Analysis I

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Analysis I
Oliver Goertsches
Philipps-Universität Marburg
Skript zur Vorlesung im Sommersemester 2016
2
Inhaltsverzeichnis
1 Folgen
1.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.2 Reelle Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.3 Konvergenz reeller Zahlenfolgen . . . . . . . . . . .
1.4 Supremum und Infimum, Maximum und Minimum
1.5 Metrische Räume . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.6 Cauchy-Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.7 Vervollständigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.8 Folgerungen aus der Vollständigkeit von R . . . . .
1.8.1 Existenz von Supremum und Infimum . . .
1.8.2 Existenz k-ter Wurzeln . . . . . . . . . . . .
1.8.3 Der Satz von Bolzano-Weierstraß . . . . . .
1.9 Mehr Beispiele von Grenzwerten . . . . . . . . . .
1.10 Komplexe Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.11 Normierte Räume . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.12 Topologische Räume . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.13 Kompaktheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2 Reihen
2.1 Konvergente Reihen . . . . .
2.2 Absolute Konvergenz . . . . .
2.3 Weitere Konvergenzkriterien .
2.4 Klammerung und Umordnung
2.5 Das Cauchyprodukt . . . . .
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3 Stetigkeit
3.1 Stetige Abbildungen . . . . . . . . . . . . . .
3.2 Stetige Abbildungen auf R . . . . . . . . . . .
3.3 Varianten der Stetigkeit . . . . . . . . . . . .
3.4 Stetige Funktionen auf kompakten Räumen .
3.5 Äquivalenz von Normen auf Rn . . . . . . . .
3.6 Konvergenz von Funktionenfolgen . . . . . . .
3.7 Funktionenreihen . . . . . . . . . . . . . . . .
3.8 Potenzreihen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.9 Trigonometrische Funktionen und die Zahl π.
3.10 Der Fundamentalsatz der Algebra . . . . . . .
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INHALTSVERZEICHNIS
4 Differentialrechnung
4.1 Die Ableitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.2 Stetige Differenzierbarkeit . . . . . . . . . . . . .
4.3 Lokale Extrema . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.4 Der Mittelwertsatz . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.5 Die Regel von de l’Hospital . . . . . . . . . . . .
4.6 Differenzierbarkeit und gleichmäßige Konvergenz
4.7 Differenzierbarkeit von Potenzreihen . . . . . . .
4.8 Taylorentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 1
Folgen
1.1
Einleitung
Eine grundlegende Schwierigkeit dieser Einleitung, wie auch der gesamten Vorlesung, ist, dass sie sich an verschiedene Hörerkreise richtet. Nicht nur befinden
sich unter Ihnen Bachelor- und Lehramtsstudierende, Mathematik-, Wirtschaftsmathematik-, Physik- und Studierende anderer Fächer – die größte didaktische
Hürde besteht darin, dass sich viele von Ihnen bereits mindestens im zweiten
Semester befinden, und damit sowohl die Lineare Algebra I als auch die Grundlagenvorlesung bereits gehört haben, für andere dies aber das erste Semester ist.
Das ist insofern problematisch, dass diese Vorlesung den Stoff der Grundlagenvorlesung verwendet. Genauer gesagt baut unser Stoff auf Logik und Mengenlehre, einigen grundlegenen Begriffen wie Relationen und Abbildungen, sowie
auf der Kenntnis der wichtigsten Zahlbereiche – der natürlichen, der ganzen,
der rationalen und der reellen Zahlen – auf.
Wir werden hier kurz einige Resultate der Grundlagenvorlesung über reelle
Zahlen zusammenfassen und im Folgenden benutzen. Diejenigen von Ihnen, für
die dieses Sommersemester das erste Semester ist, müssen daher etwas geduldiger sein und manche Resultate zunächst als gegeben hinnehmen; im Laufe
des Semesters werden Sie diese dann in der parallel laufenden Grundlagenvorlesung genauer kennenlernen. Haben Sie Geduld - im nächsten Semester haben
Sie dafür in der Linearen Algebra I genau den Vorteil, den die momentanen
Zweitsemester nun in der Analysis I haben.
1.2
Reelle Zahlen
In diesem Abschnitt werden wir die Resultate aus der Grundlagenvorlesung über
die reellen Zahlen zusammenfassen. Dort wurden sukzessive die bekannten Zahlbereiche aus den natürlichen Zahlen N = {0, 1, 2, . . .} konstruiert: Zunächst die
ganzen Zahlen Z = {. . . , −2, −1, 0, 1, 2, . . .}, und dann aus diesen die rationalen
Zahlen Q = { ab | a ∈ Z, b ∈ Z \ {0}}. Der schwierigste Schritt bestand darin, aus den rationalen Zahlen die reellen Zahlen R zu konstruieren. Die genaue
Konstruktion ist im Moment für uns nicht relevant; wir werden später darauf
zurückkommen. Stattdessen listen wir hier die für uns wichtigen Eigenschaften der reellen Zahlen auf – die Ihnen größtenteils aber bereits aus der Schule
5
6
KAPITEL 1. FOLGEN
bekannt sein sollten.
Es gibt eine Abbildung
+ : R × R −→ R; (a, b) 7−→ a + b,
genannt Addition, so dass folgende Bedingungen gelten:
1. (Kommutativität der Addition) Für alle a, b ∈ R gilt a + b = b + a.
2. (Assoziativität der Addition) Für alle a, b, c ∈ R gilt a+(b+c) = (a+b)+c.
3. (Existenz der Null) Es gibt ein Element 0 ∈ R, so dass für alle a ∈ R gilt,
dass a + 0 = 0 + a = a.
4. (Existenz additiv inverser Elemente) Für alle a ∈ R gibt es ein eindeutiges
Element b ∈ R, so dass a + b = b + a = 0. Wir bezeichnen es mit −a.
Es gibt eine Abbildung
· : R × R −→ R; (a, b) 7−→ a · b,
genannt Multiplikation, so dass folgende Bedingungen erfüllt sind:
1. (Kommutativität der Multiplikation) Für alle a, b ∈ R gilt a · b = b · a.
2. (Assoziativität der Multiplikation) Für alle a, b, c ∈ R gilt a·(b·c) = (a·b)·c.
3. (Existenz der Eins) Es gibt ein Element 1 ∈ R, so dass 1 6= 0 und so dass
für alle a ∈ R gilt, dass a · 1 = 1 · a = a.
4. (Existenz multiplikativ inverser Elemente) Für alle a ∈ R \ {0} gibt es ein
eindeutiges Element b ∈ R, so dass a · b = b · a = 1. Wir bezeichnen es mit
a−1 oder a1 .
5. (Distributivgesetz) Für alle a, b, c ∈ R gilt a · (b + c) = a · b + a · c.
All diese Eigenschaften zusammengenommen besagen, dass die Menge R,
zusammen mit den Verknüpfungen + und ·, einen Körper bilden.
