Glossar - egalitarian europe

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Glossar
Vorbemerkung
Dieses Glossar wendet sich an alle Leserinnen und Leser des Aufrufs und der
Flugschrift, die über keine ausreichenden Grundkenntnisse in den Bereichen
Geschichte, politische Ökonomie und Sozialwissenschaften verfügen. Es soll die in
den Texten mehr oder weniger durchgängig benutzten Begriffe
allgemeinverständlich, knapp und präzise erläutern und dadurch – ergänzend zur
Bibliographie - die Voraussetzungen für eine vertiefte Auseinandersetzung mit
unserem Plädoyer für ein egalitäres und solidarisches Europa verbessern.
Selbstverständlich konnten wir nicht alle zur Diskussion stehenden Begriffe und
Phänomene erläutern. Wir mussten folglich eine Auswahl treffen. Dabei haben wir
uns auf solche Probleme der Konzeptualisierung konzentriert, die bei den
Diskussionen anlässlich der zahlreichen Veranstaltungen zur Vorstellung des Aufrufs
und der Flugschrift besonders intensiv erörtert wurden.
Wir fühlen uns zu diesem Vorgehen nicht zuletzt deshalb verpflichtet, weil wir mit
unserem „Manifest für ein egalitäres Europa“ eine politische Programmschrift
vorgelegt haben, die in ihren Aussagen wissenschaftlich begründet ist. Darüber
hinaus ist das Glossar so angelegt, dass es den Leserinnen und Lesern verdeutlicht,
an welchen Punkten wir mit unserer Sicht auf die Dinge vom „Mainstream“
abweichen und hin und wieder auch neue Begriffe eingeführt haben.
Karl Heinz Roth
Zissis Papadimitriou
Roland Herzog
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Agenda 2010
Unter dem Begriff „Agenda 2010“ wird ein Bündel arbeits- und sozialpolitischer
Maßnahmen zusammengefasst, die die sozialdemokratisch-grüne deutsche
Bundesregierung in den Jahren 2001 bis 2004 verabschiedet hat. Sie führten zu
einer systematisch durchdachten Flexibilisierung und Deregulierung der
Arbeitsverhältnisse, zu neuen Formen der Arbeitserzwingung gegenüber den
Langzeiterwerbslosen („Hartz IV“) sowie zu umfassenden Einschränkungen im
Bereich der öffentlichen Sozialtransfers, insbesondere bei den Altersrenten. Hinzu
kamen Aktivitäten zum Umbau der öffentlichen Verwaltung, des Bildungswesens und
des Gesundheitssektors, die eine spezifische Variante der seit den 1980er Jahren
weltweit in Gang gekommenen Privatisierung der öffentlichen Güter auf den Weg
brachten. Die wesentlichen Ergebnisse der „Agenda 2010“ waren eine massive
Senkung der Lohnstückkosten, die langfristige Deckelung der tiefen bis mittleren
Realeinkommen, die Erzeugung von Altersarmut und der Aufbau eines breit
gefächerten Niedriglohnsektors. Im Gegensatz zur Entwicklung in anderen Ländern
der Triade-Region wurde die stetig zunehmende Schicht der Leiharbeiter, befristet
Beschäftigten, Scheinselbständigen und Minijobber jedoch nicht vollständig aus den
sozialen Sicherungssystemen ausgeschlossen. Sie blieb vielmehr durch – häufig nur
symbolisch wirkende und weit unter dem Existenzminimum justierte –
Anwartschaften auf soziale Transferzahlungen in das arbeits- und sozialpolitische
Regulationssystem integriert. Gerade dadurch kam es zu stabilen, durch
sozialpsychologische Abstiegsängste verfestigten Formen der
Klassenfragmentierung in Kernbelegschaften, Randbelegschaften und arbeitende
Arme. Diese spezifische Fragmentierung unterwarf die breite Masse der
Erwerbsabhängigen einem zermürbenden Anpassungsprozess und blockierte den
Weg zu breiten Massenprotesten. Insofern weist die „Agenda 2010“ eine makabre
Erfolgsgeschichte auf. Sie wird deshalb heute weit über EU-Europa hinaus als
arbeits- und sozialpolitische Matrix der Austeritätsprogramme kopiert.
Arbeitende Klassen und Schichten – Die Heterogenität der
Klassenzusammensetzung
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In den Perioden der kapitalistischen Industrialisierung stellte der männliche
Proletarier der industriellen Großproduktion sowohl einen herausragenden
Repräsentationstypus als auch den zentralen Bezugspunkt der klassischen
Arbeiterbewegung dar. Die Vielfältigkeit der sozialen Arbeitsverhältnisse wurde
dadurch aber übersehen und eingeebnet. Seit der tiefgreifenden Krise der
organisierten Arbeiterbewegung ist wieder ein unverstellter Blick auf die Welt
derjenigen möglich, die, um ihr Dasein zu fristen, abhängige und fremdbestimmte
Arbeit leisten müssen. Dabei manifestieren sich derart ausgeprägte
Differenzierungen, Segmentierungen und Schichtungen, die es verunmöglichen,
einfach von der Arbeiterklasse auszugehen. Dieser Begriff ist bis zu einem
bestimmten Grade obsolet geworden und gibt eine unstimmige Einheitlichkeit wieder.
Arbeitsproduktivität
Die Arbeitsproduktivität ist eine proportionale Größe: Sie ist der Quotient aus Output
und Arbeitsstunden innerhalb einer bestimmten Zeitspanne. In der
Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung entspricht das reale Bruttoinlandsprodukt der
durchschnittlichen Arbeitsproduktivität multipliziert mit dem Arbeitsvolumen. Hierzu
werden meistens lediglich die Erwerbstätigen oder die bezahlten Arbeitsstunden
eingesetzt, womit der große Anteil an unbezahlter Arbeit nicht berücksichtigt wird.
Wesentliche Bestimmungsfaktoren der Arbeitsproduktivität sind der technologische
Entwicklungsstand, die Arbeitsorganisation und die durchschnittliche Intensität der
Verwertung des Arbeitsvermögens innerhalb eines definierten Wirtschaftsraums.
Austeritätspolitik, Austeritätsprogramme
Der Begriff Austeritätspolitik ist eine aus dem Angelsächsischen („Austerity“)
entlehnte sprachliche Neuschöpfung. Er umfasst alle Aspekte einer restriktiven und
das ökonomische Wachstums dämpfenden Wirtschaftspolitik: Die Beschränkung des
Geldvolumens zur Stabilisierung der Preise, Lohnsenkungen im öffentlichen und
privaten Sektor, die Anhebung der Massensteuern, die Reduktion der öffentlichen
Sozialleistungen sowie der Investitionen in die Infrastruktur einer Nationalökonomie
(Bildungs- und Gesundheitswesen, regionale Versorgungsbetriebe und öffentliche
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Infrastruktur). In Abschwungsphasen des wirtschaftlichen Zyklus wirkt die
Austeritätspolitik krisenverschärfend. Die dadurch bedingten sozialen Kosten werden
von den Akteuren der Regulationssysteme überwiegend mit dem hohen Stand der
Staatsverschuldung und der gesunkenen Wettbewerbsfähigkeit der jeweiligen
Nationalökonomie gerechtfertigt und auf die unteren und mittleren Klassen
abgewälzt.
Bretton-Woods- System
Das Bretton-Woods-System verdankt seinen Namen einem kleinen Badeort an der
US-amerikanischen Ostküste, in dem im Sommer 1944 unter führender Beteiligung
US-amerikanischer und britischer Sachverständiger die globale währungs- und
wirtschaftspolitische Nachkriegsordnung geschaffen wurde. Sein Kernstück bildete
die Vereinbarung, den US-Dollar fest an das Gold zu binden (1 Unze Gold = 36 USDollar) und auf dieser Basis für alle Weltwährungen feste Wechselkurse einzuführen.
Zur Fixierung und allfälligen Korrektur dieser Wechselkursrelationen wurde der
Internationale Währungsfonds (IMF) geschaffen, an dem sich die Signatarnationen
mit ihrer Wirtschaftsleistung entsprechenden Stimm- und Kreditziehungsrechten
beteiligten. Parallel dazu wurde eine Weltbank zur Stimulierung der wirtschaftlichen
Entwicklung in der kapitalistischen Peripherie gegründet. Das Bretton-Woods-System
zementierte den dominierenden geostrategischen Einfluss, den die USA im Verlauf
des zweiten Weltkriegs erreicht hatten, auf der globalen ökonomischen Sphäre. Die
Sowjetunion schloss sich ihm nicht an. Ihre ablehnende Haltung wurde dadurch
bestimmt, dass keine ernsthaften Versuche unternommen wurden, den
Wiederaufbau ihrer durch den deutschen Aggressionskrieg weitgehend zerstörten
Wirtschaftsstruktur durch günstige Sonderdarlehen zu unterstützen. Aber auch
weitergehende, vom britischen Chefunterhändler John Maynard Keynes erarbeitete
Vorschläge zur dauerhaften Eindämmung globaler Ungleichgewichte durch die
Etablierung einer internationalen Ausgleichsinstanz („Clearing Union“) konnten sich
nicht durchsetzen.
Bruttoinlandsprodukt
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Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) kann auf verschiedene Arten ermittelt werden. Auf
der Entstehungsseite ist es die Summe aller innerhalb eines Jahres produzierten
Waren und mit Preisen versehenen Dienstleistungen einer Nationalökonomie, einer
Region oder der ganzen Welt nach Abzug der Vorleistungen. Es entspricht
gleichzeitig der Summe der Erwerbs- und Vermögenseinkommen, die im jährlichen
Produktionszyklus entstanden sind, unter Abzug der dafür aufgebrachten
Subventionen sowie zuzüglich der Abschreibungen und Abgaben und mit Einbezug
ausländischer Primäreinkommen, sowie auch der Summe von Ausgaben für Konsum
und Investitionen unter Einbezug des Ergebnisses von Exporten und Importen.
De-facto-Goldstandard
Als De-facto-Goldstandard wird eine währungspolitische Struktur bezeichnet, deren
Auswirkungen dem Gold-Standard-System entsprechen, obwohl Gold keine eigene
Rolle spielt. Im Goldstandard-System ist die jeweils zirkulierende Geldmenge in
einem festen Verhältnis an die vorhandene Goldreserve gebunden. Nimmt diese
Goldreserve ab, weil beispielsweise Leistungsbilanzdefizite gegenüber den
Handelsbilanzpartnern einer Nationalökonomie durch Goldlieferungen ausgeglichen
werden müssen, sind zusätzliche Finanzierungskredite notwendig und
Zinserhöhungen die Folgen. Damit schrumpft die Binnenwirtschaft schrumpft. Der
Goldstandard bringt mithin keineswegs einen automatischen Ausgleich, sondern
wirkt prozyklisch. Gleiches gilt, wenn Nationalökonomien mit starken Unterschieden
in ihrer Wettbewerbsfähigkeit in ein einheitliches Währungssystem integriert sind.
