Form den sprachlichen Anforderungen der uns umgebenden Welt anpasst; entstehen in unserer Gesellschaft neue Techniken, neue Formen sozialer Ordnung oder werden von außen neue Gegenstände in sie importiert (Stichworte: walkman, Halbwertzeit, mailen und chatten etc.), so ändert sich der Bezeichnungsbedarf einer Gesellschaft und es kommt zu einer Umgestaltung des Sprachsystems; die adäquate Beantwortung des jeweiligen Bezeichungsbedarfs einer Sprache macht zugleich die Spezifik der jeweiligen Sprache aus und unterscheidet sie von allen anderen, da verschiedene Gesellschaften verschiedene Formen des Bezeichnungsbedarfs haben; indem die einzelnen Sprachen diesen Bezeichnungsbedarf befriedigen, werden sie zu kongenialen Ausdrucksorganen einer Gesellschaft (und die Sprecher sind ihnen gegenüber loyal: so kommt wohl kaum jemand auf die Idee, in Österreich das Deutsche als Muttersprache etwa gegen das Englische einzutauschen zu wollen; mit der Rolle des Slowenischen in Kärnten, der des Quechua in Peru oder mit den Regionalsprachen in Frankreich ist das bereits etwas anderes; doch dazu später mehr). Sprachen sind mithin dynamische, veränderliche Systeme - das Ende sprachlicher Veränderung wäre des Tod einer Sprache; Anpassung in einsprachigen Gesellschaften kein Problem; schwieriger in mehrsprachigen; Sprachen zugleich kulturspezifisch ausgebildet; jede Gesellschaft hat einen eigenen Bezeichnungsbedarf; also die Idee einer gänzlich einheitlichen Weltinnensprache wird immer eine Fiktion bleiben, wenngleich eine Annäherung möglich ist (betrachten Sie etwa in diesem Zusammenhang das Schicksal des Lateins...; neben variierendem Bezeichnungsbedarf kommen hier verschiedene Super-, Sub- und Adstrate hinzu); Babel wird es immer geben; zum andern aber gibt es auch innerhalb einer Gesellschaft sprachliche Unterschiede (Berufsgruppen, soziale Gruppen, die sich von anderen abgrenzen wollen – etwa Jugendliche und Wissenschaftler) 1 Die Sicht auf die Sprache als kulturgruppenspezifisches Werkzeug nennt man relativistisch, d.h. eine Kommunikationsgemeinschaft sucht sich ihre Sprache, zugleich wird die Wirklichkeit sprachlich unterschiedlich erfasst und wiedergegeben. Einige Sprachwissenschaftler gehen weiter und sprechen von Sprache als einer eigenständigen geistigen Realität, die ihrerseits auf unser Denken einwirkt. Diese Ausrichtung nennt man deterministisch. In dieser Sichtweise geht es also nicht um die Gesellschaft, die die Sprache bestimmt, sondern andersherum um die Sprache, die unser Denken und Bewusstsein prägt. Die radikalste Form dieser Ausrichtung findet sich in der sog. Sapir-WhorfTheorie. Dazu Sapir: (Zitat) „Die Sprache ist nicht nur ein mehr oder minder systematisches Inventar von verschiedenen Bestandstücken der Erfahrung, die als für das Individuum bedeutsam erscheinen, wie so oft naiverweise angenommen wird, sondern sie ist auch eine in sich selbst ruhende schöpferische Organisation von Symbolen, die [...] in Wahrheit die Erfahrung für uns definiert.