Warum gibt es sprachliche Veränderungen bzw. warum sind

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Orientierungslehrveranstaltung II, SS 009 / Sprachwissenschaft (Cichon):
Warum gibt es sprachliche Veränderungen bzw. warum sind
Sprachen dynamische Systeme?
Ein kluger Mann, Ferdinand de Saussure, hat einmal gesagt: Die Sprache ist ein
soziales Phänomen/"la langue est un fait social"; von ihm selbst nicht weiter
verfolgter Gedanke, dennoch wichtige Grundaussage; Sprache dient den
Menschen zur klassifikatorischen Ordnung der sie umgebenden Welt sowie der
Verständigung über sie; in diesem Sinne ist Sprache ein Werkzeug; der Wert
dieses Werkzeuges liegt dabei in der Präzision und Adäquatheit, mit der sie den
Bezeichnungsbedarf einer Gesellschaft befriedigt; damit wird klar, dass die
Sprache als System kein monolithischer, ein für allemal festgelegter Block ist,
sondern ein bewegliches Gefüge, das sich in seiner Form den sprachlichen
Anforderungen der uns umgebenden Welt anpasst; entstehen in unserer
Gesellschaft neue Techniken, neue Formen sozialer Ordnung oder werden von
außen neue Gegenstände in sie importiert (Stichworte: walkman, Halbwertzeit,
mailen und chatten etc.), so ändert sich der Bezeichnungsbedarf einer
Gesellschaft und es kommt zu einer Umgestaltung des Sprachsystems; die
adäquate Beantwortung des jeweiligen Bezeichungsbedarfs einer Sprache macht
zugleich die Spezifik der jeweiligen Sprache aus und unterscheidet sie von allen
anderen, da verschiedene Gesellschaften verschiedene Formen des
Bezeichnungsbedarfs haben; indem die einzelnen Sprachen diesen
Bezeichnungsbedarf befriedigen, werden sie zu kongenialen Ausdrucksorganen
einer Gesellschaft (und die Sprecher sind ihnen gegenüber loyal: so kommt wohl
kaum jemand auf die Idee, in Österreich das Deutsche als Muttersprache etwa
gegen das Englische einzutauschen zu wollen; mit der Rolle des Slowenischen
in Kärnten, der des Quechua in Peru oder mit den Regionalsprachen in
Frankreich ist das bereits etwas anderes; doch dazu später mehr).
Sprachen sind mithin dynamische, veränderliche Systeme - das Ende
sprachlicher Veränderung wäre des Tod einer Sprache; Anpassung in
einsprachigen Gesellschaften kein Problem; schwieriger in mehrsprachigen;
Sprachen zugleich kulturspezifisch ausgebildet; jede Gesellschaft hat einen
eigenen Bezeichnungsbedarf; also die Idee einer gänzlich einheitlichen
Weltinnensprache wird immer eine Fiktion bleiben, wenngleich eine
Annäherung möglich ist (betrachten Sie etwa in diesem Zusammenhang das
Schicksal des Lateins...; neben variierendem Bezeichnungsbedarf kommen hier
verschiedene Super-, Sub- und Adstrate hinzu); Babel wird es immer geben;
zum andern aber gibt es auch innerhalb einer Gesellschaft sprachliche
Unterschiede (Berufsgruppen, soziale Gruppen, die sich von anderen abgrenzen
wollen – etwa Jugendliche und Wissenschaftler)
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Die Sicht auf die Sprache als kulturgruppenspezifisches Werkzeug nennt man
relativistisch, d.h. eine Kommunikationsgemeinschaft sucht sich ihre Sprache,
zugleich wird die Wirklichkeit sprachlich unterschiedlich erfasst und
wiedergegeben. Einige Sprachwissenschaftler gehen weiter und sprechen von
Sprache als einer eigenständigen geistigen Realität, die ihrerseits auf unser
Denken einwirkt. Diese Ausrichtung nennt man deterministisch. In dieser
Sichtweise geht es also nicht um die Gesellschaft, die die Sprache bestimmt,
sondern andersherum um die Sprache, die unser Denken und Bewusstsein prägt.