Wettbewerbsschwache Länder sind dann chronischen Leistungsbilanzdefiziten
ausgesetzt. Bis zu einer gewissen Grenze können sie ihre Importüberschüsse durch
eine Zunahme der öffentlichen Verschuldung ausgleichen. Da die Gläubiger der
Staatsanleihen diese Entwicklung jedoch nicht tatenlos hinnehmen, folgen
haushaltspolitische Stabilisierungsmaßnahmen auf Kosten der Löhne,
Sozialtransfers und öffentlichen Investitionen. Diese restriktiven Eingriffe führen zur
Schrumpfung der Binnenwirtschaft und die Krisentendenzen verschärfen sich (vgl.
auch „Austeritätspolitik“, „Innere Abwertung“).
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Direkte Aktion
Unter diesem Begriff fassen wir alle Handlungen und Handlungsoptionen zusammen,
die den arbeitenden Klassen und Schichten zur selbstbestimmten Strukturierung
ihres sozialen Widerstands und zur Durchsetzung ihrer materiellen Interessen zur
Verfügung stehen. Die direkte Aktion knüpft an den je spezifischen Handlungsfeldern
des alltäglichen Lebens an, ermöglicht den engagierten Subjekten eine Befreiung
von mentalen und habituellen Strukturen des Herrschaftssystems und befähigt sie
zunehmend, die zur Durchsetzung ihrer elementaren Grundbedürfnisse und
emanzipatorischen Hoffnungen erforderlichen Netzwerke der Selbstorganisation
aufzubauen. Insofern ist die direkte Aktion der Schlüssel zur Entwicklung kollektiver
Lernprozesse, die wiederum die entscheidende Vorbedingung für die Initiierung der
Systemtransformation darstellen. In der klassischen Arbeiterlinken bezogen sich nur
heterodoxe Minderheiten (insbesondere die Anarchosyndikalisten) auf die direkte
Aktion. Sie wurde aber auch in revolutionären Umsturzperioden (so etwa während
der internationalen Sozialrevolten der Jahre 1916-1921) in Gestalt der
Rätebewegung zu einer Massenerfahrung. Bei den Sozialrevolten der globalen
1968er Bewegung spielte die direkte Aktion wieder eine entscheidende Rolle. Dies
war dadurch möglich geworden, dass undogmatische Strömungen der Neuen Linken
– so etwa die Gruppe „Socialisme ou Barbarie“ und die Netzwerke des Operaismus –
die Handlungsfelder der direkten Aktion mit neuen Verfahren der Analyse von
Arbeits- und Klassenverhältnissen verknüpften.
Direkte Demokratie
In der direkten Demokratie entscheiden alle in einer definierten Gebietseinheit
lebenden Menschen unmittelbar über ihre sozialen, ökonomischen, politischen und
kulturellen Belange. Sie nehmen ihre Entscheidungs- und Stimmrechte somit ohne
das Dazwischentreten von Parteien und Berufspolitikern wahr. Periodisch erfolgt ein
personeller Wechsel in den selbstverwalteten Entscheidungs- und
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Verwaltungsgremieng. Die Entscheide unterliegen dem Votum von
Vollversammlungen oder Referenden. Dadurch ist die Entstehung einer politischen
Klasse, die von den Wahlberechtigten in mehr oder weniger regelmässigen
Ausmarchungen legitimiert wird und sich die Souveränitätsrechte der Bevölkerung
weitgehend aneignet, ausgeschlossen. Insofern besteht ein klarer definitorischer
Unterschied zwischen direkter, halbdirekter und indirekter Demokratie.
Die direkte Demokratie ist jedoch kein abstrakter Idealzustand und auch kein
universelles Allheilmittel gegen die immer deutlicher zu Tage tretende autoritäre
Deformation der repräsentativen Demokratie. Die direkte Demokratie kann nur aus
den konkreten Lernprozessen des lokal und zugleich transnational assoziierten
arbeitenden Klassen und Schichten hervorgehen; gegenwärtig kann sie nur im
Kontext der Entfaltung alternativ-ökonomischer Strukturen und der umfassenden
Wiederaneignung der öffentlichen Güter entwickelt und erprobt werden.
Im Gegensatz dazu halten wir alle Versuche, die direkte Demokratie
geschichtsphilosophisch als „Urform“ der Demokratie – etwa durch den Rückgriff auf
die attische Demokratie der Antike – zu beschwören, für problematisch, weil sie
zumeist auf eine kleine stimmberechtigte Minderheit freier und vermögender Männer
begrenzt war, während die Frauen und die Unfreien (insbesondere die Sklaven)
ausgeschlossen blieben.
Die elementare Basis einer direkten Demokratie bilden die Vollversammlungen der
kleinen Gemeinschaften auf kommunaler Ebene. In ihnen finden die entscheidenden
Lernprozesse der selbstbestimmten Gesellschaften statt, welche den Aufbau der
föderativen Strukturen der größeren Gebietseinheiten (Kantone, Regionen,
kontinentale Föderationen und Weltföderation) ermöglichen. Durch diesen
räteartigen Aufbau von unten nach oben können die zentralen Defizite der
nationalstaatlich – bzw. im Fall der Europäischen Union partiell
supranationalstaatlich – verfassten repräsentativen Demokratie überwunden werden.
Aufgaben und Funktionen eines kapitalistischen Regulationssystems und die
Indienstnahme der politischen Klasse durch die Steuerungsinstrumente des Kapitals
und des militärisch-industriellen Komplexes werden Zug um Zug aufgehoben.
Der Weg zur direkten Demokratie wird keineswegs widerspruchsfrei verlaufen, wie
die historischen und aktuellen Erfahrungen – etwa die Experimente des
Frühsozialismus oder das häufig zu Rate gezogene schweizerische Beispiel –
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zeigen. Es wird deshalb darauf ankommen, frühzeitig die universellen sozialen und
individuellen Menschenrechte konstitutionell zu sichern, die Strafen- und
Repressionssysteme – wie etwa die Todesstrafe und die totalen Institutionen der
Einschließung – zu ächten und dafür Sorge zu tragen, dass die heute so weit
entwickelten medialen Instrumente zur „populistischen“ Manipulation und Steuerung
der öffentlichen Meinung frühzeitig enteignet und dem direkten Willen des Souveräns
unterworfen werden.
Entscheidende Reformen
Als „entscheidende Reform“ bezeichneten linkskeynesianische Theoretiker
strukturelle Eingriffe in die gesamtwirtschaftlichen Abläufe, die zyklische
Krisentendenzen und Zustände von Unterbeschäftigung überwinden sollten. Dazu
gehörten der umfassende Auf- und Ausbau sozialer Sicherungssysteme, die
dauerhafte Stärkung der Verhandlungsmacht der Gewerkschaften, die Verstetigung
der Investitionen durch die Verstaatlichung der wirtschaftlichen Schlüsselsektoren
und den Aufbau eines soliden öffentlichen Budgets. Durch die Deregulierung, den
Abbau der öffentlichen Sektoren, umfassende Privatisierungsmaßnahmen und die
Globalisierung der Geld- und Kapitalströme sind diese strategischen Optionen seit
den 1970er-Jahren ausgehebelt und marginalisiert worden. Wer sich heute für
„entscheidende Reformen“ einsetzt, wird sich nicht auf eine Wiederherstellung dieses
historischen Status quo zwischen Kapital und Arbeit beschränken können. Es muss
vielmehr den seither geschaffenen Tatsachen Rechnung getragen und eine
weitergehende Perspektive angestrebt werden, die nicht die Stabilisierung, sondern
die Transformation des kapitalistischen Weltsystems zum Ziel hat. Dazu gehören die
von einer breiten Massenbewegung getragene Demokratisierung der
Arbeitsprozesse, eine radikale Arbeitszeitverkürzung, der Aufbau selbstverwalteter
sozialer Sicherungssysteme, die Wiederaneignung der öffentlichen Güter, die
Durchsetzung der Geschlechtergleichheit, die Sozialisierung der Investitionen, die
Rückverteilung des gesellschaftlichen Reichtums, der dauerhafte Ausgleich
ökonomischer Ungleichgewichte und eine radikale Kehrtwende in der Umweltpolitik.
In Ihrem Zusammenwirken könnten diese entscheidenden Reformen eine kritische
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Masse bilden, die den Weg zu einer irreversiblen Umwälzung des kapitalistischen
Weltsystems frei macht (vgl. auch „Umwälzung“).
Euro-Krise
Die Euro-Krise ist ein auf EU-Europa konzentriertes Sonderphänomen, das sich beim
Übergang der Großen Rezession von 2007-2009 zur Globalen Stagnation
herausgebildet hat. Ihre strukturellen Ursachen liegen in den sozioökonomischen
Ungleichgewichten begründet, die die Europäische Union seit ihrer Entstehung
auszeichnen und sich seit der Einführung der Einheitswährung in einem Teil der EUMitgliedsländer weiter verstärkt haben. Diese Ungleichgewichte akzentuierten den
Krisenverlauf in den ersten Krisenjahren von 2007 bis 2009. Während sich nach
dieser Periode die wettbewerbsstarken Länder der Euro-Zone rasch wieder erholten,
vertiefte sich die Rezession in den Peripherieländern zu einer schweren Depression
und brachte deren Finanzsektoren an den Rand des Zusammenbruchs. Eine weitere
Folgeerscheinung war die Überschuldung der privaten und öffentlichen Haushalte in
einigen Peripherieländern, die das Problem eines Schuldenschnitts und finanzieller
Transferleistungen seitens der Kernländer aufwarf. Die Lösungsansätze dazu wurden
jedoch seitens der EU-Kommission und der Europäischen Zentralbank äußerst
restriktiv gehandhabt und mit harten Austeritätsprogrammen verknüpft, in deren
Gefolge sich die krisenhafte Entwicklung in den Peripherieländern weiter vertiefte
und die sich in EU-Europa abzeichnende wirtschaftliche Erholung wieder abwürgte.
Europäischer Stabilitätsmechanismus / „Euro-Rettungsschirm“
Der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) ist ein im Verlauf der Euro-Krise
geschaffener Notfallfonds der Mitgliedsländer der Euro-Zone der Europäischen
Union. Er soll überschuldete Mitgliedsländer durch Bürgschaften und die Gewährung
zinsgünstiger Kredite vor dem Staatsbankrott bewahren. Der ESM hat den Charakter
einer internationalen Finanzierungsinstitution mit Sitz in Luxemburg und nahm Ende
September 2012 seine Funktion auf.
