Funk, R - Erich-Fromm

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Hildebrandt_M_2005
Unfriedliche Religionen?
Das politische Gewalt- und Konfliktpotenzial von Religionen
Mathias Hildebrandt
„Unfriedliche Religionen? Das politische Gewalt- und Konfliktpotenzial von Religionen,“ in:
Religion und Politik im Zeichen von Krieg und Versöhnung. Beiträge und Materialien, ed. by
Manfred Zimmer, Norderstedt (Book on Demand) 2005, pp. 38-59.
Copyright © 2005 and 2012 by Professor Dr. Mathias Hildebrandt, Bamberg.
Totgesagte leben länger oder die Ambivalenz des Sakralen
1
Nachdem die Sozialwissenschaften jahrzehntelang durch das so genannte Säkularisierungsparadigma geprägt waren, dem zu Folge der Einfluss der Religion(en) bzw. religiöser Phänomene auf politisches und soziales Handeln von Personen, gesellschaftlichen Organisationen und staatlich-politischen Einheiten im Rahmen eines welthistorischen Prozesses in zunehmenden Maße marginalisiert werden und dementsprechend
als Gegenstand für die sozialwissenschaftliche Forschung an Bedeutung und Relevanz
verlieren würde, lässt sich in den letzten Jahrzehnten eine Revitalisierung von Religionen und religiösen Akteuren in vielen nationalen Arenen, aber auch auf der weltpolitischen Bühne beobachten. Diese Entwicklung ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass die tatsächlich erfolgten Säkularisierungsschübe in vielen Teilen der Welt unter nicht unerheblichen Bevölkerungsanteilen ein Unbehagen an den sozialen, ökonomischen und politischen Dislozierungseffekten der Moderne und – unvermeidlicherweise – auch ihren säkularen Sinnsystemen ausgelöst haben, wodurch diese modernen
sozio-politischen Symbolensembles viel von ihrer Überzeugungs- und Integrationskraft
eingebüßt haben. Der Rückgriff auf überlieferte indigene religiöse und kulturelle Traditionen und deren Neuinterpretation angesichts der erodierenden Sinn- und Identitätsangebote aus der westlichen Welt, scheint unter diesem Blickwinkel eine nur allzu verständliche Reaktion zu sein, deren Folgen sich weltweit, auch in den westlichen Ländern bemerkbar machen und religiöse Überzeugungen wieder zu bedeutenden Motivationen politischen Handelns hat werden lassen.
Mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung haben sich auch die Sozial- und Geisteswissenschaften dieser Entwicklung geöffnet und schenken den Religionen und deren
gewachsenen Einfluss auf die Welt des 21. Jahrhunderts verstärkte Aufmerksamkeit.
Titel wie The Desecularization of the World (Berger 1999), Die Rückkehr der Religionen (Riesebrodt 2000), Säkularisierung und Resakralisierung (Hildebrandt, Brocker &
Behr 2001a) und Die Wiederkehr der Götter (Graf 2004) deuten eine tendenzielle Ver1
Dieser Beitrag ist die unwesentlich veränderte und gekürzte Fassung meines Artikels aus Hildebrandt
(2005: 9–35).
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abschiedung des Säkularisierungsparadigmas an. Die Macht der Religionen (Röhrich
2004) zwingt nicht nur Philosophen dazu, Die Religion (Derrida & Vattimo 2001) wieder
genauer unter die Lupe zu nehmen, sondern auch die Politikwissenschaft fühlt sich zurecht veranlasst, das Verhältnis von Religion – Staat – Politik (Brocker, Behr & Hildebrandt 2003), Politik und Religion (Minkenberg & Willems 2003) und Religion und Politik (Walther 2004) erneut aufzugreifen.
Die Diskussion um das Verhältnis von Politik und Religion konzentriert sich in den
Geistes- und Sozialwissenschaften im Wesentlichen um drei zentrale Begriffe, die nicht
immer trennscharf voneinander zu unterscheiden sind und sich vielfältig überlappen.
Der älteste dieser Begriffe in der neueren Diskussion ist der auf Carl Schmitt zurückgehenden Begriff der Politischen Theologie, den er 1922 mit seinem gleichnamigen
Aufsatz in die Diskussion warf (Schmitt 1922). Für die bundesrepublikanische Diskussion gewann der Begriff allerdings erst in den sechziger Jahren an Bedeutung, als insbesondere die Theologen Johann Baptist Metz und Jürgen Moltmann die politische
Bedeutung der christlichen Botschaft herausarbeiteten und als Politische Theologie
propagierten (Metz 1968; Moltmann 1972). Neben Carl Schmitts, gegen Erik Peterson
(1935) gerichteten zweiten Diskussionsbeitrag, Die Legende von der Erledigung jeder
Politischen Theologie (Schmitt 1970), entstanden eine ganze Reihe von Arbeiten, die
sich entweder um die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit einer Politischen Theologie in
der Moderne drehten oder den Begriff eher in historisch-analytischer Absicht auf einzelne Autoren anwandten, um die theologischen Gehalte ihres politischen Denkens
herauszuarbeiten. Seitdem konnte der Begriff sich in der wissenschaftlichen Diskussion etablieren (als Überblick vgl. Adam 2005).
Der zweite zentrale Begriff wurde von Eric Voegelin 1938 mit seiner Studie Die politischen Religionen geprägt, in der er den Nationalsozialismus und Marxismus als religiöse politische Bewegungen deutete. Bereits in den fünfziger Jahren entstanden einige
Arbeiten, die diese Bewegungen und ihre revolutionären Vorläufer mit den Begriffen
des Messianismus und Chiliasmus interpretierten (vgl. die Literaturangaben bei Scheffler 2002b: 9 f., FN 31). Als Voegelins Studie 1993 erneut aufgelegt wurde, entstanden
im Anschluss an dieses Konzept einige Arbeiten in historisch kritischer Absicht zu den
Ideologien des 19. Jahrhunderts (Berghoff 1997), zum Nationalsozialismus (Ley 1997;
Bärsch 1998, 22002; Dierker 2002; Wegener 2004) und zum Stalinismus (Riegel 2002).
Das Konzept der Politischen Religion wurde zunehmend als Alternativkonzept zur Totalitarismustheorie verstanden, das es im Gegensatz zu dieser erlaubt, die religiöse
Dimension der modernen Massenideologien in der Analyse angemessen zu berücksichtigen (Maier 1996; Maier & Schäfer 1997; Maier 2003).
Neben diesen beiden Begriffen spielt der von Robert N. Bellah (1967) in die neuere
Diskussion geworfene Begriff der Zivilreligion eine entscheidende Rolle. Dieser Begriff
findet weniger Anwendung auf die totalitären Bewegungen des 20. Jahrhunderts, sondern dient vielmehr der Analyse der religiösen Dimensionen der demokratischen bürgerlichen Gesellschaften. Im Allgemeinen wird unterstellt, dass Religionen und religiöse Überzeugungen der Absicherung moralischer Normen, Werte und Handlungsdispositionen dienlich und somit der Stabilisierung und Integration von individuellen und sozio-politischen Identitäten förderlich seien. Als Religion des Bürgers (Kleger & Müller
1986, 22004) oder als Bürgerreligion und Bürgertugend stellen sie die scheinbar vorpolitischen Grundlagen politischer Ordnung zur Verfügung (Münkler 1996), die sich dann
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innerhalb der sozio-politischen Ordnung als Religionspolitik und Zivilreligion (Schieder
2001) manifestieren.
Im Gegensatz zum integrationstheoretisch ausgerichteten Begriff der Zivilreligion
macht nun aber in jüngster Zeit angesichts der steigenden Relevanz und Virulenz religiöser Orientierungen in der Weltpolitik das Schlagwort von der Politisierten Religion
(Bielefeldt & Heitmeyer 1998) die Runde, wodurch sie scheinbar von einer schwachen
zu einer Strong Religion mutiert sei, mit der nun ernsthaft gerechnet werden müsse
(Almond, Appleby & Sivan 2003). In der Tat scheint das sozialwissenschaftliche Interesse an den Religionen unmittelbar mit ihrer Deprivatisierung und ihrem Wiederauftauchen als Public Religions in the Modern World (Casanova 1994) erwacht zu sein.
Die öffentliche Wahrnehmbarkeit der zwischenzeitlich Unsichtbaren Religion (Luckmann 1991) hängt ganz entscheidend mit dem zunehmend gewalttätigen Auftreten religiös motivierter Akteure auf den Bühnen der nationalen und internationalen Politik zusammen.