In der Grundlagenvorlesung werden weitere Eigenschaften der reellen Zahlen
gezeigt, beispielsweise dass R ein geordneter Körper ist. Dies bedeutet zunächst,
dass es eine Relation ≤ auf R gibt, so dass folgende Bedingungen erfüllt sind:
1. Für alle a ∈ R gilt a ≤ a.
2. Falls für a, b, c ∈ R gilt, dass a ≤ b und b ≤ c, so folgt a ≤ c.
3. Falls für a, b ∈ R gilt, dass a ≤ b und b ≤ a, so folgt a = b.
4. Für alle a, b ∈ R gilt a ≤ b oder b ≤ a.
Diese Bedingungen besagen, dass ≤ eine sogenannte Totalordnung ist. Die Relation ≤ macht R zu einem geordneten Körper, da sie in folgendem Sinne mit
der Körperstruktur von R verträglich ist:
1. Für alle a, b, c ∈ R, so dass a ≤ b gilt auch, dass a + c ≤ b + c.
2. Für alle a, b ∈ R, so dass 0 ≤ a und 0 ≤ b, gilt 0 ≤ a · b. (Das Produkt
nichtnegativer reeller Zahlen ist nichtnegativ.)
1.3. KONVERGENZ REELLER ZAHLENFOLGEN
7
Wir schreiben für a ≤ b auch b ≥ a, sowie a < b (oder b > a), falls a ≤ b und
a 6= b. Wir führen eine Notation für folgende wichtige Teilmengen der reellen
Zahlen ein: für a < b sei
[a, b] = {x ∈ R | a ≤ x ≤ b},
(a, b) = {x ∈ R | a < x < b},
[a, b) = {x ∈ R | a ≤ x < b},
(a, b] = {x ∈ R | a < x ≤ b}.
sowie
Für a ∈ R setzen wir desweiteren
[a, ∞) = {x ∈ R | a ≤ x},
(a, ∞) = {x ∈ R | a < x}
und
(−∞, a] = {x ∈ R | x ≤ a},
(−∞, a) = {x ∈ R | x < a}.
Man beachte, dass die Symbole ∞ und −∞ für uns im Moment keine alleinstehende Bedeutung haben. All diese Mengen nennen wir Intervalle (auch R
selbst nennen wir ein Intervall); solche der Form [a, b] nennen wir abgeschlossene Intervalle, solche der Form (a, b) offene. Die der Form [a, b) und (a, b] heißen
halboffene Intervalle. Die restlichen Typen nennen wir uneigentliche Intervalle.
Mit Hilfe der Kleinergleich-Relation können wir auch den Betrag einer reellen
Zahl definieren: es ist für a ∈ R
(
a
falls 0 ≤ a
|a| :=
−a sonst.
Der Betrag erfüllt einige Eigenschaften: es gilt |a · b| = |a| · |b| für alle reellen
Zahlen a, b sowie |1/a| = 1/|a| für alle a ∈ R \ {0}. Weiterhin gilt die Dreiecksungleichung: für alle a, b ∈ R gilt |a + b| ≤ |a| + |b|. Die Kleinergleich-Relation
ermöglicht es uns auch, vom Maximum und Minimum zweier (oder endlich vieler) reeller Zahlen zu sprechen: sind a1 , . . . , an ∈ R, so sei max{a1 , . . . , an } =
ai , wenn i ein Index ist, so dass ai ≥ aj für alle j = 1, . . . , n. Analog ist
min{a1 , . . . , an } = ai , wenn i ein Index ist, so dass ai ≤ aj für alle j = 1, . . . , n.
Weiterhin gilt, dass R nicht bloß ein geordneter Körper, sondern ein archimedisch geordneter Körper ist. Das bedeutet: Für alle a ∈ R existiert eine
natürliche Zahl n ∈ N, so dass a ≤ n.
Alle bislang aufgeführten Eigenschaften der reellen Zahlen gelten auch für
die in R enthaltenen rationalen Zahlen Q = { ab | a ∈ Z, b ∈ Z \ {0}}: auch Q ist
ein archimedisch geordneter Körper. Die Eigenschaft, die Q von R unterscheidet,
ist, dass R vollständig ist; diese Eigenschaft wurde in der Grundlagenvorlesung
des letzten Semesters behandelt, die Vollständigkeit von R aber nicht bewiesen.
Darauf werden wir später noch zurückkommen.
1.3
Konvergenz reeller Zahlenfolgen
Zwei der zentralen Begriffe der Analysis sind der Begriff der Konvergenz und
der Grenzwertbegriff. In diesem Abschnitt werden wir diese Konzepte im Kontext der reellen Zahlen betrachten. Auch dies wurde zum Teil bereits in der
Grundlagenvorlesung des letzten Semesters behandelt. Wir definieren zunächst
allgemein:
8
KAPITEL 1. FOLGEN
Definition 1.3.1. Es sei X eine Menge. Dann ist eine Folge in X eine Abbildung a : N → X. Wir schreiben an := a(n) und sprechen von der Folge
(an )n∈N = (a0 , a1 , a2 , . . .).
Die Elemente an nennen wir die Folgenglieder der Folge (an ).
In einer beliebigen Menge haben wir keinen Begriff des Abstands zwischen
zwei Elementen zur Verfügung. Damit ist es auch nicht möglich, Konzepte wie
Grenzwert oder Konvergenz zu definieren. Betrachten wir jedoch die reellen
Zahlen R, so können wir zu zwei Zahlen x, y ∈ R die Zahl |x − y| als Abstand
von x und y interpretieren. Damit können wir definieren:
Definition 1.3.2. Es sei (an )n∈N eine Folge reeller Zahlen.
1. Es sei a ∈ R. Wir sagen, dass die Folge (an ) gegen a konvergiert, falls
gilt:
∀ ε ∈ R, ε > 0 ∃ n0 ∈ N ∀n ≥ n0 : |a − an | < ε.
2. Falls eine Zahl a ∈ R existiert, so dass (an ) gegen a konvergiert, so sagen
wir, dass die Folge (an ) konvergiert.
3. Falls die Folge (an ) nicht konvergiert, so sagen wir, dass sie divergiert.
Ebenso wichtig wie die formale Definition eines Begriffs ist die Anschauung
dahinter: weshalb ist dieser Begriff so definiert wie er es ist? Der Konvergenzbegriff, mag er auch auf den ersten Blick abschreckend, da sehr formal, wirken, ist
sehr intuitiv: die Konvergenz einer reellen Folge gegen eine Zahl a soll bedeuten,
dass sie sich a schlussendlich immer weiter annähert. Das bedeutet: Wenn wir
ein noch so kleines Intervall um a betrachten, so wird die Folge ab irgendeinem
Folgenglied komplett in diesem Intervall liegen.
Beispiel 1.3.3.
1. Wir betrachten die Folge an = n1 und behaupten, dass
sie gegen 0 konvergiert. Dafür sei ε > 0 beliebig vorgegeben. Da R ein
archimedisch geordneter Körper ist, gibt es eine natürliche Zahl n0 , so
dass n0 > 1ε , d.h. n10 < ε. Dann gilt für alle n ≥ n0 :
|0 − an | = | −
1
1
1
|= ≤
< ε.
n
n
n0
Es folgt, dass an gegen 0 konvergiert.
