Handelsblatt 01.08.2017 Neue Chancen nutzen! Gastbeitrag Michael Heise, Chefvolkswirt Allianz SE Die jüngsten Daten zur Konjunktur bestätigen, dass die Wirtschaft der Euro-Zone derzeit kräftig expandiert. Mit einem Wirtschaftswachstum von annähernd zwei Prozent, ca. 2000000 neuen Jobs sowie einer - obwohl immer noch hohen - rückläufigen Arbeitslosigkeit von 9,2 Prozent dürfte 2017 das beste Jahr für die Euro-Zone seit der Krise sein. Die Aufwärtsentwicklung hat alle Länder der Währungsunion erfasst, und sie ist zunehmend von der Inlandsnachfrage getragen und damit stabiler geworden. Fraglich ist allerdings, wie lange der Aufschwung anhalten wird. Vieles hängt von den Entwicklungen in den Vereinigten Staaten und in China ab. In beiden Wirtschaftsregionen gibt es Risiken für die Konjunktur. Auch in Europa selbst kann es wieder zur Abkühlung kommen, etwa wenn die Brexitverhandlungen scheitern oder alte Schuldenprobleme mancher Südländer wieder akut werden. Das alles ist nicht abzusehen, aber immerhin möglich. Die Wirtschaftspolitik ist auf solche Risiken nicht gut vorbereitet. Die Finanzminister haben in vielen Ländern wenig Spielraum für expansive Maßnahmen, weil die Staatsschulden in den letzten Jahren immer weiter gestiegen sind. Und da die Zinsen der EZB immer noch unter null liegen, könnte auch die Geldpolitik nur mit unkonventionellen, in der Wirkung recht fraglichen Mitteln eingreifen. Daher wäre es jetzt sinnvoll, die Wirtschaftspolitik etwas stärker antizyklisch einzustellen und bestehende Konjunkturimpulse zurückzunehmen. Die Mitgliedsländer der Euro-Zone sollten konjunkturbedingte Steuermehreinnahmen, wie sie seit Jahren auch in Deutschland anfallen, zur Reduzierung der Haushaltsdefizite nutzen, statt der politischen Verlockung zu folgen, die Ausgaben weiter zu erhöhen. Von einer solchen vorbeugenden Politik ist bisher wenig zu sehen. Gespart wurde vor allem unmittelbar nach der Finanzkrise und notgedrungen als Reaktion auf die EuroSchuldenkrise, was eher prozyklisch wirkte und die Nachfrage weiter minderte. In den letzten drei Jahren hat sich der Abbau der strukturellen Defizite wieder stark verlangsamt. Gespart haben die Regierungen lediglich durch die, hauptsächlich von der Geldpolitik verursachten, niedrigeren Zinsbelastungen. Länder wie Frankreich, Spanien und Italien haben nach wie vor hohe Defizite, obwohl sich die konjunkturelle Situation dort deutlich gebessert hat. Die Europäische Kommission sollte noch stärker darauf pochen, dass sie die Schuldenaufnahme jetzt reduzieren. Damit entstünde Spielraum für die nächste Konjunkturflaute. Auch für die Geldpolitik der EZB hat sich das wirtschaftliche Umfeld geändert. Sie scheint nach wie vor im Paradigma der Finanzkrise verfangen zu sein und zögert, aus der ultraexpansiven Politik auszusteigen. „Geduld und Beständigkeit“ sind das Mantra der Bank, die nach wie vor an der Stärke des Aufschwungs zweifelt und die Inflation für zu niedrig hält. Die EZB hat sicherlich gute Gründe, auf verbleibende Risiken für die Nachhaltigkeit des Aufschwungs hinzuweisen und damit eine sehr vorsichtige Ausstiegsstrategie aus der unkonventionellen Geldpolitik zu begründen. Aber das kann nicht heißen, dass sie im sich erholenden Konjunktur- und Preisumfeld weiterhin alles tut, um die Konjunktur anzufachen. So aber muss man die anhaltenden Anleihekäufe der EZB und das Festhalten an Negativzinsen interpretieren. Eine solche Strategie kreiert nicht nur Risiken - etwa übertriebene Bewertungen an den Finanzmärkten -, sondern engt auch den Spielraum massiv ein, den die Zentralbank im Falle einer nachlassenden Konjunktur zur Stimulierung der Wirtschaft hätte. Sicher birgt auch der Ausstieg aus der sehr expansiven Geldpolitik Risiken, zum Beispiel ein Emporschnellen der Renditen am Kapitalmarkt. Bei gewohnt guter Kommunikation der EZB sollte der Renditeanstieg aber in Grenzen gehalten werden können. Und er sollte in seinen Wirkungen auf die Konjunktur nicht dramatisiert werden. Selbst wenn sich die Kapitalmarktzinsen in der Euro-Zone verdoppelten, lägen sie noch weit unter dem nominalen Wachstumstempo der Volkswirtschaft, das in langfristiger Betrachtung die Messlatte für ein neutrales Zinsniveau darstellt. Dieses Wachstumstempo lag in der Euro-Zone in den vergangenen beiden Jahren bei rund 3,0 Prozent. Deutlich darunterliegende Zinsen geben der Wirtschaft expansive Impulse. Die Zinsen haben also Luft nach oben, ohne dass dies restriktiv wäre. Der Aufschwung bietet der EZB die Möglichkeit zur Normalisierung ihrer Politik. Für die Regierungen der Euro-Zone besteht die Chance, mit dem Schuldenabbau wirklich voranzukommen. Sie sollten sie jetzt nutzen.