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Der ESM ist aus einem ad hoc improvisierten Vorläufer hervorgegangen, der im Mai
2010 unter dem Namen Europäische Finanzstabilitäts-Fazilität (EFSF) zur
Abwendung des griechischen Staatsbankrotts gegründet worden war. Die EFSF
konnte auf den privaten Kapitalmärkten Anleihen bis zu einem Umfang von 440 Mrd.
Euro aufnehmen, hinzu kamen Kreditzusagen der EU-Mitgliedsstaaten bis zu 60 Mrd.
Euro sowie ein auf maximal 250 Mrd. Euro begrenzter Kreditrahmen des
Internationalen Währungsfonds (IMF).
Als sich die Staatsschuldenkrise im Verlauf der Eurokrise auf weitere
Peripherieländer der Euro-Zone – insbesondere Irland, Portugal, Spanien und
Zypern – ausdehnte, beschlossen die Entscheidungsgremien, das Provisorium EFSF
in eine dauerhafte Einrichtung umzuwandeln. Die Einrichtung des ESM wurde im
März 2011 durch den Rat der Finanzminister der Euro-Zone beschlossen. Nach dem
Ratifizierungsverfahren zahlten die Mitgliedsländer 80 Mrd. Euro als Grundkapital
ein. Wie die EFSF kann der ESM auf den Kapitalmärkten Anleihen bis zu einer Höhe
von 420 Mrd. Euro aufnehmen, für die die Mitgliedsstaaten bürgen. Darüber hinaus
kann der ESM auch Staatsanleihen überschuldeter Mitgliedsländer aufkaufen. Im
Gegenzug wurden der Gouverneur und das Direktorium des ESM ermächtigt, die
Schuldentragfähigkeit der öffentlichen Kreditnehmer zu prüfen und ihnen
makroökonomische Sanierungsprogramme aufzuerlegen.
Im Kontext von EFSF und ESM haben die Mitgliedsländer der Euro-Zone und die
EU-Kommission bislang 340 Mrd. Euro als Gegenleistung zu den in den
Peripherieländern gestarteten Austeritätsprogrammen zur Verfügung gestellt, weitere
79 Mrd. Euro stellte der IMF zur Verfügung. Da der provisorische und der dauerhafte
Stabilitätsmechanismus eine sehr eng geführte Ersatzlösung für die unterbliebene
Ausgabe gemeinsamer Euro-Anleihen und der Verzicht auf
Umschuldungsprogramme darstellen, wirken sie außerordentlich restriktiv und sind
zudem nur sehr begrenzt wirksam. Ohne die im Sommer 2012 parallel zur
Einführung des ESM veröffentlichte Garantieerklärung der Europäischen Zentralbank
(EZB) zugunsten der Staatsanleihen der Peripherieländer wäre die vorläufige
Eindämmung der Euro-Krise nicht denkbar gewesen.
Der wichtigste Konstriktionsfehler des ESM besteht jedoch darin, dass sein
Aktionsradius auf die öffentliche Überschuldung begrenzt ist, während die Eurokrise
wesentlich durch stagnierende oder sogar sinkende Masseneinkommen und der
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damit verbundenen massiven Privatverschuldung der Unterklassen- und
Mittelschichtshaushalte sowie gleichzeitig der kleinen und mittleren Unternehmen
bedingt ist.
Europäisches Währungssystem (EWS)
Das Europäische Währungssystem ist 1979 aus dem Europäischen
Wechselkursmechanismus, einer zu Beginn der 1970er Jahre geschaffenen
Institution der Europäischen Gemeinschaft zur Abschottung der europäischen
Waren- und Kapitalmärkte vor den Turbulenzen der globalen Devisenmärkte und der
durch den US-Dollar ausgelösten Großen Inflation, hervorgegangen. Dabei wurden
zwischen den europäischen Währungen feste Wechselkurse vereinbart, wobei der
Wert der beteiligten Währungen in einer Europäischen Wechselkurseinheit
(European Currency Unit = ECU) festgelegt wurde. Zwischen den beteiligten
Währungen wurden Bandbreiten von plus 2,25% bis minus 2,25% vereinbart,
innerhalb derer die Kurse schwanken durften. Diesem gemeinsamen
Wechselkursmechanismus schlossen sich zunächst acht EG-Mitgliedsländer an,
wobei die D-Mark zur informellen europäischen Leitwährung aufstieg. Weitere sechs
Länder, darunter Großbritannien (1990), Österreich, Finnland und Griechenland,
folgten im Verlauf der 1990er Jahre.
Zu Beginn der 1990er Jahre geriet das EWS in eine schwere Krise. Die wichtigsten
Ursachen waren die Abwertung des Pfund Sterling und der abrupte Kurswechsel der
Deutschen Bundesbank zur Hochzinspolitik im Kontext des DDR-Anschlusses. Italien
verließ das EWS zeitweilig, Großbritannien trat für immer aus. Um den völligen
Zerfall zu verhindern, wurde die Schwankungsbreite der Wechselkurse auf bis zu
plus bzw. minus 15% erhöht. Dadurch war die ursprüngliche Zielsetzung, den
europäischen Waren-, Kapital- und Dienstleistungsverkehr vor den internationalen
Wechselkursrisiken abzuschotten, ad absurdum geführt.
Mit der Einführung des Euro im Jahr 1999 endete das EWS. Jedoch schlossen sich
alle diejenigen EU-Länder, die der Euro-Zone fernblieben, zum sogenannten
Wechselkursmechanismus II zusammen. Dabei wurde die bisherige
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Verrechnungseinheit (ECU) durch den Euro als gemeinsamer Leitwährung ersetzt
und eine Schwankungsbreite zwischen plus und minus 1,5 % vereinbart.
Eurozentrismus
Beim Eurozentrismus handelt es sich um Bestrebungen, die in Europa und der
Transatlantikregion dominierenden Werte- und Normensysteme auf die Regionen,
Gesellschaften und Kulturen der übrigen Welt zu übertragen. Die Anhänger dieses
Konzepts betrachten die Menschheit als eine endlose Prozession, die von den
Nationalstaaten Europas und der USA angeführt und von diesen mit den Segnungen
des ökonomischen, politischen, sozialen, kulturellen und moralischen Fortschritts
beglückt werde. In einem zweiten Schritt wird die außereuropäische Welt sodann an
diesen vor allem modernisierungstheoretisch begründeten Werte- und
Normensystemen gemessen und beurteilt. Insoweit ist der Eurozentrismus die
wichtigste und machtvollste Manifestationsform des Systemischen Nationalismus
(vgl. „Systemischer Nationalismus“).
Die Denkmuster und Vorurteile des Eurozentrismus haben sich tief in die Sprache,
die Begriffe, die geographisch-kartographischen Darstellungen und in die
geschichtspolitischen und sozialwissenschaftlichen Theoriebildungen eingeprägt,
sodass es einer erheblichen Menge an kritischer Selbstreflexion bedarf, um sich
ihnen zu entziehen.
Die Abgrenzung gegenüber konservativen und/oder offen rassistischen Varianten
des Eurozentrismus fällt im Allgemeinen nicht schwer. Das eigentliche Problem des
Eurozentrismus sind – wie beim Systemischen Nationalismus – dessen angeblich
progressive Varianten. Europa und „der Westen“ werden als Protagonisten der
Demokratie, des Fortschritts, der Menschenrechte und der Überwindung von
„Unterentwicklung“ gefeiert, während die seit dem 15. Jahrhundert sich
herausbildenden Kernelemente der europäischen Expansion (Kolonialismus,
Sklaverei, zwei verheerende Weltkriege und die Shoah) ausgeblendet werden.
Exportdumping
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Als Exportdumping wird die gezielte Unterbietung der Weltmarktpreise für Waren und
Dienstleistungen bezeichnet. Dazu stehen zahlreiche Instrumente zur Verfügung, so
etwa die offene oder verdeckte Subventionierung des Exportsektors, die zentrale
Regulierung des Außenhandels oder die Spaltung des nationalen Währungssystems
in Binnen- und Außenwährung. In einer weitgehend offenen Weltwirtschaft sind
derartige Strategien jedoch mit hohen Folgekosten und Risiken belastet. Sie sind
zudem stark diskreditiert, weil sie zusammen mit währungspolitischen
Fehlentscheidungen der führenden Zentralbanken für die Vertiefung der
Weltwirtschaftskrise von 1929-1932 zur Großen Depression verantwortlich gemacht
werden. Heutzutage werden andere, weniger sichtbare und spektakuläre Instrumente
verwendet. Den wichtigsten Hebel bildet derzeit die Reduktion der
binnenwirtschaftlichen Lohnstückkosten durch Lohnsenkungen (vgl. („Innere
Abwertung“), Sozialabbau und die Einführung von Niedriglohnsektoren bei
gleichzeitiger massiver Beschleunigung der technologischen Innovationen. Da die
Lohnstückkosten eine wichtige Variable der Preisbildung darstellen, können die
Exportpreise auf diese Weise systematisch gesenkt werden, ohne auf die verpönten
regulatorischen Instrumente zurückgreifen zu müssen.
Es können immer nur einzelne Wirtschaftsnationen ein solches Exportdumping
betreiben, und sie sind nur dann relativ erfolgreich, wen andere Wirtschaftsnationen
auf Dumpingmethoden verzichten.
Finanzialisierter Kapitalismus
Mit diesem Begriff wird der Entwicklung Rechnung getragen, dass seit der
Liberalisierung der globalen Geld- und Kapitalmärkte die kapitalistische Produktionsund Reproduktionsweise in ihrer Gesamtheit unter die Kontrolle weltweit
operierender institutioneller oder privater Kapitalanleger geraten ist. Im Gefolge
dieser Entwicklung, die 1971-1973 mit der Auflösung der Goldeinlösungsplicht der
Dollar-Leitwährung einsetzte, wurden die den antizyklischen Doktrinen des
Keynesianismus verpflichteten Regulationssysteme der Nationalökonomien und
Wirtschaftsblöcke weitgehend zugunsten der globalen Akteure umgebaut. Dadurch
verschärften sich die Instabilitäten und Ungleichgewichte des Weltsystems. Es kam
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darüber hinaus zu einer massiven Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums
von unten nach oben, was wiederum einen Prozess der Neuformierung der
Hauptklassen zur Folge hatte.
Föderation, Föderatives Europa
Im Gegensatz zur föderalistischen Struktur zahlreicher Nationalstaaten (USA,
Bundesrepublik Deutschland usw.) setzt die in unserem Aktionsprogramm
vorgeschlagene „Föderative Republik Europa“ auf den fortschreitenden Abbau
staatlich-politischer Strukturen zugunsten der direkten Demokratie und einer von
unten nach oben aufzubauenden gesellschaftlichen Selbstverwaltung der
Produktions- und Reproduktionsprozesse. Die entscheidende Vorbedingung dazu ist
zum einen die Überwindung der Nationalstaaten und zum anderen die Umwandlung
der autoritär verfassten europäischen Institutionen in demokratisch begründete
Instrumente der Systemüberwindung. Infolgedessen besteht zwischen den
repräsentativ-bundesstaatlichen Konstruktionen und einer direktdemokratisch
legitimierten föderativen Verfassung ein klarer Unterschied.