2. Wir behaupten, dass die Folge an = n divergiert. Dafür müssen wir für
jedes a ∈ R begründen, dass an nicht gegen a konvergiert. Wir fixieren
also a ∈ R und müssen zeigen, das
∃ ε > 0 ∀ n0 ∈ N ∃n ≥ n0 : |a − an | ≥ ε.
Wir setzen ε = 1. Es sei n0 ∈ N gegeben; zu finden ist also eine Zahl
n ≥ n0 , so dass |a − an | = |a − n| = |n − a| ≥ 1. Wir wissen, dass es eine
natürliche Zahl n1 gibt, so dass n1 > a + 1; dann sei n = max{n0 , n1 }. Es
folgt, da n ≥ n1 > a, dass n − a > 0, also gilt
|n − a| = n − a ≥ n1 − a > 1.
Folgen, die wie im ersten dieser Beispiele gegen 0 konvergieren, erhalten
einen speziellen Namen:
1.3. KONVERGENZ REELLER ZAHLENFOLGEN
9
Definition 1.3.4. Es sei (an )n∈N eine Folge reeller Zahlen, die gegen 0 konvergiert. Dann heißt (an )n∈N eine Nullfolge.
Nun, da wir die Konvergenz einer Folge reeller Zahlen (an ) gegen eine reelle
Zahl a definiert haben, sind wir versucht, von a als dem Grenzwert der Folge (an )
zu sprechen. Aber Achtung: wenn wir hier einen bestimmten Artikel verwenden,
behaupten wir implizit, dass eine Folge reeller Zahlen höchstens einen Grenzwert
besitzt! Dies ist intuitiv richtig – aber muss zunächst bewiesen werden:
Lemma 1.3.5. Es sei (an )n∈N eine Folge reeller Zahlen, und a, b ∈ R, so dass
(an ) sowohl gegen a als auch gegen b konvergiert. Dann gilt a = b.
Beweis. Es sei ε > 0 beliebig. Da (an ) gegen a konvergiert, gibt es ein n0 ∈ N,
so dass für alle n ≥ n0 gilt, dass |a − an | < 2ε . Da die Folge auch gegen b
konvergiert, gibt es ein n1 ∈ N, so dass für alle n ≥ n1 gilt, dass |b − an | < 2ε .
Nun setzen wir n = max{n0 , n1 } das Maximum der beiden natürlichen Zahlen n0 und n1 . Dann folgt aus der Dreiecksungleichung:
|a − b| = |a − an + an − b| = |(a − an ) + (an − b)| ≤ |a − an | + |an − b| <
ε ε
+ = ε.
2 2
Da ε als beliebige positive reelle Zahl gewählt war, folgt, dass |a − b| = 0, und
damit, dass a = b.
Da wir nun gesehen haben, dass eine Folge reeller Zahlen gegen höchstens
eine reelle Zahl konvergieren kann, definieren wir:
Definition 1.3.6. Es sei (an )n∈N eine gegen a ∈ R konvergente Folge reeller
Zahlen. Dann nennen wir a den Grenzwert der Folge (an ). Wir bezeichnen ihn
mit limn→∞ an .
Bemerkung 1.3.7. Man beachte: die reelle Zahl limn→∞ an darf erst dann
verwendet werden, wenn die Konvergenz der Folge (an ) gezeigt ist, andernfalls
ist der Ausdruck limn→∞ an noch nicht definiert.
Lemma 1.3.8. Es sei (an ) eine konvergente Folge reeller Zahlen. Dann gibt es
ein C > 0, so dass |an | < C für alle n ∈ N.
Beweis. Es sei (an ) eine Folge reeller Zahlen mit limn→∞ an = a ∈ R. Nach
Definition der Konvergenz gibt es ein n0 ∈ N, so dass |a − an | < 1 für alle
n ≥ n0 . Für solche n folgt
|an | = |an − a + a| ≤ |an − a| + |a| < |a| + 1.
Setzen wir D := max{|am | | m ∈ N, m < n0 }, so folgt für alle n ∈ N, dass
|an | < C := max{|a| + 1, D + 1}.
Für Grenzwerte gelten einige Rechenregeln:
Satz 1.3.9. Es seien (an )n∈N und (bn )n∈N konvergente Folgen reeller Zahlen.
Dann gilt:
1. Die Folge (an + bn )n∈N ist ebenfalls konvergent, und es gilt limn→∞ (an +
bn ) = limn→∞ an + limn→∞ bn .
10
KAPITEL 1. FOLGEN
2. Die Folge (an ·bn )n∈N ist ebenfalls konvergent, und es gilt limn→∞ (an ·bn ) =
(limn→∞ an ) · (limn→∞ bn ).
Bemerkung 1.3.10. Man beachte: die reelle Zahl limn→∞ an darf erst dann
verwendet werden, wenn die Konvergenz der Folge (an ) gezeigt ist, andernfalls
ist limn→∞ an noch nicht definiert.
Beweis. Zu 1.: Es sei ε > 0 beliebig vorgegeben. Da (an ) gegen den Grenzwert
a := limn→∞ an konvergiert, gibt es ein n0 ∈ N, so dass für alle n ≥ n0 gilt,
dass |a − an | < 2ε . Genauso gibt es n1 ∈ N, so dass für alle n ≥ n1 gilt, dass
|b − bn | < 2ε , wobei b = limn→∞ bn . Für alle n ≥ max{n0 , n1 } folgt damit aus
der Dreiecksungleichung, dass
ε ε
|a + b − an − bn | ≤ |a − an | + |b − bn | < + = ε.
2 2
Wir haben gezeigt, dass (an + bn ) gegen a + b konvergiert.
Zu 2.: Nach Lemma 1.3.8 gibt es C > 0, so dass |an | < C für alle n ∈ N.
Weiterhin können wir (eventuell nach Vergrößerung von C) annehmen, dass
|b| < C. Es sei nun ε > 0 vorgegeben. Es gibt natürliche Zahlen n0 ∈ N, so dass
ε
ε
für alle n ≥ n0 , sowie n1 ∈ N, so dass |b − bn | < 2C
für n ≥ n1 .
|a − an | < 2C
Für alle n ≥ max{n0 , n1 } gilt dann
|an bn − ab| = |an bn − an b + an b − ab|
= |an (bn − b) + (an − a)b|
≤ |an ||bn − b| + |an − a||b|
ε
ε
<C·
+
· C = ε,
2C
2C
unter Verwendung der Dreiecksungleichung und der obigen Ungleichungen.
Satz 1.3.11. Es seien (an )n∈N und (bn )n∈N zwei konvergente Folgen reeller
Zahlen mit limn→∞ bn 6= 0. Dann gibt es ein n0 ∈ N, so dass bn 6= 0 für
alle n ≥ n0 . Weiterhin konvergiert die Folge der Quotienten (an /bn )n≥n0 , mit
Grenzwert
an
limn→∞ an
lim
=
.
n→∞ bn
limn→∞ bn
Beweis. Es genügt, den Spezialfall, dass (an ) die konstante Folge an = 1 ist,
zu betrachten – der allgemeine Fall folgt dann mit Satz 1.3.9, indem man die
Glieder der Quotientenfolge als Produkt an · (1/bn ) schreibt.
