___________________________________________________________________________ 1 SWR 2 Musikstunde mit Ulla Zierau, 14. Juli 2010 Wer war Bohuslav Martinu? Skizzen aus dem Leben des tschechischen Komponisten (3) „Ein Künstler sucht immer nach dem Sinn des Lebens, seines eigenen und dem der Menschheit, er sucht nach der Wahrheit.“ - sagte Martinu einmal. „Ein System von Ungewissheit bestimmt heute unser tägliches Leben. Der Druck der Mechanisierung und der Uniformität ruft Protest des Einzelnen hervor und der Künstler hat nur eine Möglichkeit, seinen Widerspruch zu formulieren: die Musik“ – soweit Bohuslav Martinu. Einen seiner größten Erfolge feiert Martinu mit dem Oratorium „Gilgamesch“, nach Worten aus dem gleichnamigen alten Babylonischen Epos. Darin geht es um Leben und Tod, um die Angst vor Vergänglichkeit und um das ruhelose Streben des Königs Gilgamesch nach dem ewigen, nach dem göttlichen Leben. Da heißt es: „Gilgamesh, warum rennst du, (Insofern) wie du das Leben, welches du suchst, nicht finden kannst? (Denn) die Götter teilten, in ihrer (ersten) Schöpfung der Erdenkinder, Den Tod den Menschen zu, (Aber) das Leben bewahrten sie für sich. Und hier die Vertonung von Bohuslav Martinu. Musik 1 Bohuslav Martinu: Gilgamesch, „Gilgamesh, why runnest thou“ Slowakischer Philharmonischer Chor und Slowakisches Philharmonisches Orchester / Kosler, Zdenek M0252225 017 1‘50 2 In Nizza ist das Oratorium Gilgamesch entstanden. Der Dirigent Paul Sacher hatte es bei seinem Freund Martinu in Auftrag gegeben und leitete auch 1958 die äußerst erfolgreiche Uraufführung in Basel. Martinus Leben ist von zwei Weltkriegen geprägt, ohne die seine persönliche Entwicklung sicher anders verlaufen wäre. Der erste unterbrach seine Studienjahre in Prag, der zweite - viel weitreichender - trieb ihn ins Exil nach Amerika. Am 21. März 1941 verlassen die Martinus auf der Exeter von Portugal aus europäisches Festland und erreichen zehn Tage später New York. Der inzwischen 50-jährige Komponist steht wieder einmal vor einem Neuanfang. Er spricht kaum englisch, in Amerika kennt man ihn nicht, seine Musik ebenso wenig, bis auf eine Ausnahme, das launige Orchesterstück „La Bagarre“, das in Amerika uraufgeführt wurde. Serge Koussewitzky hatte es im November 1927 mit dem Boston Symphony Orchestra erstmals gespielt. La Bagarre heißt auf Deutsch „Getümmel“. Das musikalische Getümmel soll die Begeisterung einer Menschenmenge bei einem großen öffentlichen Ereignis beschreiben, erst ganz allgemein, dann widmete Martinu das sinfonische Allegro Charles Lindbergh, dem amerikanischen Piloten, der als erster im Alleinflug den Atlantik überquerte. Hören wir den Anfang,,, Musik 2 Bohuslav Martinu: La Bagarre Staatlich Philharmonisches Orchester Brünn / Petr Vronsky M0253151 002 Blende bis 3‘50 So beginnt das sinfonische Getümmel, la Bagarre von Bohuslav Martinu, es ist dem großen Ereignis der ersten Atlantiküberquerung von Charles Lindbergh gewidmet. Petr Vronsky leitete das Staatliche Philharmonische Orchester Brünn. “La Bagarre“ ist also das einzige Werk, das die Amerikaner von Martinu kennen, für ihn anscheinend ausreichend, wie er in seinen autobiographischen Notizen später etwas verklärend bemerkt: „Als ich dann 1941 in New York ankam, erinnert man sich noch an das Stück und ich wurde empfangen, als wenn ich schon lange Zeit in dieser Stadt gelebt hätte.“ 3 In Wahrheit steht Martinu mit leeren Händen da. Die meisten seiner Partituren musste er in Europa zurücklassen. Die große Herausforderung lautet: Neues schaffen für ein amerikanisches Publikum, für amerikanische Orchester. Das fällt Martinu in den ersten Monaten nicht leicht. Er spricht nur schlecht englisch, fühlt sich allein und isoliert und eher unglücklich. Sicher, die wieder gewonnene Freiheit, die Demokratie sind ihm nach Monaten der Flucht ein teures Gut, aber er vermisst die Natur, die Spaziergänge, Freunde und Kollegen, die Besuche der Pariser Cafes. Er versinkt in Erinnerungen, z.B. an das