Die radikalste Form dieser Ausrichtung findet sich in der sog. Sapir-WhorfTheorie. Dazu Sapir: (Zitat) „Die Sprache ist nicht nur ein mehr oder minder
systematisches Inventar von verschiedenen Bestandstücken der Erfahrung, die
als für das Individuum bedeutsam erscheinen, wie so oft naiverweise
angenommen wird, sondern sie ist auch eine in sich selbst ruhende
schöpferische Organisation von Symbolen, die [...] in Wahrheit die Erfahrung
für uns definiert.“ (Zitat Ende) Sapirs Schüler Whorf geht noch einen Schritt
weiter und behauptet, eine Sprache konstituiere eine Art Logik, einen
allgemeinen Bezugsrahmen und forme so die Gedanken derer, die sie
regelmäßig benutzen. Er behauptet, dass dort, wo eine Kultur und eine Sprache
sich gemeinsam entwickelt haben, es signifikante Beziehungen zwischen den
allgemeinen Aspekten der Grammatik und den Wesensmerkmalen der
betroffenen Kultur gibt. Er hat versucht, dies anhand der Zeitkonzeption der
Hopi-Indianer aufzuzeigen (zirkuläres vs. unser lineares Zeitkonzept). In diesem
Zusammenhang ein Zitat des Soziologen Norbert Elias: „Wenn wir an einem
Fluss stehen und das kontinuierliche Fließen des Wassers vor unserem Auge im
Denken begrifflich erfassen und in der Kommunikation mit anderen ausdrücken
wollen, dann denken wir nicht etwa: Sieh das kontinuierliche Fließen des
Wassers. Wir sagen und denken: Sieh, wie schnell der Fluss fließt. Wir sagen,
der Wind steht still, als ob der Wind zunächst ein ruhendes Etwas wäre, das sich
zu einem bestimmten Zeitpunkt in Bewegung setzt und zu Wehen beginnt, also ob
der Wind etwas anderes wäre als das Wehen, als ob es auch einen Wind geben
könnte, der nicht weht. Dieser Typ der Zustandsreduktion erscheint denen, die
mit solchen Sprachen aufgewachsen sind, als selbstverständlich. Sie stellen sich
oft vor, dass man gar nicht anders denken und reden könne. Aber das ist
durchaus nicht der Fall.“ Während das Prinzip des sprachlichen Relativismus
unbestritten ist (dass also Sprachen Wirklichkeit unterschiedlich abbilden), über
das Maß sprachlichen Determinismus hingegen wird in der Sprachwissenschaft
viel gestritten (geozentrisches vs. heliozentrisches Weltbild – aufgrund von
Formulierungen wie ´die Sonne geht auf´? –Unsinn!)
Sprachwandel
bezeichnet
Veränderungen
innerhalb
einer
Sprachgemeinschaft entlang der Zeitachse. Jede Sprache, soweit sie keine tote
Sprache ist, ist solchen Veränderungen unterworfen ist. Hierbei spielt
gleichwohl eine wichtige Rolle, ob die jeweilige Sprache verschriftet ist oder
nicht. Wo eine Schrift vorliegt und mit ihr zugleich eine Orthographie bzw. eine
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orthographische Norm, zeigt sich diese Schriftsprache in Bezug auf lautlichen
Wandel resistenter/konservativer als Sprachen, die nur als Oralsprachen
existieren (weltweit sind diese Oralsprachen jedoch klar in der Mehrheit; evtl.
Zahlen; 5-6000; vor 100 Jahren 1000 mehr, in 100 Jahren nur mehr rund 500).
Von Sprachwandel erfasst werden dabei alle Ebenen des Sprachsystems, oft
jedoch in unterschiedlicher Intensität. Zugleich gibt es Sprachbereiche, die
gegenüber Phänomenen des Wandels resistenter sind als andere. So ist etwa der
lexikalische und semantische Bereich einer Sprache (ausgenommen der sog.
Grundwortschatz, der im Wesentlichen stabil bleibt), dynamischer als etwa der
grammatische Bereich, also die Morphologie und die Syntax. Ein weiteres
Element ist von Bedeutung, dass nämlich sprachlicher Wandel nicht alle
gesellschaftlichen Gruppen und Textsorten gleichzeitig und in gleicher Intensität
erfasst, sodass sich innerhalb der Sprechergemeinschaft Ungleichzeitigkeiten
ergeben und mit ihnen sprachliche Heterogenitäten. Diese gesellen sich zu
anderen sprachlichen Heterogenitäten/Ungleichgewichtigkeiten. Zu nennen sind
hier die sog. Diasysteme, die sich aus Unterschieden in den Bereichen der
sprachlichen Sozialisation und der Verwendungssitationen ergeben.
