Glossar Vorbemerkung Dieses Glossar wendet sich an alle Leserinnen und Leser des Aufrufs und der Flugschrift, die über keine ausreichenden Grundkenntnisse in den Bereichen Geschichte, politische Ökonomie und Sozialwissenschaften verfügen. Es soll die in den Texten mehr oder weniger durchgängig benutzten Begriffe allgemeinverständlich, knapp und präzise erläutern und dadurch – ergänzend zur Bibliographie - die Voraussetzungen für eine vertiefte Auseinandersetzung mit unserem Plädoyer für ein egalitäres und solidarisches Europa verbessern. Selbstverständlich konnten wir nicht alle zur Diskussion stehenden Begriffe und Phänomene erläutern. Wir mussten folglich eine Auswahl treffen. Dabei haben wir uns auf solche Probleme der Konzeptualisierung konzentriert, die bei den Diskussionen anlässlich der zahlreichen Veranstaltungen zur Vorstellung des Aufrufs und der Flugschrift besonders intensiv erörtert wurden. Wir fühlen uns zu diesem Vorgehen nicht zuletzt deshalb verpflichtet, weil wir mit unserem „Manifest für ein egalitäres Europa“ eine politische Programmschrift vorgelegt haben, die in ihren Aussagen wissenschaftlich begründet ist. Darüber hinaus ist das Glossar so angelegt, dass es den Leserinnen und Lesern verdeutlicht, an welchen Punkten wir mit unserer Sicht auf die Dinge vom „Mainstream“ abweichen und hin und wieder auch neue Begriffe eingeführt haben. Karl Heinz Roth Zissis Papadimitriou Roland Herzog 1 Agenda 2010 Unter dem Begriff „Agenda 2010“ wird ein Bündel arbeits- und sozialpolitischer Maßnahmen zusammengefasst, die die sozialdemokratisch-grüne deutsche Bundesregierung in den Jahren 2001 bis 2004 verabschiedet hat. Sie führten zu einer systematisch durchdachten Flexibilisierung und Deregulierung der Arbeitsverhältnisse, zu neuen Formen der Arbeitserzwingung gegenüber den Langzeiterwerbslosen („Hartz IV“) sowie zu umfassenden Einschränkungen im Bereich der öffentlichen Sozialtransfers, insbesondere bei den Altersrenten. Hinzu kamen Aktivitäten zum Umbau der öffentlichen Verwaltung, des Bildungswesens und des Gesundheitssektors, die eine spezifische Variante der seit den 1980er Jahren weltweit in Gang gekommenen Privatisierung der öffentlichen Güter auf den Weg brachten. Die wesentlichen Ergebnisse der „Agenda 2010“ waren eine massive Senkung der Lohnstückkosten, die langfristige Deckelung der tiefen bis mittleren Realeinkommen, die Erzeugung von Altersarmut und der Aufbau eines breit gefächerten Niedriglohnsektors. Im Gegensatz zur Entwicklung in anderen Ländern der Triade-Region wurde die stetig zunehmende Schicht der Leiharbeiter, befristet Beschäftigten, Scheinselbständigen und Minijobber jedoch nicht vollständig aus den sozialen Sicherungssystemen ausgeschlossen. Sie blieb vielmehr durch – häufig nur symbolisch wirkende und weit unter dem Existenzminimum justierte – Anwartschaften auf soziale Transferzahlungen in das arbeits- und sozialpolitische Regulationssystem integriert. Gerade dadurch kam es zu stabilen, durch sozialpsychologische Abstiegsängste verfestigten Formen der Klassenfragmentierung in Kernbelegschaften, Randbelegschaften und arbeitende Arme. Diese spezifische Fragmentierung unterwarf die breite Masse der Erwerbsabhängigen einem zermürbenden Anpassungsprozess und blockierte den Weg zu breiten Massenprotesten. Insofern weist die „Agenda 2010“ eine makabre Erfolgsgeschichte auf. Sie wird deshalb heute weit über EU-Europa hinaus als arbeits- und sozialpolitische Matrix der Austeritätsprogramme kopiert. Arbeitende Klassen und Schichten – Die Heterogenität der Klassenzusammensetzung 2 In den Perioden der kapitalistischen Industrialisierung stellte der männliche Proletarier der industriellen Großproduktion sowohl einen herausragenden Repräsentationstypus als auch den zentralen Bezugspunkt der klassischen Arbeiterbewegung dar. Die Vielfältigkeit der sozialen Arbeitsverhältnisse wurde dadurch aber übersehen und eingeebnet. Seit der tiefgreifenden Krise der organisierten Arbeiterbewegung ist wieder ein unverstellter Blick auf die Welt derjenigen möglich, die, um ihr Dasein zu fristen, abhängige und fremdbestimmte Arbeit leisten müssen. Dabei manifestieren sich derart ausgeprägte Differenzierungen, Segmentierungen und Schichtungen, die es verunmöglichen, einfach von der Arbeiterklasse auszugehen. Dieser Begriff ist bis zu einem bestimmten Grade obsolet geworden und gibt eine unstimmige Einheitlichkeit wieder. Arbeitsproduktivität Die Arbeitsproduktivität ist eine proportionale Größe: Sie ist der Quotient aus Output und Arbeitsstunden innerhalb einer bestimmten Zeitspanne. In der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung entspricht das reale Bruttoinlandsprodukt der durchschnittlichen Arbeitsproduktivität multipliziert mit dem Arbeitsvolumen. Hierzu werden meistens lediglich die Erwerbstätigen oder die bezahlten Arbeitsstunden eingesetzt, womit der große Anteil an unbezahlter Arbeit nicht berücksichtigt wird. Wesentliche Bestimmungsfaktoren der Arbeitsproduktivität sind der technologische Entwicklungsstand, die Arbeitsorganisation und die durchschnittliche Intensität der Verwertung des Arbeitsvermögens innerhalb eines definierten Wirtschaftsraums. Austeritätspolitik, Austeritätsprogramme Der Begriff Austeritätspolitik ist eine aus dem Angelsächsischen („Austerity“) entlehnte sprachliche Neuschöpfung. Er umfasst alle Aspekte einer restriktiven und das ökonomische Wachstums dämpfenden Wirtschaftspolitik: Die Beschränkung des Geldvolumens zur Stabilisierung der Preise, Lohnsenkungen im öffentlichen und privaten Sektor, die Anhebung der Massensteuern, die Reduktion der öffentlichen Sozialleistungen sowie der Investitionen in die Infrastruktur einer Nationalökonomie (Bildungs- und Gesundheitswesen, regionale Versorgungsbetriebe und öffentliche 3 Infrastruktur). In Abschwungsphasen des wirtschaftlichen Zyklus wirkt die Austeritätspolitik krisenverschärfend. Die dadurch bedingten sozialen Kosten werden von den Akteuren der Regulationssysteme überwiegend mit dem hohen Stand der Staatsverschuldung und der gesunkenen Wettbewerbsfähigkeit der jeweiligen Nationalökonomie gerechtfertigt und auf die unteren und mittleren Klassen abgewälzt. Bretton-Woods- System Das Bretton-Woods-System verdankt seinen Namen einem kleinen Badeort an der US-amerikanischen Ostküste, in dem im Sommer 1944 unter führender Beteiligung US-amerikanischer und britischer Sachverständiger die globale währungs- und wirtschaftspolitische Nachkriegsordnung geschaffen wurde. Sein Kernstück bildete die Vereinbarung, den US-Dollar fest an das Gold zu binden (1 Unze Gold = 36 USDollar) und auf dieser Basis für alle Weltwährungen feste Wechselkurse einzuführen. Zur Fixierung und allfälligen Korrektur dieser Wechselkursrelationen wurde der Internationale Währungsfonds (IMF) geschaffen, an dem sich die Signatarnationen mit ihrer Wirtschaftsleistung entsprechenden Stimm- und Kreditziehungsrechten beteiligten. Parallel dazu wurde eine Weltbank zur Stimulierung der wirtschaftlichen Entwicklung in der kapitalistischen Peripherie gegründet. Das Bretton-Woods-System zementierte den dominierenden geostrategischen Einfluss, den die USA im Verlauf des zweiten Weltkriegs erreicht hatten, auf der globalen ökonomischen Sphäre. Die Sowjetunion schloss sich ihm nicht an. Ihre ablehnende Haltung wurde dadurch bestimmt, dass keine ernsthaften Versuche unternommen wurden, den Wiederaufbau ihrer durch den deutschen Aggressionskrieg weitgehend zerstörten Wirtschaftsstruktur durch günstige Sonderdarlehen zu unterstützen. Aber auch weitergehende, vom britischen Chefunterhändler John Maynard Keynes erarbeitete Vorschläge zur dauerhaften Eindämmung globaler Ungleichgewichte durch die Etablierung einer internationalen Ausgleichsinstanz („Clearing Union“) konnten sich nicht durchsetzen. Bruttoinlandsprodukt 4 Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) kann auf verschiedene Arten ermittelt werden. Auf der Entstehungsseite ist es die Summe aller innerhalb eines Jahres produzierten Waren und mit Preisen versehenen Dienstleistungen einer Nationalökonomie, einer Region oder der ganzen Welt nach Abzug der Vorleistungen. Es entspricht gleichzeitig der Summe der Erwerbs- und Vermögenseinkommen, die im jährlichen Produktionszyklus entstanden sind, unter Abzug der dafür aufgebrachten Subventionen sowie zuzüglich der Abschreibungen und Abgaben und mit Einbezug ausländischer Primäreinkommen, sowie auch der Summe von Ausgaben für Konsum und Investitionen unter Einbezug des Ergebnisses von Exporten und Importen. De-facto-Goldstandard Als De-facto-Goldstandard wird eine währungspolitische Struktur bezeichnet, deren Auswirkungen dem Gold-Standard-System entsprechen, obwohl Gold keine eigene Rolle spielt. Im Goldstandard-System ist die jeweils zirkulierende Geldmenge in einem festen Verhältnis an die vorhandene Goldreserve gebunden. Nimmt diese Goldreserve ab, weil beispielsweise Leistungsbilanzdefizite gegenüber den Handelsbilanzpartnern einer Nationalökonomie durch Goldlieferungen ausgeglichen werden müssen, sind zusätzliche Finanzierungskredite notwendig und Zinserhöhungen die Folgen. Damit schrumpft die Binnenwirtschaft schrumpft. Der Goldstandard bringt mithin keineswegs einen automatischen Ausgleich, sondern wirkt prozyklisch. Gleiches gilt, wenn Nationalökonomien mit starken Unterschieden in ihrer Wettbewerbsfähigkeit in ein einheitliches Währungssystem integriert sind. Wettbewerbsschwache Länder sind dann chronischen Leistungsbilanzdefiziten ausgesetzt. Bis zu einer gewissen Grenze können sie ihre Importüberschüsse durch eine Zunahme der öffentlichen Verschuldung ausgleichen. Da die Gläubiger der Staatsanleihen diese Entwicklung jedoch nicht tatenlos hinnehmen, folgen haushaltspolitische Stabilisierungsmaßnahmen auf Kosten der Löhne, Sozialtransfers und öffentlichen Investitionen. Diese restriktiven Eingriffe führen zur Schrumpfung der Binnenwirtschaft und die Krisentendenzen verschärfen sich (vgl. auch „Austeritätspolitik“, „Innere Abwertung“). 