“ (Zitat Ende) Sapirs Schüler Whorf geht noch einen Schritt weiter und behauptet, eine Sprache konstituiere eine Art Logik, einen allgemeinen Bezugsrahmen und forme so die Gedanken derer, die sie regelmäßig benutzen. Er behauptet, dass dort, wo eine Kultur und eine Sprache sich gemeinsam entwickelt haben, es signifikante Beziehungen zwischen den allgemeinen Aspekten der Grammatik und den Wesensmerkmalen der betroffenen Kultur gibt. Er hat versucht, dies anhand der Zeitkonzeption der Hopi-Indianer aufzuzeigen (zirkuläres vs. unser lineares Zeitkonzept). In diesem Zusammenhang ein Zitat des Soziologen Norbert Elias: „Wenn wir an einem Fluss stehen und das kontinuierliche Fließen des Wassers vor unserem Auge im Denken begrifflich erfassen und in der Kommunikation mit anderen ausdrücken wollen, dann denken wir nicht etwa: Sieh das kontinuierliche Fließen des Wassers. Wir sagen und denken: Sieh, wie schnell der Fluss fließt. Wir sagen, der Wind steht still, als ob der Wind zunächst ein ruhendes Etwas wäre, das sich zu einem bestimmten Zeitpunkt in Bewegung setzt und zu Wehen beginnt, also ob der Wind etwas anderes wäre als das Wehen, als ob es auch einen Wind geben könnte, der nicht weht. Dieser Typ der Zustandsreduktion erscheint denen, die mit solchen Sprachen aufgewachsen sind, als selbstverständlich. Sie stellen sich oft vor, dass man gar nicht anders denken und reden könne. Aber das ist durchaus nicht der Fall.“ Während das Prinzip des sprachlichen Relativismus unbestritten ist (dass also Sprachen Wirklichkeit unterschiedlich abbilden), über das Maß sprachlichen Determinismus hingegen wird in der Sprachwissenschaft viel gestritten (geozentrisches vs. heliozentrisches Weltbild – aufgrund von Formulierungen wie ´die Sonne geht auf´? –Unsinn!) Sprachwandel bezeichnet Veränderungen innerhalb einer Sprachgemeinschaft entlang der Zeitachse. Jede Sprache, soweit sie keine tote Sprache ist, ist solchen Veränderungen unterworfen ist. Hierbei spielt gleichwohl eine wichtige Rolle, ob die jeweilige Sprache verschriftet ist oder nicht. Wo eine Schrift vorliegt und mit ihr zugleich eine Orthographie bzw. eine 2 orthographische Norm, zeigt sich diese Schriftsprache in Bezug auf lautlichen Wandel resistenter/konservativer als Sprachen, die nur als Oralsprachen existieren (weltweit sind diese Oralsprachen jedoch klar in der Mehrheit; evtl. Zahlen; 5-6000; vor 100 Jahren 1000 mehr, in 100 Jahren nur mehr rund 500). Von Sprachwandel erfasst werden dabei alle Ebenen des Sprachsystems, oft jedoch in unterschiedlicher Intensität. Zugleich gibt es Sprachbereiche, die gegenüber Phänomenen des Wandels resistenter sind als andere. So ist etwa der lexikalische und semantische Bereich einer Sprache (ausgenommen der sog. Grundwortschatz, der im Wesentlichen stabil bleibt), dynamischer als etwa der grammatische Bereich, also die Morphologie und die Syntax. Ein weiteres Element ist von Bedeutung, dass nämlich sprachlicher Wandel nicht alle gesellschaftlichen Gruppen und Textsorten gleichzeitig und in gleicher Intensität erfasst, sodass sich innerhalb der Sprechergemeinschaft Ungleichzeitigkeiten ergeben und mit ihnen sprachliche Heterogenitäten. Diese gesellen sich zu anderen sprachlichen Heterogenitäten/Ungleichgewichtigkeiten. Zu nennen sind hier die sog. Diasysteme, die sich aus Unterschieden in den Bereichen der sprachlichen Sozialisation und der Verwendungssitationen ergeben. Unterschieden wird hier zwischen diatopischen, diastratischen und diasituativen Unterschieden (kurz erklären). Über längere Zeiträume betrachtet, kann der Sprachwandel recht ausgeprägte Formen erreichen, und natürlich auch den morphosyntaktische und phonetisch-phonologische Bereich erfassen (s. etwa die Herausbildung des Personalpronomens oder des Artikels bei der Entwicklung der romanischen Sprachen aus dem Latein oder die Reduktion der drei lateinischen Genera zu zwei in den romanischen Sprachen oder überhaupt die Veränderung des synthetischen Latein hin zu den analytischen romanischen Sprachen: DOMINUS ANCILLAE CULTRUM DAT/El patron da el cuchillo a la criada; le patron donne le couteau à la servante); in ihrer Entstehung sind es jedoch immer nur minimale Schritte der Veränderung, die dabei von den jeweiligen Sprechern oft unbewusst vollzogen werden; in der Sprachwissenschaft wird vom Sprachwandel deshalb oft als von einem Prozess der "unsichtbaren Hand" gesprochen. 