Unterschieden wird hier zwischen diatopischen, diastratischen und diasituativen
Unterschieden (kurz erklären).
Über längere Zeiträume betrachtet, kann der Sprachwandel recht
ausgeprägte Formen erreichen, und natürlich auch den morphosyntaktische und
phonetisch-phonologische Bereich erfassen (s. etwa die Herausbildung des
Personalpronomens oder des Artikels bei der Entwicklung der romanischen
Sprachen aus dem Latein oder die Reduktion der drei lateinischen Genera zu
zwei in den romanischen Sprachen oder überhaupt die Veränderung des
synthetischen Latein hin zu den analytischen romanischen Sprachen:
DOMINUS ANCILLAE CULTRUM DAT/El patron da el cuchillo a la criada;
le patron donne le couteau à la servante); in ihrer Entstehung sind es jedoch
immer nur minimale Schritte der Veränderung, die dabei von den jeweiligen
Sprechern oft unbewusst vollzogen werden; in der Sprachwissenschaft wird vom
Sprachwandel deshalb oft als von einem Prozess der "unsichtbaren Hand"
gesprochen. 3 Klassen von Ereignissen:
- solche, die ohne menschliches Tun ablaufen (Sonnenaufgang),
- vom Menschen geplante Werke (Kriege)
- und schließlich durch menschliches Tun bedingte, jedoch nicht als
solche geplante (Entstehung von Trampelpfaden, Inflation des Geldes,
Bevölkerungswachstum und eben Sprachwandel).
Was sind nun inner- und außersprachlich die treibenden Kräfte des
Sprachwandels:
1) Ebenso wie soziale Handlungsmuster prägt der Mensch in Laufe seiner
Sozialisation auch sprachliche Handlungsmuster aus, die dann als sprachliche
und kommunikatorische Kompetenz im Sprachwissen des Einzelnen
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sedimentiert werden; sie werden soziosituativ im Sprachwissen gespeichert und
für die Verwendung in Sprechsituationen bereitgehalten, in denen sie sich bisher
als verwendbar erwiesen haben; jedes Sprachhandlungsmuster trägt also
gewissermaßen seine eigene Geschichte als Index in sich; "werden nun
Sprachhandlungsmuster in ähnlichen Situationen wieder benötigt, dann werden
sie zugleich re-definiert, da diese Situationen nie völlig gleich sind, sondern
eben nur ähnlich denen sind, die im Index verzeichnet sind. Dabei wird der
soziosituative Index bei jeder Aktualisierung etwas verändert, entweder in
seinem Fokus, seinem Brennpunkt verschoben, der eingeengt oder aber
generalisiert..." (Klaus Mattheier) – Beispiel: Entwicklungsgeschichte von
arriver oder charmer im Frz.
2) Wechselverhältnis zwischen Ökonomie und Mindestbedarf an sprachlicher
Redundanz: jede Sprache hat immer auch vielfältige Redundanzen, die
überhaupt erst gewährleisten, dass Sprache funktioniert (s. etwa deutsche
Verbflexion mit weitgehender Redundanz zwischen Verbendung und
Personalpronomen); Ausnahmen sind Computersprachen und Esperanto; auf der
anderen Seite existiert das ökonomischen Prinzip, das das sprachliche System
auf ein notwendiges Minimum zu reduzieren trachtet; zwischen beiden
Prinzipien gibt es ein ständiges Hin und Her; wo Unfälle, notwendige Reparatur
(Bsp.: GALLUS/Hahn und CATTUS/Katze im Okzitanischen beide zu ´gat´,
was sicherlich nicht ohne Probleme; Wiederherstellung der Differenz durch
bigey für Hahn/aus VICARIUS, der Aufseher und ´gat´ weiterhin für Katze).
Ökonomie in der Sprachentwicklung könnte man auch anders ausdrücken
als das was gewissermaßen "in der Luft liegt", d.h. das, was der allgemein
Neigung der Menschen in der Gestaltung der Sprache entgegenkommt (siehe
hierzu etwa das Sichversprechen (etwa Metathesen: Wepse statt Wespe,
Herakles statt Herkules u.ä.), Angleichungen, Verdrängungen, Vermischung von
Wörtern und Fügungen, ebenso Kraftwörter, Übertreibungen etc.