Da b := limn→∞ bn 6= 0, gibt es ein n0 ∈ N, so dass |b − bn | < |b|/2 für
alle n ≥ n0 . Damit ist nach der in den Übungen bewiesenen umgekehrten Dreiecksungleichung |bn | = |b − (b − bn )| ≥ |b| − |b − bn | ≥ |b|/2 > 0 für diese
n.
Nun sei ε > 0 vorgegeben. Es gibt ein n1 ∈ N, so dass
|b − bn | <
ε|b|2
2
für alle n ≥ n1 . Damit gilt für alle n ≥ max{n0 , n1 }, dass
2
1
− 1 = 1 |b − bn | < 2 · ε|b| = ε.
bn
2
b
|bn ||b|
|b|
2
Es folgt, dass limn→∞
1
bn
= 1b .
1.3. KONVERGENZ REELLER ZAHLENFOLGEN
Beispiel 1.3.12. Wir betrachten die Folge an :=
an =
2n2 +3n+7
7n2 +10n .
11
Es gilt
2 + 3/n + 7/n2
;
7 + 10/n
der Zähler dieses Ausdrucks geht für n → ∞ gegen 2, der Nenner gegen 7. Nach
Satz 1.3.11 folgt limn→∞ an = 27 .
Sehr nützlich ist die folgende, als Sandwichsatz bekannte Aussage:
Satz 1.3.13. Es seien (an ) und (bn ) zwei konvergente Folgen mit limn→∞ an =
limn→∞ bn =: a. Weiterhin sei (cn ) eine Folge, so dass an ≤ cn ≤ bn für alle
n. Dann ist auch cn konvergent, mit limn→∞ cn = a.
Beweis. Es sei ε > 0 beliebig vorgegeben. Dann existiert ein n0 ∈ N, so dass
für alle n ≥ n0 gilt, dass |a − an | < ε und |a − bn | < ε. (Man wähle als n0 das
Maximum der beiden entsprechenden Zahlen für die Folgen (an ) und (bn )). Wir
behaupten, dass für alle n ≥ n0 auch |a − cn | < ε.
Es sei n ≥ n0 . Wir betrachten zunächst den Fall, dass cn ≥ a. In diesem Fall
gilt
|a − cn | = cn − a ≤ bn − a = |bn − a| < ε.
Im Fall, dass cn ≤ a, gilt aber auch
|a − cn | = a − cn ≤ a − an = |a − an | < ε.
Damit haben wir gezeigt, dass auch cn gegen a konvergiert.
Oft wird dieser Satz in dem Fall angewendet, dass eine der beiden Folgen an
und bn konstant ist.
Als nächstes betrachten wir als Beispiele einige Folgen, zeigen deren Konvergenz und bestimmen ihre Grenzwerte. Für eines dieser Beispiele brauchen wir
folgendes Hilfsmittel:
Satz 1.3.14 (Bernoullische Ungleichung). Für alle x ∈ R mit x ≥ −1 und alle
n ∈ N gilt (1 + x)n ≥ 1 + nx.
Beweis. Wir beweisen diese Aussage per vollständiger Induktion. Sie gilt für
n = 0, da (1 + x)0 = 1 = 1 + 0 · x für alle x ≥ −1.
Es gelte die Behauptung nun für n ∈ N; wir zeigen sie für n+1. Da 1+x ≥ 0,
und damit auch (1 + x)n ≥ 0, folgt
(1 + x)n+1 = (1 + x)(1 + x)n ≥ (1 + x)(1 + nx)
= 1 + (n + 1)x + nx2 ≥ 1 + (n + 1)x.
Dies zeigt die Behauptung.
Beispiel 1.3.15.
1. Es sei p ∈ N, p ≥ 1. Dann ist die Folge (1/np ) eine
Nullfolge. Den Fall p = 1 haben wir bereits in Beispiel 1.3.3 betrachtet.
Den Fall p ≥ 2 zeigt man per Induktion, da es sich bei der betrachteten
Folge um das p-fache Produkt der Folge (1/n) mit sich selbst handelt; nach
Satz 1.3.9 konvergiert dann auch dieses gegen 0.
12
KAPITEL 1. FOLGEN
2. Es sei q ∈ R mit |q| < 1. Dann ist die Folge (q n ) eine Nullfolge: Für
q = 0 ist nichts zu zeigen; wir betrachten den Fall 0 < |q| < 1. Dann ist
1
|q| = 1 + h für ein h > 0. Da nach der Bernoullischen Ungleichung (Satz
1.3.14) gilt, dass (1 + h)n ≥ 1 + nh, folgt
|q n | = |q|n =
1
1
1
≤
<
.
(1 + h)n
1 + nh
nh
Ist nun ε > 0 beliebig gegeben, so finden wir, da h > 0, ein n0 ∈ N mit
1
n0 > hε
> 0. Dann gilt für alle n ≥ n0 , dass
|q n | <
1
1
≤
< ε.
nh
n0 h
Es folgt, dass (q n ) eine Nullfolge ist.
3. Es sei q ∈ R mit |q| < 1. Dann gilt limn→∞
(1 − q)
n
X
qi =
i=0
n
X
qi −
i=0
n
X
Pn
i=0
qi =
1
1−q :
da
q i+1 = 1 − q n+1 ,
i=0
gilt also
an :=
n
X
i=0
qi =
1 − q n+1
.
1−q
Es folgt
an −
1 |q|n+1
=
.
1−q
|1 − q|
Wir haben oben gesehen, dass (|q|n+1 ) eine Nullfolge ist. Damit ist auch
1
die Multiplikation dieser Folge mit dem festen Wert |1−q|
eine Nullfolge.
1 Wir haben gezeigt, dass an − 1−q eine Nullfolge ist, was äquivalent zur
Behauptung ist.
4. Es gilt limn→∞ 1+2+···+n
= 12 . Denn: der Zähler lässt sich als 1 + 2 + · · · +
n2
n = n·(n+1)
schreiben, und damit gilt
2
n · (n + 1)
n+1
1
1
1 + 2 + ··· + n
=
=
= +
;
2
2
n
2n
2n
2 2n
1
da ( 2n
) eine Nullfolge ist, folgt die Behauptung.
Warnung: Man könnte versucht sein wie folgt zu rechnen:
lim
n→∞
1 + 2 + ··· + n
1
n
= ( lim 2 ) + · · · + ( lim 2 ) = 0 + · · · + 0 = 0;
n→∞ n
n→∞ n
n2
dies ist aber falsch! In Satz 1.3.9 haben wir gesehen, dass die Summe
zweier konvergenter Folgen wieder konvergent ist, und der Grenzwert der
Summe die Summe der Grenzwerte ist. Dies gilt dann induktiv auch für
eine Summe endlich vieler konvergenter Folgen; in unserem jetzigen Beispiel variiert die Anzahl der Summanden aber mit dem Folgenindex!
