Neue Aufgaben und Anforderungen für Elektroingenieure Wer heute ein ingenieurwissenschaftliches Studium beginnt, will wissen, welche konkreten Aufgabenfelder in drei, fünf oder zehn Jahren auf ihn zukommen werden. Wie sich das Berufsbild für zukünftige Elektroingenieure entwickeln wird, ist eine zentrale Frage, mit der sich auch der VDE beschäftigt. Werkeln und Konstruieren, Löten, Basteln und Bauen: Das ist - zumindest was den einzelnen Ingenieur in seiner Werkstatt anbelangt - längst passé. Seit Jahrzehnten differenzieren sich die Berufsbilder von Ingenieuren immer weiter aus. "Doch gerade im Bereich Elektro- und Informationstechnik hat sich in den letzten etwa fünf Jahren nochmals ein enormer Wandel vollzogen, der in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurde", betont Prof. Dr.-Ing. Klaus Wucherer. Der Präsident des VDE ist auch Mitglied des Zentralvorstandes der Siemens AG. Der Ingenieur sei keinesfalls mehr ein "einsamer Tüftler", die Fähigkeit zur Teamarbeit sei Standard für jeden erfolgreich arbeitenden Ingenieur. Ingenieure der Gegenwart müssen in der Lage sein, sich schnell auf neue Technologien und Fragestellungen einzustellen und, nicht selten in direkter Zusammenarbeit mit dem Kunden, möglichst unmittelbar auf seine Bedürfnisse und Erwartungen eingehen. Dabei gehe es nicht um das "technisch Machbare, sondern um die Suche nach einer optimalen Lösung mit begrenzten Mitteln". "Der Ingenieur ist also kein Technokrat; für Möglichkeiten und Gefahren muß er ein Sensorium haben", so Klaus Wucherer. Für den VDE ergeben sich aus dieser Erkenntnis einschneidende Konsequenzen für jeden Ingenieur, insbesondere aber für den Elektrotechnik-Nachwuchs, der erst in den kommenden Jahren seine Ingenieurausbildung abgeschlossen haben wird. Herausforderung Systemintegration "Vom modernen Ingenieur werden hohe Flexibilität, solides Fachwissen und eine Reihe von überfachlichen Qualifikationen gefordert", so der VDE in einer aktuellen Stellungnahme. Bereits heute seien in den klassischen Tätigkeitsbereichen Konstruktion, Fertigung und (Software-)Entwicklung nur noch die Hälfte aller Ingenieure beschäftigt. Marketing und Vertrieb aber würden immer wichtiger, die Tätigkeitsbereiche Beraten, Organisieren, Vermitteln, Analysieren und Verkaufen sind zunehmend Teil des Aufgabenfeldes eines Ingenieurs. Häufig wird ein Ingenieur zum Projektmanager, der einen Spagat zwischen technischen und dienstleistungsorientierten Aufgabenbereichen zu bewältigen hat. Das "Denken in Kosten, Zeit und Qualität" steht dabei im Vordergrund. Als Grund für diese neue Aufgabenvielfalt, die sich teils erheblich über das klassische Feld der technischen Arbeit erstreckt, sieht der VDE die Zunahme der sogenannten "Systemintegration": "Die Fachleute arbeiten heute in interdisziplinären Teams, oft in internationaler Zusammensetzung und an verschiedenen Orten. Mitarbeiter der Marketingabteilung und Kunden werden häufig von Anfang an in die Entwicklung eines Systems einbezogen. Den Kunden werden auf sie zugeschnittene Problemlösungen und Dienstleistungen angeboten", so Klaus Wucherer. Ingenieure verantworten also nicht mehr einzelne Produkte und Geräte, sondern beschäftigen sich mit Lösungen, bei denen alle Komponenten, Software-Produkte und Dienstleistungen aufeinander abgestimmt sind. "Erfolgreiche Ingenieure zeichnen sich also auch aus durch ihr Systemwissen'", so der VDE. Der moderne Ingenieur verknüpfe sein Technik-Know-how mit seinem Wissen über Software, Vertrieb, Service und Marketing. Herausforderung Hard- und Software Waren Elektroingenieure früher hauptsächlich für die Hardware zuständig, sind die Grenzen zwischen Hardware und Software heute kaum noch auszumachen. Die meisten Innovationen werden durch eine intelligente Verbindung von Hard- und Software realisiert. Über