5 Direkte Aktion Unter diesem Begriff fassen wir alle Handlungen und Handlungsoptionen zusammen, die den arbeitenden Klassen und Schichten zur selbstbestimmten Strukturierung ihres sozialen Widerstands und zur Durchsetzung ihrer materiellen Interessen zur Verfügung stehen. Die direkte Aktion knüpft an den je spezifischen Handlungsfeldern des alltäglichen Lebens an, ermöglicht den engagierten Subjekten eine Befreiung von mentalen und habituellen Strukturen des Herrschaftssystems und befähigt sie zunehmend, die zur Durchsetzung ihrer elementaren Grundbedürfnisse und emanzipatorischen Hoffnungen erforderlichen Netzwerke der Selbstorganisation aufzubauen. Insofern ist die direkte Aktion der Schlüssel zur Entwicklung kollektiver Lernprozesse, die wiederum die entscheidende Vorbedingung für die Initiierung der Systemtransformation darstellen. In der klassischen Arbeiterlinken bezogen sich nur heterodoxe Minderheiten (insbesondere die Anarchosyndikalisten) auf die direkte Aktion. Sie wurde aber auch in revolutionären Umsturzperioden (so etwa während der internationalen Sozialrevolten der Jahre 1916-1921) in Gestalt der Rätebewegung zu einer Massenerfahrung. Bei den Sozialrevolten der globalen 1968er Bewegung spielte die direkte Aktion wieder eine entscheidende Rolle. Dies war dadurch möglich geworden, dass undogmatische Strömungen der Neuen Linken – so etwa die Gruppe „Socialisme ou Barbarie“ und die Netzwerke des Operaismus – die Handlungsfelder der direkten Aktion mit neuen Verfahren der Analyse von Arbeits- und Klassenverhältnissen verknüpften. Direkte Demokratie In der direkten Demokratie entscheiden alle in einer definierten Gebietseinheit lebenden Menschen unmittelbar über ihre sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Belange. Sie nehmen ihre Entscheidungs- und Stimmrechte somit ohne das Dazwischentreten von Parteien und Berufspolitikern wahr. Periodisch erfolgt ein personeller Wechsel in den selbstverwalteten Entscheidungs- und 6 Verwaltungsgremieng. Die Entscheide unterliegen dem Votum von Vollversammlungen oder Referenden. Dadurch ist die Entstehung einer politischen Klasse, die von den Wahlberechtigten in mehr oder weniger regelmässigen Ausmarchungen legitimiert wird und sich die Souveränitätsrechte der Bevölkerung weitgehend aneignet, ausgeschlossen. Insofern besteht ein klarer definitorischer Unterschied zwischen direkter, halbdirekter und indirekter Demokratie. Die direkte Demokratie ist jedoch kein abstrakter Idealzustand und auch kein universelles Allheilmittel gegen die immer deutlicher zu Tage tretende autoritäre Deformation der repräsentativen Demokratie. Die direkte Demokratie kann nur aus den konkreten Lernprozessen des lokal und zugleich transnational assoziierten arbeitenden Klassen und Schichten hervorgehen; gegenwärtig kann sie nur im Kontext der Entfaltung alternativ-ökonomischer Strukturen und der umfassenden Wiederaneignung der öffentlichen Güter entwickelt und erprobt werden. Im Gegensatz dazu halten wir alle Versuche, die direkte Demokratie geschichtsphilosophisch als „Urform“ der Demokratie – etwa durch den Rückgriff auf die attische Demokratie der Antike – zu beschwören, für problematisch, weil sie zumeist auf eine kleine stimmberechtigte Minderheit freier und vermögender Männer begrenzt war, während die Frauen und die Unfreien (insbesondere die Sklaven) ausgeschlossen blieben. Die elementare Basis einer direkten Demokratie bilden die Vollversammlungen der kleinen Gemeinschaften auf kommunaler Ebene. In ihnen finden die entscheidenden Lernprozesse der selbstbestimmten Gesellschaften statt, welche den Aufbau der föderativen Strukturen der größeren Gebietseinheiten (Kantone, Regionen, kontinentale Föderationen und Weltföderation) ermöglichen. Durch diesen räteartigen Aufbau von unten nach oben können die zentralen Defizite der nationalstaatlich – bzw. im Fall der Europäischen Union partiell supranationalstaatlich – verfassten repräsentativen Demokratie überwunden werden. Aufgaben und Funktionen eines kapitalistischen Regulationssystems und die Indienstnahme der politischen Klasse durch die Steuerungsinstrumente des Kapitals und des militärisch-industriellen Komplexes werden Zug um Zug aufgehoben. Der Weg zur direkten Demokratie wird keineswegs widerspruchsfrei verlaufen, wie die historischen und aktuellen Erfahrungen – etwa die Experimente des Frühsozialismus oder das häufig zu Rate gezogene schweizerische Beispiel – 7 zeigen. Es wird deshalb darauf ankommen, frühzeitig die universellen sozialen und individuellen Menschenrechte konstitutionell zu sichern, die Strafen- und Repressionssysteme – wie etwa die Todesstrafe und die totalen Institutionen der Einschließung – zu ächten und dafür Sorge zu tragen, dass die heute so weit entwickelten medialen Instrumente zur „populistischen“ Manipulation und Steuerung der öffentlichen Meinung frühzeitig enteignet und dem direkten Willen des Souveräns unterworfen werden. Entscheidende Reformen Als „entscheidende Reform“ bezeichneten linkskeynesianische Theoretiker strukturelle Eingriffe in die gesamtwirtschaftlichen Abläufe, die zyklische Krisentendenzen und Zustände von Unterbeschäftigung überwinden sollten. Dazu gehörten der umfassende Auf- und Ausbau sozialer Sicherungssysteme, die dauerhafte Stärkung der Verhandlungsmacht der Gewerkschaften, die Verstetigung der Investitionen durch die Verstaatlichung der wirtschaftlichen Schlüsselsektoren und den Aufbau eines soliden öffentlichen Budgets. Durch die Deregulierung, den Abbau der öffentlichen Sektoren, umfassende Privatisierungsmaßnahmen und die Globalisierung der Geld- und Kapitalströme sind diese strategischen Optionen seit den 1970er-Jahren ausgehebelt und marginalisiert worden. Wer sich heute für „entscheidende Reformen“ einsetzt, wird sich nicht auf eine Wiederherstellung dieses historischen Status quo zwischen Kapital und Arbeit beschränken können. Es muss vielmehr den seither geschaffenen Tatsachen Rechnung getragen und eine weitergehende Perspektive angestrebt werden, die nicht die Stabilisierung, sondern die Transformation des kapitalistischen Weltsystems zum Ziel hat. Dazu gehören die von einer breiten Massenbewegung getragene Demokratisierung der Arbeitsprozesse, eine radikale Arbeitszeitverkürzung, der Aufbau selbstverwalteter sozialer Sicherungssysteme, die Wiederaneignung der öffentlichen Güter, die Durchsetzung der Geschlechtergleichheit, die Sozialisierung der Investitionen, die Rückverteilung des gesellschaftlichen Reichtums, der dauerhafte Ausgleich ökonomischer Ungleichgewichte und eine radikale Kehrtwende in der Umweltpolitik. In Ihrem Zusammenwirken könnten diese entscheidenden Reformen eine kritische 8 Masse bilden, die den Weg zu einer irreversiblen Umwälzung des kapitalistischen Weltsystems frei macht (vgl. auch „Umwälzung“). Euro-Krise Die Euro-Krise ist ein auf EU-Europa konzentriertes Sonderphänomen, das sich beim Übergang der Großen Rezession von 2007-2009 zur Globalen Stagnation herausgebildet hat. Ihre strukturellen Ursachen liegen in den sozioökonomischen Ungleichgewichten begründet, die die Europäische Union seit ihrer Entstehung auszeichnen und sich seit der Einführung der Einheitswährung in einem Teil der EUMitgliedsländer weiter verstärkt haben. Diese Ungleichgewichte akzentuierten den Krisenverlauf in den ersten Krisenjahren von 2007 bis 2009. Während sich nach dieser Periode die wettbewerbsstarken Länder der Euro-Zone rasch wieder erholten, vertiefte sich die Rezession in den Peripherieländern zu einer schweren Depression und brachte deren Finanzsektoren an den Rand des Zusammenbruchs. Eine weitere Folgeerscheinung war die Überschuldung der privaten und öffentlichen Haushalte in einigen Peripherieländern, die das Problem eines Schuldenschnitts und finanzieller Transferleistungen seitens der Kernländer aufwarf. Die Lösungsansätze dazu wurden jedoch seitens der EU-Kommission und der Europäischen Zentralbank äußerst restriktiv gehandhabt und mit harten Austeritätsprogrammen verknüpft, in deren Gefolge sich die krisenhafte Entwicklung in den Peripherieländern weiter vertiefte und die sich in EU-Europa abzeichnende wirtschaftliche Erholung wieder abwürgte. Europäischer Stabilitätsmechanismus / „Euro-Rettungsschirm“ Der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) ist ein im Verlauf der Euro-Krise geschaffener Notfallfonds der Mitgliedsländer der Euro-Zone der Europäischen Union. Er soll überschuldete Mitgliedsländer durch Bürgschaften und die Gewährung zinsgünstiger Kredite vor dem Staatsbankrott bewahren. Der ESM hat den Charakter einer internationalen Finanzierungsinstitution mit Sitz in Luxemburg und nahm Ende September 2012 seine Funktion auf. 9 Der ESM ist aus einem ad hoc improvisierten Vorläufer hervorgegangen, der im Mai 2010 unter