3) Heterogenität und Heterogenitätsbewältigung: Sprachwissenschaft lange
davon ausgegangen, dass der Sprachwandel das Bemühen ist, die Integration
eines Fremdkörpers in ein sonst homogenes Sprachsystem zu leisten; nun ist die
Annahme eines homogenen funktionalen Sprachystems zwar weitgehend richtig,
jedoch "...existiert im Sprachwissen des Einzelnen niemals nur ein
Sprachsystem, sondern mit unterschiedlicher Vollständigkeit aktiv und passiv
ein ganzes Bündel von Sprachen, Varietäten und Sprachstilen, die ständig
miteinander interferieren; das heißt, von innen und von außen ist jedes
Sprachsystem inhomogen; gerade diese Inhomogenität ist, davon geht man aus,
innerhalb der Sprache der Motor der Sprachveränderung" (Klaus Mattheier);
die in einer Sprache vorhandenen Varianten bilden also das Reservoir, aus dem
heraus alle Wandelprozesse gespeist werden; ein solches Nebeneinander an
Formen zeigt sich etwa an der Kopräsenz von sog. veralteten Elementen und
Neuerungen, Sprachmoden (heute etwa Fülle von Anglizismen); hier ist dann
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der Generationenwechsel der Ort aller Sprachveränderungen und damit
Sprachwandel ein immerwährender Prozess.
Diese Pluralität der Formen lässt einen darüber nachdenken, ob wir nicht
auf die eine oder andere Art alle mehrsprachig sind. Folgerichtig gibt es
Sprachwissenschaftler (v.a. Mario Wandruszka), die behaupten, die
Mehrsprachachigkeit des Menschen wäre in einem viel stärkerem Maße
gegeben, als wir gemeinhin annehmen. Jeder Mensch, sagt Wandruszka, wächst
in verschiedene Sprachgemeinschaften hineinwächst; das ist kein Problem, da in
seinem Hirn Platz für mehrere Sprachen ist, die er sich nebeneinander einprägt
und miteinander in Verbindung bringt; die Mehrsprachigkeit des Menschen ist
dabei ein nie endgültiger Zustand, sondern ein ständiger Vorgang; als Mensch
unter Menschen zu leben, heißt, in einer immer unvollständigen
Mehrsprachigkeit zu leben; Chomskys Modell des idealen Sprechers ist vor
diesem Hintergrund eine theoretische Fehlkonstruktion, eine falsche
Formalisierung des geschichtlichen Zufalls; für den Menschen gibt es weder
eine vollkommene Beherrschung seiner Sprache noch eine völlig homogene
Sprachgemeinschaft.
Eine Sprache ist viele Sprachen: Sprachgemeinschaften in ständiger
Überschneidung in alle Richtungen; Ineinandergreifen von Hochsprache,
Dialekt, Soziolekt, Technolekt etc.; in und zwischen den Sprachgemeinschaften
ist ständig alles in Bewegung (Laute, Wörter, Wendungen respektive
phonetische, lexikalische und grammatische Strukturen); schon mit
Muttersprache lernen wir dynamisches Polysystem kennen.
Mehrsprachigkeit des Menschen lässt sich auch daran erkennen, dass sich
bei näherer Betrachtung jede seiner Sprachen als Mischsprache herausstellt; die
Strukturen der verschiedenen Sprachen sind in seinem Gehirn keineswegs
hermetisch gegeneinander abgeschirmt, sondern befinden sich in ständiger
Interaktion; der hybride Charakter der menschlichen Sprache zeigt sich darin,
dass der Satz ´keine Regel ohne Ausnahme´ in besonderer Weise auf die
menschliche Sprache zutrifft: Fülle an Polysemien, Polymorphien, Fülle an
Ausnahmen und Ausnahmen von den Ausnahmen; die verwirrende Vielfalt der
grammatischen Formen, der Deklinationen, Konjugationen, der unregelmäßigen,
unvollständigen Paradigmen, der abweichenden Einzelformen, all das lässt sich
durch kein wie immer geartetes ´System´ begründen; immerhin sind sprachliche
Anomalien unserem Bewusstsein in besonderer Weise eingeprägt; auch sind
unsere Sprachen keine im Kern perfekten Systeme, die nur an ihrer Peripherie
„durch Ausnahmen verunreinigt“ sind (Zitat Wandruszka); es sind nämlich
gerade die allerhäufigsten Substantive, Adjektive, Verben und Adverbien, die
die meisten unregelmäßigen Formen aufweisen; es stellt sich die (provokante)
Frage: Ist in der Sprache die Abweichung von der Regel die Ausnahme oder ist
die Ausnahme die Regel?