Weihnachtsfest 1929, für das er einige Lieder geschrieben hat. Musik 3 Martinu: Le petit chat, Weihnachtslied Olga Cerná, Jitka Cechová M0107787 022 1‘45 Olga Cerná und Jitka Cechová mit einem launigen Weihnachtslied „Le petit chat“ von Bohuslav Martinu. Das Leben in Amerika ist für das Ehepaar Martinu ein harter Brocken. New York ist dem introvertierten Komponisten zu groß, zu unüberschaubar. “Hier muss man immer weiter gehen, Block und Block, endlos und je weiter man geht, je mehr zwingen einen die Gedanken und die einförmige Umgebung zum schneller und schneller Gehen, bis man aufhört zu denken und mit dem Zählen der Blocks beginnt. Nein, ich kann nicht behaupten, dass meine Erinnerungen an New York nur glückliche sind.“ Schreibt er später. Der Dirigent, Serge Koussewitzky ist es, der den Freund unterstützt und der sich für seine Musik einsetzt. Koussewitzky führt in Boston Martinus Concerto grosso auf, was den Komponisten im Land bekannt macht. Kurz darauf erhält Martinu von der Koussewitzky Foundation einen Kompositionsauftrag für ein großes sinfonisches Werk. Ein neuer Horizont öffnet sich, neue Möglichkeiten, neue Formen und Klänge. Martinu arbeitet an seiner ersten Sinfonie. Und noch einmal Koussewitzky, er verschafft ihm eine Stelle als Kompositionslehrer bei den Sommerkursen in Tangelwood. 4 Martinus erste Sinfonie wird in Boston uraufgeführt mit unerwartetem Erfolg. Insgesamt schreibt er sechs Sinfonien, die ersten vier kurz hintereinander. In vielem orientiert er sich an großen spätromantischen Vorbildern wie Dvorak, Mahler oder den reflektierenden Momenten eines Johannes Brahms. Aber in diesen Sinfonien stecken auch neue Ideen, eigene Geschichten, die Geschichte Europas und viele traditionelle, mährische und böhmische Elemente, was ihm Arnold Schönberg später herb vorwarf, man könne aus Volksliedern keine Sinfonien machen. Kann man doch! Die 2. Sinfonie entsteht mitten im 2. Weltkrieg im Auftrag der Tschechischen Gemeinschaft der Stadt Cleveland zum 25. Geburtstag der unabhängigen Tschechoslowakei. Martinu steckt all seine Hoffnung auf baldigen Frieden hinein. Die Sinfonie klingt auch schon ein wenig amerikanisch, rhythmisch à la Copland, cineastisch à la Korngold. Musik 4 Martinu: 2. Sinfonie, 3. Satz Royal Scottish National Orchestra / Bryden Thomson M0252226 010 4‘58 Der 3. Satz aus der 2. Sinfonie. Bryden Thomson leitete das Royal Scottish National Orchestra. Martinu ist zwar tausende Kilometer weg von der Heimat und dennoch sind ihm die Ereignisse und Schicksale ganz nah. Zur selben Zeit wie die 2. Sinfonie, arbeitet er an dem „Gedenkstück für Lidice“. Ein politischer, weltgeschichtlicher, humanistischer Aufschrei. Ein klingendes Mahnmal für die Opfer der Liquidierung des kleinen Dorfes Lidice, 40 Kilometer nördlich von Prag in der Nacht vom 9. auf den 10. Juni durch das NSRegime. Die Zerstörung war ein bestialischer Vergeltungsschlag der Deutschen für das Attentat auf den stellvertretenden Reichsprotektor Reinhard Heydrich. Kurz vor Mitternacht des 9. Juni wurden die Häuser Lidices angezündet, die Männer erschossen, Frauen in Konzentrationslager abtransportiert, Kinder von ihren Müttern getrennt, die meisten von ihnen sind gestorben, ein unglaublicher Akt der Barbarei. 5 Ein Aufschrei des Entsetzens, der Fassungslosigkeit ging durch die internationale Presse und den Pen-Club. Heinrich Mann schreibt daraufhin im kalifornischen Exil den Roman „Lidice“, Bert Brecht und Hans Eisler das Lidice Lied und Bohuslav Martinu das Memorial to Lidice, ein knapp achtminütiges Orchesterstück: wenige treffende Noten in Form einer freien Choralmeditation für ein ungeheures Ausmaß an Schrecken, Entsetzen und Leiden und zugleich endloser Trauer und tiefster, innerer Bekümmerns, ja Verzweiflung. Im dramatischen Höhepunkt etwa eine Minute vor Schluss, bevor die Trauer in einem andante moderato endet, zitiert Martinu in einer Schrecksekunde das Schicksalsmotiv aus Beethovens 5. Sinfonie. Musik 5 Martinu: Mahnmal