Gleichheit der Geschlechter
Der Kampf für die Durchsetzung der Geschlechtergleichheit ist eine elementare
Grundlage aller Bestrebungen für eine egalitäre und selbstbestimmte Gesellschaft.
Er hat dadurch an Dringlichkeit gewonnen, dass seit der Weltwirtschaftskrise in
Europa – und mehr noch weltweit – die männliche Aggressivität, sexuelle
Ausbeutung und innerfamiliäre Gewalt gegen Frauen dramatisch zugenommen
haben. Gewalt gegen Frauen ist ein grundlegendes strukturelles Problem
patriarchaler und kapitalistischer Gesellschaften und insofern keineswegs auf die
aktuelle Krise beschränkt. Sie umfasst auch keineswegs nur die physische und
ökonomische Gewalt (in Form von systematischer Unterentlohnung, unbezahlter
Reproduktionsarbeit usw.), sondern auch das gesamte Spektrum der symbolischen
Gewalt, die insbesondere durch die Medien ausgeübt wird. Alle diese Formen der
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Gewalt gegen Frauen blockieren das Projekt für ein egalitäres Europa und eine
egalitäre Welt. Sie bringen gerade auch innerhalb der Unterklassen auf den
unterschiedlichsten Ebenen des Alltagslebens zum Ausdruck, dass in einer männlich
dominierten Kultur die Frauen als Eigentum der Männer betrachtet werden. Die
einzig adäquate Antwort darauf kann nur die Durchsetzung der Gleichheit der
Geschlechter auf allen Ebenen des gesellschaftlichen, ökonomischen, politischen
und kulturellen Lebens sein.
Große Inflation
Der Begriff „Große Inflation“ ist eine Rückübersetzung des angelsächsischen Begriffs
„Great Inflation“, der in den 1980er Jahren von den ökonomischen Denkfabriken der
US-amerikanischen Ostküste geprägt wurde. Er bezieht sich auf die Zeitspanne
zwischen 1965 und 1984, die weltweit durch starke Preissteigerungen und
insbesondere seit 1980 durch hohe Zinssätze geprägt war. Die Große Inflation wird
als bestimmendes geldpolitisches Ereignis in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
eingestuft. Zur Entstehung und langen Dauer der Großen Inflation trugen zahlreiche
Faktoren bei, insbesondere der durch den Ölpreisboom induzierte Anstieg der
Weltmarktpreise für Rohstoffe, die im Ergebnis der weltweiten Sozialrevolten
angestiegenen Lohneinkommen und die Folgewirkungen des internationalen
Wettrüstens sowie des Vietnamkriegs. Von den Exponenten der
wirtschaftswissenschaftlichen Konterrevolution (marktradikale Angebotstheoretiker
und Monetaristen) wurde dagegen die Finanzierung der exzessiven USamerikanischen Budgetdefizite durch die Federal Reserve zur Hauptursache erklärt.
Auf diese Weise wurde die zu dieser Zeit noch dominierende keynesianische
Wirtschaft- und Währungspolitik für die exzessiven Preis- und Zinssteigerungen
verantwortlich gemacht. Da sich diese Sichtweise gegen Ende der 1970er Jahre
weitgehend durchsetzte, begünstigte das Phänomen der Großen Inflation eine
strategische Kehrtwende der Regulationssysteme, die nun weltweit in den Dienst
marktradikaler Deregulierungskonzepte gestellt wurden.
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Große Rezession
Auch dieser Begriff ist eine Anleihe aus dem angelsächsischen Ökonomiediskurs.
Dort wurde die Weltwirtschaftskrise von 2007-2009 als „Great Recession“ eingestuft,
der, wenn nicht entschieden gegengesteuert werde, wie in den 1930er Jahren eine
Große Depression auf dem Fuß folgen würde. Die Weltwirtschaftskrise der Jahre
2007-2009 wurde durch eine Immobilien- und Hypothekenkrise ausgelöst, die ihren
Schwerpunkt in den USA und den Peripherieländer EU-Europas hatte. Sie führte im
Herbst 2008 zum Kollaps des transatlantischen Finanzsektors und löste einen
weltweiten Rückzug von Risikokapitalien aus den Rohstoffmärkten, den
Schwellenländern und den überakkumulierten Wirtschaftssektoren (insbesondere
Logistik und Automobilindustrie) aus. Nach heutiger Einschätzung war ihre
zerstörerische Dynamik deutlich größer als diejenige in der Weltwirtschaftskrise von
1929-1932. Da aber die Zentralbanken und die Entscheidungszentren der führenden
Regulationssysteme in einer weltweit koordinierten Aktion umfangreiche AntiKrisenprogramme zur Stabilisierung der Finanzarchitektur und zur Stützung der
Geldmärkte starteten und mit umfassenden fiskalpolitischen Konjunkturprogrammen
kombinierten, wurde der Übergang in eine schwere Depression verhindert. Die
Weltwirtschaftskrise durchschritt im April-Mai 2009 ihren Tiefpunkt und ging in eine
lang anhaltende Stagnationsphase über, die seither durch die geographische und
strukturelle Gleichzeitigkeit von Erholung, Wiederaufschwung, Depression und
neuerlichen Rezessionstendenzen geprägt ist.
Große Stagnation
Diesen Begriff haben wir gewählt, um die sich an die Große Rezession von 20072009 anschließende weltweite sozioökonomische Entwicklung zu umreißen. Dabei
koexistieren bis heute (März 2014) widersprüchliche Tendenzen, die auf eine
fortschreitende Zunahme geographischer und struktureller Ungleichgewichte
hinweisen: Erholungsprozesse, Depressionszonen, Ansätze zum Wiederaufschwung
und Rückfälle in Rezessionen. Derartige Gemengelagen, die sich an schwere
Wirtschaftskrisen anschließen, hat es in der Wirtschaftsgeschichte schon häufig
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gegeben. Sie werden von den Anhängern des Konzepts der „Langen Wellen“ der
wirtschaftlichen Entwicklung als „Kondratjew-Winter“ bezeichnet und dauern
durchschnittlich acht bis zwölf Jahre. Sie gelten als sozioökonomische
Übergangsphase , in der die unterschiedlichsten arbeitsorganisatorischen,
technologischen und regulationspolitischen Instrumente getestet werden, um parallel zu den allfälligen „exogenen“ Ereignissen wie Kriegen, Naturkatastrophen
und machtpolitischen Umwälzungen in der Hierarchie der Imperien – die
„endogenen“ Momente herauszufinden, die einen lang anhaltenden
Wiederaufschwung bewirken könnten. Zur Unterscheidung von den bisherigen
Depressionsperioden (Lange Depression der 1880er Jahre, Große Depression von
1932-1940, Stagflation der 1970er und 1980er Jahre) haben wir uns auf den Begriff
„Große Stagnation“ festgelegt.
Herrschende Eliten
Als herrschende Eliten bezeichnen wir die aktiven Führungsschichten der
herrschenden Klassen, die deren Ausbeutungs- und Machtinteressen in den
Entscheidungszentren des Finanzsystems, der Wirtschaft, der militärischindustriellen Komplexe, der Medien, der nationalstaatlichen bzw. supranationalen
Regulationssysteme, der politischen Repräsentationen, der Überwachungs- und
Repressionsapparate und der Kultur- und Wissenschaftspolitik durchsetzen und
sichern. Von ihrer strategischen Kohärenz, den Mentalitäten ihrer Akteure und der
Effizienz ihres arbeitsteiligen Zusammenwirkens ist die Stabilität oder Instabilität des
kapitalistischen Weltsystems abhängig, und davon lässt sich eine proportionale
Beziehung zur Geschlossenheit oder Brüchigkeit der herrschenden Klasse als
„Klasse für sich“ ableiten. Die meisten kritischen Sozialwissenschaftler sind sich
heute in der Auffassung einig, dass die durch die herrschenden Eliten bewerkstelligte
Durchsetzung ihrer materiellen Interessen zu einem viel gefestigteren
Klassencharakter als bei den mittleren und unteren Klassen.
Dieser Befund scheint auch für die Klassenverhältnisse in Europa zuzutreffen.
Während die arbeitenden Klassen und Schichten in Europa durch weitreichende
Spaltungs-, Differenzierungs- und Segmentationsprozesse geprägt sind, die sie als
17
„Klasse für sich“, d.h. als bewusst handelnde Kollektive zur Durchsetzung ihrer
materiellen Interessen, erheblich beeinträchtigen, präsentieren sich uns die
herrschenden Eliten auf den ersten Blick als ein systematisch durchstrukturierter
Machtblock. Dieser Eindruck wird zusätzlich durch die Tatsache verstärkt, dass die
herrschenden Eliten auf allen Ebenen des gesellschaftlichen, ökonomischen und
politischen Lebens eine Strategie verfolgen, die auf eine systematische
Unterordnung des Regulationssystems unter die Erfordernisse einer marktradikal
strukturierten Krisenüberwindung hinauslaufen.
Bei genauerem Hinsehen relativiert sich dieser Eindruck jedoch erheblich. Die
herrschenden Eliten Europas sind erstens hinsichtlich der Weiterentwicklung des
europäischen Integrationsprozesses tief gespalten. Dabei ist das bundesstaatliche
Integrationskonzept der EU-Technokratie durch den Primat der nationalstaatlichen
Interessen marginalisiert worden. Zweitens haben große Teile des europäischen Big
Business auf die anhaltende Euro-Krise mit einer Schwerpunktverlagerung ihrer
Exportstrategien auf die globale Ebene – insbesondere die führenden
Schwellenländer – geantwortet. Sie treten inzwischen teilweise für den „Rückbau“
des europäischen Integrationsprozesses ein und unterstützen zunehmend „eurokritische“ bzw. neokonservative Parteien.
Somit erscheinen die herrschenden Eliten Europas hinsichtlich ihrer strategischen
Optionen ebenfalls gespalten wie die Mittelschichten und die Unterklassen. Die von
ihnen verfolgte Konzeption der strategischen Unterbeschäftigung und der
marktradikalen Restriktionspolitik nimmt zunehmend den Charakter eines minimalen
gemeinsamen Nenners an, der nur noch dazu ausreicht, den Zusammenbruch der
Euro-Zone – und mit ihr der gesamten Europäischen Union - durch pragmatische
Ad-hoc-Maßnahmen zu verhindern.