3 Klassen von Ereignissen: - solche, die ohne menschliches Tun ablaufen (Sonnenaufgang), - vom Menschen geplante Werke (Kriege) - und schließlich durch menschliches Tun bedingte, jedoch nicht als solche geplante (Entstehung von Trampelpfaden, Inflation des Geldes, Bevölkerungswachstum und eben Sprachwandel). Was sind nun inner- und außersprachlich die treibenden Kräfte des Sprachwandels: 1) Ebenso wie soziale Handlungsmuster prägt der Mensch in Laufe seiner Sozialisation auch sprachliche Handlungsmuster aus, die dann als sprachliche und kommunikatorische Kompetenz im Sprachwissen des Einzelnen 3 sedimentiert werden; sie werden soziosituativ im Sprachwissen gespeichert und für die Verwendung in Sprechsituationen bereitgehalten, in denen sie sich bisher als verwendbar erwiesen haben; jedes Sprachhandlungsmuster trägt also gewissermaßen seine eigene Geschichte als Index in sich; "werden nun Sprachhandlungsmuster in ähnlichen Situationen wieder benötigt, dann werden sie zugleich re-definiert, da diese Situationen nie völlig gleich sind, sondern eben nur ähnlich denen sind, die im Index verzeichnet sind. Dabei wird der soziosituative Index bei jeder Aktualisierung etwas verändert, entweder in seinem Fokus, seinem Brennpunkt verschoben, der eingeengt oder aber generalisiert..." (Klaus Mattheier) – Beispiel: Entwicklungsgeschichte von arriver oder charmer im Frz. 2) Wechselverhältnis zwischen Ökonomie und Mindestbedarf an sprachlicher Redundanz: jede Sprache hat immer auch vielfältige Redundanzen, die überhaupt erst gewährleisten, dass Sprache funktioniert (s. etwa deutsche Verbflexion mit weitgehender Redundanz zwischen Verbendung und Personalpronomen); Ausnahmen sind Computersprachen und Esperanto; auf der anderen Seite existiert das ökonomischen Prinzip, das das sprachliche System auf ein notwendiges Minimum zu reduzieren trachtet; zwischen beiden Prinzipien gibt es ein ständiges Hin und Her; wo Unfälle, notwendige Reparatur (Bsp.: GALLUS/Hahn und CATTUS/Katze im Okzitanischen beide zu ´gat´, was sicherlich nicht ohne Probleme; Wiederherstellung der Differenz durch bigey für Hahn/aus VICARIUS, der Aufseher und ´gat´ weiterhin für Katze). Ökonomie in der Sprachentwicklung könnte man auch anders ausdrücken als das was gewissermaßen "in der Luft liegt", d.h. das, was der allgemein Neigung der Menschen in der Gestaltung der Sprache entgegenkommt (siehe hierzu etwa das Sichversprechen (etwa Metathesen: Wepse statt Wespe, Herakles statt Herkules u.