1.4. SUPREMUM UND INFIMUM, MAXIMUM UND MINIMUM
13
Zum Schluss dieses Abschnitts erwähnen wir noch, dass wir verschiedene
Formen der Divergenz unterscheiden können:
Definition 1.3.16. Es sei (an ) eine Folge reeller Zahlen. Dann sagen wir, dass
a gegen +∞ divergiert, wenn für alle C > 0 ein n0 ∈ N existiert, so dass an > C
für alle n ≥ n0 . Man schreibt auch limn→∞ an = +∞.
Wir sagen, dass a gegen −∞ divergiert, wenn für alle C > 0 ein n0 ∈ N
existiert, so dass an < −C für alle n ≥ n0 . Man schreibt auch limn→∞ an =
−∞.
Beispiel 1.3.17. Die Folge an = n divergiert gegen +∞. Die Folge an = −n
divergiert gegen −∞. Die Folge an = (−1)n n divergiert zwar, aber weder gegen
+∞ noch gegen −∞.
1.4
Supremum und Infimum, Maximum und Minimum
Definition 1.4.1.
1. Eine Teilmenge M ⊂ R heißt nach unten beschränkt,
wenn es eine Zahl a ∈ R gibt, so dass für alle x ∈ M gilt, dass a ≤ x.
Jede solche Zahl a heißt eine untere Schranke von M .
2. Eine Teilmenge M ⊂ R heißt nach oben beschränkt, wenn es eine Zahl
b ∈ R gibt, so dass für alle x ∈ M gilt, dass x ≤ b. Jede solche Zahl b
heißt eine obere Schranke von M .
3. Eine Teilmenge M ⊂ R heißt beschränkt, wenn sie nach unten und nach
oben beschränkt ist.
Ist a eine untere Schranke von M ⊂ R, so ist auch jede kleinere Zahl als a
eine untere Schranke von M . Analog gilt: ist b eine obere Schranke, so auch jede
größere Zahl als b.
Definition 1.4.2. Es sei M ⊂ R eine Teilmenge.
1. Ist a ∈ R eine untere Schranke von M , so dass jede größere Zahl als a
keine untere Schranke von M ist, so nennen wir a größte untere Schranke
oder Infimum von M .
2. Ist b ∈ R eine obere Schranke von M , so dass jede kleinere Zahl als b keine
obere Schranke von M ist, so nennen wir b kleinste obere Schranke oder
Supremum von M .
Infimum und das Supremum einer Teilmenge sind, sofern sie existieren, eindeutig. Denn: ist a Infimum von M ⊂ R, so kann eine größere Zahl als a nach
Definition des Infimums keine untere Schranke von M , und damit erst recht kein
Infimum von M sein. Ist a0 < a, so ist a0 zwar ebenfalls eine untere Schranke von
M , aber es gibt nun eine größere Zahl als a0 (nämlich a), die auch eine untere
Schranke von M ist, weswegen a0 kein Infimum von M ist. Analog argumentiert
man, um die Eindeutigkeit des Supremums einer Teilmenge von R zu zeigen.
Natürlich ist eine Teilmenge M ⊂ R, die ein Infimum besitzt, nach unten
beschränkt, und die Existenz eines Supremums impliziert die Beschränkung nach
14
KAPITEL 1. FOLGEN
oben. Später werden wir, unter Benutzung der Vollständigkeit von R, zeigen,
dass jede beschränkte Teilmenge von R Supremum und Infimum besitzt.
Man beachte, das das Infimum bzw. das Supremum einer Teilmenge M ⊂ R
nicht unbedingt in M liegen muss. Beispielsweise ist 0 das Infimum der Menge
{ n1 | n ∈ N}.
Definition 1.4.3. Es sei M ⊂ R eine Teilmenge und a ∈ M so, dass a ≤ x für
alle x ∈ M . Dann nennen wir a das Minimum von M . Analog nennen wir ein
b ∈ M , so dass x ≤ b für alle x ∈ M das Maximum von M .
Existiert das Maximum (bzw. Minimum) einer Teilmenge M ⊂ R, so ist
dieses gleichzeitig das Supremum (bzw. Infimum) von M .
Definition 1.4.4. Wir nennen eine Folge (an ) reeller Zahlen (nach oben/unten)
beschränkt, wenn die Menge {an | n ∈ N} die entsprechende Eigenschaft hat.
Lemma 1.3.8 besagt:
Lemma 1.4.5. Jede konvergente Folge reeller Zahlen ist beschränkt.
1.5
Metrische Räume
Dem Begriff der Konvergenz lässt sich in weitaus allgemeineren Situationen
als für Folgen in den reellen Zahlen Sinn verleihen. Der Begriff des metrischen
Raumes erlaubt Abstandsbetrachtungen in viel allgemeinerem Kontext:
Definition 1.5.1. Ein metrischer Raum ist eine Menge X, zusammen mit einer
Abstandsfunktion (auch Metrik genannt), d.h. einer Abbildung d : X × X →
R≥0 , die folgende Bedingungen erfüllt:
1. Für x, y ∈ X gilt genau dann d(x, y) = 0 wenn x = y
2. Es gilt d(x, y) = d(y, x) für alle x, y ∈ X
3. Es gilt die Dreiecksungleichung: für alle x, y, z ∈ X gilt d(x, z) ≤ d(x, y) +
d(y, z).
Beispiel 1.5.2.
1. Die reellen Zahlen R, zusammen mit der Abstandsfunktion d(x, y) := |x − y| bilden einen metrischen Raum.
2. Ist (X, d) ein metrischer Raum, und Y ⊂ X eine Teilmenge, so wird Y
mit der Abstandsfunktion d|Y ×Y : Y × Y → R≥0 zu einem metrischen
Raum. Wir nennen d|Y ×Y auch die induzierte Metrik auf Y .
3. Ist X eine beliebige Menge, so definiert
(
0 x=y
d(x, y) :=
1 x=
6 y.
eine Metrik auf X, die sogenannte diskrete Metrik.
1.5. METRISCHE RÄUME
15
4. Auf Rn , der Menge der n-Tupel reeller Zahlen, ist durch
d(x, y) := ||x − y||2 :=
n
X
(xi − yi )2
!1/2
i=1
für x = (x1 , . . . , xn ) und y = (y1 , . . . , yn ) ∈ Rn , eine Metrik definiert.
Man beachte, dass wir die Existenz der Wurzel einer reellen Zahl erst viel
später aus der Vollständigkeit von R folgern werden. Dass dies eine Metrik
ist, werden wir dann in Satz 1.11.11 beweisen.
5. Wir betrachten R2 und fixieren einen Punkt Paris ∈ R2 . Für x, y ∈ R2 sei
dann d0 (x, y) = ||x − y||2 , falls x, y und Paris auf einer Geraden liegen,
und d0 (x, y) = ||x − Paris||2 + ||y − Paris||2 , falls nicht.