In der Sprache bzw. zwischen den Sprachen lassen sich keine festen
Scheidewände erkennen; ihre verschiedenen Gestaltungen verhalten sich
zueinander wie Mundarten; „die Gesamtheit der Sprachen ist unerschöpflich, sie
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bildet, ganz abgesehen von einheitlichem oder mehrfachem Ursprung, ein
Kontinuum, indem wir zwischen alle wirklichen, d.h. für uns erreichbaren
Sprachen unendlich viel denkbare einschieben dürfen, als erloschene oder
zukünftige.“
Dies ist die Ursache für allerlei Probleme in der Ziehung von Sprachgrenzen
bzw. für die politische Instumentalisierung dieser Grenzen; ständige
Neuvermessung der Sprachräume (Serbisch-Kroatisch, Rumänisch-Moldauisch,
Korsisch-Italienisch, Katalanisch-Valencianisch, Okzitanisch-Französisch,
Kreolisch-Französisch etc.)
Wie lässt sich diese Fülle an nebeneinander existierenden Sprachen erklären?
Nun, die Sprache jeden Sprechers ist stets ganzheitlich, holistisch.
Sprachausbildung ist kein additiver Prozess, sondern ein zu jeder Zeit
ganzheitliches Kommunikationsinstrument, das alle seine Bestandstücke auf
sinnvolle Weise zu integrieren sucht. Das ist schon auf der Ebene des
Kleinkindes so, das einen sehr kreativen Umgang mit seiner Sprache pflegt; so
haben William und Clara Stern herausgearbeitet, dass die Sprache des
Kleinkindes sog. Einwort-Sätze darstellt; so lässt sich die imperative Wortform
erkennen, wenn ein Kleinkind mit dem Wort „laufen“ aus dem Kinderwagen
klettert; meist prädikativ und handlungsbezogen, lässt sich Einwortsatz als
prädikativ charakterisieren; systematische Verwendung von Syntagmen wie
da Nana
da Wauwau
da Balla
mehr Nana
mehr Wauwau
mehr Balla
Eines der Wörter in derselben Position häufiger – scheint verschiedene
grammatische Funktion zu erfüllen; an zweiter Stelle größeres Paradigma; damit
zwei Ebenen. In der weiteren Entwicklung bildet das Kind eine stark begrenzte
Anzahl an Angelpunkten/Pivots aus, um die sich Sätze drehen (und die
morphosyntaktisch multifunktional sind); daneben gibt es eine große, offene
Klasse aller übrigen Wörter.
Vor allem in der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft, aber nicht nur
dort, hat man sich intensiv mit der Frage nach Ursachen des Sprachwandels
beschäftigt. Einige dabei formulierte Ansätze will ich kurz erwähnen:
- Turgot (1727-1781 frz. Staatsmann unter Ludwig XIV) vertrat gewissermaßen
die sprachliche Chaostheorie "Tout a pu se changer en tout.";
- Schleicher (1821-1868) vertritt ein biologistisches Konzept von Sprachen, die
sich unabhängig vom menschlichen Willen nach bestimmten Gesetzen geboren
werden, sich entwickeln und sterben; sein Denken ist dabei stark vom
Darwinismus geprägt; problematisch ist hier vor allem der Begriff des
Sprachtodes - Warum?
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- Junggrammatiker (Hermann Paul, Wilhelm Meyer-Lübke u.a.) formulieren die
sog. Lautgesetze, denen zufolge sich der Lautwandel innerhalb der Sprachen
gewissermaßen mechanistisch vollzieht, ohne Hinzutreten der Semantik bzw.
der Bedeutungslehre; dort, wo diese Erklärung versagt, sehen sie das Wirken
von Analogien, worunter sie sprachliche Leitformen verstehen, an die sich
andere Formen Anpassen (siehe etwa die Tendenz zur Übergeneralisierung bei
Kindern (ich gehte) oder das Bsp. ´des Nachts´.