ä.), Angleichungen, Verdrängungen, Vermischung von Wörtern und Fügungen, ebenso Kraftwörter, Übertreibungen etc. 3) Heterogenität und Heterogenitätsbewältigung: Sprachwissenschaft lange davon ausgegangen, dass der Sprachwandel das Bemühen ist, die Integration eines Fremdkörpers in ein sonst homogenes Sprachsystem zu leisten; nun ist die Annahme eines homogenen funktionalen Sprachystems zwar weitgehend richtig, jedoch "...existiert im Sprachwissen des Einzelnen niemals nur ein Sprachsystem, sondern mit unterschiedlicher Vollständigkeit aktiv und passiv ein ganzes Bündel von Sprachen, Varietäten und Sprachstilen, die ständig miteinander interferieren; das heißt, von innen und von außen ist jedes Sprachsystem inhomogen; gerade diese Inhomogenität ist, davon geht man aus, innerhalb der Sprache der Motor der Sprachveränderung" (Klaus Mattheier); die in einer Sprache vorhandenen Varianten bilden also das Reservoir, aus dem heraus alle Wandelprozesse gespeist werden; ein solches Nebeneinander an Formen zeigt sich etwa an der Kopräsenz von sog. veralteten Elementen und Neuerungen, Sprachmoden (heute etwa Fülle von Anglizismen); hier ist dann 4 der Generationenwechsel der Ort aller Sprachveränderungen und damit Sprachwandel ein immerwährender Prozess. Diese Pluralität der Formen lässt einen darüber nachdenken, ob wir nicht auf die eine oder andere Art alle mehrsprachig sind. Folgerichtig gibt es Sprachwissenschaftler (v.a. Mario Wandruszka), die behaupten, die Mehrsprachachigkeit des Menschen wäre in einem viel stärkerem Maße gegeben, als wir gemeinhin annehmen. Jeder Mensch, sagt Wandruszka, wächst in verschiedene Sprachgemeinschaften hineinwächst; das ist kein Problem, da in seinem Hirn Platz für mehrere Sprachen ist, die er sich nebeneinander einprägt und miteinander in Verbindung bringt; die Mehrsprachigkeit des Menschen ist dabei ein nie endgültiger Zustand, sondern ein ständiger Vorgang; als Mensch unter Menschen zu leben, heißt, in einer immer unvollständigen Mehrsprachigkeit zu leben; Chomskys Modell des idealen Sprechers ist vor diesem Hintergrund eine theoretische Fehlkonstruktion, eine falsche Formalisierung des geschichtlichen Zufalls; für den Menschen gibt es weder eine vollkommene Beherrschung seiner Sprache noch eine völlig homogene Sprachgemeinschaft. Eine Sprache ist viele Sprachen: Sprachgemeinschaften in ständiger Überschneidung in alle Richtungen; Ineinandergreifen von Hochsprache, Dialekt, Soziolekt, Technolekt etc.; in und zwischen den Sprachgemeinschaften ist ständig alles in Bewegung (Laute, Wörter, Wendungen respektive phonetische, lexikalische und grammatische Strukturen); schon mit Muttersprache lernen wir dynamisches Polysystem kennen. Mehrsprachigkeit des Menschen lässt sich auch daran erkennen, dass sich bei näherer Betrachtung jede seiner Sprachen als Mischsprache herausstellt; die Strukturen der verschiedenen Sprachen sind in seinem Gehirn keineswegs hermetisch gegeneinander abgeschirmt, sondern befinden sich in ständiger Interaktion; der hybride Charakter der menschlichen Sprache zeigt sich darin, dass der Satz ´keine Regel ohne Ausnahme´ in besonderer Weise auf die menschliche Sprache zutrifft: Fülle an Polysemien, Polymorphien, Fülle an Ausnahmen und Ausnahmen von den Ausnahmen; die verwirrende Vielfalt der grammatischen Formen, der Deklinationen, Konjugationen, der unregelmäßigen, unvollständigen Paradigmen, der abweichenden Einzelformen, all das lässt sich durch kein wie immer geartetes ´System´ begründen; immerhin sind sprachliche Anomalien unserem Bewusstsein in besonderer Weise eingeprägt; auch sind unsere Sprachen keine im Kern perfekten Systeme, die nur an ihrer Peripherie „durch Ausnahmen verunreinigt“ sind (Zitat Wandruszka); es sind nämlich gerade die allerhäufigsten Substantive, Adjektive, Verben und Adverbien, die die meisten unregelmäßigen Formen aufweisen; es stellt sich die (provokante) Frage: Ist in der Sprache die Abweichung von der Regel die Ausnahme oder ist die Ausnahme die Regel? In der Sprache bzw. zwischen den Sprachen lassen sich keine festen Scheidewände erkennen; ihre verschiedenen Gestaltungen verhalten sich zueinander wie Mundarten; „die Gesamtheit der Sprachen ist unerschöpflich, sie 5 bildet, ganz abgesehen von einheitlichem oder mehrfachem Ursprung, ein Kontinuum, indem wir zwischen alle wirklichen, d.h. für uns erreichbaren Sprachen unendlich viel denkbare einschieben dürfen, als erloschene oder zukünftige.