Aufgrund dieser Entwicklung scheint sich auch in den Sozialwissenshaften ein Paradigmenwechsel in der Erforschung der politischen und sozialen Bedeutung von Religionen abzuzeichnen. Das Stabilisierungs- und Integrationsparadigma wird erkennbar
um ein Gewalt- und Konfliktparadigma ergänzt, denn die Rück- oder Wiederkehr der
Religionen und Götter wird auch als Rache Gottes (Kepel 1991) oder als Kampf für
Gott (Armstrong 2004) gedeutet, insoweit mit ihr auch Terror im Namen Gottes (Juergensmeyer 2004) verbunden ist, der sich aus einer Sacred Fury (Selengut 2003)
speist. Als Resultat dieser Entwicklungen sprechen die einen von der Wiederkehr der
seit den neuzeitlichen Religionskriegen überwunden geglaubten Glaubenskonflikte in
der Weltpolitik (Röhrich 2004), während andere das Schreckensszenario eines religiös
motivierten Clash of Civilizations (Huntington 1993; 1996) an die Wand malen. Das
letztgenannte Szenario ist aus guten Gründen nicht unwidersprochen geblieben und
hat die Beschwörung der Vision einer friedlichen Koexistenz, Das Zusammenlebens
der Kulturen (Müller 1998), provoziert.
Tatsächlich wäre es falsch, angesichts des Anstiegs religiös motivierter Auseinandersetzungen einseitig das Gewalt- und Konfliktpotential der Religionen zu betonen und
deren Friedensstiftungs- und Versöhnungspotential zu vernachlässigen. Die Problematik religiöser Überzeugungen und Motivationen und ihres Einflusses auf politisches
Handeln und politische Ordnungen zeichnen sich vielmehr durch die Komplexität der
Ambivalence of the Sacred (Appleby 2000) aus, in deren Folge sich Religionen im
Spannungsfeld zwischen Toleranz und Fanatismus (Schweizer 1990) und zwischen
Gewalt und Versöhnung (Scheffler 2002a) bewegen. Dieser Ambivalenz des Sakralen
können keine eindeutigen politischen Konsequenzen zugeschrieben werden. Der
Rückbezug auf das Heilige kann sowohl reaktionär und konservativ, als auch reformerisch oder revolutionär wirken. Es kann die Gesellschaft und ihre politische Ordnung
befrieden, stabilisieren und integrieren, sie aber auch destabilisieren, desintegrieren
und in einen religiös motivierten und legitimierten Blutrausch zerfallen lassen. Die Beantwortung der entscheidenden Frage, wann und wie die Ambivalenz des Sakralen in
die eine oder andere Richtung umschlägt, muss sowohl die endogenen Faktoren der
vielfältigen Formen der Religionen und Politischen Theologien als auch die exogenen
Faktoren der sozialen, ökonomischen und politischen Erfahrungswelt der Betroffenen
berücksichtigen. Bevor allerdings diese Frage beantwortet werden kann, ist es ange-
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bracht, zunächst einige Begriffsklärungen vorzunehmen.
Das Verhältnis von Politik und Religion: einige Begriffsklärungen
Als besonders problematisch erweisen sich die Begriffe Religion und Politik, deren Gegenstandsbereiche zumeist als unterschiedliche Sphären der Gesellschaft verstanden
werden, die miteinander in Wechselbeziehung und Austauschprozessen stehen, was
sich empirisch insbesondere am Verhältnis von Kirche und Staat messen lässt, wenn
der Staat Religionspolitik betreibt oder die Kirchen versuchen, ihren Einfluss auf staatliche Institutionen und Entscheidungen geltend zu machen. Entsprechend gelten Religion und Politik als zwei kategorial getrennte Seinsbereiche, die zwar miteinander in
Verbindung stehen, aber letztendlich Subsysteme des Sozialsystems Gesellschaft darstellen (so z. B. Moyser 1991).
Diese Konzeptionalisierung ist insoweit verständlich, als sie der historischen Erfahrungen der westlichen Zivilisation entspringt, in der seit dem Hochmittelalter, der Renaissance und Reformation ein Differenzierungsprozess zwischen Kirche und Staat und
zwischen Religion und Politik stattgefunden hat, der sich auch in der Entstehung unseres modernen Politik- und insbesondere Religionsbegriffes niedergeschlagen hat (vgl.
Wagner 1986; Feil 1986, 1997). Diese Begriffsprägung ist aber aus mehreren Gründen
als problematisch zu betrachten, weil damit eine spezifisch westliche Entwicklung der
Neuzeit verabsolutiert und universalisiert wird. Erstens zeigt sich bei einem interzivilisatorischen Vergleich, dass außerwestliche Symbolsysteme, die wir im Westen als Religionen bezeichnen, wie z. B. Judentum, Islam, Buddhismus und Hinduismus gar keinen Religionsbegriff kennen, bzw. nur insoweit kennen, als der westliche, moderne Religionsbegriff in diese Traditionen aufgenommen wurde (vgl. Matthes 1992; Haußig
1999, 2003). Dieser Befund legt den Verdacht nahe, dass diese Traditionen eine kategoriale Trennung von Politik und Religion gar nicht kennen.
Dieser Verdacht wird durch einen Blick in die Geschichte des Christentums erhärtet.
Wenngleich das frühe Christentum im Gegensatz zu seiner antiken Umwelt eine Trennung von Herrschaft und Heil kennt (vgl. Assmann 2000), so wäre es verfehlt, diese
Trennung als den eigentlichen Geist oder die Essenz des Christentums misszuverstehen. Denn spätestens als das Christentum zur Reichsreligion des Imperium Romanum
erhoben wurde, fand eine enge Verschmelzung von Politik und Religion im Christentum statt. Diese enge Verbindung blieb in der christlichen Orthodoxie bis auf den heutigen Tag, wenngleich auch nicht vollständig, so doch zu einem großen Teil, erhalten.
Aber auch im lateinischen Christentum finden wir in den Sakralmonarchien der Karolinger bis hin zu den Saliern eine enge Verknüpfung von Politik und Religion im
Reichskirchensystem. Die Kirchenreformbewegung unter dem Kampfbegriff der Libertas ecclesiae konnte die Kirche zwar teilweise aus den Fesseln des Reichskirchensystems befreien, aber war weit davon entfernt, die Kirche als eine unpolitische, rein spirituellen Aufgaben geweihte Institution zu etablieren. Im Gegenteil schlug der Ruf nach
der Freiheit der Kirche in den universellen Weltherrschaftsanspruch des Nullam salus
extra ecclesiam um. Zwar konnten sich langfristig die damals oppositionelle Konzeption
einer Trennung von Heil und Herrschaft in den Schriften eines Marsilius von Padua,
Wilhelm von Ockham oder Dante Alighieris durchsetzen, aber selbst das nachreformatorische Christentum trat nicht durchgängig mit dem Anspruch einer Trennung von Religion und Politik an, wie das Beispiel des Calvinismus und die Resultate der Religions-
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kriege 1555 und 1648 verdeutlichen. Eine Trennung erfolgte erst langsam mit den atlantischen Revolutionen und deren Folgen, wobei die Frage aufgeworfen werden kann,
ob dieser Prozess bereits zum Abschluss gekommen ist bzw. jemals zum Abschluss
kommen wird. Aber diese Frage soll hier offen gelassen werden.
Dieser Ausflug in die Geschichte des Christentums sollte vielmehr verdeutlichen, dass
auch das Christentum durchaus unterschiedliche Konzeptionen des Verhältnisses von
Politik und Religion hervorgebracht hat und – wie ein Blick auf die Politischen Theologien christlicher Theologen (z. B. Metz 1968; Moltmann 1972) zeigt – bis heute hervorbringt. Im welthistorischen Maßstab gemessen, scheint unsere westliche Trennung von
Politik und Religion geradezu die Ausnahme und nicht die Regel zu sein. Im Gegenteil
scheint dem Religiösen das Politische immer inhärent zu sein, insoweit mit der Religionsstiftung immer auch ein Stück weit der Anspruch einhergeht, eine politische Ordnung zu formen, wie es paradigmatisch durch Moses und Mohammed erfolgte. Weniger eindeutig fällt dagegen der Befund beispielsweise bei Buddha und Christus aus. Es
scheint also sinnvoll zu sein, davon auszugehen, dass es historisch und kulturell unterschiedliche Konzeptionalisierungen von Politik und Religion gibt, die von der Identität
bis hin zur Trennung reichen können. Aber selbst in radikalen staatskirchlichen Trennungssystemen, wie z. B. in Frankreich und den USA, die die Trennung von Politik und
Religion am weitesten getrieben haben, kann weder der Religion eine politische Affinität, noch der Politik eine religiöse Affinität abgesprochen werden. Beide scheinen vielmehr in unterschiedlichem Maße miteinander zu konvergieren.