dem Namen Europäische Finanzstabilitäts-Fazilität (EFSF) zur Abwendung des griechischen Staatsbankrotts gegründet worden war. Die EFSF konnte auf den privaten Kapitalmärkten Anleihen bis zu einem Umfang von 440 Mrd. Euro aufnehmen, hinzu kamen Kreditzusagen der EU-Mitgliedsstaaten bis zu 60 Mrd. Euro sowie ein auf maximal 250 Mrd. Euro begrenzter Kreditrahmen des Internationalen Währungsfonds (IMF). Als sich die Staatsschuldenkrise im Verlauf der Eurokrise auf weitere Peripherieländer der Euro-Zone – insbesondere Irland, Portugal, Spanien und Zypern – ausdehnte, beschlossen die Entscheidungsgremien, das Provisorium EFSF in eine dauerhafte Einrichtung umzuwandeln. Die Einrichtung des ESM wurde im März 2011 durch den Rat der Finanzminister der Euro-Zone beschlossen. Nach dem Ratifizierungsverfahren zahlten die Mitgliedsländer 80 Mrd. Euro als Grundkapital ein. Wie die EFSF kann der ESM auf den Kapitalmärkten Anleihen bis zu einer Höhe von 420 Mrd. Euro aufnehmen, für die die Mitgliedsstaaten bürgen. Darüber hinaus kann der ESM auch Staatsanleihen überschuldeter Mitgliedsländer aufkaufen. Im Gegenzug wurden der Gouverneur und das Direktorium des ESM ermächtigt, die Schuldentragfähigkeit der öffentlichen Kreditnehmer zu prüfen und ihnen makroökonomische Sanierungsprogramme aufzuerlegen. Im Kontext von EFSF und ESM haben die Mitgliedsländer der Euro-Zone und die EU-Kommission bislang 340 Mrd. Euro als Gegenleistung zu den in den Peripherieländern gestarteten Austeritätsprogrammen zur Verfügung gestellt, weitere 79 Mrd. Euro stellte der IMF zur Verfügung. Da der provisorische und der dauerhafte Stabilitätsmechanismus eine sehr eng geführte Ersatzlösung für die unterbliebene Ausgabe gemeinsamer Euro-Anleihen und der Verzicht auf Umschuldungsprogramme darstellen, wirken sie außerordentlich restriktiv und sind zudem nur sehr begrenzt wirksam. Ohne die im Sommer 2012 parallel zur Einführung des ESM veröffentlichte Garantieerklärung der Europäischen Zentralbank (EZB) zugunsten der Staatsanleihen der Peripherieländer wäre die vorläufige Eindämmung der Euro-Krise nicht denkbar gewesen. Der wichtigste Konstriktionsfehler des ESM besteht jedoch darin, dass sein Aktionsradius auf die öffentliche Überschuldung begrenzt ist, während die Eurokrise wesentlich durch stagnierende oder sogar sinkende Masseneinkommen und der 10 damit verbundenen massiven Privatverschuldung der Unterklassen- und Mittelschichtshaushalte sowie gleichzeitig der kleinen und mittleren Unternehmen bedingt ist. Europäisches Währungssystem (EWS) Das Europäische Währungssystem ist 1979 aus dem Europäischen Wechselkursmechanismus, einer zu Beginn der 1970er Jahre geschaffenen Institution der Europäischen Gemeinschaft zur Abschottung der europäischen Waren- und Kapitalmärkte vor den Turbulenzen der globalen Devisenmärkte und der durch den US-Dollar ausgelösten Großen Inflation, hervorgegangen. Dabei wurden zwischen den europäischen Währungen feste Wechselkurse vereinbart, wobei der Wert der beteiligten Währungen in einer Europäischen Wechselkurseinheit (European Currency Unit = ECU) festgelegt wurde. Zwischen den beteiligten Währungen wurden Bandbreiten von plus 2,25% bis minus 2,25% vereinbart, innerhalb derer die Kurse schwanken durften. Diesem gemeinsamen Wechselkursmechanismus schlossen sich zunächst acht EG-Mitgliedsländer an, wobei die D-Mark zur informellen europäischen Leitwährung aufstieg. Weitere sechs Länder, darunter Großbritannien (1990), Österreich, Finnland und Griechenland, folgten im Verlauf der 1990er Jahre. Zu Beginn der 1990er Jahre geriet das EWS in eine schwere Krise. Die wichtigsten Ursachen waren die Abwertung des Pfund Sterling und der abrupte Kurswechsel der Deutschen Bundesbank zur Hochzinspolitik im Kontext des DDR-Anschlusses. Italien verließ das EWS zeitweilig, Großbritannien trat für immer aus. Um den völligen Zerfall zu verhindern, wurde die Schwankungsbreite der Wechselkurse auf bis zu plus bzw. minus 15% erhöht. Dadurch war die ursprüngliche Zielsetzung, den europäischen Waren-, Kapital- und Dienstleistungsverkehr vor den internationalen Wechselkursrisiken abzuschotten, ad absurdum geführt. Mit der Einführung des Euro im Jahr 1999 endete das EWS. Jedoch schlossen sich alle diejenigen EU-Länder, die der Euro-Zone fernblieben, zum sogenannten Wechselkursmechanismus II zusammen. Dabei wurde die bisherige 11 Verrechnungseinheit (ECU) durch den Euro als gemeinsamer Leitwährung ersetzt und eine Schwankungsbreite zwischen plus und minus 1,5 % vereinbart. Eurozentrismus Beim Eurozentrismus handelt es sich um Bestrebungen, die in Europa und der Transatlantikregion dominierenden Werte- und Normensysteme auf die Regionen, Gesellschaften und Kulturen der übrigen Welt zu übertragen. Die Anhänger dieses Konzepts betrachten die Menschheit als eine endlose Prozession, die von den Nationalstaaten Europas und der USA angeführt und von diesen mit den Segnungen des ökonomischen, politischen, sozialen, kulturellen und moralischen Fortschritts beglückt werde. In einem zweiten Schritt wird die außereuropäische Welt sodann an diesen vor allem modernisierungstheoretisch begründeten Werte- und Normensystemen gemessen und beurteilt. Insoweit ist der Eurozentrismus die wichtigste und machtvollste Manifestationsform des Systemischen Nationalismus (vgl. „Systemischer Nationalismus“). Die Denkmuster und Vorurteile des Eurozentrismus haben sich tief in die Sprache, die Begriffe, die geographisch-kartographischen Darstellungen und in die geschichtspolitischen und sozialwissenschaftlichen Theoriebildungen eingeprägt, sodass es einer erheblichen Menge an kritischer Selbstreflexion bedarf, um sich ihnen zu entziehen. Die Abgrenzung gegenüber konservativen und/oder offen rassistischen Varianten des Eurozentrismus fällt im Allgemeinen nicht schwer. Das eigentliche Problem des Eurozentrismus sind – wie beim Systemischen Nationalismus – dessen angeblich progressive Varianten. Europa und „der Westen“ werden als Protagonisten der Demokratie, des Fortschritts, der Menschenrechte und der Überwindung von „Unterentwicklung“ gefeiert, während die seit dem 15. Jahrhundert sich herausbildenden Kernelemente der europäischen Expansion (Kolonialismus, Sklaverei, zwei verheerende Weltkriege und die Shoah) ausgeblendet werden. Exportdumping 12 Als Exportdumping wird die gezielte Unterbietung der Weltmarktpreise für Waren und Dienstleistungen bezeichnet. Dazu stehen zahlreiche Instrumente zur Verfügung, so etwa die offene oder verdeckte Subventionierung des Exportsektors, die zentrale Regulierung des Außenhandels oder die Spaltung des nationalen Währungssystems in Binnen- und Außenwährung. In einer weitgehend offenen Weltwirtschaft sind derartige Strategien jedoch mit hohen Folgekosten und Risiken belastet. Sie sind zudem stark diskreditiert, weil sie zusammen mit währungspolitischen Fehlentscheidungen der führenden Zentralbanken für die Vertiefung der Weltwirtschaftskrise von 1929-1932 zur Großen Depression verantwortlich gemacht werden. Heutzutage werden andere, weniger sichtbare und spektakuläre Instrumente verwendet. Den wichtigsten Hebel bildet derzeit die Reduktion der binnenwirtschaftlichen Lohnstückkosten durch Lohnsenkungen (vgl. („Innere Abwertung“), Sozialabbau und die Einführung von Niedriglohnsektoren bei gleichzeitiger massiver Beschleunigung der technologischen Innovationen. Da die Lohnstückkosten eine wichtige Variable der Preisbildung darstellen, können die Exportpreise auf diese Weise systematisch gesenkt werden, ohne auf die verpönten regulatorischen Instrumente zurückgreifen zu müssen. Es können immer nur einzelne Wirtschaftsnationen ein solches Exportdumping betreiben, und sie sind nur dann relativ erfolgreich, wen andere Wirtschaftsnationen auf Dumpingmethoden verzichten. Finanzialisierter Kapitalismus Mit diesem Begriff wird der Entwicklung Rechnung getragen, dass seit der Liberalisierung der globalen Geld- und Kapitalmärkte die kapitalistische Produktionsund Reproduktionsweise in ihrer Gesamtheit unter die Kontrolle weltweit operierender institutioneller oder privater Kapitalanleger geraten ist. Im Gefolge dieser Entwicklung, die 1971-1973 mit der Auflösung der Goldeinlösungsplicht der Dollar-Leitwährung einsetzte, wurden die den antizyklischen Doktrinen des Keynesianismus verpflichteten Regulationssysteme der Nationalökonomien und Wirtschaftsblöcke weitgehend zugunsten der globalen Akteure umgebaut. Dadurch verschärften sich die Instabilitäten und Ungleichgewichte des Weltsystems. Es kam 13 darüber hinaus zu einer massiven Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben, was wiederum einen Prozess der Neuformierung der Hauptklassen zur Folge hatte. Föderation, Föderatives Europa Im Gegensatz zur föderalistischen Struktur zahlreicher Nationalstaaten (USA, Bundesrepublik Deutschland usw.) setzt die in unserem Aktionsprogramm vorgeschlagene „Föderative Republik Europa“ auf den fortschreitenden Abbau staatlich-politischer Strukturen zugunsten der direkten Demokratie und einer von unten nach oben aufzubauenden gesellschaftlichen Selbstverwaltung der Produktions- und Reproduktionsprozesse. Die entscheidende Vorbedingung dazu ist zum einen die Überwindung der Nationalstaaten und zum anderen die Umwandlung der autoritär verfassten europäischen Institutionen in demokratisch begründete Instrumente der Systemüberwindung. Infolgedessen besteht zwischen den