Hypernationalistische Ethnopolitik
Die hypernationalistische Ethnopolitik ist eine spezifische Variante der markant
nationalstaatlich orientierten politischen Praxis. Sie definiert eine spezifische
Nationalität als klassenübergreifende Bestimmung des jeweiligen Nationalstaats und
stigmatisiert andere Nationalitäten des nationalstaatlichen Territoriums zu – sozial,
18
ökonomisch und politisch benachteiligten – Minderheiten. Derartige politische
Strategien werden durchgängig von rechtsextremistischen Organisationen verfolgt,
sind aber gegenüber den neokonservativen nationalen Machtgruppen durchaus
anschlussfähig. Innerhalb Europas sind derartige Tendenzen erstmalig nach dem
Zusammenbruch des osteuropäischen Rats für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW)
in Erscheinung getreten und haben sich nach dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien
(1999) auf den Balkan ausgedehnt. Seit dem Ausbruch der Euro-Krise und
insbesondere seit der Durchsetzung der krisenverschärfenden Austeritätsprogramme
ist dieser Hypernationalismus zu einem gesamteuropäischen Phänomen geworden,
in dem neben den Unterklassen zunehmend auch die Mittelschichten pauperiseret
werden und den supranationalen Integrationsprozess für ihren sozialen Abstieg
verantwortlich machen.
Innere Abwertung
Im Gegensatz zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit mittels
Währungsabwertung wird die durch binnenwirtschaftliche Maßnahmen erzwungene
Reduktion der Löhne und Preise als innere Abwertung bezeichnet. Dabei geht es in
beiden Fällen darum, die ökonomische Situation einer Wirtschaftsnation auf Kosten
und zu Lasten ihrer Handelspartner zu verbessern. Würden die Währungen der
führenden Nationalökonomien gleichzeitig oder kurz nacheinander abgewertet oder
deren Löhne und Preise durch gleichzeitige innere Abwertungsaktivitäten gesenkt, so
käme es zu einer allgemeinen deflationären Entwicklung und zu einer umfassenden
Wirtschaftsdepression, die im Extremfall den Kollaps des weltwirtschaftlichen
Systems zur Folge haben könnte.
Die innere Abwertung kann durch direkte Lohnkürzungen, durch die Reduktion der
Sozialleistungen, durch eine generell restriktive Fiskalpolitik sowie durch eine
restriktive Geldmengenpolitik der Zentralbank durchgesetzt werden. Dabei werden
meistens mehrere Verfahren miteinander kombiniert. Sie wird vor allem dann
vorgenommen, wenn die Abwertung der Nationalwährung durch feste Wechselkurse
(wie etwa beim Gold-Standard), durch internationale Verträge oder durch die
Zugehörigkeit der betreffenden Wirtschaftsnation zu einer Währungsunion unmöglich
19
gemacht wird. Dies ist der Fall bei den Mitgliedsländern der Euro-Zone, die sich
aufgrund der bei ihnen eingeführten Einheitswertung währungspolitisch in einer dem
Goldstandard entsprechenden Situation befinden. Sie werden gezwungen, ihre
innerhalb des gemeinsamen Währungsgebiets fortbestehenden
Wettbewerbsnachteile durch innere Abwertungsmaßnahmen auszugleichen.
Kernzone der Europäischen Union / Eurozone
Im Begriff „Kernzone“ der EU bzw. der Euro-Zone kommt die Tatsache zum
Ausdruck, dass der europäische Integrationsprozess zu einer massiven
ungleichgewichtigen Entwicklung der Mitgliedsländer geführt hat. Voraussetzung
dafür war der Verlust der den Integrationsprozess tragenden Symmetrie zwischen
Frankreich und Deutschland und dessen Unterwerfung unter den Primat der
marktradikalen Restriktionspolitik, der sich vor allem zugunsten des deutschen NeoMerkantilismus auswirkt. Seit Beginn der 1990er Jahre ist Deutschland zur
dominierenden europäischen Macht aufgestiegen. In ihrem Schlepptau haben einige
Nachbarländer – insbesondere Österreich, die Beneluxländer und Dänemark –
zusammen mit Finnland und Schweden sowie indirekt auch mit der Schweiz
Nischenpositionen innerhalb der gemeinsamen Exportorientierung besetzt und sind
zunehmend zu einer gemeinsamen Vertretung ihrer Interessen innerhalb der EUGremien übergegangen.
Kreditfinanzierte Stabilisierung der Einkommen
Als die Mitgliedsländer des Rats für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) kollabierten
und anschließend eine mehrjährige „Schocktherapie“ durchliefen, kam es zu einer
dramatischen Schrumpfung der Masseneinkommen in Osteuropa. Ein Jahrzehnt
zuvor hatten auch die arbeitenden Klassen und Schichten zahlreicher west- und
südeuropäischer Mitgliedsländer der Europäischen Gemeinschaft im Gefolge der dort
praktizierten Austeritätspolitik erhebliche Einkommensverluste hinnehmen müssen.
Als die Länder Osteuropas in die Europäische Union aufgenommen wurden und die
20
Mehrzahl der west- und südeuropäischen EU-Länder in die Euro-Zone übertrat,
erlangten auch die Unterklassen und Mittelschichten Zugang zu einer stabilen
Währung und damit zu billigen Krediten. Sie gingen deshalb dazu über, ihre in den
vergangenen Jahrzehnten erlittenen Einkommensverluste durch die Aufnahme
billiger Konsumenten-, Unternehmens- und Immobilienkredite auszugleichen. Da der
Finanzsektor diese Entwicklung durch zusätzliche Anreize stimulierte, entwickelte
sich ein unkontrollierter Kreditboom, der im Verein mit analogen Entwicklungen in
den Vereinigten Staaten und der damit einhergehenden globalen Verteilung der
Risiken die Weltwirtschaftskrise von 2007 / 2008 auslöste.
Lange Wellen der wirtschaftlichen Entwicklung
Das Konzept der langen Wellen bezieht sich auf die empirische Tatsache
periodischer Auf- und Abschwünge der Wirtschaft, die gegen Ende des 18.
Jahrhunderts einsetzten und sich seither in Abständen von 30-40 Jahren
wiederholen. Es wurde im Wesentlichen von dem sowjetischen Ökonomen Nikolai
Kondratjew erarbeitet und seit dem Ende der 1930er Jahre von Joseph A.
Schumpeter und anderen Wirtschaftswissenschaftlern und Historikern
weiterentwickelt. Die lange Welle folgt der Dynamik der Entwicklung der Profitrate
und wird als eine Überlagerung unterschiedlicher konjunktureller Zyklen von vier- bis
achtjähriger Dauer (Lagerzyklen, Handelszyklen, Kreditzyklen, Investitionszyklen
usw.) verstanden. Unterteilt werden die Abschnitte in Krise, Depression („KondratjewWinter“), Erholung und Aufschwung. Darüber hinaus werden endogene und exogene
Faktoren unterschieden, die die bislang sechs oder sieben langen Wellen des
industrialisierten Kapitalismus geprägt haben. Als wesentlicher endogener Faktor
gelten dabei technologische Innovationen, die sich – wie beispielsweise die
Elektrotechnik oder der Mikrochip – über die gesamte wirtschaftliche
Branchenstruktur ausbreiten. Die Periodisierung der Abfolge der langen Wellen ist in
der Forschung umstritten. Am überzeugendsten erscheint uns ein Ansatz, der den
Beginn der langen Welle auf die Krisenetappe fokussiert, sodass die letzten drei
Kondratjew-Zyklen durch die Jahre 1929, 1973 und 2007 festgelegt sind.
21
Leistungsbilanz
Die Leistungsbilanz ist ein Schlüsselbegriff der wirtschaftlichen Gesamtrechnung
einer Nationalökonomie. In ihr werden alle in einem Geschäftsjahr stattfindenden
grenzüberschreitenden Bewegungen von Waren, Dienstleistungen, Erwerbs- und
Vermögenseinkommen und Übertragungen zusammengefasst und als Ausfuhren
oder Einfuhren einander gegenübergestellt. Der Gesamtsaldo der Ein- und Ausfuhr
von Waren, Dienstleistungen, Einkommen und Übertragungen (Leistungsbilanzsaldo)
kann ausgeglichen sein. Er wird jedoch in der Regel einen
Leistungsbilanzüberschuss oder ein Leistungsbilanzdefizit ausweisen. Wird ein
Leistungsbilanzüberschuss erzielt, so hat die betreffende Wirtschaftsnation in der
Berichtszeit mehr produziert als sie selbst an eigenen und ausländischen Gütern
nachfragt. Sie kann infolgedessen einen Devisenüberschuss erzielen und
Auslandsvermögen bilden. Dagegen weist ein Leistungsbilanzdefizit darauf hin, dass
die betreffende Wirtschaftsnation mehr verbraucht als sie produziert; sie muss sich
infolgedessen im Ausland verschulden und/oder Auslandsvermögen abbauen. Wenn
sich zwischen mehreren Nationalökonomien oder Gruppen von Nationalökonomien
Leistungsbilanzunterschiede über längere Zeit entwickeln, so verweist dies auf die
Herausbildung struktureller makroökonomischer Ungleichgewichte, die die
weltwirtschaftliche Entwicklung destabilisieren. Dies gilt auch für die USA, die jedoch
wegen der Position des Dollars als Leitwährung längerfristig Zahlungsbilanzdefizite
mit Anleihen und dem Banknotendruck „finanzieren“ können.
Lohnspreizung
Als Lohnspreizung oder Lohnschere wird der Abstand zwischen den Arbeitsentgelten
der verschiedenen Segmente der arbeitenden Klassen und Schichten innerhalb einer
Wirtschaftsnation oder eines supranationalen Wirtschaftsblocks bezeichnet. Sie ist
einem komplexen Ursachenbündel geschuldet, zu dem vor allem die zur
Reproduktion und Qualifikation des Arbeitsvermögens erforderlichen Kosten, die
relative Knappheit oder ein Überangebot an Arbeitskräften, die Entwicklung
22
arbeitssparender technologischer Innovationen, die Herausbildung immer größerer
Qualifikations- und Kompetenzunterschiede, die Existenz besonders diskriminierter
Segmente der arbeitenden Klassen (MigrantInnen, Flüchtlinge, die diskriminierende
Entgeltregelungen gegenüber Frauen mit gleichem Qualifikationsniveau) und last but
not least die Stärke oder Schwäche der ArbeiterInnenorganisationen und
Gewerkschaften gehören. Mit verschiedenen Parolen hat die Arbeiterlinke schon
immer gegen die Lohnspreizung angekämpft und durch die Durchsetzung linearer
Lohnerhöhungen, die Abschaffung der diskriminierenden unteren Lohngruppen, die
Einführung von Mindestlöhnen und andere egalisierende Entgeltregelungen ihre
mehr oder weniger weit reichende Kompression erzwungen. Seit den 1980er Jahren
ist hingegen aufgrund des Niedergangs der Arbeiterbewegung und des Triumphs des
Marktsradikalismus das Gegenteil zu beobachten: Durch die Einführung der
Niedriglohnsektoren und die massive Steigerung der Managergehälter öffnete sich
die Einkommensschere so weit wie noch nie. Wenn wir die Entgelte der untersten
Segmente der arbeitenden Klassen und die Managergehälter einbeziehen, sind
heute Lohnspreizungen mit einer Spannbreite von 1: 250 und mehr keine Seltenheit.