Diese Konvergenz findet im Wesentlichen auf zwei Ebenen statt, auf der Ebene des
Politischen und auf der Ebene der Politik. Unter dem Begriff des Politischen (le politique) verstehe ich mit Claude Lefort (1986b) die fundamentale Ebene der konstituierenden Ordnungsprinzipien einer Gesellschaft und ihrer politischen Verfasstheit und unter
dem Begriff der Politik (la politique) jene Sphäre der Alltagspolitik und politischen Handelns im Sinne Max Webers, die durch die Sphäre des Politischen konstituiert ist. Zur
Konvergenz von Politik und Religion im Bereich des Politischen kommt es zum Beispiel
dann, wenn, wie im Falle der USA die (säkularen) Ordnungsprinzipien der amerikanischen Republik in transkonfessionellen religiösen Vorstellungen wurzeln, die gemeinhin als Zivilreligion bezeichnet werden. Eine Konvergenz im Bereich der Politik finden
wir dann, wenn ebenfalls wie im Falle der USA religiöse Gruppierungen versuchen, ihren Einfluss auf die Politik im Gesetzgebungsprozess geltend zu machen. Selbstverständlich überlappen sich diese beiden Formen von Konvergenz und sind deshalb
nicht kategorial zu trennen, sondern nur analytisch zu unterscheiden. Denn die Konvergenz in der Politik kann soweit gehen, auch eine Konvergenz im Politischen anzustreben und somit die gesamte Ordnung dem Primat des Religiösen zu unterwerfen.
Die Wurzel für diese beiden Arten von Konvergenzen ist im Kern der Religion bzw. des
Religiösen zu finden. Unter dem Begriff des Religiösen verstehe ich die anthropologische Disposition des Menschen zur Suche nach dem Grund des Seins, dem Grund der
menschlichen Existenz und der Ordnung seiner Existenz in Gesellschaft und Geschichte. Von dieser Begriffsbestimmung des Religiösen ausgehend, kann der Begriff der Religion dahingehend näher gefasst werden, dass Religionen die symbolischen Antworten auf diese existenziellen Fragestellungen darstellen. Religionen können also als
Symbolsysteme definiert werden, in denen die Menschen aus der existenziellen Erfahrung der Spannung zwischen Zeitlichkeit und Ewigkeit, Leben und Tod, Vollkommen-
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heit und Unvollkommenheit die Welt, sich selbst, ihre Gesellschaft und die dazugehörigen individuellen und gemeinschaftlichen Lebensordnungen in den Medien der Erzählung, der Schrift, des Ritus und Opfers usw. ausdeuten und so ihrer Existenz einen
Sinn und Ordnung ver (vgl. Appleby 2000: 3, 8; Riesebrodt 2001: 37–48). In diesem
Ordnungsanspruch von Religionen liegt der politische Kern einer jeden Religion, durch
den Politik und Religion eine prinzipielle Affinität und Konvergenz aufweisen, der Grad
der Konvergenz sowohl im Bereich des Politischen als auch im Bereich der Politik allerdings zwischen und innerhalb der religiösen Traditionen erheblich variieren kann.
Diese prinzipielle Affinität und Konvergenz von Politik und Religion zeigt sich allerdings
auch umgekehrt. Das Politische, im Sinn von politischen Ordnungsprinzipien und die
Politik, im Sinn von politischem Alltagshandeln weisen ein Bedürfnis nach Legitimität
und Legitimierung auf, die nicht ausschließlich aus der Politik oder dem Politischen
gewonnen werden können, sondern des Rückgriffs auf einen transzendenten, sakralisierten Fluchtpunkt erfordern, der der politischen Ordnung und den politischen Handlungen die zur Durchsetzung notwendige Rechtfertigung verleiht. Insoweit waren bzw.
sind auch scheinbar rein säkulare politische Bewegungen darauf angewiesen, eine
Form der religiösen Legitimation zu entwickeln, indem sie Teilaspekte der innerweltlichen Wirklichkeit sakralisieren – wie z. B. Nation, Klasse, Rasse, Ethnos etc. – und
deshalb im Sinne Voegelins als innerweltliche, säkulare oder Politische Religionen bezeichnet werden können (Voegelin 1939; Hildebrandt, Brocker & Behr 2001b; Gebhardt
2004).
Insoweit sich auch diese politischen Bewegungen dem Religiösen nicht verschließen
können, ist es sinnvoll, den Religionsbegriff nicht nur auf jene Symbolensembles zu
beschränken, die sich durch einen Bezug zu dem, was wir im Westen seit der Aufklärung „übernatürlich“ nennen, auszeichnen, sondern auch auf jene Symbolensembles
auszudehnen, die ihren sakralen Fluchtpunkt in „natürlichen“ oder innerweltlichen Realitäten finden, denn auch diesen ist eine religiöse Dimension eigen.
Wenn diese Begriffsbestimmungen sinnvoll und zutreffend sind, dann erscheinen die
Begriffe Politische Religion (Voegelin 1938, 1993) und Politisierte Religion (Bielefeldt &
Heitmeyer 1998) als problematisch, suggerieren oder unterstellen sie doch, dass es
auch unpolitische oder entpolitisierte Religionen gäbe. Es ist allerdings nicht sinnvoll,
diese beiden Begriffe über Bord zu werfen, weil der erste im wissenschaftlichen Diskurs gut etabliert ist und mit dem zweiten Begriff ein gestiegener Grad der Konvergenz
von Politik und Religion begrifflich gut gefasst werden kann. Wenn ich also im Weiteren
von Politischen Religionen oder der Einfachheit halber von Religionen spreche, dann
beziehe ich mich nicht auf das Konzept von Eric Voegelin, sondern versuche vielmehr,
damit den politischen Kern der Religionen begrifflich zu fassen.
Ein weiterer klärungsbedürftiger Begriff ist der der Politischen Theologie. Wie bereits
oben angedeutet, erfreut sich dieser Begriff in der Diskussion einer außerordentlich
schillernden Anwendung, die von politisierten christlichen Theologien (Metz, Moltmann)
über die politischen Mythen der Nation und der Klasse (Schmitt) bis hin zu den antiken
Reichsreligionen in Ägypten, Israel oder Rom reicht. Diese Anwendungen sind natürlich legitim und sinnvoll. Im Kontext der vorliegenden Erörterung verwende ich den
Begriff der Politischen Theologie im Kontrast zum Begriff der Politischen Religion spezifischer im Hinblick auf die sprachlich verfassten Botschaften, die Lehrgebäude oder
Dogmen der Religionen und ihre theologisch legitimierten politischen Ordnungslehren.
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In diesem Sinne kennt jede religiöse Tradition eine Vielzahl von Politischen Theologien, die in Konkurrenz zueinander stehen und die Tradition in unterschiedlicher Weise
auslegen. Diese Politischen Theologien können auch unterschiedliche Grade der Sozialwirksamkeit entfalten, die vom politisch unwirksamen theoretischen bis hin zum sozialdominanten Entwurf reichen kann, der Massenbewegungen auslöst. Je sozialwirksamer eine Politische Theologie wird und die Praxis der Menschen anleitet, desto mehr
verbreitert sich die Politische Theologie zu einer Politischen Religion, insoweit dieser
Begriff auch die Praxis in ihren vielfältigen Dimensionen berücksichtigt.
Wenn eine Politische Theologie zu einer Politischen Religion aufgestiegen ist und ihr
die Eroberung oder Errichtung der herrschenden politischen Institutionen gelungen ist
und die Legitimationsfunktion dieser Institutionen und der durch sie konstituierten Ordnung übernommen hat, dann ist es zur Unterscheidung vom Begriff der Politischen Religion und der von ihnen geleiteten Massenbewegungen sinnvoll, von Zivilreligion bzw.
Reichsreligion oder Staatsreligion zu sprechen, je nachdem, welche politische Ordnung
vorliegt. So scheint es mir angemessen zu sein, im Falle moderner staatlicher Gemeinwesen von deren Zivilreligion zu sprechen, während der Begriff der Reichsreligion
besser Anwendung auf die antiken und mittelalterlichen Reichsbildungen findet. Der
Begriff der Staatsreligion ist ein Spezialfall von Zivilreligion, insoweit eine Religion in
Form einer Staatskirche in den Genuss staatlicher Privilegien kommt.
Mit diesen Begriffsklärungen können wir uns nun wieder unserer Ausgangsfrage nach
den Wurzeln des Gewalt- und Konfliktpotentials der Politischen Religionen zuwenden.
Das endogene Gewalt- und Konfliktpotential Politischer Theologien
Ganz zweifelsohne wohnt den Religionen ein nicht zu unterschätzendes Gewaltpotenzial inne, das ganz erhebliche destruktive Kräfte freisetzen kann (Wright 1985; Girard
1987; Schweizer 1990; Kepel 1991, 2002; Morelli 1998; Rittberger & Hasenclever
1998, 2000; Bendel & Hildebrandt 2002; Rittberger 2002; Brandt 2002; Häring 2002;
Hempelmann 2002a; Selengut 2003; Juergensmeyer 2003; Armstrong 2004; Ellens
2004; Röhrich 2004). Dabei scheint keine der großen Weltreligionen von diesem Verdacht ausgenommen werden zu können; weder das Christentum (Deschner 1987 ff.;
vgl. Moltmann, van de Loo, Haynes & Mitchell 2005), noch der Islam (Wright 1985;
Kotsch 2002; Kepel 2002; vgl. Hansen, Jung, van de Loo, Pfahl-Traughber, Arenhövel,
Derichs, Haynes, Wagner, Hubel 2005), aber auch nicht das Judentum (Medding 2002;
vgl. Hubel 2005) und auch nicht der Hinduismus (McGuire, Reeves & Brasted 1996;
Bhatt 2001; Sarkar 2002; Brass 2003; vgl. Wagner 2005). Selbst der insbesondere
durch den Dalai Lama im Ruf besonderer Friedfertigkeit stehende Buddhismus kann
nicht für sich reklamieren, keine Gewalt freizusetzen (De Silva 1988; Jackson 1989;
Wickremeratne 1995; Bartholomeusz & De Silva 1998; vgl. Rösel 2005).
