Entscheidung am Ende des Lebens Der technische Fortschritt war in

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Entscheidung am Ende des Lebens
© Cornelsen Verlag, Berlin • FG Ethik/Religion
Der technische Fortschritt war in den letzten Jahrzehnten enorm. Für die Medizin
gilt das besonders. Durch Forschung kommt es zu einem besseren Verständnis der
Erkrankungen und zur Entwicklung neuer Medikamente oder technischer Hilfsmittel. Spürbare Auswirkungen dieses Fortschritts sind deutlich höhere Überlebensraten von Patienten mit schweren Erkrankungen. Allgemeiner Ausdruck hierfür ist
auch die Zunahme der Lebenserwartung: Wer heute in Deutschland geboren wird,
hat eine um über 30 Jahre höhere Lebenserwartung als derjenige, der vor 100 Jahren
geboren wurde.
Der Fortschritt wirft jedoch auch Fragen und Probleme auf, die sich in früheren
Zeiten so nicht gestellt haben. Durch die höhere Lebenserwartung, u. a. durch überlebte Erkrankungen, an denen man gegebenenfalls vor Jahren noch gestorben wäre,
nimmt die Zahl der Demenzkranken deutlich zu. Keiner möchte jedoch im Alter
dement werden, und einige würden lieber davor sterben. Es ergeben sich Fragen für
jeden einzelnen Betroffenen, aber auch für die ganze Gesellschaft oder für den Gesetzgeber, die nicht leicht zu beantworten sind.
• Sollte alles Machbare, wie z. B. künstliche Beatmung, Krebstherapien, Operationen beim alten und gegebenenfalls dementen oder unheilbar kranken Menschen,
durchgeführt werden?
• Sollte vor dem Hintergrund begrenzter Ressourcen, v. a. begrenzten Geldes im
Gesundheitssystem, eine Auswahl erfolgen: z. B. teure Eingriffe nur für Menschen, die jünger sind als 80 Jahre, die eine Lebenserwartung von mehr als fünf
Jahren haben oder ein vermeintlich lebenswertes Leben führen?
• Sollten einem alten oder schwer kranken Menschen Schmerzen in Form z. B. von
Operationswunden zugefügt werden, damit er gegebenenfalls einige Monate länger leben kann?
• Hätte der Patient eine anstrengende Behandlung außerhalb seiner gewohnten
Umgebung gewollt?
Im Folgenden werden zwei Fälle beschrieben, wie sie täglich in unseren Krankenhäusern vorkommen.
Standpunkte 127
© Cornelsen Verlag, Berlin • FG Ethik/Religion
Fall 1
Die 87-jährige Frau S., Witwe des ehemaligen Bürgermeisters, wird mit dem Notarzt
wegen Brustschmerzen in die Notaufnahme eingeliefert. Sie lebt seit neun Jahren im
Pflegeheim. Der einzige Sohn wohnt 400 Kilometer entfernt, die meisten Freunde
sind schon verstorben. Frau S. ist zunehmend vergesslich, verirrt sich öfters mit dem
Rollstuhl im Pflegeheim und zittert beim Essen, sodass sie sich jedes Mal bekleckert.
Sie muss wegen ungewollten Urinabgangs eine Windel tragen.
Schnell ist die Diagnose eines Herzinfarktes gestellt. Beste Therapie ist eine spezielle
Herzuntersuchung, Herzkatheter genannt. Es kommt dabei jedoch gelegentlich zu
Komplikationen mit verlängertem Krankenhausaufenthalt und zusätzlichen Operationen. Auch müssen danach unbedingt Medikamente auf Dauer gegeben werden,
die ebenfalls Nebenwirkungen haben und teuer sind. Die Kosten für die Untersuchung werden mit 2 500 Euro veranschlagt. Die Alternative ist die Gabe von drei
bewährten und billigen Medikamenten. Man weiß, dass diese Behandlung im Vergleich zum Herzkatheter deutlich schlechter ist, sodass mit einer schwereren Schädigung des Herzens, einer eingeschränkten Belastbarkeit und höherer Sterberate zu
rechnen ist. Herzkatheter – ja oder nein?
Fall 2
Der 65-jährige Herr R., Vorsitzender des Tennisvereins, wird wegen eines Schlaganfalls ins Krankenhaus gebracht. Er konnte plötzlich nicht mehr sprechen und seinen
rechten Arm und sein rechtes Bein nicht mehr bewegen. Das Ganze passierte, während er mit seinen zwei Enkelkindern, auf die er zusammen mit seiner Frau zwei Mal
die Woche aufpasst, Schlitten fuhr. Trotz langem Krankenhausaufenthalt in Spezialkliniken kam es zu keiner Besserung der Schlaganfallsymptome, sodass Herr R. weiterhin nicht sprechen und sich nur im Rollstuhl fortbewegen kann. Da Herr R. nicht
mehr schlucken kann, muss er außerdem seit dem Schlaganfall künstlich über einen
Schlauch in den Magen, Magensonde genannt, ernährt werden. Es besteht eine Patientenverfügung, in der Herr R. keine lebensverlängernden Maßnahmen wünschte,
sollte er kein selbstständiges Leben mehr führen können. Kurz vor der geplanten
Entlassung verrutschte die Magensonde, sodass eine neue gelegt werden müsste.
Sollte dies nicht erfolgen, würde Herr R. in absehbarer Zeit wegen Unterernährung
versterben. Magensonde – ja oder nein?
Bei jedem Patienten muss im Team aus Angehörigen, Ärzten, Pflegern und eventuell
unter Zuhilfenahme eines Ethikteams eine individuelle Entscheidung getroffen werden. Jeder Beteiligte hat dabei seine persönlichen ethisch-moralischen Vorstellungen, die aus seiner Erziehung und Geschichte resultieren. Vielleicht kennst du jemanden aus der eigenen Familie oder dem Bekanntenkreis, der vor solch einer Frage
stand.
Dr. Martin Balke
Webcode: FR233366-017
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