“ Dies ist die Ursache für allerlei Probleme in der Ziehung von Sprachgrenzen bzw. für die politische Instumentalisierung dieser Grenzen; ständige Neuvermessung der Sprachräume (Serbisch-Kroatisch, Rumänisch-Moldauisch, Korsisch-Italienisch, Katalanisch-Valencianisch, Okzitanisch-Französisch, Kreolisch-Französisch etc.) Wie lässt sich diese Fülle an nebeneinander existierenden Sprachen erklären? Nun, die Sprache jeden Sprechers ist stets ganzheitlich, holistisch. Sprachausbildung ist kein additiver Prozess, sondern ein zu jeder Zeit ganzheitliches Kommunikationsinstrument, das alle seine Bestandstücke auf sinnvolle Weise zu integrieren sucht. Das ist schon auf der Ebene des Kleinkindes so, das einen sehr kreativen Umgang mit seiner Sprache pflegt; so haben William und Clara Stern herausgearbeitet, dass die Sprache des Kleinkindes sog. Einwort-Sätze darstellt; so lässt sich die imperative Wortform erkennen, wenn ein Kleinkind mit dem Wort „laufen“ aus dem Kinderwagen klettert; meist prädikativ und handlungsbezogen, lässt sich Einwortsatz als prädikativ charakterisieren; systematische Verwendung von Syntagmen wie da Nana da Wauwau da Balla mehr Nana mehr Wauwau mehr Balla Eines der Wörter in derselben Position häufiger – scheint verschiedene grammatische Funktion zu erfüllen; an zweiter Stelle größeres Paradigma; damit zwei Ebenen. In der weiteren Entwicklung bildet das Kind eine stark begrenzte Anzahl an Angelpunkten/Pivots aus, um die sich Sätze drehen (und die morphosyntaktisch multifunktional sind); daneben gibt es eine große, offene Klasse aller übrigen Wörter. Vor allem in der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft, aber nicht nur dort, hat man sich intensiv mit der Frage nach Ursachen des Sprachwandels beschäftigt. Einige dabei formulierte Ansätze will ich kurz erwähnen: - Turgot (1727-1781 frz. Staatsmann unter Ludwig XIV) vertrat gewissermaßen die sprachliche Chaostheorie "Tout a pu se changer en tout."; - Schleicher (1821-1868) vertritt ein biologistisches Konzept von Sprachen, die sich unabhängig vom menschlichen Willen nach bestimmten Gesetzen geboren werden, sich entwickeln und sterben; sein Denken ist dabei stark vom Darwinismus geprägt; problematisch ist hier vor allem der Begriff des Sprachtodes - Warum? 6 - Junggrammatiker (Hermann Paul, Wilhelm Meyer-Lübke u.a.) formulieren die sog. Lautgesetze, denen zufolge sich der Lautwandel innerhalb der Sprachen gewissermaßen mechanistisch vollzieht, ohne Hinzutreten der Semantik bzw. der Bedeutungslehre; dort, wo diese Erklärung versagt, sehen sie das Wirken von Analogien, worunter sie sprachliche Leitformen verstehen, an die sich andere Formen Anpassen (siehe etwa die Tendenz zur Übergeneralisierung bei Kindern (ich gehte) oder das Bsp. ´des Nachts´. - Gilliéron: Vermeidung von Homonymien (s.o.) sowie Tendenz zur Überwindung der Arbitrarität sprachlicher Zeichen (etwa mittels Volksetymologien: Sündflut, Maulwurf); es gibt in