Worauf beruht also das Gewalt- und Konfliktpotential dieser Religionen? Eine erste
Antwort auf diese Frage wäre in den endogenen Strukturen religiöser Erfahrungen zu
suchen. Obwohl wir in der Empirie mit einer Vielzahl unterschiedlicher Formen religiöser Symbolsysteme konfrontiert werden, kann dennoch jenseits der damit einhergehenden Differenzen ein Gemeinsames im existenziellen Bezug auf das Heilige gefunden werden: Der Erfahrung eines mysterium tremendum et fascinans, das aufgrund
seiner unkontrollierbaren Präsenz sowohl grauenerregend und furchteinflößend (tremendum) als auch überwältigend und daher achtungsgebietend und faszinierend (faspage/Seite 7 of/von 23
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cinans) ist (Otto 1917). Mit anderen Worten, religiöse Erfahrungen des Heiligen sind
außerordentlich ambivalente Begegnungen mit einer die alltägliche Vorstellungskraft
überschreitenden Macht. Diese Ambivalenz wird noch dadurch verstärkt, dass derartige Transzendenzerfahrungen durch einen vorsprachlichen bzw. die Sprache transzendierenden Charakter geprägt sind und daher eigentlich unaussprechlich, wenngleich
dennoch von noetischer Qualität sind. Obwohl es nicht möglich scheint, sie adäquat in
Worte zu fassen, so müssen sie, wenn denn das Bedürfnis nach Mitteilung besteht,
dennoch in allgemein verständliche Worte gefasst werden, die sich der Erfahrung jedoch nur annähern können (vgl. Hildebrandt 2000: 53–60). Diese Ambivalenz der Erfahrung der numinosen Macht und die Ambivalenz der möglichen Übersetzungen dieser Erfahrung in unsere „Alltagssprache“ hat zur Folge, dass in diesen Erfahrungen
das Verhältnis zur Gewalt außerordentlich ambivalent ausgeprägt ist, dass sowohl
Wege der Gewalt als auch Weg der Gewaltlosigkeit eröffnet werden können.
Diese Ambivalenz des Sakralen lässt sich noch deutlicher fassen, wenn wir den Raum
der unmittelbaren Erfahrung des Heiligen verlassen und uns in den Raum der nunmehr
sprachlich verfassten Politischen Theologien begeben. Von der Intention her scheinen
die Politischen Theologien der meisten Politischen Religionen eine zentrale Gemeinsamkeit aufzuweisen, die die angesprochene Ambivalenz aufzulösen scheint. Diese
Gemeinsamkeit wurzelt in einer universellen anthropologischen Konstante: der
menschlichen Unvollkommenheit. Denn gerade aus der Spannung der Erfahrung der
Unvollkommenheit des Menschen und der aus dieser Unvollkommenheit resultierenden Erfahrung der Ungerechtigkeit der menschlichen Welt einerseits und der spirituell
erfahrenen „göttlichen“ oder „transzendenten“ 2 Vollkommenheit und Gerechtigkeit andererseits entfaltet sich die motivierende Kraft der Religionen: der Wunsch nach Überwindung der menschlichen Unvollkommenheit und der Ungerechtigkeit der Ordnung
der Welt bzw. der Ordnung der menschlichen Gesellschaft. Mit den religiösen Symbolsystemen zielen ihre Urheber der Intention nach auf die Eindämmung von Konflikten
und Gewalt durch ethische Handlungsregeln und/oder politische Ordnungsprinzipien,
die Gerechtigkeit zwischen den Menschen stiften sollen. Religiöse Botschaften intendieren die Transzendierung von Konflikten und Gewalt in einem Jenseits und/oder die
Überwindung und Abschaffung von Konflikten und Gewalt in einem irdischen Paradies.
Mit anderen Worten, gemessen an dieser Botschaft, die das Letztziel, das Eschaton,
der meisten Politischen Theologien darstellt, sind Religionen eigentlich friedensliebend
und friedensstiftend (vgl. Selengut 2003: 1).
Aber diese Feststellung hebt die angesprochene Ambivalenz nur scheinbar auf. Denn
andererseits eröffnet gerade diese Intention gleichzeitig das Konflikt- und Gewaltpotenzial der Religionen, insoweit diese auf einer „göttlichen“ Definitionsmacht und Definitionsleistung beruhen, durch die zwischen Recht und Unrecht, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit und letztendlich zwischen Gut und Böse unterschieden wird. Diese Definiti2
Der Begriff des „Göttlichen“ ist natürlich insoweit problematisch, als damit im Kontext der abrahamitischen Religionen immer ein personaler Gott gemeint ist, den es in dieser Form in anderen religiösen
Symbolsystemen nicht gibt, weshalb ich den Begriff der „Transzendenz“ in relativierender bzw. problematisierender Absicht hinzugefügt habe. Natürlich ist auch dieser Begriff nicht unproblematisch, insoweit er die
in den abrahamitischen Religionen formulierte Trennung zwischen Immanenz und Transzendenz voraussetzt, die ebenfalls nicht in allen Religionen zu finden ist. Der Begriff der Transzendenz ist in diesem Zusammenhang im Sinne des „unsichtbaren Maßes“ Solons zu verstehen, das die Alltagswelt transzendiert
und im Sinne eines nomos normativ ordnen soll (vgl. Hildebrandt 1996: 66–88; Hildebrandt 2001: 42–48).
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onen werden im allgemeinen durch eine transzendente Sakralisierung legitimiert, die
mit einer Sanktionsmacht kosmischen Ausmaßes einhergeht, die die Möglichkeiten einer jeden irdischen Strafgewalt lächerlich erscheinen lässt. Die Verheißung von Frieden, Liebe, Gerechtigkeit und Erlösung wird flankiert von der Gewalt- und Strafandrohungen bei Nichtbeachtung der göttlichen Gebote. Das Theologumenon des liebenden
und zornigen Gottes, der durch Opfer besänftigt werden muss (vgl. Girard 1987), symbolisiert paradigmatisch die Ambivalenz des Sakralen.
So findet sich im Herzen jeder Religion und im Zentrum jeder (religiösen) Definitionsleistung immer ein binärer Dualismus, mit dem zumindest potenziell eine Komplexitätsreduktion und Vereinfachung der Wirklichkeitswahrnehmung einhergeht, die bis hin zu
einem simplen manichäischen Weltbild gesteigert werden kann. Diese Gefahr wird
durch Tendenzen zur Kanonisierung und Dogmatisierung verstärkt, in deren Zuge der
Anspruch auf die Verkündigung der einen, unteilbaren und ausschließlichen Wahrheit
zu Selbstgewissheit und Fundamentalismus mutieren kann, einer Gefahr, der insbesondere die monotheistischen Buchreligionen, aber – wie wir sehen werden – nicht nur
diese ausgesetzt sind. So kann die der religiösen Erfahrung eigentümliche Begeisterung leicht in blinden Fanatismus umschlagen, der das jeweils Andere der eigenen
Wahrheit der Lüge und Unwahrheit bezichtigt und in seiner Existenzberechtigung negiert. Diese inhärenten und potenziellen Tendenzen zu Intoleranz und Ausschluss werden insbesondere dann radikalisiert, wenn das Böse, d. h. Gewalt und Gewaltanwendung gleichsam als Mittel zur Überwindung und Vernichtung des Bösen und zur gewaltsamen Durchsetzung der eigenen Wahrheit legitimiert wird, wobei das Böse im jeweils Anderen der eigenen Identität gefunden wird (vgl. Häring 2002).
Denn der jeweils Andere ist das notwendige und unvermeidliche Nebenprodukt einer
religiösen und/oder politischen Identitätsbildung, weil die Bestimmung der eigenen
Identität immer durch eine Abgrenzung zur Nichtidentität, zum Nichtidentischen, dem in
irgend einer Art als Bösem wahrgenommenen, vorgenommen werden muss. So führen
Religionen auf der einen Seite zur Konstituierung, Institutionalisierung, Integration und
Stabilisierung einer in-group von Gläubigen, der zwangsläufig eine out-group von Ungläubigen gegenübersteht (vgl. Schweizer 1990), von der man sich, um die eigene
Gruppe und Institution durch innere Geschlossenheit zu bewahren, über eine Abgrenzung nach außen distanzieren muss und mit der es unter Umständen auch zum gewaltsamen Konflikt kommen kann. Daher kann, wie dies der Theologe Hermann Häring
formuliert hat, die „lebensspendende Quelle des Vertrauens auf Gott“ in einen „lebensvernichtenden Strom von Misstrauen gegenüber der Welt“ umschlagen (Häring 2002:
33).