Software-Parametrierung beispielsweise können in der Kfz-Elektronik die gleichen Bauteile für verschiedene Anwendungen hergestellt werden. Elektroingenieure benötigen also solides Fachwissen, sowohl der Ingenieurwissenschaften als auch der Informatik. Zudem sind die Werkzeuge des Ingenieurs heute kaum mehr Lötkolben und Platine sondern PC, spezielle und teils komplexe Softwareprogramme sowie Internet. Auch hier erfordert das schnelle Wachstum technischer Möglichkeiten Kompetenzen jenseits der klassischen Ingenieursausbildung. Herausforderung Interdisziplinarität Bereits heute stellen Ingenieure der Elektro- und Informationstechnik in einer Firma wie Siemens mehr als 500.000 verschiedene Produkte her, wobei das Produktionsprogramm vom kleinsten elektronischen Bauelement über informations- und kommunikationstechnische Anlagen, Anwendungssoftware, Geräte und Systeme, elektrische Antriebe und Leistungselektronik bis zu schlüsselfertigen Anlagen der Verfahrens-, beziehungsweise Kraftwerkstechnik und Leittechnik reicht. Die Entwicklung komplexer, vernetzter, informationsverarbeitender Systeme sowie von Energieversorgungssystemen werde - so der VDE noch weiter zunehmen. Dieses gegenseitige "Durchdringen" in den Anwendungsfeldern technischer und industrieller Entwicklungen führt bereits heute an den Hochschulen zu zahlreichen Querschnittsgebieten und interdisziplinären Studienrichtungen. Der ingenieurwissenschaftliche Nachwuchs muß sich aber darauf einstellen, daß die Liste der interdisziplinären Schnittstellen nicht nur zur Informatik, sondern beispielsweise auch der Medizintechnik, Mechatronik, Gebäudetechnik oder Fahrzeug- und Verkehrstechnik noch länger wird. Aus diesen Anforderungen ergeben sich aber auch breitgefächerte berufliche Chancen: Denn Ingenieure sind mittlerweile nicht nur tätig in Branchen wie der Elektrizitätswirtschaft, im Maschinenbau, in der Luft- und Raumfahrt, in der Umwelttechnik oder Automobilindustrie, sondern zunehmend beispielsweise auch in der Unternehmensberatung oder bei Banken und Versicherungen. Herausforderung: Image und "Spaß"-Faktor Nach wie vor gibt es - so der VDE - eine Diskrepanz zwischen dem, was sich Schüler und Studierende von ihrem Studium und Beruf erwarten, und dem Image, das Studium und Beruf eines Ingenieurs vermitteln. "Die Arbeit mit Menschen, die Möglichkeit, als Manager später selbst Entscheidungen zu treffen, Menschen anzuleiten oder die Tatsache, nicht nur kreative Arbeit zu leisten, sondern für die Gesellschaft auch nützliche Anwendungen und Dienste bereitzustellen, sind Aspekte, die für angehende Berufseinsteiger wichtig sind, die man aber nicht in Zusammenhang mit dem Berufsbild eines Ingenieurs bringt", so Klaus Wucherer. Mediziner, Rechtsanwälte, Sozialarbeiter, aber auch Betriebswirte und Wirtschaftsingenieure seien - was das Image anbetrifft - hier "klar im Vorteil". Eine Erklärung für dieses Ungleichgewicht zwischen Image und Realität sei unter anderem die Medienberichterstattung, die häufig suggeriere, "daß die technische Welt eine einzige Leichtigkeit ist". Technik - so der Vorwurf - würde durch eine derartige Berichterstattung zu einem "Raum, in dem das Wissen per Mausklick gewonnen wird, wo Mobilität anstandslos und die Kommunikation immer reibungslos vonstatten gehen und der elektrische Strom mit der gleichen Selbstverständlichkeit zur Verfügung steht wie die Luft zum Atmen." Durch diese Simplifizierung gehe in der Öffentlichkeit der hohe Anspruch des Ingenieurberufs verloren und das Ansehen leide. Dabei, so Klaus Wucherer, liege gerade in dem Umstand, daß Technik und erfolgreiche Ingenieurarbeit ohne Leistung und Anstrengung nicht möglich seien, ein "Spaß"-Faktor des Ingenieurberufes. Wucherer: "Man kann Freude am Erkenntnisfortschritt haben. Man kann Spaß daran haben, das Gelernte mit dem Gewußten rückkoppeln zu können, Zusammenhänge zu begreifen und daraus neue Ideen zu entwickeln." Die Herausforderungen (elektro)ingenieurwissenschaftliche Ziele zu erkennen, um verstärkt Freude aus Innovation und Geleistetem zu entwickeln, das müsse sich in den Köpfen von angehenden Ingenieuren stärker verankern. Prof. Dr.