In diesen und anderen quantifizierenden Größen der Lohnungleichheit spiegelt sich
die fortschreitende Spaltung, Ausdifferenzierung und Segmentation der arbeitenden
Klassen und Schichten wider.
Lohnstückkosten
Die Lohnstückkosten sind wie die Arbeitsproduktivität eine proportionale Größe. Sie
werden aus dem Verhältnis der in einer bestimmten Zeitspanne und in einer
definierten Wirtschaftseinheit gezahlten Arbeitsentgelte (Löhne, Honorare usw.) zur
Arbeitsproduktivität errechnet (siehe „Arbeitsproduktivität“). Die Lohnstückkosten
steigen, wenn die Entwicklung der Reallöhne über den Produktivitätszuwachs
hinausgeht, und sie sinken, wenn die Reallöhne hinter dem Zuwachs der
Arbeitsproduktivität zurückbleiben (was in hoch entwickelten Nationalökonomen
jedoch keineswegs ausschließt, dass die ArbeiterInneneinkommen ebenfalls
ansteigen).
23
Die Lohnstückkosten gelten als wichtige, jedoch auch mit einigen Problemen
behaftete, Messgröße zur Beurteilung der Wettbewerbsfähigkeit einer
Nationalökonomie innerhalb eines Wirtschaftsblocks oder des Weltsystems. Da sie
zudem eine bedeutende Komponente der Preisbildung darstellen, haben sie großen
Einfluss auf die Preisstruktur. Niedrige Lohnstückkosten dämpfen die
Binnennachfrage und führen in einer entwickelten Nationalökonomie zur
Herausbildung von Überkapazitäten. Sie können aber auch zum ExportpreisDumping genutzt werden und verschaffen den Exportsektoren der betreffenden
Wirtschaftsnation aufgrund ihrer überdurchschnittlich hohen Profitraten eine
dominierende Stellung innerhalb der Gesamtwirtschaft und des Regulationssystems.
Auf der anderen Seite besteht kein empirischer Zusammenhang zwischen sinkenden
Lohnstückkosten und Wachstum. Nicholas Kaldor hat vielmehr das Gegenteil
gezeigt, dass nämlich Wachstum mit steigenden Lohnstückkosten einhergeht. Immer
aber zeigt der Indikator nur relative Veränderungen.
Marktradikalismus
Der Marktradikalismus ist eine wirtschaftsideologische Doktrin, die gegenwärtig die
Wirtschaftswissenschaften und die wirtschaftspolitischen Entscheidungszentren des
kapitalistischen Weltsystems weitgehend beherrscht. Sie geht von der Vorstellung
aus, dass das gesamte gesellschaftliche, politische, kulturelle und wissenschaftliche
Leben einem System selbstregulierter Märkte untergeordnet werden sollte.
Behauptet wird, dass die Märkte als zentrale Regulatoren der Wirtschaftskreisläufe
ein Gleichgewicht anstrebten, weshalb dem Allgemeinwohl am besten gedient sei,
wenn den Marktteilnehmern erlaubt werde, uneingeschränkt ihre Eigeninteressen zu
verfolgen. Dieses Konstrukt beruft sich völlig zu Unrecht auf Adam Smith, einen der
Hauptrepräsentanten der klassischen politischen Ökonomie, dem das Diktum
unterschoben wurde, wonach die vom Egoismus der Wirtschaftssubjekte getriebenen
Marktkräfte den Nationalökonomien wie von unsichtbarer Hand auf besonders
effiziente Weise zum Wohlstand verhelfen würden.
Diese und andere Geschichtsklitterungen sind für den Marktradikalismus typisch. Sie
verweisen auf das Bestreben seiner Protagonisten, sich als legitime Erben des
24
klassischen Wirtschaftsliberalismus auszuweisen. Dass ihnen dies weitgehend
gelungen ist, zeigt die heute auch von den meisten Kritikern mitgetragene
Selbstzuschreibung des Marktradikalismus als „Neoliberalismus“, obwohl die
marktradikalen Doktrinen zutiefst autoritär und eng mit den antiliberalen Konzepten
des Neo-Merkantilismus verflochten sind. Im Wissen darum haben wir uns bemüht,
diesen Begriff „Neoliberalismus“ möglichst zu vermeiden.
Damit stellen wir keineswegs in Abrede, dass sich der als Antithese zur
keynesianischen Variante des Wirtschaftsliberalismus entstandene
Marktradikalismus seit den 1980er Jahren enorm ausdifferenziert hat. Jedoch gehen
die dabei entstandenen Denkrichtungen und wirtschaftspolitischen Schulen –
Angebotstheorie, Geldtheorie und Geldmengenpolitik, Strategien der
Unterbeschäftigung und restriktive Finanzpolitik – von identischen
wirtschaftsideologischen Prämissen aus. Das ermöglichte ihren Akteuren ein
arbeitsteiliges Zusammenwirken und verschaffte dem Marktradikalismus eine
Durchschlagskraft, die inzwischen dogmatische bis totalitäre, sicherlich aber fatale
Dimensionen erreicht hat.
Mittelklassen, Mittelschichten
In der Klassenanalyse der kritischen Sozialwissenschaften nehmen die Mittelklassen
bzw. Mittelschichten die Rolle eines mehr oder weniger diffusen
Schichtenkonglomerats ein, das zwischen den beiden Hauptklassen – die
herrschende bürgerliche Klasse und die Klasse der ArbeiterInnen – eingebettet ist.
Dabei sind fließende Übergänge zu diesen beiden Hauptklassen vorhanden, sodass
Mittelschichten die Rolle eines für das mentale und strukturelle Funktionieren sowie
die Stabilität der kapitalistischen Gesellschaftsformation unverzichtbaren
„Klassenkitts“ einnehmen. Nach oben schließen die Mittelschichten mit ihren den
herrschenden Eliten nachgeordnete Funktionseliten in allen wesentlichen
Systemfeldern an die herrschenden Klassen an. Nach unten ergeben sich fließende
Übergänge zu den Unterklassen in Gestalt der alten und neuen Mittelschichten,
insbesondere in den kleingewerblichen Sektoren der Handwerks- und
Familienunternehmen, der hochqualifizierten selbständigen Arbeit und der
25
prekarisierten Segmente der Wissensarbeit. Da die Mittelklassen weitaus stärker als
die arbeitenden Klassen und Schichten von lang anhaltenden sozioökonomischen
Entwicklungsphasen profitieren, befinden sie sich gegenwärtige insbesondere in den
führenden Schwellenländern im Aufwind.
In Europa ist hingegen eine eher gegenläufige Entwicklung zu beobachten. Im
Kontext der Deregulierung der Arbeitsmärkte und der anschließenden
Expansionsphasen der Europäischen Union war europaweit eine neue Mittelklasse
entstanden, die sich nach dem Abschmelzen der traditionellen Arbeitsverhältnisse als
neue Selbständige in den Dienstleistungssektoren, der hochqualifizierten
Wissensarbeit, den kleingewerblichen Familienwirtschaften und den High TechNischen der industriellen Produktion etabliert hatten. Im Verlauf der
Weltwirtschaftskrise von 2007 bis 2009 und der anschließenden Depression sind
diese Sektoren insgesamt unter massiven Druck geraten und vom sozialen Abstieg
bedroht. Dieser Prozess ist keineswegs nur auf die weniger wettbewerbsfähigen und
peripheren Länder der Europäischen Union begrenzt, sondern hat sich auch in den
Ländern der Kernzone breit durchgesetzt. Hier ist es vor allem die massiv in Gang
gekommene Niedriglohnpolitik, die erheblichen Teilen der alten und neuen
Selbständigen im Zusammenwirken mit den allgemeinen Krisenfolgen zusetzt. Da
diese sozial absteigenden oder vom sozialen Absturz bedrohten Segmente der
Mittelklassen in erster Linie den europäischen Integrationsprozess für ihre Misere
verantwortlich machen, haben sie sich in den vergangenen Jahren zunehmend den
„europa-kritischen“ neo-konservativen und neofaschistischen Strömungen des
Parteienspektrums zugewandt.
Multiversum der Unterklassen
Bei diesem Begriff handelt es sich um eine Neuschöpfung. Sie soll zum Ausdruck
bringen, dass die arbeitenden Klassen und Schichten des Weltsystems im
Gegensatz zum geschichtsphilosophischen Konstrukt der „Multitude“ (Michael Hardt
und Antonio Negri) den empirisch fassbaren und entsprechend theoretisierbaren
unteren Pol der heutigen Klassengesellschaft darstellen. Aus der konkreten Analyse
der Dynamik von Klassenformierung und Klassenfragmentierung lässt sich erstens
26
die Feststellung ableiten, dass es im heutigen Multiversum der Unterklassen kein
dominierendes Arbeitsverhältnis gibt, sodass sich die Frage nach einer politisch
hegemonialen Schicht erübrigt. Deshalb sollten zweitens alle Segmente (Hand- und
Kopfarbeit oder Wissensarbeit, freie und unfreie Arbeit, produktive und reproduktive
Arbeit, selbständige und unselbständige Arbeit oder Lohnarbeit, Frauen-, Kinder- und
Männerarbeit, prekäre und sozial geschützte Arbeitsverhältnisse usw.) als
gleichrangig eingestuft und auf ihre gemeinsame Existenzgrundlage, den
ArbeiterInnenhaushalt, bezogen werden. In diesem „egalitären“ Kontext wird dann
drittens auch wieder ein unbefangener Umgang mit der freien Lohnarbeit möglich,
die in der bisherigen marxistischen Orthodoxie als zentraler Bezugspunkt definiert
war. In bestimmten Konstellationen kann sie genauso wie die selbständige Arbeit, die
Teilpacht oder die Schuldknechtschaft erhebliches Gewicht erlangen. In anderen
kann sie aber auch zur Bedeutungslosigkeit verkümmern. Dabei bleibt aber immer
die Einsicht bestimmend, dass die freie Lohnarbeit – und allemal die sozial
abgesicherte, unbefristete männliche Lohnarbeit – nicht als „natürliches“, „typisches“
oder „normales“ Arbeitsverhältnis kanonisiert werden darf. Derartige Prämissen,
beispielsweise auch etwa die These von der Dominanz der „immateriellen“ Arbeit,
verstellen unseren Blick auf das Multiversum, auf das vielschichtige Ganze, und
geben das emanzipatorische und egalitäre Anliegen zugunsten privilegierter
Gruppeninteressen auf.