In einer Übungsaufgabe werden wir sehen, dass dies wirklich eine Metrik
auf R2 definiert, die sogenannte Französische Eisenbahnmetrik. (Motivation: die kürzeste Verbindung zwischen zwei Orten in Frankreich führt
immer über Paris.)
6. Es seien (X, dX ) und (Y, dY ) metrische Räume. Dann definiert
d((x1 , x2 ), (y1 , y2 )) := d(x1 , y1 ) + d(x2 , y2 )
eine Metrik auf X ×Y . Wir nennen (X ×Y, d) das Produkt der metrischen
Räume X und Y .
Die in 1.3.2 gegebene Definition der Konvergenz einer Folge reeller Zahlen
lässt sich nun auf Folgen in einem metrischen Raum übertragen:
Definition 1.5.3. Es sei (X, d) ein metrischer Raum und (xn )n∈N eine Folge
in X.
1. Es sei x ∈ X. Wir sagen, dass die Folge (xn ) gegen x konvergiert, falls
gilt:
∀ ε > 0 ∃ n0 ∈ N ∀n ≥ n0 : d(x, xn ) < ε.
2. Falls x ∈ X existiert, so dass (xn ) gegen x konvergiert, so sagen wir, dass
die Folge (xn ) konvergiert.
3. Falls die Folge (xn ) nicht konvergiert, so sagen wir, dass sie divergiert.
Die in Lemma 1.3.5 bewiesene Aussage über die Eindeutigkeit des Grenzwerts einer konvergenten Folge gilt auch für Folgen in metrischen Räumen. Der
Beweis ist eine Übungsaufgabe.
Lemma 1.5.4. Es sei (X, d) ein metrischer Raum. Es seien (xn )n∈N eine Folge
in X, und x, y ∈ X, so dass (xn ) sowohl gegen x als auch gegen y konvergiert.
Dann gilt x = y.
Beispiel 1.5.5. Es sei d die diskrete Metrik auf einer Menge X. Dann ist eine
Folge (xn ) in X genau dann konvergent, wenn es ein n0 ∈ N gibt, ab dem die
Folge konstant ist.
16
KAPITEL 1. FOLGEN
Definition 1.5.6. Es sei X ein metrischer Raum, x0 ∈ X und ε > 0. Dann
heißt
Bε (x0 ) = {x ∈ X | d(x, x0 ) < ε}
der ε-Ball um x.
Definition 1.5.7. Es sei X ein metrischer Raum und A ⊂ X eine Teilmenge.
Wir nennen A beschränkt, wenn es ein C > 0 und ein x ∈ X gibt, so dass
A ⊂ BC (x). Eine Folge (an ) in X heißt beschränkt, wenn die Menge {an }
beschränkt ist.
Man beachte: in einem allgemeinen metrischen Raum ergibt es keinen Sinn,
von Beschränkung nach oben oder unten zu sprechen.
Lemma 1.5.8. Jede konvergente Folge in einem metrischen Raum ist beschränkt.
Beweis. Es sei (an ) eine konvergente Folge in einem metrischen Raum X, mit
limn→∞ an = a. Es gibt ein n0 ∈ N, so dass für alle n ≥ n0 gilt, dass d(a, an ) < 1.
Setzen wir C := max{d(a, a0 ), . . . , d(a, an0 −1 ), 1}, so gilt d(a, an ) ≤ C für alle
n ∈ N. Es folgt, dass {an } ⊂ BC+1 (a).
Definition 1.5.9. Es sei (X, d) ein metrischer Raum.
1. Eine Teilmenge U ⊂ X heißt offen in X, wenn für alle x ∈ U ein ε > 0
existiert, so dass Bε (x) ⊂ U .
2. Eine Teilmenge A ⊂ X heißt abgeschlossen in X, wenn X \ A offen in X
ist.
Lemma 1.5.10. Es sei (X, d) ein metrischer Raum, x ∈ X und ε > 0. Dann
ist Bε (x) offen in X.
Beweis. Es ist zu zeigen, dass für alle y ∈ Bε (x) ein δ > 0 existiert, so dass
Bδ (y) ⊂ Bε (x). Setzen wir δ = ε − d(x, y), so folgt für z ∈ Bδ (y) aus der
Dreiecksungleichung, dass d(x, z) ≤ d(x, y) + d(y, z) < d(x, y) + δ = ε.
Proposition 1.5.11. Es sei (X, d) ein metrischer Raum. Dann gilt:
1. ∅ und X sind offen in X.
2. Es seien S
Ui , i ∈ I, in X offene Mengen (I eine beliebige Indexmenge).
Dann ist i∈I Ui ebenfalls offen in X.
Tn
3. Es seien U1 , . . . , Un in X offene Mengen. Dann ist i=1 Ui ebenfalls offen
in X.
Beweis. Es ist offensichtlich, dass ∅ und X offen in X sind.
Für Teil 2. seien
S
Ui , i ∈ I, in XSoffene Mengen; wir möchten zeigen, dass i∈I Ui offen in X ist.
Dafür sei x ∈ i∈I Xi beliebig. Es gibt also ein j ∈ I, so dass
S x ∈ Xj . Da Xj
in X offen ist, gibt es also ein ε > 0, so dass Bε (x) ⊂ Xj ⊂ i∈I Xi . Dies zeigt
Teil 2.
Für T
Teil 3. seien endlich viele in X offene Mengen U1 , . . . , Un gegeben. Es
n
sei x ∈ i=1 Ui . Damit ist x in jeder der Mengen Ui enthalten, und es gibt also
Zahlen εi > 0, so dass Bεi (x) ⊂ Ui . Setzen wir ε = min{ε
Tn1 , . . . , εn }, so erhalten
wir für alle i, dass Bε (x) ⊂ Bεi (x) ⊂ Ui , also Bε (x) ⊂ i=1 Ui .
1.5. METRISCHE RÄUME
17
Beispiel 1.5.12.
1. Wir betrachten den metrischen Raum R mit dem Standardabstand. Für a, b ∈ R, a < b, ist das offene Intervall (a, b) := {x ∈ R |
a < x < b} offen in R. Um dies einzusehen, sei x ∈ (a, b) beliebig; setzen
wir dann ε := min{|x − a|, |x − b|}, so gilt Bε (x) = {y ∈ R | |y − x| <
min{|x − a|, |x − b|}} ⊂ (a, b). Genauso sind die linksseitig unendlichen
offenen Intervalle (−∞, b) := {x ∈ R | x < b} und die rechtsseitig unendlichen offen Intervalle (a, ∞) := {x ∈ R | a < x} offen in R.
2. Wir betrachten weiterhin R. Die abgeschlossenen Intervalle [a, b] := {x ∈
R | a ≤ x ≤ b}, wobei a, b ∈ R, a < b, sind abgeschlossen in R, denn das
Komplement R \ [a, b] = (−∞, a) ∪ (b, ∞) ist Vereinigung von in R offener
Mengen und damit in R offen. Dasselbe gilt für die linksseitig unendlichen
abgeschlossenen Intervalle (−∞, b] := {x ∈ R | x ≤ b} und die rechtsseitig
unendlichen abgeschlossenen Intervalle [a, ∞) := {x ∈ R | a ≤ b}.