Aber diese Feststellungen dürfen nun nicht zu dem Fehlschluss verleiten, dass alle Religionen ein simples manichäisches Weltbild vertreten und das in ihnen angelegte Gewaltpotenzial zwangsläufig und unvermeidlich zum Ausbruch kommt. Es ist nur als Potenzial in ihnen angelegt. Denn in der Realität wird die Ambivalenz des Sakralen durch
die Ambivalenz der menschlichen Lebenswirklichkeit überlagert und dadurch in seiner
Komplexität gesteigert. Die meisten Religionen scheinen dieser Ambivalenz menschlicher Lebenswirklichkeit Rechnung zu tragen. Die oftmals gleichnis- oder formelhaften
und nicht immer widerspruchsfreien religiösen Vorschriften stecken ein weites Feld
möglicher Auslegungen und Verhaltensweisen ab: So bietet die Bibel im Alten Testament die retributive Formel des „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ und andererseits im
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Neuen Testament die Formel der Vergebung und der Nächstenliebe – „Wer ohne
Schuld ist, der werfe den ersten Stein“ –, die beide gleichermaßen einen Auslegungsspielraum in die Hände der Gläubigen legen. Die Widersprüchlichkeit und Uneindeutigkeit der Überlieferungen eröffnen einen Auslegungs- und Anwendungsspielraum, der
im Prinzip die Möglichkeit bietet, den vielfältigen Situationen der ambivalenten menschlichen Lebenswirklichkeit gerecht zu werden. So legen z. B. die Auseinandersetzungen
um die Konzepte des Heiligen und des Gerechten Krieges in der Geschichte des Christentums und des Islams ein beredtes Zeugnis von der Problematik der Legitimation von
Gewalt ab, die keineswegs immer simplen manichäischen Dualismen folgten und darüber hinaus durch die Auseinandersetzungen um die Konzepte des ius ad bellum und
des ius in bello weiter differenziert wurden (vgl. Noth 1966; Kelsay & Johnson 1991;
Janssen & Quante 2003).
Insbesondere das Beispiel der Rolle der Religionen in der Konstituierung des südafrikanischen Apartheid-Regimes, dessen Überwindung und Transformation in ein neues,
demokratisches Südafrika verdeutlicht in aller Klarheit die Ambivalenz des Sakralen.
Einerseits speiste sich die Legitimität des südafrikanischen Apartheids-Regimes aus
der religiösen Tradition des niederländischen Calvinismus, der unter den Lebensbedingungen der südafrikanischen Siedler niederländischer Herkunft eine eigentümliche
Reinterpretation erhielt. Im Laufe der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde dieser
Calvinismus zu einer Zivilreligion verdichtet, deren primäre Funktion die Legitimation
des Apartheid-Regimes war. Die Politische Theologie dieser Zivilreligion legitimierte mit
ihrer Rassenideologie und mit ihrer manichäischen Unterscheidung zwischen Schwarz
und Weiß jede erdenkliche Form der Gewalt gegen die out-group (vgl. Moodie 1975).
Auf der anderen Seite wurde diese Zivilreligion durch die „ideologiekritische Kraft“ der
sich ebenfalls aus christlichen Quellen speisenden Theologie der Oppositionskirchen
überwunden und mündete ihrerseits in der Zivilreligion des Regenbogenvolkes (vgl. Dickow 1996). Im Prozess dieser Auseinandersetzung wurde auch die Frage nach der
theologischen Legitimation von gerechter (Gegen-) Gewalt aufgeworfen und kontrovers
diskutiert (Villa-Vicencio 1988; vgl. Mitchell 2005).
Das Beispiel Südafrikas verdeutlicht auch den fließenden Übergang von einer vermeintlich unpolitischen Religion und Theologie zu einer Politischen Religion und Politischen Theologie bzw. einer Zivilreligion. Denn es wäre weit gefehlt, die südafrikanische
Spielart des Calvinismus vor dem Apartheids-Regime als unpolitische Religion zu verstehen. Denn vor der Errichtung des Regimes diente dieser Calvinismus in Abgrenzung zu den afrikanischen Stämmen und den englischen Immigranten als Selbstverständnis und Legitimation der Lebensform und Lebensordnung der Afrikaner. Er war
Religion, Politische Religion und Zivilreligion in einem und diente bereits damals zur
Legitimation von Gewalt gegen die out-groups, d. h. die afrikanischen Stämme und die
Engländer. Im Übrigen waren die englischen Methodisten eine der führenden Kräfte im
Kampf gegen die Versklavung der Schwarzen in Südafrika.
An diesem Beispiel zeigt sich die Spannweite der möglichen Interpretationen eines
Korpus an religiösen Überlieferungen und Traditionen. Auf der einen Seite besteht
durch die Verschließung gegenüber der Ambivalenz menschlicher Lebenserfahrungen
und der Ambivalenz der überlieferten Tradition die Möglichkeit der Degeneration zu einer dogmatischen religiösen Ideologie, die zur Erreichung ihrer Ziele keine Skrupel vor
Gewaltanwendung kennt. Auf der anderen Seite kann durch eine Reinterpretation des
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selben Korpus an religiösen Überlieferungen und Traditionen die Offenheit für die Ambivalenz menschlicher Lebenserfahrungen wieder gewonnen und dadurch die ideologiekritischen Potenziale entfaltet werden, die es erlauben, ebenfalls im Namen einer
höheren, d. h. sakralen Einsicht und Wahrheit, die realen gesellschaftlichen, politischen
und religiösen Verhältnisse zu kritisieren. Zweifelsohne unterliegt dieses ideologiekritische Potenzial von Religionen immer auch der Gefahr, selbst zur Ideologie zu verkommen.
Die verschiedenen Religionen treten uns nicht als monolithische Blöcke entgegen. Im
Gegenteil zeichnen sie sich durch eine interne Pluralität verschiedener Strömungen
aus, die durchaus im Widerspruch und in Konkurrenz zueinander stehen. Innerhalb jeder dieser Strömungen ist darüber hinaus mit verschiedenen Traditionsschichten zu
rechnen, die die Ambivalenz und Komplexität der jeweiligen Religionen noch weiter erhöhen. Aufgrund dieser Komplexität der religiösen Traditionen kann zwangsläufig keine
Interpretation die Essenz einer Religion repräsentieren, sondern wir begegnen immer
selektiven Interpretationen, die einen ganz bestimmten Aspekt der jeweiligen Tradition
zugespitzt formulieren, indem sie die Tradition im jeweiligen Erfahrungshorizont interpretieren. Diese Interpretationen können sowohl von geschultem theologischen Personal oder auch von religiösen „Analphabeten“ vorgenommen werden, wobei insbesondere religious illiteracy bei den Eliten, aber auch der Bevölkerung die Reduktion der
Komplexität und Ambivalenz der eigenen Traditionen erleichtern kann (vgl. Appleby
2000: 16 f., 31 ff., 55, 69).
Trotz dieser vielfältigen Interpretationsmöglichkeiten religiöser Traditionen zeichnet
sich über den empirischen Vergleich gewaltlegitimierender Politischer Theologien und
ihrer Bewegungen doch ein gewisses Grundmuster ab, das man aufgrund seiner dogmatischen Verschließung gegenüber der Ambivalenz der menschlichen Lebenserfahrung als religiöse Ideologie oder – wie es heute geläufiger ist – als „Fundamentalismus“
bezeichnen kann und das folgende Elemente enthält:
1. Es wird der Anspruch erhoben, zu den ursprünglichen Quellen der eigenen Tradition
zurückzukehren und sie dabei von den Verirrungen und Verfälschungen ihrer historischen Entwicklung freizulegen und zu befreien, die zumeist als ein Degenerationsprozess begriffen wird.
2. Die durch diesen „mythischen Regress“ (Riesebrodt 2000: 53) freigelegten Gesetze
und Gebote der Gründerfiguren der eigenen Tradition werden ihres historischen Kontextes entkleidet und transhistorisch und literalistisch auf die eigene Zeit übertragen,
womit der Anspruch auf eine Wiederherstellung eines Goldenen Zeitalters verbunden
wird. Dem Prozess der Enthistorisierung entspricht auf der anderen Seite eine Essenzialisierung der eigenen Tradition, die den Anspruch erhebt, das wahre Wesen der eigenen Religion freigelegt zu haben (vgl. Jung 2005).