Neo-Merkantilismus, neomerkantilistische Wirtschaftspolitik
Als neomerkantilistisch werden diejenigen wirtschaftspolitischen Strategien
bezeichnet, die die Nationalökonomien und die supranationalen Wirtschaftsblöcke
auf die möglichst konstante Erzielung von Leistungsbilanzüberschüssen ausrichten.
Diese strategische Orientierung gilt bereits für den klassischen Merkantilismus des
16. bis 18. Jahrhunderts. Heutzutage wird aber unter den Bedingungen des
weitgehend durchgesetzten weltwirtschaftlichen Freihandels operiert. Dessen
ungeachtet ist dem klassischen wie dem aktuellen Merkantilismus das Streben nach
der Erzielung hoher Exportüberschüsse an Waren, Dienstleistungen und Kapital
sowie nach der möglichst weitgehenden Ausschaltung der Importkonkurrenz
27
gemeinsam. Gemeinsam ist auch die Tatsache, dass denjenigen Nationalökonomien,
die Leistungsbilanzüberschüsse erzielen, immer solche mit Leistungsbilanzdefiziten
gegenüberstehen müssen, weil der Neo-Merkantilismus auch in Zeiten des
zyklischen weltwirtschaftlichen Wachstums noch immer ein Nullsummenspiel
darstellt, das dem Prinzip des „Beggar my Neighbour“ verpflichtet ist. würde ich
streichen, weil gerade bei den Steuern häufig viel zu wenig abfällt) Die
„Kollateralschäden“ des Neo-Merkantilismus, nämlich die ständig wachsenden
weltwirtschaftlichen Ungleichgewichte und die außenpolitischen Rückwirkungen
seiner aggressiven Außenwirtschaftspolitik werden von den verantwortlichen
Akteuren mehr als billigend in Kauf genommen.
Die Durchsetzung einer einseitig exportorientierten Strategie ist unter den heutigen
Bedingungen des weltwirtschaftlichen Freihandels nur möglich, wenn ihr das
gesamte nationale bzw. supranationale Regulationssystem untergeordnet wird. Dazu
gehört erstens die ständige Reduktion der Lohnstückkosten, d.h. die gleichzeitige
Durchsetzung von Niedriglöhnen und hohen Produktivitätszuwächsen zur Senkung
des Preisniveaus und damit auch der Exportpreise. Diese deflationäre
Grundorientierung muss zweitens seitens der Zentralbank und der Fiskalpolitik durch
eine systematische Politik der „Preisstabilität“ und der Drosselung der
Binnennachfrage ergänzt werden. Drittens müssen die Regulationsbehörden dafür
Sorge tragen, dass die außenwirtschaftlichen Konkurrenten ihrer Nationalökonomien
ihre Schutzmechanismen gegen das Exportpreisdumping aufgeben, also
Zollschranken abbauen, den Kapitalverkehr liberalisieren und auf die
währungspolitischen Abwehrmechanismen wie die Abwertung ihrer Nationalwährung
verzichten. Im Fall der Euro-Zone ist dies dadurch gewährleistet, dass die
wettbewerbsschwächeren Peripherieländer das währungs- und wirtschaftspolitische
Instrumentarium zur Abwehr des von der Kernzone ausgehenden
Exportpreisdumpings und zur Neutralisierung der Ungleichgewichte verloren haben.
Öffentliche Güter / Gemeingüter, Wiederaneignung der Commons
Als Öffentliche Güter oder Gemeingüter werden solche Güter bezeichnet, an denen
kein Eigentumsrecht besteht, sodass sie von allen gemeinsam genutzt werden
28
können. Das Nichtvorhandensein des Eigentumsrechts ist zumeist normativ oder
politisch bestimmt und kann infolgedessen auch Güter umfassen, die teilweise von
Eigentümern verwertet werden wie beispielsweise der Rundfunk oder das Internet.
Gegenwärtig werden die Gemeingüter durch die Akteure des Rendite suchenden
Kapitals zunehmend in Eigentum verwandelt, kommodifiziert und unter dem Einsatz
von lebendigem Arbeitsvermögen in den Prozess der Kapitalreproduktion
eingeschleust, so etwa das Gesundheitswesen, der Bildungssektor, der Nahverkehr,
oder der Klimaschutz. Dieser Prozess spiegelt sich in einer komplementären
Einengung des Begriffs und des Volumens der anerkannten Gemeingüter in der
Wirtschaftswissenschaft wider. Hier findet das entgegengesetzte Projekt der
Commons seinen theoretischen und praktischen Bezugspunkt. Die Wiederaneignung
der öffentlichen Güter gehört zusammen mit den Experimenten der alternativen
Ökonomie zu den zentralen Bezugspunkten des heutigen sozialen Widerstands. Der
Kampf für die Wiederaneignung und die Ausweitung der Commons markiert eine
strategische Position, die sich der Fortsetzung der zunehmend zerstörerisch
gewordenen kapitalistischen Dynamik in ihren entscheidenden Handlungsfeldern in
den Weg stellt.
Peripherieländer der Europäischen Union / der Euro-Zone
Als Peripherieländer der EU bzw. der Euro-Zone werden diejenigen
Nationalökonomien bezeichnet, die im Verlauf der 1980er Jahre im Kontext der SüdErweiterung der Europäischen Gemeinschaft sowie ein Jahrzehnt später nach dem
Zusammenbuch des Rats für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) im Rahmen der
sogenannten Ost-Erweiterung in den Machtbereich der Europäischen Union
einbezogen wurden. Im alltäglichen Sprachgebrauch spiegeln sich diese beiden sehr
unterschiedlich gestalteten Integrationsphasen der süd- und osteuropäischen
Peripherie nur unzulänglich wider. Vor allem seit der Euro-Krise richtet sich der
Fokus fast ausschließlich auf die süd- und westeuropäischen Peripherieländer
Portugal, Irland, Italien, Griechenland und Spanien, die seit einiger Zeit unter dem
Kürzel „PIIGS“ zusammengefasst werden.
29
Realeinkommen
Das Realeinkommen ist das durch einen Preisindex dividierte Einkommen der
Erwerbsabhängigen einer Nationalökonomie. Dem Preisindex wird in der Regel das
Preisniveau der Konsumgüter zugrunde gelegt.
Regulatoren (Bestimmungsfaktoren) des wirtschaftlichen Zyklus
In der herrschenden Wirtschaftstheorie wird dem Markt die zentrale Rolle des
Regulators der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zugesprochen. Diese Hypothese
ist irrig, wie schon ein oberflächlicher Blick auf das alltägliche ökonomische
Geschehen ergibt. Der entscheidende Faktor (Regulator) des kapitalistischen
Wirtschaftssystems ist der Profit, genauer die Profitrate. Kurz, mittel- und langfristige
Veränderungen der Profitrate beherrschen das Handeln der Akteure auf allen
Ebenen des wirtschaftlichen Geschehens. Beeinflusst wird die Profitrate auch durch
die Zentralbanken, die Geld- und Fiskalpolitik, die Arbeits- und Sozialpolitik, die
Wirtschafts- und Technologiepolitik usw. Daher macht es Sinn, zwischen primären
Faktoren (der Entwicklung und dem zyklischen Ausgleich der Profitraten) und
sekundären Faktoren (dem Ensemble der Eingriffe des Regulationssystems) zu
unterscheiden. Das Marktgeschehen wird vom Wechselspiel dieser Faktoren
bestimmt, und grundsätzlich sind Märkte ohne Regulation undenkbar.
Regulationsbehörden
Als Regulationsbehörden werden alle diejenigen Institutionen des
Regulationssystems bezeichnet, die arbeitsteilig in den Produktions- und
Reproduktionsprozess einer Wirtschaftseinheit eingreifen: Arbeitsbehörden,
Finanzbehörden, Kartellbehörden, Sozialbehörden, Steuerbehörden,
Wirtschaftsbehörden, Zentralbanken usw. In den letzten Jahrzehnten ist die
30
Gestaltungs- und Steuerungskompetenz der Regulationsbehörden im Zug des
Abbaus der öffentlichen Wirtschaftssektoren zunehmend eingeschränkt worden.
Regulationssystem
Als Regulationssystem wird das Ensemble jener Institutionen und Strukturen
bezeichnet, die gestaltend und steuernd in den Produktions- und
Reproduktionsprozess einer Wirtschaftseinheit (Nationalökonomie, Wirtschaftsblock,
Imperium usw.) eingreifen. Dabei kann die Gestaltungsmacht je nach historischer
Epoche extrem variieren. Sie war in der Epoche des Absolutismus und nach dem
zweiten Weltkrieg, in der Blütezeit der verschiedenen Sozialstaaten, besonders stark
ausgeprägt. Aus welthistorischer Perspektive waren dies jedoch eher
Ausnahmeerscheinungen. Im Allgemeinen dominierte – und dominiert auch heute –
ein Zustand, wie er sich schon seit der Entstehung des Kapitalismus im 14./15.
Jahrhundert herausgebildet hatte: Das Regulationssystem hat vor allem die Aufgabe,
die Akkumulationsbedingungen der operierenden wirtschaftlichen Einheiten mittels
der immer weiter ausdifferenzierten Instrumente der Arbeits-, Finanz-, Fiskal- und
Wirtschaftspolitik, aber auch allgemein politisch, diplomatisch oder sogar militärisch
zu optimieren.
Schuldenkrise
Unter dem Begriff Schuldenkrise wird im Allgemeinen – in unzulässiger Verkürzung –
eine durch die Überschuldung der öffentlichen Haushalte ausgelöste Finanzkrise
verstanden. Dabei wird übersehen, dass die überproportional hohe
Staatsverschuldung in der Regel mit einer analogen oder gar noch höheren
Verschuldung der Unterklassenhaushalte und der Kleinunternehmen verknüpft ist.
So war es auch zu Beginn der Großen Rezession von 2007-2009. Als die
Immobilienpreise zusammenbrachen, waren Millionen von ArbeiterInnenhaushalte in
den USA und den Peripherieländern EU-Europas nicht mehr in der Lage, ihre
Hypothekarkredite zurückzuzahlen. Dies brachte die Banken und
Hypothekenversicherer in eine akute Notlage, die öffentliche Rettungs- und
31
Stabilisierungsaktionen auslöste, um die private Finanzarchitektur vor dem
Zusammenbruch zu bewahren, während Stützungsaktionen zugunsten der
überschuldeten Haushalte und Gewerbebetriebe selbst unterblieben. Diese
Verstetigung der öffentlichen Refinanzierungsmaßnahmen musste durch die
Ausgabe neuer Staatsanleihen und den Anstieg der Budgetdefizite ausgeglichen
werden. Weitere Komponenten der anwachsenden Staatsverschuldung waren die
krisenbedingte Schrumpfung der Steuereinnahmen, der durch die
Massenerwerbslosigkeit bedingte Anstieg der sozialen Transferleistungen und die
von den privaten Gläubigern erzwungene Anstieg der Verzinsungskosten.