repräsentativ-bundesstaatlichen Konstruktionen und einer direktdemokratisch legitimierten föderativen Verfassung ein klarer Unterschied. Gleichheit der Geschlechter Der Kampf für die Durchsetzung der Geschlechtergleichheit ist eine elementare Grundlage aller Bestrebungen für eine egalitäre und selbstbestimmte Gesellschaft. Er hat dadurch an Dringlichkeit gewonnen, dass seit der Weltwirtschaftskrise in Europa – und mehr noch weltweit – die männliche Aggressivität, sexuelle Ausbeutung und innerfamiliäre Gewalt gegen Frauen dramatisch zugenommen haben. Gewalt gegen Frauen ist ein grundlegendes strukturelles Problem patriarchaler und kapitalistischer Gesellschaften und insofern keineswegs auf die aktuelle Krise beschränkt. Sie umfasst auch keineswegs nur die physische und ökonomische Gewalt (in Form von systematischer Unterentlohnung, unbezahlter Reproduktionsarbeit usw.), sondern auch das gesamte Spektrum der symbolischen Gewalt, die insbesondere durch die Medien ausgeübt wird. Alle diese Formen der 14 Gewalt gegen Frauen blockieren das Projekt für ein egalitäres Europa und eine egalitäre Welt. Sie bringen gerade auch innerhalb der Unterklassen auf den unterschiedlichsten Ebenen des Alltagslebens zum Ausdruck, dass in einer männlich dominierten Kultur die Frauen als Eigentum der Männer betrachtet werden. Die einzig adäquate Antwort darauf kann nur die Durchsetzung der Gleichheit der Geschlechter auf allen Ebenen des gesellschaftlichen, ökonomischen, politischen und kulturellen Lebens sein. Große Inflation Der Begriff „Große Inflation“ ist eine Rückübersetzung des angelsächsischen Begriffs „Great Inflation“, der in den 1980er Jahren von den ökonomischen Denkfabriken der US-amerikanischen Ostküste geprägt wurde. Er bezieht sich auf die Zeitspanne zwischen 1965 und 1984, die weltweit durch starke Preissteigerungen und insbesondere seit 1980 durch hohe Zinssätze geprägt war. Die Große Inflation wird als bestimmendes geldpolitisches Ereignis in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingestuft. Zur Entstehung und langen Dauer der Großen Inflation trugen zahlreiche Faktoren bei, insbesondere der durch den Ölpreisboom induzierte Anstieg der Weltmarktpreise für Rohstoffe, die im Ergebnis der weltweiten Sozialrevolten angestiegenen Lohneinkommen und die Folgewirkungen des internationalen Wettrüstens sowie des Vietnamkriegs. Von den Exponenten der wirtschaftswissenschaftlichen Konterrevolution (marktradikale Angebotstheoretiker und Monetaristen) wurde dagegen die Finanzierung der exzessiven USamerikanischen Budgetdefizite durch die Federal Reserve zur Hauptursache erklärt. Auf diese Weise wurde die zu dieser Zeit noch dominierende keynesianische Wirtschaft- und Währungspolitik für die exzessiven Preis- und Zinssteigerungen verantwortlich gemacht. Da sich diese Sichtweise gegen Ende der 1970er Jahre weitgehend durchsetzte, begünstigte das Phänomen der Großen Inflation eine strategische Kehrtwende der Regulationssysteme, die nun weltweit in den Dienst marktradikaler Deregulierungskonzepte gestellt wurden. 15 Große Rezession Auch dieser Begriff ist eine Anleihe aus dem angelsächsischen Ökonomiediskurs. Dort wurde die Weltwirtschaftskrise von 2007-2009 als „Great Recession“ eingestuft, der, wenn nicht entschieden gegengesteuert werde, wie in den 1930er Jahren eine Große Depression auf dem Fuß folgen würde. Die Weltwirtschaftskrise der Jahre 2007-2009 wurde durch eine Immobilien- und Hypothekenkrise ausgelöst, die ihren Schwerpunkt in den USA und den Peripherieländer EU-Europas hatte. Sie führte im Herbst 2008 zum Kollaps des transatlantischen Finanzsektors und löste einen weltweiten Rückzug von Risikokapitalien aus den Rohstoffmärkten, den Schwellenländern und den überakkumulierten Wirtschaftssektoren (insbesondere Logistik und Automobilindustrie) aus. Nach heutiger Einschätzung war ihre zerstörerische Dynamik deutlich größer als diejenige in der Weltwirtschaftskrise von 1929-1932. Da aber die Zentralbanken und die Entscheidungszentren der führenden Regulationssysteme in einer weltweit koordinierten Aktion umfangreiche AntiKrisenprogramme zur Stabilisierung der Finanzarchitektur und zur Stützung der Geldmärkte starteten und mit umfassenden fiskalpolitischen Konjunkturprogrammen kombinierten, wurde der Übergang in eine schwere Depression verhindert. Die Weltwirtschaftskrise durchschritt im April-Mai 2009 ihren Tiefpunkt und ging in eine lang anhaltende Stagnationsphase über, die seither durch die geographische und strukturelle Gleichzeitigkeit von Erholung, Wiederaufschwung, Depression und neuerlichen Rezessionstendenzen geprägt ist. Große Stagnation Diesen Begriff haben wir gewählt, um die sich an die Große Rezession von 20072009 anschließende weltweite sozioökonomische Entwicklung zu umreißen. Dabei koexistieren bis heute (März 2014) widersprüchliche Tendenzen, die auf eine fortschreitende Zunahme geographischer und struktureller Ungleichgewichte hinweisen: Erholungsprozesse, Depressionszonen, Ansätze zum Wiederaufschwung und Rückfälle in Rezessionen. Derartige Gemengelagen, die sich an schwere Wirtschaftskrisen anschließen, hat es in der Wirtschaftsgeschichte schon häufig 16 gegeben. Sie werden von den Anhängern des Konzepts der „Langen Wellen“ der wirtschaftlichen Entwicklung als „Kondratjew-Winter“ bezeichnet und dauern durchschnittlich acht bis zwölf Jahre. Sie gelten als sozioökonomische Übergangsphase , in der die unterschiedlichsten arbeitsorganisatorischen, technologischen und regulationspolitischen Instrumente getestet werden, um parallel zu den allfälligen „exogenen“ Ereignissen wie Kriegen, Naturkatastrophen und machtpolitischen Umwälzungen in der Hierarchie der Imperien – die „endogenen“ Momente herauszufinden, die einen lang anhaltenden Wiederaufschwung bewirken könnten. Zur Unterscheidung von den bisherigen Depressionsperioden (Lange Depression der 1880er Jahre, Große Depression von 1932-1940, Stagflation der 1970er und 1980er Jahre) haben wir uns auf den Begriff „Große Stagnation“ festgelegt. Herrschende Eliten Als herrschende Eliten bezeichnen wir die aktiven Führungsschichten der herrschenden Klassen, die deren Ausbeutungs- und Machtinteressen in den Entscheidungszentren des Finanzsystems, der Wirtschaft, der militärischindustriellen Komplexe, der Medien, der nationalstaatlichen bzw. supranationalen Regulationssysteme, der politischen Repräsentationen, der Überwachungs- und Repressionsapparate und der Kultur- und Wissenschaftspolitik durchsetzen und sichern. Von ihrer strategischen Kohärenz, den Mentalitäten ihrer Akteure und der Effizienz ihres arbeitsteiligen Zusammenwirkens ist die Stabilität oder Instabilität des kapitalistischen Weltsystems abhängig, und davon lässt sich eine proportionale Beziehung zur Geschlossenheit oder Brüchigkeit der herrschenden Klasse als „Klasse für sich“ ableiten. Die meisten kritischen Sozialwissenschaftler sind sich heute in der Auffassung einig, dass die durch die herrschenden Eliten bewerkstelligte Durchsetzung ihrer materiellen Interessen zu einem viel gefestigteren Klassencharakter als bei den mittleren und unteren Klassen. Dieser Befund scheint auch für die Klassenverhältnisse in Europa zuzutreffen. Während die arbeitenden Klassen und Schichten in Europa durch weitreichende Spaltungs-, Differenzierungs- und Segmentationsprozesse geprägt sind, die sie als 17 „Klasse für sich“, d.h. als bewusst handelnde Kollektive zur Durchsetzung ihrer materiellen Interessen, erheblich beeinträchtigen, präsentieren sich uns die herrschenden Eliten auf den ersten Blick als ein systematisch durchstrukturierter Machtblock. Dieser Eindruck wird zusätzlich durch die Tatsache verstärkt, dass die herrschenden Eliten auf allen Ebenen des gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Lebens eine Strategie verfolgen, die auf eine systematische Unterordnung des Regulationssystems unter die Erfordernisse einer marktradikal strukturierten Krisenüberwindung hinauslaufen. Bei genauerem Hinsehen relativiert sich dieser Eindruck jedoch erheblich. Die herrschenden Eliten Europas sind erstens hinsichtlich der Weiterentwicklung des europäischen Integrationsprozesses tief gespalten. Dabei ist das bundesstaatliche Integrationskonzept der EU-Technokratie durch den Primat der nationalstaatlichen Interessen marginalisiert worden. Zweitens haben große Teile des europäischen Big Business auf die anhaltende Euro-Krise mit einer Schwerpunktverlagerung ihrer Exportstrategien auf die globale Ebene – insbesondere die führenden Schwellenländer – geantwortet. Sie treten inzwischen teilweise für den „Rückbau“ des europäischen Integrationsprozesses ein und unterstützen zunehmend „eurokritische“ bzw. neokonservative Parteien. Somit erscheinen die herrschenden Eliten Europas hinsichtlich ihrer strategischen Optionen ebenfalls gespalten wie die Mittelschichten und die Unterklassen. Die von ihnen verfolgte Konzeption der strategischen Unterbeschäftigung und der marktradikalen Restriktionspolitik nimmt zunehmend den Charakter eines minimalen gemeinsamen Nenners an, der nur noch dazu ausreicht, den Zusammenbruch der Euro-Zone – und mit ihr der gesamten Europäischen Union - durch pragmatische Ad-hoc-Maßnahmen zu verhindern. Hypernationalistische Ethnopolitik Die hypernationalistische Ethnopolitik ist eine spezifische Variante der markant nationalstaatlich orientierten politischen Praxis. Sie definiert