-Ing. Klaus Wucherer ist VDE-Präsident und Mitglied des Zentralvorstandes der Siemens AG. Ingenieure müssen keine Alleskönner sein ? Herr Prof. Wucherer, Sie sehen im Strukturwandel der Industrie die Ursache für den Wandel im Aufgaben- und Verantwortungsbereich der Ingenieure von morgen. Nicht nur von morgen. Der Wandel hat schon heute gravierende Auswirkungen auf das Berufsverständnis eines Ingenieurs. Die Arbeit des Ingenieurs verlagert sich von der Entwicklung neuer technischer Komponenten und Geräte hin zur Projektierung, Implementierung und Integration komplexer Systeme aus Hard- und Software sowie deren Konfigurierung und Betrieb. Es wächst der Anteil von Software-Arbeiten und des sogenannten Engineering an der Wertschöpfung. ? Welche Konsequenzen ergeben sich Ihrer Meinung nach daraus? Die Folge dieses strukturellen Wandels ist, daß die existierenden traditionellen Arbeits- und Organisationsmuster in den Unternehmen, die weitgehend auf funktionale Strukturen ausgerichtet sind, so nicht weiter bestehen bleiben. Es wird sich in den nächsten Jahren der bereits begonnene Prozeß verstärken, Teams zu bilden, die abteilungs- und fachübergreifend an einem Projekt zusammenarbeiten. Diese Arbeitsweise bedingt eine partnerschaftliche Führung sowie die Orientierung am Gesamtziel. Die Ingenieure denken nicht nur in Funktionen, sondern in Prozessen; sie müssen lösungsorientiert arbeiten. ? Ingenieure werden vom Individualtüftler zum Teamarbeiter? Ja und das gilt nicht nur innerhalb ihrer Kernaufgaben! Ingenieure und Naturwissenschaftler müssen mit Mitarbeitern anderer Disziplinen, Kaufleuten und vor allem den Kunden zusammenarbeiten. Sie müssen betriebswirtschaftliche Grundkenntnisse haben, sie sollten motivieren können und bei Problemen als Moderator auftreten. Die Kundenorientierung der Unternehmen führt dazu, daß nicht nur High-Tech-Produkte verlangt werden, sondern auch deren hohe Verfügbarkeit und Qualität sowie Low-cost-Angebote. Deshalb muß der Ingenieur ein ausgeprägtes Termin-, Kosten- und Qualitätsbewußtsein mitbringen und sich zunehmend mit kaufmännischen Fragestellungen auseinandersetzen. ? Hinzu kommen Grundkenntnisse in den Bereichen Wirtschaft... ... und auch im Marketing oder der Unternehmensführung. Für diese Aufgaben und Qualifikationen werden persönlichkeitsbezogene Kompetenzen benötigt wie Problemlösungsfähigkeiten, Bewußtsein für lebenslanges Lernen, Einfühlungsvermögen in die Bedürfnisse der Kunden sowie Wissen um kulturelle Unterschiede in einem globalen Umfeld. ? Sie sprechen auch davon, daß unter Umständen sogar Öffentlichkeitsarbeit zum Aufgabenfeld von Ingenieuren zu zählen ist. Denken Sie beispielsweise an den Bereich Energiewirtschaft. Kunden und Verbraucher fragen bei Produkten und Systemen auch nach der Umweltfreundlichkeit hinsichtlich Herstellung, Gebrauch und Entsorgung. Die Auswirkungen ingenieurwissenschaftlicher Arbeit auf die Menschen und die gesamte Gesellschaft führen zu einer größeren Öffentlichkeit, der sich Ingenieure vermehrt stellen. ? Der Ingenieur soll also zum Alleskönner mutieren? Nein, das ist damit nicht gemeint. Die hohen Anforderungen bedeuten nicht, daß jeder alles können muß. Allerdings müssen Ingenieure der Zukunft die Fähigkeit haben, in einem Team zu arbeiten, in dem sich einzelne Kompetenzen ergänzen. In der Praxis wird der Ingenieur also als ein Problemlöser betrachtet, der sich schnell auf neue Technologien und Fragestellungen einstellen kann. Text ist erschienen im Hochschulanzeiger Nr. 70, 2004