- Gilliéron: Vermeidung von Homonymien (s.o.) sowie Tendenz zur
Überwindung der Arbitrarität sprachlicher Zeichen (etwa mittels
Volksetymologien: Sündflut, Maulwurf); es gibt in der Sprache unmotivierte
und halbmotivierte Wörter (Baum und sich aufbäumen; teils auch
verlorengegangen/bereit von reiten, hässlich von Hass etc.)
- Idealisten (Vossler): postuliert enge Beziehung zwischen der
Sprachentwicklung und der politisch-gesellschaftlichen Entwicklung: so sieht er
als Ursache für die Herausbildung der festen Wortstellung S-P-O im
Französischen nicht vorrangig den Zusammenfall des Zweikasussystems,
sondern die Liebe der Franzosen zu Logik und Regelmäßigkeit oder etwa die
Entstehung des Teilungsartikels (unhistorisch) als Ausdruck des
Kaufmannsgeistes; gleichwohl wichtiger Ansatz;
- marxistische Theorie: Wirkung der gesellschaftlichen Umgebung: Nikolaus
Marr (1920er Jahre) zufolge verändern sich die Sprachen gleichlaufend mit dem
gesellschaftlichen Zustand der Gemeinschaft, die sie spricht; also Sprachtypus
der primitiven Horde, der Sklavenhaltergesellschaft, der kapitalistischen
Gesellschaft und der klassenlosen; folgen einander in historischer Abfolge; Marr
spricht hier von Stadien; Sprache in dieser Konzeption ein Phänomen des
Überbaus, den jede Gesellschaft zur Rechtfertigung ihrer Wirtschaftsweise
erzeugt;
- heute: Veränderungen des Sprachsystems bzw. Sprachwandel als Wechselspiel
zwischen externen, soziolinguistischen und systemimmanenten Faktoren.
Die radikalste Form des Sprachwandels ist die des Sprachwechsels;
Voraussetzung für die Möglichkeit des Sprachwechsels ist die Existenz von
zwei oder mehr Sprachen innerhalb einer Gesellschaft – eine Situation, die wir
z.B. in kolonialen Situation antreffen.
Der Gegenbegriff zum Sprachwechsel, und hier zunächst zu erklären, ist der
Begriff des Spracherhalts: Spracherhalt ist das Festhalten einer
Sprachgemeinschaft in einer anderssprachigen Umgebung an ihrer Erstsprache;
gilt zunächst für nichtterritoriale Sprechergruppen, vor allem Arbeitsmigranten;
lang andauernder Aufenthalt wird in der Regel Grundlage für Sprachwechsel:
L1 wird zur L2, was oft den ersten Schritt zum Sprachverlust darstellt; aber auch
territoriale Sprechergruppen können in die Gefahr des Sprachverlustes geraten,
konkret dort, wo neben/über ihnen eine sprachlich dominierte Gruppe existiert
(Katalanen vor allem in der Zeit der franquistischen Diktatur 1939-1975,
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Quechua in Peru, Azteken in Mexiko und Maya in Guatemala; Bretonen,
Okzitanen, Basken in Frankreich).
Zwei hauptsächliche Bedingungen für Spracherhalt:
a) gelungener Aufbau einer eigenen sprachlichen Infrastuktur, die den Erhalt
einer breiten Praxis in der eigenen Sprache sichert (Romands in Biel,
Anglophone in Quebec, zahlenbedingt Maya in Quetzaltenango, der
zweitgrößten Stadt Guatemalas);
b) dort wo sprachliche Assimilation nicht mehr sozial honoriert wird (immer
vorausgesetzt, a ist gegeben und es gibt keine mit Gewaltmitteln erzwungene
Sprachanpassung); derartige Situationen finden wird heute unter rezenten
Migrantengruppen in Europa (Ghettoisierung von außen, wird von Innen mit
Segregation beantwortet);
Sprachwechsel/Sprachverlust ist Übergang einer Sprachgemeinschaft bzw. eines
Individuums von L1 zu L2; gilt vor allem für Migrationssitationen, wo in der
Regel eine Übergangsphase von 2-3 Generationen, teils auch weniger;
Zweisprachigkeit hier oft nur Transitionsphänomen, die ursprüngliche L1
folklorisiert; unter Indigenen Lateinamerikas sehr verbreitet (v.a. Quechua,
Nahua-Sprecher und Maya); hier vielfältige Bemühungen, Prozess zu stoppen
und dauerhafte Zweisprachigkeit einzurichten.
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