eine spezifische Nationalität als klassenübergreifende Bestimmung des jeweiligen Nationalstaats und stigmatisiert andere Nationalitäten des nationalstaatlichen Territoriums zu – sozial, 18 ökonomisch und politisch benachteiligten – Minderheiten. Derartige politische Strategien werden durchgängig von rechtsextremistischen Organisationen verfolgt, sind aber gegenüber den neokonservativen nationalen Machtgruppen durchaus anschlussfähig. Innerhalb Europas sind derartige Tendenzen erstmalig nach dem Zusammenbruch des osteuropäischen Rats für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) in Erscheinung getreten und haben sich nach dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien (1999) auf den Balkan ausgedehnt. Seit dem Ausbruch der Euro-Krise und insbesondere seit der Durchsetzung der krisenverschärfenden Austeritätsprogramme ist dieser Hypernationalismus zu einem gesamteuropäischen Phänomen geworden, in dem neben den Unterklassen zunehmend auch die Mittelschichten pauperiseret werden und den supranationalen Integrationsprozess für ihren sozialen Abstieg verantwortlich machen. Innere Abwertung Im Gegensatz zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit mittels Währungsabwertung wird die durch binnenwirtschaftliche Maßnahmen erzwungene Reduktion der Löhne und Preise als innere Abwertung bezeichnet. Dabei geht es in beiden Fällen darum, die ökonomische Situation einer Wirtschaftsnation auf Kosten und zu Lasten ihrer Handelspartner zu verbessern. Würden die Währungen der führenden Nationalökonomien gleichzeitig oder kurz nacheinander abgewertet oder deren Löhne und Preise durch gleichzeitige innere Abwertungsaktivitäten gesenkt, so käme es zu einer allgemeinen deflationären Entwicklung und zu einer umfassenden Wirtschaftsdepression, die im Extremfall den Kollaps des weltwirtschaftlichen Systems zur Folge haben könnte. Die innere Abwertung kann durch direkte Lohnkürzungen, durch die Reduktion der Sozialleistungen, durch eine generell restriktive Fiskalpolitik sowie durch eine restriktive Geldmengenpolitik der Zentralbank durchgesetzt werden. Dabei werden meistens mehrere Verfahren miteinander kombiniert. Sie wird vor allem dann vorgenommen, wenn die Abwertung der Nationalwährung durch feste Wechselkurse (wie etwa beim Gold-Standard), durch internationale Verträge oder durch die Zugehörigkeit der betreffenden Wirtschaftsnation zu einer Währungsunion unmöglich 19 gemacht wird. Dies ist der Fall bei den Mitgliedsländern der Euro-Zone, die sich aufgrund der bei ihnen eingeführten Einheitswertung währungspolitisch in einer dem Goldstandard entsprechenden Situation befinden. Sie werden gezwungen, ihre innerhalb des gemeinsamen Währungsgebiets fortbestehenden Wettbewerbsnachteile durch innere Abwertungsmaßnahmen auszugleichen. Kernzone der Europäischen Union / Eurozone Im Begriff „Kernzone“ der EU bzw. der Euro-Zone kommt die Tatsache zum Ausdruck, dass der europäische Integrationsprozess zu einer massiven ungleichgewichtigen Entwicklung der Mitgliedsländer geführt hat. Voraussetzung dafür war der Verlust der den Integrationsprozess tragenden Symmetrie zwischen Frankreich und Deutschland und dessen Unterwerfung unter den Primat der marktradikalen Restriktionspolitik, der sich vor allem zugunsten des deutschen NeoMerkantilismus auswirkt. Seit Beginn der 1990er Jahre ist Deutschland zur dominierenden europäischen Macht aufgestiegen. In ihrem Schlepptau haben einige Nachbarländer – insbesondere Österreich, die Beneluxländer und Dänemark – zusammen mit Finnland und Schweden sowie indirekt auch mit der Schweiz Nischenpositionen innerhalb der gemeinsamen Exportorientierung besetzt und sind zunehmend zu einer gemeinsamen Vertretung ihrer Interessen innerhalb der EUGremien übergegangen. Kreditfinanzierte Stabilisierung der Einkommen Als die Mitgliedsländer des Rats für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) kollabierten und anschließend eine mehrjährige „Schocktherapie“ durchliefen, kam es zu einer dramatischen Schrumpfung der Masseneinkommen in Osteuropa. Ein Jahrzehnt zuvor hatten auch die arbeitenden Klassen und Schichten zahlreicher west- und südeuropäischer Mitgliedsländer der Europäischen Gemeinschaft im Gefolge der dort praktizierten Austeritätspolitik erhebliche Einkommensverluste hinnehmen müssen. Als die Länder Osteuropas in die Europäische Union aufgenommen wurden und die 20 Mehrzahl der west- und südeuropäischen EU-Länder in die Euro-Zone übertrat, erlangten auch die Unterklassen und Mittelschichten Zugang zu einer stabilen Währung und damit zu billigen Krediten. Sie gingen deshalb dazu über, ihre in den vergangenen Jahrzehnten erlittenen Einkommensverluste durch die Aufnahme billiger Konsumenten-, Unternehmens- und Immobilienkredite auszugleichen. Da der Finanzsektor diese Entwicklung durch zusätzliche Anreize stimulierte, entwickelte sich ein unkontrollierter Kreditboom, der im Verein mit analogen Entwicklungen in den Vereinigten Staaten und der damit einhergehenden globalen Verteilung der Risiken die Weltwirtschaftskrise von 2007 / 2008 auslöste. Lange Wellen der wirtschaftlichen Entwicklung Das Konzept der langen Wellen bezieht sich auf die empirische Tatsache periodischer Auf- und Abschwünge der Wirtschaft, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts einsetzten und sich seither in Abständen von 30-40 Jahren wiederholen. Es wurde im Wesentlichen von dem sowjetischen Ökonomen Nikolai Kondratjew erarbeitet und seit dem Ende der 1930er Jahre von Joseph A. Schumpeter und anderen Wirtschaftswissenschaftlern und Historikern weiterentwickelt. Die lange Welle folgt der Dynamik der Entwicklung der Profitrate und wird als eine Überlagerung unterschiedlicher konjunktureller Zyklen von vier- bis achtjähriger Dauer (Lagerzyklen, Handelszyklen, Kreditzyklen, Investitionszyklen usw.) verstanden. Unterteilt werden die Abschnitte in Krise, Depression („KondratjewWinter“), Erholung und Aufschwung. Darüber hinaus werden endogene und exogene Faktoren unterschieden, die die bislang sechs oder sieben langen Wellen des industrialisierten Kapitalismus geprägt haben. Als wesentlicher endogener Faktor gelten dabei technologische Innovationen, die sich – wie beispielsweise die Elektrotechnik oder der Mikrochip – über die gesamte wirtschaftliche Branchenstruktur ausbreiten. Die Periodisierung der Abfolge der langen Wellen ist in der Forschung umstritten. Am überzeugendsten erscheint uns ein Ansatz, der den Beginn der langen Welle auf die Krisenetappe fokussiert, sodass die letzten drei Kondratjew-Zyklen durch die Jahre 1929, 1973 und 2007 festgelegt sind. 21 Leistungsbilanz Die Leistungsbilanz ist ein Schlüsselbegriff der wirtschaftlichen Gesamtrechnung einer Nationalökonomie. In ihr werden alle in einem Geschäftsjahr stattfindenden grenzüberschreitenden Bewegungen von Waren, Dienstleistungen, Erwerbs- und Vermögenseinkommen und Übertragungen zusammengefasst und als Ausfuhren oder Einfuhren einander gegenübergestellt. Der Gesamtsaldo der Ein- und Ausfuhr von Waren, Dienstleistungen, Einkommen und Übertragungen (Leistungsbilanzsaldo) kann ausgeglichen sein. Er wird jedoch in der Regel einen Leistungsbilanzüberschuss oder ein Leistungsbilanzdefizit ausweisen. Wird ein Leistungsbilanzüberschuss erzielt, so hat die betreffende Wirtschaftsnation in der Berichtszeit mehr produziert als sie selbst an eigenen und ausländischen Gütern nachfragt. Sie kann infolgedessen einen Devisenüberschuss erzielen und Auslandsvermögen bilden. Dagegen weist ein Leistungsbilanzdefizit darauf hin, dass die betreffende Wirtschaftsnation mehr verbraucht als sie produziert; sie muss sich infolgedessen im Ausland verschulden und/oder Auslandsvermögen abbauen. Wenn sich zwischen mehreren Nationalökonomien oder Gruppen von Nationalökonomien Leistungsbilanzunterschiede über längere Zeit entwickeln, so verweist dies auf die Herausbildung struktureller makroökonomischer Ungleichgewichte, die die weltwirtschaftliche Entwicklung destabilisieren. Dies gilt auch für die USA, die jedoch wegen der Position des Dollars als Leitwährung längerfristig Zahlungsbilanzdefizite mit Anleihen und dem Banknotendruck „finanzieren“ können. Lohnspreizung Als Lohnspreizung oder Lohnschere wird der Abstand zwischen den Arbeitsentgelten der verschiedenen Segmente der arbeitenden Klassen und Schichten innerhalb einer Wirtschaftsnation oder eines supranationalen Wirtschaftsblocks bezeichnet. Sie ist einem komplexen Ursachenbündel geschuldet, zu dem vor allem die zur Reproduktion und Qualifikation des Arbeitsvermögens erforderlichen Kosten, die relative Knappheit oder ein Überangebot an Arbeitskräften, die Entwicklung 22 arbeitssparender technologischer Innovationen, die Herausbildung immer größerer Qualifikations- und Kompetenzunterschiede, die Existenz besonders diskriminierter Segmente der arbeitenden Klassen (MigrantInnen, Flüchtlinge, die diskriminierende Entgeltregelungen gegenüber Frauen mit gleichem Qualifikationsniveau) und last but not least die Stärke oder Schwäche der ArbeiterInnenorganisationen und Gewerkschaften gehören. Mit verschiedenen Parolen hat die Arbeiterlinke schon immer gegen die Lohnspreizung angekämpft und durch die Durchsetzung linearer Lohnerhöhungen, die Abschaffung der diskriminierenden unteren Lohngruppen, die Einführung von Mindestlöhnen und andere egalisierende Entgeltregelungen ihre mehr oder weniger weit reichende Kompression erzwungen. Seit den 1980er Jahren ist hingegen aufgrund des Niedergangs der Arbeiterbewegung und des Triumphs des Marktsradikalismus das Gegenteil zu beobachten: Durch die Einführung der Niedriglohnsektoren und die massive Steigerung der Managergehälter öffnete sich die Einkommensschere so weit wie noch nie. Wenn wir die Entgelte der untersten Segmente der arbeitenden Klassen und die Managergehälter einbeziehen, sind heute Lohnspreizungen mit einer Spannbreite von 1: 250 und mehr keine Seltenheit. In diesen und anderen quantifizierenden Größen der Lohnungleichheit spiegelt sich die fortschreitende Spaltung, Ausdifferenzierung und Segmentation der arbeitenden Klassen und Schichten wider. Lohnstückkosten Die Lohnstückkosten sind wie die Arbeitsproduktivität eine proportionale Größe. Sie werden aus dem Verhältnis der in einer bestimmten Zeitspanne und in einer definierten Wirtschaftseinheit gezahlten Arbeitsentgelte (Löhne, Honorare usw.) zur Arbeitsproduktivität errechnet (siehe „Arbeitsproduktivität“). Die Lohnstückkosten steigen, wenn die Entwicklung der Reallöhne über den Produktivitätszuwachs hinausgeht, und sie sinken, wenn die Reallöhne hinter dem Zuwachs der Arbeitsproduktivität zurückbleiben (was in hoch entwickelten Nationalökonomen jedoch keineswegs ausschließt, dass die ArbeiterInneneinkommen ebenfalls ansteigen). 