3. Im Gegensatz zu diesem Anspruch zur wahren Lehre zurückzukehren, entsteht jedoch in den meisten Fällen eine moderne religiöse Ideologie, mit der nun der Anspruch
der Regelung sämtlicher Lebenssphären der Menschen verbunden wird. Trotz der damit verbundenen antiliberalen und antimodernistischen Stoßrichtung, rezipieren diese
religiösen Ideologien das modernistische Paradigma der prinzipiellen Gestaltbarkeit der
menschlichen Gesellschaft durch politische Herrschaft.
4. Ausgehend von einer Krisendiagnose der eigenen Zeit und Gesellschaft, wird diese
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objektiv vorliegende und/oder subjektiv wahrgenommene Unordnungs- und Ungerechtigkeitserfahrung in einen welthistorischen oder sogar „kosmischen Krieg“ (Juergensmeyer 2004: 201–225) zwischen Gut und Böse eingebettet. Die eigene Gegenwart
wird im Lichte eines „metaphysische(n) Konflikte(s) zwischen Gut und Böse“ (a. a. O.:
203) gedeutet.
5. Eng mit diesem manichäischen Dualismus ist eine apokalyptische Geschichtsdeutung verbunden, die die eigene Gegenwart am Ende der Zeiten wähnt. Der daraus abgeleitete Exzeptionalismus befreit die Gläubigen von den üblichen Fesseln, die die
Ambivalenz des Sakralen der Gewaltanwendung anlegt und setzt damit eine ungeahnte Gewaltbereitschaft frei, die um der Heiligen Sache willen nicht vor der Opferung des
fremden und des eigenen Lebens zurückschreckt (vgl. Selengut 2003: 95–139; Hansen
2005; van de Loo 2005; Pfahl-Traughber 2005; Rösel 2005; Hubel 2005).
6. Der Opferung des eigenen Lebens, das aus dem Kämpfer und Krieger einen Märtyrer macht, der für seinen Glauben Zeugnis ablegt, entspricht auf der anderen Seite die
Entmenschlichung und Dämonisierung des Feindes, wodurch auch die Unterscheidung
zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten aufgehoben wird. In einem kosmischen Krieg kann es keine Zivilisten mehr geben (vgl. Juergensmeyer 2003: 226–255
und van de Loo 2005).
7. Der diese Radikalisierung stützende Wahrheitsanspruch und sein Infallibilismus
schließen konsequenterweise die Möglichkeiten von friedlichen Lösungen und/oder
Kompromissen weitgehend aus. Der Kampf gegen das „Böse“ duldet keinerlei Zugeständnisse. Gemäßigte Personen und Parteiungen, die Schlichtungsvorschläge unterbreiten, laufen Gefahr, mit mindestens der gleichen Vehemenz wie der Feind bekämpft
zu werden (vgl. Moltmann & Hubel 2005).
8. Dieser religiöse Fanatismus kann dazu führen, dass selbst ein aussichtsloser
Kampf, der keinerlei absehbaren Erfolg verspricht, fortgeführt wird in der Hoffnung,
dass Gottes Wirken in der Weltgeschichte der eigenen Partei den Sieg schenken wird,
auch wenn ihn erst die nächste oder übernächste Generation erleben wird (vgl. Hansen 2005).
9. Das Endziel dieses kompromisslosen und gewaltbereiten Kampfes bleibt jedoch ein
zukünftiges Friedensreich, das Gewalt, Konflikte und Ungerechtigkeiten endgültig
überwindet, wenngleich bei einzelnen Akteuren diese eschatologische Vision hinter
dem Kampf als Selbstzweck verschwinden mag. Aber in der Regel bleibt die Gewalt
das Mittel zu einem höheren Zweck und verdeutlicht auch in diesem Falle die eigentlich
friedensstiftende Intention von Religion (vgl. Hansen 2005).
10. Ein gerechter Frieden ist oftmals aber nur als eine Wiedererrichtung der Herrschaft
Gottes und seiner Gesetze in Form einer Theokratie denkbar. Dies ist insbesondere
bei den so genannten jüdischen, christlichen und islamischen Fundamentalisten der
Fall. Hierbei handelt es sich um den Typus einer theokratisch-monistischen politischen
Theologie, die von dualistischen Politischen Theologien unterschieden werden können
(vgl. Walther 2005).
Es bleibt jedoch noch zu klären, unter welchen exogenen Umständen diese endogene
metanoia einer ursprünglich friedensliebenden Intention der Religionen eine Radikalisierung der Politischen Theologien und des religiösen Denkens und Empfindens der
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Menschen hervorruft und sie zu einer gewaltsamen Eruption treibt. Diese Feststellung
führt zur zweiten erkenntnisleitenden Fragestellung, unter welchen Umständen und
durch welche exogenen Ursachen diese Radikalisierung und Fanatisierung von Religionen und damit politisch-religiöse Gewaltkonflikte ausgelöst werden?
Die exogenen Ursachen politisch-religiöser Konflikte
Zunächst scheint es plausibel zu sein davon auszugehen, dass die Radikalisierung und
Fanatisierung von Religionsgemeinschaften durch existenzielle Krisen und Bedrohungen ausgelöst wird. Denn nur diese stellen den Leidensdruck und die Motivation zur
Verfügung, die Gefahren und Risiken einer gewaltsamen Durchsetzung der eigenen
Position in Kauf zu nehmen, die mithin immer als geringer eingeschätzt werden müssen als diejenigen, die mit der Akzeptanz des status quo einhergehen. Allerdings ist
damit nicht mehr gesagt als ohnehin ein jeder einsieht, denn die entscheidende Frage,
welcher Art die Bedrohung ist und welche Motive die Menschen zur Gewalt treiben, ist
damit noch nicht beantwortet.
Ist es denkbar und vor allem empirisch nachweisbar, dass sich Menschen aus rein religiösen, d. h. in diesem Kontext, theologischen Motiven zur Gewalt hinreißen lassen?
Sind z. B. die in der Geschichte des Christentums aufgetretenen gewaltsamen Auseinandersetzungen um die Heilige Dreifaltigkeit, das Laienpriestertum, das Abendmahl,
den Bildersturm usw. nur auf theologische Differenzen zurückzuführen? Ist also in diesem Zusammenhang religiös mit theologisch gleichzusetzen?
Oder muss der Begriff der religiösen Motivation weiter gefasst werden, so dass er auch
z. B. die Praktizierung des jeweiligen Religionskultes umfasst, so dass die gewaltsame
Verteidigung der eigenen Religionsfreiheit als religiös motiviert gilt. Und umgekehrt,
werden Religionsfreiheiten nur eingeengt wegen theologischer Differenzen, wie z. B.
die Bekämpfung des Menschenopfers durch die Conquistadores und das Verbot der
indischen Witwenverbrennung durch die Engländer oder werden andere Religionen
bekämpft, weil ein göttlicher Missionsauftrag dies fordert, wie z. B. bei der Ausbreitung
des Islams oder der mongolischen Reichsbildung des hohen Mittelalters oder weil Häresien eine politische Bedrohung darstellen, wie z. B. das Christentum im Römischen
Reich und die mittelalterlichen Katharer und die protestantische Reformation.
Und umgekehrt, warum greifen mittelalterliche Sekten zur Gewalt gegen die sie umgebende Gesellschaft? Sind es die sozio-ökonomischen Bedingungen, die die Menschen
in die Verzweiflung treiben oder ist es das messianische Heilsversprechen des Neuen
Jerusalems. Die gleichen Fragen können für die so genannten Religionskriege der
Frühen Neuzeit wie für die so genannten religiösen Konflikte der Gegenwart gestellt
werden. Angesichts dieses zugegebenermaßen lediglich skizzenhaften Befundes
scheint es zunächst einmal sinnvoll zu sein, im Falle von religiös durchdrungenen Konflikten von vielfältigen Ursachen und Motiven auszugehen, die sowohl theologische, religiöse, politische, soziale, ökonomische, ethnische, nationale etc. umfassen können.
Wenn wir uns den gegenwärtigen politisch-religiösen Konflikten zuwenden, dann finden
wir in den meisten Fällen an den Wurzeln dieser Konflikte einen Ursachenmix, der sich
einem monokausalen Erklärungsansatz entzieht. In jedem Fall aber steht am Beginn
eines jeden politisch-religiösen Konfliktes eine objektive und/oder subjektiv wahrgenommene Ungerechtigkeits- und Unterdrückungserfahrung, das Gefühl, nicht nur unter
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Druck zu stehen, sondern existenziell bedrohlichen Angriffen ausgesetzt zu sein (vgl.
Riesebrodt 2000: 52 f.).
Diese relative Deprivation oder Ungerechtigkeitserfahrung kann sich aus unterschiedlichen Quellen speisen, wie z. B. ungerechter politischer (Fremd-) Herrschaft, ökonomischer Deklassierung und sozialen Abstiegsängsten, ebenso wie durch Auflösungserscheinungen tradierter sozio-ökonomischer Strukturen und Lebenswelten, die durch
Globalisierungs- und Verwestlichungstendenzen ausgelöst werden, in deren Gefolge
sich die betroffenen Gesellschaften und ihre Menschen Modernisierungs- und/oder Säkularisierungsprozessen ausgesetzt sehen.
