126 Standpunkte Entscheidung am Ende des Lebens © Cornelsen Verlag, Berlin • FG Ethik/Religion Der technische Fortschritt war in den letzten Jahrzehnten enorm. Für die Medizin gilt das besonders. Durch Forschung kommt es zu einem besseren Verständnis der Erkrankungen und zur Entwicklung neuer Medikamente oder technischer Hilfsmittel. Spürbare Auswirkungen dieses Fortschritts sind deutlich höhere Überlebensraten von Patienten mit schweren Erkrankungen. Allgemeiner Ausdruck hierfür ist auch die Zunahme der Lebenserwartung: Wer heute in Deutschland geboren wird, hat eine um über 30 Jahre höhere Lebenserwartung als derjenige, der vor 100 Jahren geboren wurde. Der Fortschritt wirft jedoch auch Fragen und Probleme auf, die sich in früheren Zeiten so nicht gestellt haben. Durch die höhere Lebenserwartung, u. a. durch überlebte Erkrankungen, an denen man gegebenenfalls vor Jahren noch gestorben wäre, nimmt die Zahl der Demenzkranken deutlich zu. Keiner möchte jedoch im Alter dement werden, und einige würden lieber davor sterben. Es ergeben sich Fragen für jeden einzelnen Betroffenen, aber auch für die ganze Gesellschaft oder für den Gesetzgeber, die nicht leicht zu beantworten sind. • Sollte alles Machbare, wie z. B. künstliche Beatmung, Krebstherapien, Operationen beim alten und gegebenenfalls dementen oder unheilbar kranken Menschen, durchgeführt werden? • Sollte vor dem Hintergrund begrenzter Ressourcen, v. a. begrenzten Geldes im Gesundheitssystem, eine Auswahl erfolgen: z. B. teure Eingriffe nur für Menschen, die jünger sind als 80 Jahre, die eine Lebenserwartung von mehr als fünf Jahren haben oder ein vermeintlich lebenswertes Leben führen? • Sollten einem alten oder schwer kranken Menschen Schmerzen in Form z. B. von Operationswunden zugefügt werden, damit er gegebenenfalls einige Monate länger leben kann? • Hätte der Patient eine anstrengende Behandlung außerhalb seiner gewohnten Umgebung gewollt? Im Folgenden werden zwei Fälle beschrieben, wie sie täglich in unseren Krankenhäusern vorkommen. Standpunkte 127 © Cornelsen Verlag, Berlin • FG Ethik/Religion Fall 1 Die 87-jährige Frau S., Witwe des ehemaligen Bürgermeisters, wird mit dem Notarzt wegen Brustschmerzen in die Notaufnahme eingeliefert. Sie lebt seit neun Jahren im Pflegeheim. Der einzige Sohn wohnt 400 Kilometer entfernt, die meisten Freunde sind schon verstorben. Frau S. ist zunehmend vergesslich, verirrt sich öfters mit dem Rollstuhl im Pflegeheim und zittert beim Essen, sodass sie sich jedes Mal bekleckert. Sie muss wegen ungewollten Urinabgangs eine Windel tragen. Schnell ist die Diagnose eines Herzinfarktes gestellt. Beste Therapie ist eine spezielle Herzuntersuchung, Herzkatheter genannt. Es kommt dabei jedoch gelegentlich zu Komplikationen mit verlängertem Krankenhausaufenthalt und zusätzlichen Operationen. Auch müssen danach unbedingt Medikamente auf Dauer gegeben werden, die ebenfalls Nebenwirkungen haben und teuer sind. Die Kosten für die Untersuchung werden mit 2 500 Euro veranschlagt. Die Alternative ist die Gabe von drei bewährten und billigen Medikamenten. Man weiß, dass diese Behandlung im Vergleich zum Herzkatheter deutlich schlechter ist, sodass mit einer schwereren Schädigung des Herzens, einer eingeschränkten Belastbarkeit und höherer Sterberate zu rechnen ist. Herzkatheter – ja oder nein? Fall 2 Der 65-jährige Herr R., Vorsitzender des Tennisvereins, wird wegen eines Schlaganfalls ins Krankenhaus gebracht. Er konnte plötzlich nicht mehr sprechen und seinen rechten Arm und sein rechtes Bein nicht mehr bewegen. Das Ganze passierte, während er mit seinen zwei Enkelkindern, auf die er zusammen mit seiner Frau zwei Mal die Woche aufpasst, Schlitten fuhr. Trotz langem Krankenhausaufenthalt in Spezialkliniken kam es zu keiner Besserung der Schlaganfallsymptome, sodass Herr R. weiterhin nicht sprechen und sich nur im Rollstuhl fortbewegen kann. Da Herr R. nicht mehr schlucken kann, muss er außerdem seit dem Schlaganfall künstlich über einen Schlauch in den Magen, Magensonde genannt, ernährt werden. Es besteht eine Patientenverfügung, in der Herr R. keine lebensverlängernden Maßnahmen wünschte, sollte er kein selbstständiges Leben mehr führen können. Kurz vor der geplanten Entlassung verrutschte die Magensonde, sodass eine neue gelegt werden müsste. Sollte dies nicht erfolgen, würde Herr R. in absehbarer Zeit wegen Unterernährung versterben. Magensonde – ja oder nein? Bei jedem Patienten muss im Team aus Angehörigen, Ärzten, Pflegern und eventuell unter Zuhilfenahme eines Ethikteams eine individuelle Entscheidung getroffen werden. Jeder Beteiligte hat dabei seine persönlichen ethisch-moralischen Vorstellungen, die aus seiner Erziehung und Geschichte resultieren. Vielleicht kennst du jemanden aus der eigenen Familie oder dem Bekanntenkreis, der vor solch einer Frage stand. Dr. Martin Balke Webcode: FR233366-017