für Lidice, Trauermusik für Orchester SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg / Paul Sacher 7‘45 M0022086 001 Mahnmal für Lidice, Trauermusik für Orchester, komponiert zur Erinnerung an die Zerstörung des tschechischen Dorfes Lidice durch deutsche Truppen am 10. Juni 1942, ein Jahr später wurde das Stück von den New Yorker Philharmonikern unter Artur Rodzinski uraufgeführt. In der SWR 2 Musikstunde spielte das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg unter der Leitung von Paul Sacher, ein Aufnahme aus dem Jahr 1964. Obwohl Martinu in Amerika zunehmend populärer wird, Emigranten und Freunde trifft, untern ihnen Albert Einstein, fehlen ihm seine Wurzeln, seine vertraute Umgebung. Er leidet unter Heimweh, wohl wissend, dass Europa immer noch vom Faschismus beherrscht wird. Während er an seiner 3. Sinfonie arbeitet, kommt die Nachricht, dass die Alliierten in der Normandie gelandet seien. Hoffnungsschimmer, Verklärung, Vorfreude auf die Rückkehr in die Heimat. all das packt er in seine 4. Sinfonie. Musik 6 Bohuslav Martinu: Finale 1. Satz, 4. Sinfonie Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR / Klaus Tennstedt M0241306 005 ab 2’55 rein 3‘54 (6’49) 6 Klaus Tennstedt und das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR mit dem Finale des ersten Satzes aus der 4. Sinfonie von Bohuslav Martinu. In dieser 4. Sinfonie klingen Gedanken an die Heimat, an ein Wiedersehen mit der Familie und den Freunden an. Doch die ersten Nachrichten aus dem heimischen Policka sind nicht die besten. Die Mutter ist im Alter von 89 Jahren gestorben, ebenso der treue Freund und Studienkollege Stanislav Novak. Will Martinu überhaupt zurück? Seine Werke finden schneller nach Europa zurück als er selbst. Sie werden in Paris gespielt, in Genf unter Ansermet, in Prag unter Rafael Kubelik. Alle Zeichen stehen auf Erfolg, Freiheit und Rückkehr in die Heimat. Doch irgendwie schleicht sich in die äußeren glücklichen Umstände ein Schatten, keiner weiß so recht, woher er kommt. Martinu zögert die Reise nach Europa hinaus. Auch das Angebot einer Stelle als Kompositionslehrer am Prager Konservatorium überzeugt ihn nicht. Er möchte in Amerika bleiben, seine 5. Sinfonie und einen Auftrag Paul Sachers beenden, nämlich die „Toccata e due canzoni“. Darin kehrt Martinu zum Klassizismus zurück, verfeinert die Modernisierung alter Formen. Er schafft eine Art Concerto grosso, ganz wie er es liebt und er schreibt: „Weniger sichtbare Gefühle und laute Klänge, dafür aber mehr dichte und musikalische Formen: das ist das Concerto grosso. Ich darf wohl sagen, dass es mir ein wahres Vergnügen war, wieder in diesem an äußeren Mitteln so sparsamen, innerlich aber so reichen Gebiet zu arbeiten.“ Musik 7 Bohuslav Martinu: Toccata e due canzoni für Kammerorchester Kammerorchester Basel / Christopher Hogwood HA 311 M0012342 007 Canzone 1 7‘37 7 Die erste Canzone aus „Toccata e due canzoni“. Christopher Hogwood leitete das Kammerorchester Basel. Mitten in der Arbeit, nach den ersten beiden Sätze wird Martinu im Juni 1946 jäh unterbrochen. Während eines Sommerkurses in Tangelwood verbringt er einen gemütlichen Abend mit seinen Studenten. Bei einer Verschnaufpause auf der Terrasse vertieft er sich wohl so sehr in seine Gedanken und bemerkt nicht, wie hinter ihm längst die Türen ins Schloss fielen und die Lichter erloschen waren. Im Dunkeln sucht Martinu nach einer Treppe in den Garten und stürzt drei Meter in die Tiefe. Ein schwerer Unfall. Zwei Tage liegt er bewusstlos im Krankenhaus. Die Folgen: ein Schädelbruch. Wie durch ein Wunder ist die Wirbelsäule verschont geblieben. Fünf Wochen muss Martinu im Krankenhaus bleiben. Er leidet unter Gleichgewichtsstörungen, den Kopf kann er viele Monate kaum beugen und der Hörnerv seines rechten Ohres ist stark beschädigt. Martinu findet zwar zurück zu seiner Arbeit, aber seine Beweglichkeit bleibt lange Zeit stark eingeschränkt – an eine längere Reise ist gar nicht zu denken. Erst