23 Die Lohnstückkosten gelten als wichtige, jedoch auch mit einigen Problemen behaftete, Messgröße zur Beurteilung der Wettbewerbsfähigkeit einer Nationalökonomie innerhalb eines Wirtschaftsblocks oder des Weltsystems. Da sie zudem eine bedeutende Komponente der Preisbildung darstellen, haben sie großen Einfluss auf die Preisstruktur. Niedrige Lohnstückkosten dämpfen die Binnennachfrage und führen in einer entwickelten Nationalökonomie zur Herausbildung von Überkapazitäten. Sie können aber auch zum ExportpreisDumping genutzt werden und verschaffen den Exportsektoren der betreffenden Wirtschaftsnation aufgrund ihrer überdurchschnittlich hohen Profitraten eine dominierende Stellung innerhalb der Gesamtwirtschaft und des Regulationssystems. Auf der anderen Seite besteht kein empirischer Zusammenhang zwischen sinkenden Lohnstückkosten und Wachstum. Nicholas Kaldor hat vielmehr das Gegenteil gezeigt, dass nämlich Wachstum mit steigenden Lohnstückkosten einhergeht. Immer aber zeigt der Indikator nur relative Veränderungen. Marktradikalismus Der Marktradikalismus ist eine wirtschaftsideologische Doktrin, die gegenwärtig die Wirtschaftswissenschaften und die wirtschaftspolitischen Entscheidungszentren des kapitalistischen Weltsystems weitgehend beherrscht. Sie geht von der Vorstellung aus, dass das gesamte gesellschaftliche, politische, kulturelle und wissenschaftliche Leben einem System selbstregulierter Märkte untergeordnet werden sollte. Behauptet wird, dass die Märkte als zentrale Regulatoren der Wirtschaftskreisläufe ein Gleichgewicht anstrebten, weshalb dem Allgemeinwohl am besten gedient sei, wenn den Marktteilnehmern erlaubt werde, uneingeschränkt ihre Eigeninteressen zu verfolgen. Dieses Konstrukt beruft sich völlig zu Unrecht auf Adam Smith, einen der Hauptrepräsentanten der klassischen politischen Ökonomie, dem das Diktum unterschoben wurde, wonach die vom Egoismus der Wirtschaftssubjekte getriebenen Marktkräfte den Nationalökonomien wie von unsichtbarer Hand auf besonders effiziente Weise zum Wohlstand verhelfen würden. Diese und andere Geschichtsklitterungen sind für den Marktradikalismus typisch. Sie verweisen auf das Bestreben seiner Protagonisten, sich als legitime Erben des 24 klassischen Wirtschaftsliberalismus auszuweisen. Dass ihnen dies weitgehend gelungen ist, zeigt die heute auch von den meisten Kritikern mitgetragene Selbstzuschreibung des Marktradikalismus als „Neoliberalismus“, obwohl die marktradikalen Doktrinen zutiefst autoritär und eng mit den antiliberalen Konzepten des Neo-Merkantilismus verflochten sind. Im Wissen darum haben wir uns bemüht, diesen Begriff „Neoliberalismus“ möglichst zu vermeiden. Damit stellen wir keineswegs in Abrede, dass sich der als Antithese zur keynesianischen Variante des Wirtschaftsliberalismus entstandene Marktradikalismus seit den 1980er Jahren enorm ausdifferenziert hat. Jedoch gehen die dabei entstandenen Denkrichtungen und wirtschaftspolitischen Schulen – Angebotstheorie, Geldtheorie und Geldmengenpolitik, Strategien der Unterbeschäftigung und restriktive Finanzpolitik – von identischen wirtschaftsideologischen Prämissen aus. Das ermöglichte ihren Akteuren ein arbeitsteiliges Zusammenwirken und verschaffte dem Marktradikalismus eine Durchschlagskraft, die inzwischen dogmatische bis totalitäre, sicherlich aber fatale Dimensionen erreicht hat. Mittelklassen, Mittelschichten In der Klassenanalyse der kritischen Sozialwissenschaften nehmen die Mittelklassen bzw. Mittelschichten die Rolle eines mehr oder weniger diffusen Schichtenkonglomerats ein, das zwischen den beiden Hauptklassen – die herrschende bürgerliche Klasse und die Klasse der ArbeiterInnen – eingebettet ist. Dabei sind fließende Übergänge zu diesen beiden Hauptklassen vorhanden, sodass Mittelschichten die Rolle eines für das mentale und strukturelle Funktionieren sowie die Stabilität der kapitalistischen Gesellschaftsformation unverzichtbaren „Klassenkitts“ einnehmen. Nach oben schließen die Mittelschichten mit ihren den herrschenden Eliten nachgeordnete Funktionseliten in allen wesentlichen Systemfeldern an die herrschenden Klassen an. Nach unten ergeben sich fließende Übergänge zu den Unterklassen in Gestalt der alten und neuen Mittelschichten, insbesondere in den kleingewerblichen Sektoren der Handwerks- und Familienunternehmen, der hochqualifizierten selbständigen Arbeit und der 25 prekarisierten Segmente der Wissensarbeit. Da die Mittelklassen weitaus stärker als die arbeitenden Klassen und Schichten von lang anhaltenden sozioökonomischen Entwicklungsphasen profitieren, befinden sie sich gegenwärtige insbesondere in den führenden Schwellenländern im Aufwind. In Europa ist hingegen eine eher gegenläufige Entwicklung zu beobachten. Im Kontext der Deregulierung der Arbeitsmärkte und der anschließenden Expansionsphasen der Europäischen Union war europaweit eine neue Mittelklasse entstanden, die sich nach dem Abschmelzen der traditionellen Arbeitsverhältnisse als neue Selbständige in den Dienstleistungssektoren, der hochqualifizierten Wissensarbeit, den kleingewerblichen Familienwirtschaften und den High TechNischen der industriellen Produktion etabliert hatten. Im Verlauf der Weltwirtschaftskrise von 2007 bis 2009 und der anschließenden Depression sind diese Sektoren insgesamt unter massiven Druck geraten und vom sozialen Abstieg bedroht. Dieser Prozess ist keineswegs nur auf die weniger wettbewerbsfähigen und peripheren Länder der Europäischen Union begrenzt, sondern hat sich auch in den Ländern der Kernzone breit durchgesetzt. Hier ist es vor allem die massiv in Gang gekommene Niedriglohnpolitik, die erheblichen Teilen der alten und neuen Selbständigen im Zusammenwirken mit den allgemeinen Krisenfolgen zusetzt. Da diese sozial absteigenden oder vom sozialen Absturz bedrohten Segmente der Mittelklassen in erster Linie den europäischen Integrationsprozess für ihre Misere verantwortlich machen, haben sie sich in den vergangenen Jahren zunehmend den „europa-kritischen“ neo-konservativen und neofaschistischen Strömungen des Parteienspektrums zugewandt. Multiversum der Unterklassen Bei diesem Begriff handelt es sich um eine Neuschöpfung. Sie soll zum Ausdruck bringen, dass die arbeitenden Klassen und Schichten des Weltsystems im Gegensatz zum geschichtsphilosophischen Konstrukt der „Multitude“ (Michael Hardt und Antonio Negri) den empirisch fassbaren und entsprechend theoretisierbaren unteren Pol der heutigen Klassengesellschaft darstellen. Aus der konkreten Analyse der Dynamik von Klassenformierung und Klassenfragmentierung lässt sich erstens 26 die Feststellung ableiten, dass es im heutigen Multiversum der Unterklassen kein dominierendes Arbeitsverhältnis gibt, sodass sich die Frage nach einer politisch hegemonialen Schicht erübrigt. Deshalb sollten zweitens alle Segmente (Hand- und Kopfarbeit oder Wissensarbeit, freie und unfreie Arbeit, produktive und reproduktive Arbeit, selbständige und unselbständige Arbeit oder Lohnarbeit, Frauen-, Kinder- und Männerarbeit, prekäre und sozial geschützte Arbeitsverhältnisse usw.) als gleichrangig eingestuft und auf ihre gemeinsame Existenzgrundlage, den ArbeiterInnenhaushalt, bezogen werden. In diesem „egalitären“ Kontext wird dann drittens auch wieder ein unbefangener Umgang mit der freien Lohnarbeit möglich, die in der bisherigen marxistischen Orthodoxie als zentraler Bezugspunkt definiert war. In bestimmten Konstellationen kann sie genauso wie die selbständige Arbeit, die Teilpacht oder die Schuldknechtschaft erhebliches Gewicht erlangen. In anderen kann sie aber auch zur Bedeutungslosigkeit verkümmern. Dabei bleibt aber immer die Einsicht bestimmend, dass die freie Lohnarbeit – und allemal die sozial abgesicherte, unbefristete männliche Lohnarbeit – nicht als „natürliches“, „typisches“ oder „normales“ Arbeitsverhältnis kanonisiert werden darf. Derartige Prämissen, beispielsweise auch etwa die These von der Dominanz der „immateriellen“ Arbeit, verstellen unseren Blick auf das Multiversum, auf das vielschichtige