der Sprache unmotivierte und halbmotivierte Wörter (Baum und sich aufbäumen; teils auch verlorengegangen/bereit von reiten, hässlich von Hass etc.) - Idealisten (Vossler): postuliert enge Beziehung zwischen der Sprachentwicklung und der politisch-gesellschaftlichen Entwicklung: so sieht er als Ursache für die Herausbildung der festen Wortstellung S-P-O im Französischen nicht vorrangig den Zusammenfall des Zweikasussystems, sondern die Liebe der Franzosen zu Logik und Regelmäßigkeit oder etwa die Entstehung des Teilungsartikels (unhistorisch) als Ausdruck des Kaufmannsgeistes; gleichwohl wichtiger Ansatz; - marxistische Theorie: Wirkung der gesellschaftlichen Umgebung: Nikolaus Marr (1920er Jahre) zufolge verändern sich die Sprachen gleichlaufend mit dem gesellschaftlichen Zustand der Gemeinschaft, die sie spricht; also Sprachtypus der primitiven Horde, der Sklavenhaltergesellschaft, der kapitalistischen Gesellschaft und der klassenlosen; folgen einander in historischer Abfolge; Marr spricht hier von Stadien; Sprache in dieser Konzeption ein Phänomen des Überbaus, den jede Gesellschaft zur Rechtfertigung ihrer Wirtschaftsweise erzeugt; - heute: Veränderungen des Sprachsystems bzw. Sprachwandel als Wechselspiel zwischen externen, soziolinguistischen und systemimmanenten Faktoren. Die radikalste Form des Sprachwandels ist die des Sprachwechsels; Voraussetzung für die Möglichkeit des Sprachwechsels ist die Existenz von zwei oder mehr Sprachen innerhalb einer Gesellschaft – eine Situation, die wir z.B. in kolonialen Situation antreffen. Der Gegenbegriff zum Sprachwechsel, und hier zunächst zu erklären, ist der Begriff des Spracherhalts: Spracherhalt ist das Festhalten einer Sprachgemeinschaft in einer anderssprachigen Umgebung an ihrer Erstsprache; gilt zunächst für nichtterritoriale Sprechergruppen, vor allem Arbeitsmigranten; lang andauernder Aufenthalt wird in der Regel Grundlage für Sprachwechsel: L1 wird zur L2, was oft den ersten Schritt zum Sprachverlust darstellt; aber auch territoriale Sprechergruppen können in die Gefahr des Sprachverlustes geraten, konkret dort, wo neben/über ihnen eine sprachlich dominierte Gruppe existiert (Katalanen vor allem in der Zeit der franquistischen Diktatur 1939-1975, 7 Quechua in Peru, Azteken in Mexiko und Maya in Guatemala; Bretonen, Okzitanen, Basken in Frankreich). Zwei hauptsächliche Bedingungen für Spracherhalt: a) gelungener Aufbau einer eigenen sprachlichen Infrastuktur, die den Erhalt einer breiten Praxis in der eigenen Sprache sichert (Romands in Biel, Anglophone in Quebec, zahlenbedingt Maya in Quetzaltenango, der zweitgrößten Stadt Guatemalas); b) dort wo sprachliche Assimilation nicht mehr sozial honoriert wird (immer vorausgesetzt, a ist gegeben und es gibt keine mit Gewaltmitteln erzwungene Sprachanpassung); derartige Situationen finden wird heute unter rezenten Migrantengruppen in Europa (Ghettoisierung von außen, wird von Innen mit Segregation beantwortet); Sprachwechsel/Sprachverlust ist Übergang einer Sprachgemeinschaft bzw. eines Individuums von L1 zu L2; gilt vor allem für Migrationssitationen, wo in der Regel eine Übergangsphase von 2-3 Generationen, teils auch weniger; Zweisprachigkeit hier oft nur Transitionsphänomen, die ursprüngliche L1 folklorisiert; unter Indigenen Lateinamerikas sehr verbreitet (v.a. Quechua, Nahua-Sprecher und Maya); hier vielfältige Bemühungen, Prozess zu stoppen und dauerhafte Zweisprachigkeit einzurichten. 8