3. Sind a, b ∈ R, a < b, so nennen wir (a, b] = {x ∈ R | a < x ≤ b} und
[a, b) = {x ∈ R | a ≤ x < b} halboffene Intervalle. Diese sind weder offen
noch abgeschlossen in R.
4. Die Begriffe Offenheit und Abgeschlossenheit hängen stark vom umgebenden Raum ab. Es sei X = (0, ∞) ⊂ R, versehen mit der durch die Standardmetrik induzierten Metrik. Dann ist (0, 1] zwar nicht in R abgeschlossen, aber in X, da X \ (0, 1] = (1, ∞) offen in X ist.
Lemma 1.5.13. Es sei X ein metrischer Raum und A ⊂ X eine Teilmenge.
Dann ist A genau dann abgeschlossen in X, wenn der Grenzwert jeder Folge in
A, die in X konvergiert, bereits in A liegt.
Beweis. Es sei A ⊂ X abgeschlossen, d.h. X \ A sei offen. Es sei (an ) nun eine
Folge in A, die in X konvergiert, d.h. limn→∞ an =: x ∈ X existiert. Falls
x ∈
/ A, so existiert, da X \ A offen ist, ein ε > 0, so dass Bε (x) ⊂ X \ A.
Das widerspricht aber der Tatsache, dass die Folgenglieder der Folge (an ) dem
Grenzwert x beliebig nahe kommen und darüber hinaus in A liegen.
Umgekehrt gelte nun, dass A ⊂ X die Eigenschaft hat, dass der Grenzwert
jeder Folge in A, die in X konvergiert, bereits in A liegt. Wir müssen zeigen,
dass X \ A offen ist. Wäre X \ A nicht offen, so gäbe es ein x ∈ X \ A, so dass
für alle n ∈ N gilt, dass B n1 (x) ∩ A 6= ∅. Wir können also ein xn ∈ B n1 (x) ∩ A
wählen. Die Folge (xn ) konvergiert dann nach Konstruktion in X gegen x, was
ein Widerspruch zur angenommenen Eigenschaft von A ist.
Definition 1.5.14. Es sei X eine Menge und (xn )n∈N eine Folge in X. Sind
n0 < n1 < n2 < · · · natürliche Zahlen, so nennen wir (xnk )k eine Teilfolge von
(xn ).
Man zeigt leicht per Induktion: sind n0 < n1 < n2 < · · · natürliche Zahlen,
so ist nk ≥ k für alle k.
Lemma 1.5.15. Es sei (X, d) ein metrischer Raum und (xn )n∈N eine konvergente Folge in X, mit limn→∞ xn = x. Dann konvergiert auch jede Teilfolge von
(xn ) gegen denselben Grenzwert x.
Beweis. Es sei (xnk )k eine Teilfolge der gegen x konvergenten Folge (xn ). Es
sei ε > 0 gegeben. Da (xn ) gegen x konvergiert, gibt es N ∈ N, so dass für alle
18
KAPITEL 1. FOLGEN
k ≥ N gilt, dass |x − xk | < ε. Für diese k gilt aber auch |x − xnk | < ε, da
nk ≥ k ≥ N .
Beispiel 1.5.16.
1. Es sei
(
an =
1
n
n
n gerade
n ungerade.
Die Teilfolge a2n ist eine Teilfolge der Nullfolge ( n1 )n∈N und damit ebenfalls eine Nullfolge. Die Teilfolge a2n+1 divergiert jedoch. Damit konvergiert (an ) selbst nicht.
2. Wir betrachten die Folge an := (−1)n + n1 . Wir sehen, dass die Teilfolge
1
1
gegen 1 konvergiert, die Teilfolge a2n+1 = −1 + 2n+1
aber
a2n = 1 + 2n
gegen −1. Damit ist (an ) selbst nicht konvergent.
Wir sehen, dass es passieren kann, dass lediglich Teilfolgen einer Folge gegen einen Grenzwert konvergieren, nicht die gesamte Folge. Das führt uns zu
folgendem Begriff:
Definition 1.5.17. Es sei (X, d) ein metrischer Raum und (xn )n∈N eine Folge
in X. Dann nennen wir x ∈ X einen Häufungspunkt der Folge (xn ), falls gilt:
∀ ε ∈ R, ε > 0 ∀ n ∈ N ∃ N ≥ n : d(x, xN ) < ε.
Es ist sinnvoll, diese Definition mit Definition 1.5.3 zu vergleichen: während
die Definition der Konvergenz verlangt, dass für jedes noch so kleine Intervall
um den Grenzwert gilt, dass alle bis auf endlich viele Folgenglieder in diesem
Intervall liegen, wird hier weniger verlangt: es muss lediglich beliebig große n
geben, so dass xn in diesem Intervall liegt. Genauer:
Lemma 1.5.18. Es sei (X, d) ein metrischer Raum, (xn )n∈N eine Folge in X,
und x ∈ X. Dann ist x genau dann ein Häufungspunkt von (xn ), wenn es eine
Teilfolge von (xn ) gibt, die gegen x konvergiert.
Beweis. Es sei x ein Häufungspunkt der Folge (xn ). Es sei n ∈ N beliebig.
Sind n0 , . . . , nk bereits gewählt, so existiert, da x ein Häufungspunkt ist, eine
1
natürliche Zahl nk+1 > nk , so dass d(x, xnk+1 ) < k+1
. Dann konvergiert die
Teilfolge (xnk )k gegen x: es sei ε > 0 beliebig. Dann existiert ein k ∈ N, so dass
1
1
1
k < ε. Für alle K ≥ k gilt dann d(x, xnK ) < K ≤ k < ε.
Umgekehrt sei (xnk )k eine konvergente Teilfolge der Folge (xn ). Es sei x ihr
Grenzwert. Wir behaupten, dass x ein Häufungspunkt von (xn ) ist. Es sei dafür
ε > 0 und n ∈ N beliebig vorgegeben. Da (xnk )k gegen x konvergiert, gibt es
ein k0 ∈ N, so dass d(x, xnk ) < ε für alle k ≥ k0 . Da wir k ≥ k0 so groß wählen
können, dass auch nk ≥ n, haben wir überprüft, dass x ein Häufungspunkt
ist.
Beispiel 1.5.19. Wir betrachten noch einmal Beispiel 1.5.16: die erste Folge
hat als einzigen Häufungspunkt 0, konvergiert aber nicht gegen 0; die zweite
Folge hat die beiden Häufungspunkte −1 und 1.