Wenn nun an der Wurzel eines politisch-religiösen Konfliktes nicht explizit religiöse Ursachen stehen, dann stellt sich die Frage, wie „die Religion“ in den Konflikt hineingerät? Ein möglicher Erklärungsansatz besteht darin, dass mit diesen Krisenerfahrungen
zumeist auch geistige Entfremdungserfahrungen einhergehen, die sich in einer spirituellen Orientierungslosigkeit und dem „Gefühl eines persönlichen Machtverlustes“
(Juergensmeyer 2004: 308) angesichts der Dislozierungseffekte der Moderne äußern.
Diese spirituelle Krisensituation wird oftmals durch die Erschöpfung alter Sinn- und
Orientierungssysteme ausgelöst – wie z. B. Sozialismus, Panarabismus, Liberalismus,
Säkularismus, Pancasila – mit deren Hilfe die politischen Eliten nicht in der Lage oder
nicht Willens waren, die gesellschaftlichen Ordnungsprobleme zu lösen und berechtigten Forderungen nach Reformen entgegenzukommen. In dieses geistige Vakuum stößt
dann oftmals eine intensive „Suche nach einer tieferen Spiritualität“, die „religiöse Antworten“ auf die „oberflächlichen Werte der modernen Welt“ (a. a. O.: 305) und ihre Krisenphänomene gibt und eine Revitalisierung religiöser Traditionen auslöst.
Eine Folge dieser Wiederbelebung religiöser Traditionen ist die Tendenz, die Diagnostik und Therapie der Krisenerfahrungen nicht in den Kategorien der modernen, säkularen Sozialwissenschaften zu formulieren, da diese zurecht als ein Bestandteil der westlichen Moderne gesehen werden, sondern unter Rückgriff auf tradierte religiöse und
kulturelle Konzepte, die angesichts der Krisenerfahrung neu, d. h. durchaus moderne
Elemente aufgreifend, reinterpretiert werden. Aber diese religiösen Antworten sind gerade keine spirituelle Flucht in ein Jenseits, die einen politischen Quietismus diktieren,
sondern im Gegenteil das innerweltliche Engagement und den politischen und sozialen
Aktivismus fordern. Deshalb verschmelzen die religiösen Motive mit einer Vielzahl anderer, so genannter weltlicher Motive, was es in jedem einzelnen Fall schwierig macht,
die religiöse Komponente innerhalb eines Konfliktes zweifelsfrei zu isolieren, weil das
„Religiöse“ im Selbstverständnis der Akteure gar nicht eindeutig von dem „Politischen“
oder dem „Sozialen“ getrennt ist, sondern diese Aspekte vielmehr miteinander verschmelzen.
Zwar ist es richtig, wie Rittberger und Hasenclever festgestellt haben, dass bei den gegenwärtigen politisch-religiösen Konflikten nicht die Religion, d. h. religiös-theologische
Differenzen am Anfang des Konfliktes im Sinne seiner primären Ursachen stehen (Rittberger & Hasenclever 1998, 2000; Hasenclever & Rittberger 2000 3 ; Rittberger 2002;
vgl. auch Riesebrodt 2000: 24 f.), aber es ist auch irreführend, „die Religion“ als intervenierende Variable zu operationalisieren, insoweit sie als solche aufgrund der Verschmelzung mit anderen Motiven gar nicht eindeutig identifiziert werden kann. Diese
3
[Siehe in diesem Band, S. 137 (Tab.), 139 f.. – M. Z.]
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Schwierigkeit besteht nicht nur deshalb, wie Appleby (2000: 55) meint, weil sich „die
Religion“ durch andere, d. h. weltliche Motive, kompromittieren lässt, sondern weil „Religion“ immer schon weltlicher Ordnungsvorstellungen ventiliert. So lassen sich politische und religiöse Konfliktursachen nicht immer trennen, weil das Politische religiös
konstituiert ist, oder ethnische Konflikte zugleich religiös motiviert sind, weil religiöse
Differenzen konstitutiv für ethnische Differenzen sind, wie z. B. in Ex-Jugoslawien (vgl.
van de Loo 2005) oder sozioökonomische und politische Missstände religiös interpretiert werden. Zwar können nicht-religiös motivierte Konflikte durch das Ausspielen der
religiösen Karte und der Instrumentalisierung der Religion eskalieren und das Konfliktverhalten nachhaltig radikalisieren und in eine Spirale der Gewalt treiben, die in einen
Teufelskreis mündet aus dem es kein oder kaum ein Entrinnen gibt. Aber es ist a priori
nicht festzustellen, wann ein originär und authentisches religiöses Konfliktmotiv vorliegt
und wann die „Religion“ aus säkularen Motiven heraus instrumentalisiert wird. Beide
Varianten sind möglich und müssen deshalb auch theoretisch und methodologisch berücksichtigt werden.
Darüber hinaus kann sich die Motivlage im Rahmen einer Auseinandersetzung auch
durchaus verändern und ursprüngliche Prioritäten durch neue ersetzt werden. Außerdem muss berücksichtigt werden, dass nicht bei allen an einem Konflikt beteiligten Akteuren die gleichen Motive zugrunde liegen. Die einen handeln aus religiösen Motiven,
die anderen aus ökonomischen und eine dritte Gruppe aus wieder anderen Gründen.
Es muss also die Pluralität der Motivlagen zwischen den Streitparteien, aber auch innerhalb der beteiligten Streitparteien berücksichtigt werden. Wie sich diese Ursachenund Motivlagen im Einzelnen zusammensetzen, kann letztendlich nur durch eine detaillierte empirische Analyse jedes Einzelfalles geklärt werden, um damit die verschiedenen Konfliktdimensionen differenziert erfassen zu können.
Wie notwendig es ist, eine differenzierte Bestandsaufnahme der verschiedenen Motive,
Diskursstrategien und Politiken vorzunehmen, zeigt die Analyse des islamischen Diskurses in Malaysia, wo sowohl konservativ bis fundamentalistische Gruppierungen, als
auch progressive muslimische Stimmen neben einem rein instrumentellen Rekurs auf
islamische Politische Theologien vernommen werden können, mit denen jeweils unterschiedliche politische, soziale und ökonomische Interessen formuliert werden. Während die malaysische Debatte um einen islamischen Staat bisher nur zu einer teilweisen rhetorischen Radikalisierung politisch-theologischer Positionen geführt hat (vgl.
Derichs 2005), hat sich in Indonesien mit der Erschöpfung der nationalen und überkonfessionellen Zivilreligion der Pancasila der islamische Diskurs nicht nur rhetorisch radikalisiert, sondern ist durch die Terroranschläge von Bali auch eskaliert. Aber auch in
Indonesien zeigt sich, dass zwischen radikalen und gemäßigten muslimischen Kräften
unterschieden werden muss, von denen die radikalen Santri-Muslime die Santrifizierung Indonesiens anstreben, während die gemäßigten Kräfte die Parlamentarisierung
des Islams betreiben (vgl. Arenhövel 2005). Aber selbst innerhalb des radikal islamischen oder islamistischen Lagers, das die Errichtung eines Gottesstaates anstrebt,
muss noch weiter differenziert werden zwischen solchen Kräften, die einen legalen
Weg gehen wollen und solchen Kräften, die entschlossen sind, den Gottesstaat auf revolutionärem Weg herbei zu bomben, wie die Analyse des Gefahren- und Konfliktpotenzials des Islamismus in Deutschland verdeutlicht. In diesem Fall stellen politische,
soziale, ökonomische und kulturell-religiöse Deprivations- und Marginalisierungserfahrungen einen günstigen Nährboden für die Radikalisierung zur Verfügung (vgl. Pfahlpage/Seite 15 of/von 23
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Traughbers 2005).
Was die Veränderung von Motivlagen über die Dauer eines langjährigen Konfliktes anbelangt, so ist z. B. der israelisch-palästinensische Konflikt außerordentlich instruktiv.
Dieser war ursprünglich kaum ein religiöser Konflikt, wenn man einmal von den religiösen Konnotationen des so genannten säkularen Zionismus absieht, sondern ein politischer Konflikt zweier Ethnien um Macht und Herrschaft und soziale und ökonomische
Chancen und Ressourcen. Dieser Konflikt steigerte sich aber mit der Zeit auch in einen
religiösen Konflikt, insoweit fundamentalistische Gruppierungen auf beiden Seiten an
Bedeutung gewannen, die die Auseinandersetzung in religiösen Termini deuten, so
dass dieser Konflikt zumindest was die radikal-religiösen Akteure anbelangt, mittlerweile als ethno-religiöser zu bezeichnen ist (vgl. Hubel 2005).