Subalterne Klassen / Unterklassen
Wir haben auf diesen Begriff in unserer Flugschrift immer dann zurückgegriffen,
wenn es uns darauf ankam, die arbeitenden Klassen und Schichten – und
insbesondere auch die Arbeitsarmut (Working Poors) – als passive, der
Hegemonialmacht der herrschenden Eliten unterworfene Gesellschaftsgruppen
auszuweisen. Dabei handelt es sich um zeitlich begrenzte und an spezifische
Umstände gekoppelte Konstellationen, nicht aber um die Entwicklung eines
strukturellen Trends von längerer Dauer.
Systemischer Nationalismus
Der Nationalismus hat viele Spielarten und Legitimationsmuster hervorgebracht.
Viele davon, so etwa die ideologisch-programmatischen Ausprägungen des
Nationalismus oder die vielfältigen machtpolitischen Begründungen, sind leicht zu
durchschauen und werden in den Diskursen für eine egalitäre und selbstbestimmte
Gesellschaftsperspektive strikt abgelehnt.
Dennoch bleiben nicht Wenige, die den ideologisch und machtpolitisch begründeten
Nationalismus ablehnen, in den durch den Nationalismus bedingten territorialen,
politischen, ökonomischen und kulturellen Einfriedungen des Nationalismus
befangen. Dabei werden tief verinnerlichte Denkstrukturen wirksam, die wir als
32
systemischen Nationalismus bezeichnen. Es handelt sich um die quasi
automatisierte Anwendung bestimmter erkenntnistheoretischer Prämissen, die den
Nationalstaat als „naturgegebenen“ Rahmen voraussetzen. Demgegenüber bleibt
festzuhalten, dass es sich bei den Nationalstaaten um ausgesprochen junge
historische Phänomene handelt, die sich zeitlich vom 19. Jahrhundert bis zur
Entkolonialisierung erstrecken. Wir halten es deshalb für unangemessen, die ihnen
vorangegangenen Epochen in eine Vorgeschichte der Nationalstaaten umzudeuten.
Aber auch ihre Zukunftsperspektive ist durchaus begrenzt, und deshalb erscheint es
uns abwegig, aus ihrer zeitlich befristeten dominierenden Stellung einen nicht weiter
zu hinterfragenden Dauerzustand abzuleiten.
Für genauso fatal halten wir die auch bei Linken weit verbreitete Gleichsetzung des
Nationalstaats mit den Strukturen der Gesellschaft. Dadurch werden die
Gesellschaften zu starren Systemen umgedeutet. Das gesellschaftliche Leben ist
jedoch so komplex und vielgestaltig, dass seine Identifikation mit den Strukturen des
Nationalstaats Ausgrenzungen und Uniformitätszwänge hervorbringt. Seine
verhängnisvolle Wirkung entfaltet der systemische Nationalismus jedoch erst im
Zusammenwirken mit dem Eurozentrismus (siehe „Eurozentrismus“).
Triade-Region
Als Triade-Region werden die von den USA, Japan und der Europäischen Union
beherrschten Regionen des kapitalistischen Weltsystems bezeichnet. Es handelt sich
dabei um keine kohärente geographische Einheit, sondern um das durch die
Transatlantik- und die Pazifikregion miteinander verbundene ökonomisch-politische
Herrschafts- und Machtzentrum der Gegenwart. Diese Triade wird seit Beginn des
neuen Millenniums durch den Aufstieg der führenden Schwellenländer zunehmend
herausgefordert, bildet aber noch immer den entscheidenden Handlungs- und
Gestaltungskontext der global dominierenden Macht, der Vereinigten Staaten von
Amerika.
Troika
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Als Troika werden Einsatzgruppen der EU-Kommission, der Europäischen
Zentralbank und des Internationalen Währungsfonds bezeichnet, die seit dem
Frühjahr 2010 in all denjenigen Peripherieländern der Euro-Zone operieren, welche
aus den Finanztöpfen dieser drei Institutionen Darlehen oder Kreditgarantien
beziehen. Im Gegenzug setzen die Teams der Troika harte Restriktionsprogramme
durch, die darauf abzielen, die überschuldeten Staatshaushalte zu sanieren, die
Sozialtransfers herunterzufahren und die Lohnstückkosten zu senken.
Umwälzung
Als Umwälzung bezeichnen wir die Summe aller sozialen, ökonomischen, politischen
und kulturellen Handlungsfelder, die in ihrem Zusammenspiel die Transformation des
kapitalistischen Weltsystems in die Richtung einer egalitären, selbstbestimmten und
von allen Ausbeutungs- und Herrschaftsstrukturen befreiten Weltgesellschaft
bewirken. Im Gegensatz zum traditionellen Revolutionsbegriff handelt es sich dabei
um ein komplexes und in sich widersprüchliches Geschehen, das mit großer
Wahrscheinlichkeit über mehrere Jahrzehnte ablaufen wird. Dabei werden auf
Etappen beschleunigter Umbrüche langwierige graduelle Umgestaltungen folgen, die
wir als Entscheidende Reformen (vgl. „Entscheidende Reformen“) bezeichnen, und
umgekehrt. Dieser Ansatz unterscheidet sich in drei wesentlichen Punkten von den
Vorstellungen der Revolutionstheorie, die die traditionelle Arbeiterlinke prägten. Die
Umwälzung ist erstens kein einmaliges, kurzfristiges Geschehen, sondern ein
langwieriger Prozess. Die entscheidenden Reformen sind zweitens integrale
Bestandteile des Umwälzungsprozesses. Der traditionelle Widerspruch zwischen
Reform und Revolution ist im Prozess der Umwälzung aufgehoben. Und drittens
bezieht sich die Umwälzung auf ein global koordiniertes Geschehen jenseits der
Nationalstaaten und der bis weit in die Linke verbreiteten mentalen Strukturen des
systemischen Nationalismus. Dessen ungeachtet setzt der Begriff Umwälzung
genauso wie die klassische Revolutionstheorie eines Konstellation des
Systembruchs (oder der Systemsprengung) voraus, die den Umwälzungsprozess in
Gang bringt und die Chance einer irreversiblen Transformation des kapitalistischen
Weltsystems eröffnet.
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Yom-Kippur-Krieg und Petrodollar-Krise
Am 6. Oktober 1973, dem höchsten israelischen Feiertag (Yom Kippur), griffen die
Armeen Ägyptens und Syriens im Sinai und auf den Golanhöhen an. Beide Regionen
waren im Sechstagekrieg des Jahrs 1967 von Israel erobert worden. Die Offensive
wurde nach ersten Anfangserfolgen zurückgeschlagen, bevor am 24. Oktober ein
durch die Vereinten Nationen vermittelter Waffenstillstand in Kraft trat. Ägypten und
Syrien wurden durch die arabischen Ölförderstaaten wirtschaftspolitisch unterstützt.
Das von ihnen beherrschte Erdölerzeugerkartell (OPEC) drosselte die
Erdölförderung, erhöhte die Lieferpreise und verhängte zeitweilig einen Lieferboykott
gegen die USA. Diese Maßnahmen führten zur Auslösung der globalen Ölkrise von
1973. Zusammen mit der im Frühjahr 1973 erfolgten Aufhebung der
Goldeinlösungspflicht des Dollars seitens der Nixon-Administration wird dieses
Ereignis heute als wichtigster exogener Faktor angesehen, der zur
Weltwirtschaftskrise von 1973 geführt hat.
Zahlungsbilanz
In der Zahlungsbilanz werden die grenzüberschreitenden wirtschaftlichen
Transaktionen einer Nationalökonomie innerhalb einer bestimmten Zeitspanne
wertmäßig zusammengefasst. Es handelt sich dabei nicht um eine zu einem
bestimmten Zeitpunkt errechnete Vermögensaufstellung, sondern um eine
Stromrechnung. Neben solchen Transaktionen, die mit grenzüberschreitenden
Zahlungen verbunden sind, werden auch solche Geschäfte berücksichtigt, die mit
keiner bzw. keiner unmittelbaren Zahlung verbunden sind.
Die Zahlungsbilanz besteht gemäß Vorgaben des Internationalen Währungsfonds
aus den folgenden Teilbilanzen: Leistungsbilanz (vgl. „Leistungsbilanz“),
Vermögensübertragungen, Kapitalbilanz (Direktinvestitionen, Wertpapieranlagen,
Finanzderivate und übriger Kapitalverkehr, Veränderung der Devisenreserven) sowie
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dem Saldo der statistisch nicht ausdifferenzierbaren Transaktionen, den
sogenannten Restposten.
Die Zahlungsbilanz wird nach dem Prinzip der doppelten Buchführung geführt,
Leistungstransaktionen und Finanztransaktionen werden somit getrennt erfasst und
gegeneinander aufgerechnet. Infolgedessen können nur die verschiedenen
Teilbilanzen der Zahlungsbilanz Defizite oder Überschüsse aufweisen (vgl.
„Leistungsbilanz“). Als Ganzes ist die Zahlungsbilanz dagegen immer ausgeglichen.
Gerät beispielsweise die Leitungsbilanz einer Nationalökonomie in ein Defizit, so wird
dieses durch Kreditaufnahmen im Ausland oder durch die Verringerung der
Devisenreserven der Zentralnotenbank ausgeglichen. Bei
Leistungsbilanzüberschüssen können dagegen Auslandskredite vergeben und die
Währungsreserven aufgestockt werden.
Zwangssparen
In der Wirtschaftsgeschichte trat das den Unterklassen aufgezwungene Ansparen
erheblicher Teile ihrer abhängigen Erwerbseinkommen in den unterschiedlichsten
Formen auf. Im vorletzten Kondratjew-Zyklus (1973-2007) dominierte dabei der durch
den Abbau der öffentlichen sozialen Sicherungssysteme ausgelöste Zwang zur
individuellen Reservierung wachsender Anteile der Einkommen für die Wechselfälle
des Daseins wie Erwerbslosigkeit, Krankheit, Invalidität und Alter. Diese Ersparnisse
werden dann von den unterschiedlichsten Institutionen des finanzialisierten
Kapitalismus (Banken, Hedge Fonds, Pensionsfonds, Versicherungskonzerne usw.)
eingesammelt und zu spekulativen Expansionszwecken genutzt. Es handelte sich
dabei um ein globales Massenphänomen mit weitreichenden Folgen, die dann in der
Weltwirtschaftskrise von 2007-2009 schlagartig sichtbar wurden. Einige Ökonomen
sind der Auffassung, dass es sich hierbei um ein Kernproblem des finanzialisierten
Kapitalismus handle. Sie ziehen daraus den Schluss, dass auf die reelle Subsumtion
des Arbeitsvermögens unter das Kapital nunmehr zusätzlich die reelle Subsumtion
der ArbeiterInnenhaushalte unter das Finanzkapital folge.
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