nach insgesamt 7 Jahren Exil kehrt Martinu erstmals wieder nach Europa zurück. Er besucht Frankreich und seinen Freund Paul Sacher in der Schweiz. In die kommunistische Tschechoslowakei will und kann er nicht zurückkehren, zu fern sind ihm das Regime und der Konformismus. So bleiben die Martinus mit festem Wohnsitz bis 1953 in Amerika, reisen öfters Mal nach Europa, vor allem Italien wird zu einem neuen Lieblingsziel. Mit der wuchtigen 6. Sinfonie setzt Martinu den Schlusspunkt unter seine amerikanische Schaffensphase. Er widmet sie dem Dirigenten Charles Münch, der sie einige Jahre später in Boston uraufführt. Im selben Jahr wird die Sinfonie sogar vom New York Music Circle zum besten Orchesterwerk des Jahres gewählt. Musik 8 Martinu: 6. Sinfonie, 2. Satz Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR / Vaclav Neumann M0002584 002 (anblenden) 2‘08 8 Finale des 2. Satzes aus Martinus 6. Sinfonie mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR unter der Leitung von Vaclav Neumann. Seine letzten Lebensjahre verbringt Martinu meist in der Schweiz, auf dem Schönenberg in der Nähe von Basel beim Ehepaar Sacher. Dort komponiert er an einem Klavier, das einst Clara Schumann gehörte. Das Heimweh nach seiner Familie, nach seiner Heimat lässt ihn auch dort nicht los, der Briefwechsel nach Hause ist intensiv, aber es bleibt eine Beziehung aus der Ferne. Mit dem „sozialistischen Realismus“, der Monopolisierung des Musikstils und dem kommunistischen Komponisten-Verband will er nichts zu tun haben. Gleichschaltung jedweder Art ist für den künstlerisch toleranten Martinu ein Greul, er der selbst ein so weitreichendes, vielfarbiges Schaffen hinterlassen hat, der alle Stile und Gattungen offen bediente, der so einen weiten Kunstbegriff vertrat, und der sich von allen musikalischen Farben beeinflussen und beflügeln ließ. Er duldete keine von außen aufgelegten Grenzen. Die griechische Passion, eine vier-aktige Oper, die vor 11 Jahren bei den Bregenzer Festspielen wiederentdeckt wurde, das Gilgamesch Opus, die Oper Ariadne und die Fresken des Piero della Francesca, sind seine letzten großen Schöpfungen. Ein Magengeschwür und die Erkrankung an Magenkrebs lähmen Martinus Schaffenskraft, aber nicht seinen Drang weiter zu komponieren. Er erhält einige Aufträge aus der Tschechoslowakei, ein versöhnliches Ende, der geschundenen Beziehung zu seiner Heimat. Ein letzter Gruß. Die Musikschule in Policka wird nach ihm benannt und die letzten Noten, die er schreibt, gelten einem tönen Wahlspruch. Am 27. August 1959 ist Bohuslav Martinu, fast 69-jährig in Liestal bei Basel gestorben. 9 Sein Biograph Harry Halbreich nennt ihn einen der leisesten Komponisten der Neuzeit. Seine Orchestertechnik entspreche der „Kammermusik im sinfonischen Rahmen“. Martinu selbst bezeichnete sich als einen „Concerto grosso“ Typus. Die Abwechslung von Tutti und kleinen Gruppen von Solisten war für ihn die ideale Sprache. Im Concerto grosso, dessen letzten Satz wir abschließend hören, bezieht sich Martinu bewusst auf Bachs Brandenburgische Konzerte. Das Finale gipfelt in einer vorwärts stürmenden Toccata, ein Wettlauf zwischen Klavier und der Tutti Gruppe. Vor dem „Lob der Geschwindigkeit“, noch ein Wahlspruch Martinus, der über seinem Leben und vor allem über seinem reichen Schaffen steht: „ich bin zu der Ansicht gelangt, dass trotz unseres ungeheuren Fortschritts in Technik und Industrie die Gefühle und Fragen, die die Menschen bewegen, unverändert geblieben sind (….) Das sind die Probleme der Freundschaft, der Liebe und des Todes“. Musik 9 Bohuslav Martinu: Concerto grosso, 3. Satz Tschechische Philharmonie, Jiri Belohlavek M0016403 010 4‘37 10 Der 3. Satz aus dem Concerto grosso von Bohuslav Martinu. Jiri Belohlavek leitete die Tschechische Philharmonie. Manuskripte und Musikliste der Musikstunden können Sie bei auf unser Internetseite SWR 2.de recherchieren. Morgen erfahren Sie in der Musikstunde mit Ulla Zierau, wie eine Schwarzwurzel klingt. 11