Im Falle des indisch-pakistanischen Kaschmirkonfliktes müssen z. B. die innen- und
außenpolitischen Dimensionen des Konfliktes differenziert werden. Während die außenpolitische Dimension von offizieller Seite kaum religiöse Dimensionen aufweist,
sondern hier territoriale Machtansprüche im Vordergrund stehen, werden zum einen
durch die teilweise Entstaatlichung, Privatisierung und Transnationalisierung des Konfliktes durch islamische Guerillakämpfer und zum anderen durch den innenpolitischen
Bedeutungsanstieg des Hindunationalismus in Indien und des Islamismus in Pakistan
verstärkt religiöse Komponenten in den Konflikt hineingetragen (vgl. Wagner 2005).
Aufgrund dieser vielfältigen Motivlagen ist es deshalb im Allgemeinen angemessener,
nicht pauschal von Religionskonflikten oder Religionskriegen, sondern von politischreligiösen Konflikten zu sprechen. Je stärker allerdings die religiöse Komponente des
Konfliktes entwickelt ist, desto verbitterter und kompromissloser wird der Konflikt ausgetragen. Obwohl die Religionen in diesen Fällen nicht als konfliktursächlich zu bezeichnen sind, so wirken sie aber dennoch einerseits konfliktstrukturierend, insoweit sie
die Konfliktlinien der Konfliktparteien festlegen und konfliktverschärfend, insoweit sie
den Konflikt radikalisieren und damit vertiefen.
Die Brisanz der Vermischung von „religiösen“ und „weltlichen“ Motiven und die Schwierigkeiten, diese zu unterscheiden bzw. zu trennen, zeigen sich am Deutlichsten an den
ethno-religiösen Konflikten im Nahen Osten, Nordirland, dem ehemaligen Jugoslawien,
Sri Lanka und vielen afrikanischen Bürgerkriegen. In diesen Fällen handelt es sich um
gewaltsam ausgetragene Konflikte konkurrierender sozio-politischer Identitäten um politische Hegemonie bzw. Autonomie und damit um politische Loyalitäten, soziale Chancen und ökonomische Ressourcen. Auf der einen Seite spielen bei diesen Konflikten
die religiösen Differenzen im Sinne theologischer Differenzen bestenfalls eine untergeordnete und marginale Rolle. Aus dieser Perspektive betrachtet, kann man in diesen
Fällen keinesfalls von Religionskonflikten sprechen. Auf der anderen Seite spielen die
Religionen aber für die Konstituierung der sozialen bzw. ethnischen Identitäten nicht
nur eine herausragende, sondern die entscheidende Rolle. Dies hängt insbesondere
damit zusammen, dass im Falle Nordirlands und des ehemaligen Jugoslawiens (insbesondere in Bosnien-Herzegowina) andere Unterscheidungskriterien, wie z. B. die Sprache, nicht zur Verfügung stehen oder nur schwach ausgeprägt sind. Im Falle Sri Lankas und vieler afrikanischer Konflikte spielen z. B. sprachliche Differenzen durchaus
auch eine Rolle, sind aber in eine religiös konstituierte ethnische Identität eingebunden,
die die sprachliche Differenz in ihrem Stellenwert gegenüber dieser religiösen Konstituierung relativieren. In diesen Fällen kommt der Religion eine bedeutende Rolle bei der
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Konstituierung sozialer Identitäten und damit politisch relevanter Gruppen zu (vgl.
Moltmann 2005; van de Loo 2005; Rösel 2005; Haynes 2005).
Die Gefahr des Ausbruchs ethno-religiöser Konflikte ist besonders hoch, wenn eine
ethnisch-religiöse Minderheit majorisiert und damit in politischer, sozialer, ökonomischer und kultureller Hinsicht marginalisiert wird, weil die staatlichen Eliten entweder
nicht die Fähigkeit oder nicht den Willen haben, eine gerechte Güter- und Chancenverteilung zwischen den verschiedenen Ethnien herzustellen. Entscheidend dabei ist weniger die objektive Lage der beteiligten Mehrheits- oder Minderheitsethnien, sondern
die subjektive Wahrnehmung ihrer Position in der Gesellschaft, die durchaus von den
so genannten objektiven Rahmenbedingungen abweichen kann. So betrachten sich
beispielsweise in Nordirland sowohl Katholiken als auch Protestanten als von der jeweils anderen Seite bedrohte Minderheiten, obwohl die demographische, soziale und
ökonomische Entwicklung der beiden ethnischen Gruppen diese Wahrnehmung schon
lange nicht mehr zu stützen vermag (vgl. Moltmann 2005). Noch deutlicher wird das
Gewicht der subjektiven Wahrnehmung im Falle der Singhalesen auf Sri Lanka, die
eindeutig die überwältigende Mehrheit der Inselbewohner stellen, sich aber dennoch
als eine von hinduistischen, muslimischen und christlichen Feinden umzingelte Minderheit wahrnehmen (vgl. Rösel 2005). Damit soll nicht behauptet werden, dass diesen
Bedrohungswahrnehmungen keine realen Erfahrungen zugrunde liegen, aber oftmals
geht die Verhältnismäßigkeit von Erfahrung und symbolischer Deutung verloren mit der
Konsequenz, dass insbesondere von interessierten politischen und/oder anderen Eliten, exklusive ethnische Identitäten formuliert und propagiert werden, mit deren Hilfe
die Loyalität der Massen gewonnen werden. Diese exklusiven ethnischen Identitäten
bauen einerseits eine defensive, sektiererische Verteidigungshaltung auf, aus der heraus andererseits aggressiv nach außen gegenüber dem vermeintlichen und/oder realen Gegner agiert wird.
Die Herausbildung einer exklusiven ethnischen Identität wird durch die Instrumentalisierung ihrer religiösen Aspekte unterstützt, indem eine Sakralisierung der eigenen
Ethnie betrieben wird. Das Resultat dieses Sakralisierungsprozesse sind Politische
Theologien, die in unterschiedlichem Grade die oben genannten „fundamentalistischen“ Elemente aufweisen. Diese Politischen Theologien können – soweit sie neben
ihrem Bezug auf einen transzendenten Seinsgrund (Gott etc.) „das Göttliche in Teilinhalten der Welt finden“ (der eigenen Ethnie) – mit Voegelin als „innerweltliche Religionen“ (Voegelin 1939: 18) bezeichnet werden.
Diesen innerweltlichen ethnischen Religionen kommt damit eine Doppelfunktion zu. Sie
verfolgen auf der einen Seite als Politische Theologien das politisch-religiöse Interesse
am Heil des Menschen, das in einer ethnisch-religiös homogenen, selbstbestimmten
politischen Gemeinschaft gesucht wird. Auf der anderen Seite stützen diese Politischen
Theologien aber auch eine Theologische Politik, indem diese aus dem politisch motivierten Interesse an der Stabilisierung von Ordnung und Herrschaft einen instrumentellen Rückgriff auf den Korpus der Politischen Theologie zulassen (vgl. Walther 2005).
Diese Dialektik zwischen Politischer Theologie und Theologischer Politik findet entweder im Wechselspiel zwischen der religiösen und politischen Elite statt, wie z. B. im
nordirischen und jugoslawischen Bürgerkrieg (vgl. Moltmann 2005; van de Loo 2005)
oder kann durch die Appropriierung der von Theologen formulierten Politischen Theologie durch politische Führer erfolgen, wie z. B. auf Sri Lanka (vgl. Rösel 2005) oder
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durch religiöse Führer, die wie Ian Paisley in Nordirland (vgl. Moltmann 2005) und Alice
Lakwena und Joseph Kony in Uganda, auch die Funktion eines politischen Führers
wahrnehmen (vgl. Haynes 2005). In diesem Sinne kann man mit Bielefeldt und Heitmeyer (1998) von einer Politisierten Religion sprechen, ohne aber den vorgängigen politischen Charakter der Theologie zu vernachlässigen.
Die politischen Folgen dieses instrumentellen Rückgriffs einer Theologischen Politik
auf die Politische Theologie sind bekannt. Der Radikalisierung und Fanatisierung der
zunächst auf kleinere Kulturmilieus beschränkten ethno-religiösen Krieger (Riesebrodt
2000: 78) kann, wenn diese Positionen sozial und politisch dominant werden und zunehmend die offizielle Politik des Landes bestimmen, zu ethnischen Säuberungen führen, deren wichtigstes Ziel neben der Herstellung einer homogenen ethnischen Bevölkerung auch die Rückeroberung der eigenen terra sancta ist, wie z. B. in Jugoslawien,
auf Sri Lanka, im israelisch-palästinensischen und im pakistanisch-indischen Konflikt,
die mit entsprechender Kompromisslosigkeit und Gewaltbereitschaft bzw. Gewaltorgien
einhergehen (vgl. van der Loo 2005; Rösel 2005; Hubel 2005; Wagner 2005), die zu
stoppen und zu überwinden die große Herausforderung religiös-politischer Konflikte
darstellen.
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