Ganze, und geben das emanzipatorische und egalitäre Anliegen zugunsten privilegierter Gruppeninteressen auf. Neo-Merkantilismus, neomerkantilistische Wirtschaftspolitik Als neomerkantilistisch werden diejenigen wirtschaftspolitischen Strategien bezeichnet, die die Nationalökonomien und die supranationalen Wirtschaftsblöcke auf die möglichst konstante Erzielung von Leistungsbilanzüberschüssen ausrichten. Diese strategische Orientierung gilt bereits für den klassischen Merkantilismus des 16. bis 18. Jahrhunderts. Heutzutage wird aber unter den Bedingungen des weitgehend durchgesetzten weltwirtschaftlichen Freihandels operiert. Dessen ungeachtet ist dem klassischen wie dem aktuellen Merkantilismus das Streben nach der Erzielung hoher Exportüberschüsse an Waren, Dienstleistungen und Kapital sowie nach der möglichst weitgehenden Ausschaltung der Importkonkurrenz 27 gemeinsam. Gemeinsam ist auch die Tatsache, dass denjenigen Nationalökonomien, die Leistungsbilanzüberschüsse erzielen, immer solche mit Leistungsbilanzdefiziten gegenüberstehen müssen, weil der Neo-Merkantilismus auch in Zeiten des zyklischen weltwirtschaftlichen Wachstums noch immer ein Nullsummenspiel darstellt, das dem Prinzip des „Beggar my Neighbour“ verpflichtet ist. würde ich streichen, weil gerade bei den Steuern häufig viel zu wenig abfällt) Die „Kollateralschäden“ des Neo-Merkantilismus, nämlich die ständig wachsenden weltwirtschaftlichen Ungleichgewichte und die außenpolitischen Rückwirkungen seiner aggressiven Außenwirtschaftspolitik werden von den verantwortlichen Akteuren mehr als billigend in Kauf genommen. Die Durchsetzung einer einseitig exportorientierten Strategie ist unter den heutigen Bedingungen des weltwirtschaftlichen Freihandels nur möglich, wenn ihr das gesamte nationale bzw. supranationale Regulationssystem untergeordnet wird. Dazu gehört erstens die ständige Reduktion der Lohnstückkosten, d.h. die gleichzeitige Durchsetzung von Niedriglöhnen und hohen Produktivitätszuwächsen zur Senkung des Preisniveaus und damit auch der Exportpreise. Diese deflationäre Grundorientierung muss zweitens seitens der Zentralbank und der Fiskalpolitik durch eine systematische Politik der „Preisstabilität“ und der Drosselung der Binnennachfrage ergänzt werden. Drittens müssen die Regulationsbehörden dafür Sorge tragen, dass die außenwirtschaftlichen Konkurrenten ihrer Nationalökonomien ihre Schutzmechanismen gegen das Exportpreisdumping aufgeben, also Zollschranken abbauen, den Kapitalverkehr liberalisieren und auf die währungspolitischen Abwehrmechanismen wie die Abwertung ihrer Nationalwährung verzichten. Im Fall der Euro-Zone ist dies dadurch gewährleistet, dass die wettbewerbsschwächeren Peripherieländer das währungs- und wirtschaftspolitische Instrumentarium zur Abwehr des von der Kernzone ausgehenden Exportpreisdumpings und zur Neutralisierung der Ungleichgewichte verloren haben. Öffentliche Güter / Gemeingüter, Wiederaneignung der Commons Als Öffentliche Güter oder Gemeingüter werden solche Güter bezeichnet, an denen kein Eigentumsrecht besteht, sodass sie von allen gemeinsam genutzt werden 28 können. Das Nichtvorhandensein des Eigentumsrechts ist zumeist normativ oder politisch bestimmt und kann infolgedessen auch Güter umfassen, die teilweise von Eigentümern verwertet werden wie beispielsweise der Rundfunk oder das Internet. Gegenwärtig werden die Gemeingüter durch die Akteure des Rendite suchenden Kapitals zunehmend in Eigentum verwandelt, kommodifiziert und unter dem Einsatz von lebendigem Arbeitsvermögen in den Prozess der Kapitalreproduktion eingeschleust, so etwa das Gesundheitswesen, der Bildungssektor, der Nahverkehr, oder der Klimaschutz. Dieser Prozess spiegelt sich in einer komplementären Einengung des Begriffs und des Volumens der anerkannten Gemeingüter in der Wirtschaftswissenschaft wider. Hier findet das entgegengesetzte Projekt der Commons seinen theoretischen und praktischen Bezugspunkt. Die Wiederaneignung der öffentlichen Güter gehört zusammen mit den Experimenten der alternativen Ökonomie zu den zentralen Bezugspunkten des heutigen sozialen Widerstands. Der Kampf für die Wiederaneignung und die Ausweitung der Commons markiert eine strategische Position, die sich der Fortsetzung der zunehmend zerstörerisch gewordenen kapitalistischen Dynamik in ihren entscheidenden Handlungsfeldern in den Weg stellt. Peripherieländer der Europäischen Union / der Euro-Zone Als Peripherieländer der EU bzw. der Euro-Zone werden diejenigen Nationalökonomien bezeichnet, die im Verlauf der 1980er Jahre im Kontext der SüdErweiterung der Europäischen Gemeinschaft sowie ein Jahrzehnt später nach dem Zusammenbuch des Rats für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) im Rahmen der sogenannten Ost-Erweiterung in den Machtbereich der Europäischen Union einbezogen wurden. Im alltäglichen Sprachgebrauch spiegeln sich diese beiden sehr unterschiedlich gestalteten Integrationsphasen der süd- und osteuropäischen Peripherie nur unzulänglich wider. Vor allem seit der Euro-Krise richtet sich der Fokus fast ausschließlich auf die süd- und westeuropäischen Peripherieländer Portugal, Irland, Italien, Griechenland und Spanien, die seit einiger Zeit unter dem Kürzel „PIIGS“ zusammengefasst werden. 29 Realeinkommen Das Realeinkommen ist das durch einen Preisindex dividierte Einkommen der Erwerbsabhängigen einer Nationalökonomie. Dem Preisindex wird in der Regel das Preisniveau der Konsumgüter zugrunde gelegt. Regulatoren (Bestimmungsfaktoren) des wirtschaftlichen Zyklus In der herrschenden Wirtschaftstheorie wird dem Markt die zentrale Rolle des Regulators der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zugesprochen. Diese Hypothese ist irrig, wie schon ein oberflächlicher Blick auf das alltägliche ökonomische Geschehen ergibt. Der entscheidende Faktor (Regulator) des kapitalistischen Wirtschaftssystems ist der Profit, genauer die Profitrate. Kurz, mittel- und langfristige Veränderungen der Profitrate beherrschen das Handeln der Akteure auf allen Ebenen des wirtschaftlichen Geschehens. Beeinflusst wird die Profitrate auch durch die Zentralbanken, die Geld- und Fiskalpolitik, die Arbeits- und Sozialpolitik, die Wirtschafts- und Technologiepolitik usw. Daher macht es Sinn, zwischen primären Faktoren (der Entwicklung und dem zyklischen Ausgleich der Profitraten) und sekundären Faktoren (dem Ensemble der Eingriffe des Regulationssystems) zu unterscheiden. Das Marktgeschehen wird vom Wechselspiel dieser Faktoren bestimmt, und grundsätzlich sind Märkte ohne Regulation undenkbar. Regulationsbehörden Als Regulationsbehörden werden alle diejenigen Institutionen des Regulationssystems bezeichnet, die arbeitsteilig in den Produktions- und Reproduktionsprozess einer Wirtschaftseinheit eingreifen: Arbeitsbehörden, Finanzbehörden, Kartellbehörden, Sozialbehörden, Steuerbehörden, Wirtschaftsbehörden, Zentralbanken usw. In den letzten Jahrzehnten ist die 30 Gestaltungs- und Steuerungskompetenz der Regulationsbehörden im Zug des Abbaus der öffentlichen Wirtschaftssektoren zunehmend eingeschränkt worden. Regulationssystem Als Regulationssystem wird das Ensemble jener Institutionen und Strukturen bezeichnet, die gestaltend und steuernd in den Produktions- und Reproduktionsprozess einer Wirtschaftseinheit (Nationalökonomie, Wirtschaftsblock, Imperium usw.) eingreifen. Dabei kann die Gestaltungsmacht je nach historischer Epoche extrem variieren. Sie war in der Epoche des Absolutismus und nach dem zweiten Weltkrieg, in der Blütezeit der verschiedenen Sozialstaaten, besonders stark ausgeprägt. Aus welthistorischer Perspektive waren dies jedoch eher Ausnahmeerscheinungen. Im Allgemeinen dominierte – und dominiert auch heute – ein Zustand, wie er sich schon seit der Entstehung des Kapitalismus im 14./15. Jahrhundert herausgebildet hatte: Das Regulationssystem hat vor allem die Aufgabe, die Akkumulationsbedingungen der operierenden wirtschaftlichen Einheiten mittels der immer weiter ausdifferenzierten Instrumente der Arbeits-, Finanz-, Fiskal- und Wirtschaftspolitik, aber auch allgemein politisch, diplomatisch oder sogar militärisch zu optimieren. Schuldenkrise Unter dem Begriff Schuldenkrise wird im Allgemeinen – in unzulässiger Verkürzung – eine durch die Überschuldung der öffentlichen Haushalte ausgelöste Finanzkrise verstanden. Dabei wird übersehen, dass die überproportional hohe Staatsverschuldung in der Regel mit einer analogen oder gar noch höheren Verschuldung der Unterklassenhaushalte und der Kleinunternehmen verknüpft ist. So war es auch zu Beginn der Großen Rezession von 2007-2009. Als die Immobilienpreise zusammenbrachen, waren Millionen von ArbeiterInnenhaushalte in den USA und den Peripherieländern EU-Europas nicht mehr in der Lage, ihre Hypothekarkredite zurückzuzahlen. Dies brachte die Banken und Hypothekenversicherer in eine akute Notlage, die öffentliche Rettungs- und 31 Stabilisierungsaktionen auslöste, um die private Finanzarchitektur vor dem Zusammenbruch zu bewahren, während Stützungsaktionen zugunsten der überschuldeten Haushalte und Gewerbebetriebe selbst unterblieben. Diese Verstetigung der öffentlichen Refinanzierungsmaßnahmen musste durch die Ausgabe neuer Staatsanleihen und den Anstieg der Budgetdefizite ausgeglichen werden. Weitere Komponenten der anwachsenden Staatsverschuldung waren die krisenbedingte Schrumpfung der Steuereinnahmen, der durch die Massenerwerbslosigkeit bedingte Anstieg der sozialen Transferleistungen und die von den privaten Gläubigern erzwungene Anstieg der Verzinsungskosten. Subalterne Klassen / Unterklassen Wir haben auf diesen Begriff in unserer Flugschrift immer dann zurückgegriffen, wenn es uns darauf ankam, die arbeitenden Klassen und Schichten – und insbesondere auch die Arbeitsarmut (Working Poors) – als passive, der Hegemonialmacht der herrschenden Eliten unterworfene Gesellschaftsgruppen auszuweisen. Dabei handelt es sich um zeitlich begrenzte und an spezifische Umstände gekoppelte Konstellationen, nicht aber um die Entwicklung eines strukturellen Trends von längerer Dauer. Systemischer Nationalismus Der Nationalismus hat viele Spielarten und Legitimationsmuster hervorgebracht. Viele davon, so etwa die ideologisch-programmatischen Ausprägungen des Nationalismus oder die vielfältigen machtpolitischen Begründungen, sind leicht zu durchschauen und werden in den Diskursen für eine egalitäre und selbstbestimmte Gesellschaftsperspektive strikt abgelehnt. Dennoch bleiben nicht Wenige, die den ideologisch und machtpolitisch begründeten Nationalismus ablehnen, in den durch den Nationalismus bedingten territorialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Einfriedungen des Nationalismus befangen. Dabei werden tief verinnerlichte Denkstrukturen wirksam, die wir als 32 systemischen Nationalismus bezeichnen. Es handelt sich um die quasi automatisierte Anwendung bestimmter erkenntnistheoretischer Prämissen, die den Nationalstaat als „naturgegebenen“ Rahmen voraussetzen. Demgegenüber bleibt festzuhalten, dass es sich bei den Nationalstaaten um ausgesprochen junge historische Phänomene handelt, die sich zeitlich vom 19. Jahrhundert bis zur Entkolonialisierung erstrecken. Wir halten es deshalb für unangemessen, die ihnen vorangegangenen Epochen in eine Vorgeschichte der Nationalstaaten umzudeuten. Aber auch ihre Zukunftsperspektive ist durchaus begrenzt, und deshalb erscheint es uns abwegig, aus ihrer zeitlich befristeten dominierenden Stellung einen nicht weiter zu hinterfragenden Dauerzustand abzuleiten. Für genauso fatal halten wir die auch bei Linken weit verbreitete Gleichsetzung des Nationalstaats mit den Strukturen der Gesellschaft. Dadurch werden die Gesellschaften zu starren Systemen umgedeutet. Das gesellschaftliche Leben ist jedoch so komplex und vielgestaltig, dass seine Identifikation mit den Strukturen des Nationalstaats Ausgrenzungen und Uniformitätszwänge hervorbringt. Seine verhängnisvolle Wirkung entfaltet der systemische Nationalismus jedoch erst im Zusammenwirken mit dem Eurozentrismus (siehe „Eurozentrismus“). Triade-Region Als Triade-Region werden die von den USA, Japan und der Europäischen Union beherrschten Regionen des kapitalistischen Weltsystems bezeichnet. Es handelt sich dabei um keine kohärente geographische Einheit, sondern um das durch die Transatlantik- und die Pazifikregion miteinander verbundene ökonomisch-politische Herrschafts- und Machtzentrum der Gegenwart. Diese Triade wird seit Beginn des neuen Millenniums durch den Aufstieg der führenden Schwellenländer zunehmend herausgefordert, bildet aber noch immer den entscheidenden Handlungs- und Gestaltungskontext der global dominierenden Macht, der Vereinigten Staaten von Amerika. Troika 33 Als Troika werden Einsatzgruppen der EU-Kommission, der Europäischen Zentralbank und des Internationalen Währungsfonds bezeichnet, die seit dem Frühjahr 2010 in all denjenigen Peripherieländern der Euro-Zone operieren, welche aus den Finanztöpfen dieser drei Institutionen Darlehen oder Kreditgarantien beziehen. Im Gegenzug setzen die Teams der Troika harte Restriktionsprogramme durch, die darauf abzielen, die überschuldeten Staatshaushalte zu sanieren, die Sozialtransfers herunterzufahren und die Lohnstückkosten zu senken. Umwälzung Als Umwälzung bezeichnen wir die Summe aller sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Handlungsfelder, die in ihrem Zusammenspiel die Transformation des kapitalistischen Weltsystems in die Richtung einer egalitären, selbstbestimmten und von allen Ausbeutungs- und Herrschaftsstrukturen befreiten Weltgesellschaft bewirken. Im Gegensatz zum traditionellen Revolutionsbegriff handelt es sich dabei um ein komplexes und in sich widersprüchliches Geschehen, das mit großer Wahrscheinlichkeit über mehrere Jahrzehnte ablaufen wird. Dabei werden auf Etappen beschleunigter Umbrüche langwierige graduelle Umgestaltungen folgen, die wir als Entscheidende Reformen (vgl. „Entscheidende Reformen“) bezeichnen, und umgekehrt. Dieser Ansatz unterscheidet sich in drei wesentlichen Punkten von den Vorstellungen der Revolutionstheorie, die die traditionelle Arbeiterlinke prägten. Die Umwälzung ist erstens kein einmaliges, kurzfristiges Geschehen, sondern ein langwieriger Prozess. Die entscheidenden Reformen sind zweitens integrale Bestandteile des Umwälzungsprozesses. Der traditionelle Widerspruch zwischen Reform und Revolution ist im Prozess der Umwälzung aufgehoben. Und drittens bezieht sich die Umwälzung auf ein global koordiniertes Geschehen jenseits der Nationalstaaten und der bis weit in die Linke verbreiteten mentalen Strukturen des systemischen Nationalismus. Dessen ungeachtet setzt der Begriff Umwälzung genauso wie die klassische Revolutionstheorie eines Konstellation des Systembruchs (oder der Systemsprengung) voraus, die den Umwälzungsprozess in Gang bringt und die Chance einer irreversiblen Transformation des kapitalistischen Weltsystems eröffnet. 34 Yom-Kippur-Krieg und Petrodollar-Krise Am 6. Oktober 1973, dem höchsten israelischen Feiertag (Yom Kippur), griffen die Armeen Ägyptens und Syriens im Sinai und auf den Golanhöhen an. Beide Regionen waren im Sechstagekrieg des Jahrs 1967 von Israel erobert worden. Die Offensive wurde nach ersten Anfangserfolgen zurückgeschlagen, bevor am 24. Oktober ein durch die Vereinten Nationen vermittelter Waffenstillstand in Kraft trat. Ägypten und Syrien wurden durch die arabischen Ölförderstaaten wirtschaftspolitisch unterstützt. Das von ihnen beherrschte Erdölerzeugerkartell (OPEC) drosselte die Erdölförderung, erhöhte die Lieferpreise und verhängte zeitweilig einen Lieferboykott gegen die USA. Diese Maßnahmen führten zur Auslösung der globalen Ölkrise von 1973. Zusammen mit der im Frühjahr 1973 erfolgten Aufhebung der Goldeinlösungspflicht des Dollars seitens der Nixon-Administration wird dieses Ereignis heute als wichtigster exogener Faktor angesehen, der zur Weltwirtschaftskrise von 1973 geführt hat. Zahlungsbilanz In der Zahlungsbilanz werden die grenzüberschreitenden wirtschaftlichen Transaktionen einer Nationalökonomie innerhalb einer bestimmten Zeitspanne wertmäßig zusammengefasst. Es handelt sich dabei nicht um eine zu einem bestimmten Zeitpunkt errechnete Vermögensaufstellung, sondern um eine Stromrechnung. Neben solchen Transaktionen, die mit grenzüberschreitenden Zahlungen verbunden sind, werden auch solche Geschäfte berücksichtigt, die mit keiner bzw. keiner unmittelbaren Zahlung verbunden sind. Die Zahlungsbilanz besteht gemäß Vorgaben des Internationalen Währungsfonds aus den folgenden Teilbilanzen: Leistungsbilanz (vgl. „Leistungsbilanz“), Vermögensübertragungen, Kapitalbilanz (Direktinvestitionen, Wertpapieranlagen, Finanzderivate und übriger Kapitalverkehr, Veränderung der Devisenreserven) sowie 35 dem Saldo der statistisch nicht ausdifferenzierbaren Transaktionen, den sogenannten Restposten. Die Zahlungsbilanz wird nach dem Prinzip der doppelten Buchführung geführt, Leistungstransaktionen und Finanztransaktionen werden somit getrennt erfasst und gegeneinander aufgerechnet. Infolgedessen können nur die verschiedenen Teilbilanzen der Zahlungsbilanz Defizite oder Überschüsse aufweisen (vgl. „Leistungsbilanz“). Als Ganzes ist die Zahlungsbilanz dagegen immer ausgeglichen. Gerät beispielsweise die Leitungsbilanz einer Nationalökonomie in ein Defizit, so wird dieses durch Kreditaufnahmen im Ausland oder durch die Verringerung der Devisenreserven der Zentralnotenbank ausgeglichen. Bei Leistungsbilanzüberschüssen können dagegen Auslandskredite vergeben und die Währungsreserven aufgestockt werden. Zwangssparen In der Wirtschaftsgeschichte trat das den Unterklassen aufgezwungene Ansparen erheblicher Teile ihrer abhängigen Erwerbseinkommen in den unterschiedlichsten Formen auf. Im vorletzten Kondratjew-Zyklus (1973-2007) dominierte dabei der durch den Abbau der öffentlichen sozialen Sicherungssysteme ausgelöste Zwang zur individuellen Reservierung wachsender Anteile der Einkommen für die Wechselfälle des Daseins wie Erwerbslosigkeit, Krankheit, Invalidität und Alter. Diese Ersparnisse werden dann von den unterschiedlichsten Institutionen des finanzialisierten Kapitalismus (Banken, Hedge Fonds, Pensionsfonds, Versicherungskonzerne usw.) eingesammelt und zu spekulativen Expansionszwecken genutzt. Es handelte sich dabei um ein globales Massenphänomen mit weitreichenden Folgen, die dann in der Weltwirtschaftskrise von 2007-2009 schlagartig sichtbar wurden. Einige Ökonomen sind der Auffassung, dass es sich hierbei um ein Kernproblem des finanzialisierten Kapitalismus handle. Sie ziehen daraus den Schluss, dass auf die reelle Subsumtion des Arbeitsvermögens unter das Kapital nunmehr zusätzlich die reelle Subsumtion der ArbeiterInnenhaushalte unter das Finanzkapital folge. 36 37