1.6. CAUCHY-FOLGEN
1.6
19
Cauchy-Folgen
Wir wissen, dass die Folge (1/n)n als Folge in R gegen 0 konvergiert. Wir können
diese Folge aber auch als Folge im metrischen Raum R \ {0} betrachten; dort
konvergiert sie nicht. Dies liegt aber nun nicht in der Folge (1/n)n begründet,
sondern lediglich in der Tatsache, dass 0 kein Element des Raumes R \ {0}
ist. Auch im Raum R \ {0} hat die Folge (1/n)n noch die Eigenschaft, dass
die Folgenglieder mit wachsendem Index immer näher rücken“, im Sinne der
”
folgenden Definition:
Definition 1.6.1. Es sei (X, d) ein metrischer Raum. Dann heißt eine Folge
(xn )n∈N in X eine Cauchy-Folge, falls gilt:
∀ ε ∈ R, ε > 0 ∃ n0 ∈ N ∀n, m ∈ N, n, m ≥ n0 : d(xn , xm ) < ε.
Bemerkung 1.6.2. In der Grundlagenvorlesung des letzten Semesters wurden zwei Typen von Cauchy-Folgen definiert: Cauchy-Folgen in R und CauchyFolgen in Q. Betrachten wir R als metrischen Raum, mit der Standardmetrik
d(x, y) = |x − y|, so ist die Definition einer Cauchy-Folge in R ein Spezialfall
unserer jetzigen Definition. Cauchy-Folgen in Q sind aus zwei Gründen etwas
subtiler. Der erste Grund ist der Folgende: in der Grundlagenvorlesung wurden
die reellen Zahlen aus den rationalen Zahlen mit Hilfe des Begriffs der CauchyFolge konstruiert – deshalb durften die reellen Zahlen in der Definition noch
nicht verwendet werden, und ε musste als rationale Zahl angenommen werden.
Da es aber a posteriori zu jeder reellen Zahl ε > 0 immer auch eine rationale
Zahl ε0 mit 0 < ε0 < ε gibt, macht dies keinen Unterschied. Um diese Subtilität zu umgehen, könnten wir die Bedingung, eine Cauchy-Folge zu sein, auch
folgendermaßen formulieren:
∀ N ∈ N ∃ n0 ∈ N ∀n, m ∈ N, n, m ≥ n0 : d(xn , xm ) <
1
.
N
(1.6.1)
Der zweite Punkt ist der, dass wir die reellen Zahlen auch bereits in der Definition eines metrischen Raumes verwendet haben: die Abstandsfunktion ist eine Abbildung nach R≥0 . Wollen wir die reellen Zahlen nun erst konstruieren, so haben
wir den Begriff eines metrischen Raumes noch nicht zur Verfügung. Wir können
aber, auch wenn wir den Standpunkt einnehmen, dass wir die reellen Zahlen noch
nicht kennen, trotzdem auf Q die Abbildung d : Q × Q → Q≥0 ; (x, y) 7→ |x − y|
betrachten, und dann auf Q Cauchy-Folgen über die Bedingung (1.6.1) definieren, oder äquivalent über
∀ ε ∈ Q, ε > 0 ∃ n0 ∈ N ∀n, m ∈ N, n, m ≥ n0 : d(xn , xm ) < ε.
Dies ist genau die Definition aus dem letzten Semester; der einzige Unterschied
ist der, dass wir in dieser Situation nicht von Q als metrischem Raum sprechen
dürfen.
Es gilt:
Lemma 1.6.3. Es sei (X, d) ein metrischer Raum. Dann ist jede in X konvergente Folge eine Cauchy-Folge.
20
KAPITEL 1. FOLGEN
Beweis. Es sei (xn ) eine in X konvergente Folge, mit limn→∞ xn = x. Es sei
ε > 0 beliebig. Dann existiert ein n0 ∈ N, so dass für alle n ≥ n0 gilt, dass
d(x, xn ) < 2ε . Es folgt für alle n, m ≥ n0 :
d(xn , xm ) ≤ d(xn , x) + d(x, xm ) <
ε ε
+ = ε;
2 2
d.h. (xn ) ist eine Cauchy-Folge.
Die Umkehrung gilt nicht.
Beispiel 1.6.4. Es sei X = R \ {0} ⊂ R. Dann ist die Folge an =
Cauchy-Folge in X, die aber in X nicht konvergiert.
1
n
eine
Um ein interessanteres Beispiel anzugeben, beweisen wir eine Aussage für
reelle Zahlenfolgen, für die wir folgende Definition brauchen:
Definition 1.6.5. Es sei (an ) eine Folge reeller Zahlen. Dann nennen wir (an )
1. monoton wachsend, wenn an+1 ≥ an für alle n ∈ N.
2. streng monoton wachsend, wenn an+1 > an für alle n ∈ N.
3. monoton fallend, wenn an+1 ≤ an für alle n ∈ N.
4. streng monoton fallend, wenn an+1 < an für alle n ∈ N.
Ist (an ) monoton wachsend oder monoton fallend, so sagen wir, dass (an ) monoton ist. Ist (an ) streng monoton wachsend oder streng monoton fallend, so
sagen wir, dass (an ) streng monoton ist.
Satz 1.6.6. Es sei (an ) eine beschränkte Folge reeller Zahlen, die zusätzlich entweder monoton wachsend oder monoton fallend ist. Dann ist (an ) eine CauchyFolge.
Beweis. Wir betrachten nur den Fall, dass (an ) monoton wachsend ist, und nehmen an, dass (an ) keine Cauchy-Folge ist. Es gibt also ein ε > 0, so dass für
alle k0 ∈ N natürliche Zahlen k, l ≥ n0 existieren mit |ak − al | ≥ ε. Etwas informell: beliebig spät in der Folge gibt es Folgenglieder, die mindestens Abstand ε
zueinander haben.
Wir konstruieren nun eine unbeschränkte Teilfolge von (an ), im Widerspruch
zur Annahme, dass (an ) beschränkt ist. Wir starten mit zwei Folgengliedern an0
und an1 mit n0 < n1 und an1 − an0 ≥ ε. Nun wissen wir, dass es nach n1 wieder
zwei solche Folgenglieder gibt: es gibt n2 und n3 , so dass n1 < n2 < n3 und
an3 − an2 ≥ ε. Wir setzen diese Konstruktion fort und erhalten eine Teilfolge
(ank )k der monoton wachsenden Folge (an ), so dass an2l+1 − an2l ≥ ε für alle l.
Induktiv folgt aus der Monotonie: an2l+1 − an0 ≥ (l + 1) · ε, d.h. diese Teilfolge
kann nicht beschränkt sein.
Beispiel 1.6.7. Es sei a eine positive rationale Zahl. Wir möchten
explizit
√
eine Folge √
in Q definieren, die die Eigenschaft hat, in R gegen a zu konvergieren. Ist a selbst keine rationale Zahl (z.B. für a = 2), so haben wir damit
eine Cauchy-Folge in Q konstruiert, die in Q nicht konvergiert. (Man beachte,
dass wir strenggenommen die Existenz der Quadratwurzel einer positiven reellen
1.7. VERVOLLSTÄNDIGUNG
21
Zahl noch nicht bewiesen haben – wir werden erst noch sehen, wie sie aus der
Vollständigkeit von R folgt.)
Wir betrachten folgende rekursiv definierte Folge: x0 sei eine beliebige positive rationale Zahl. Ist xn bereits definiert, so setzen wir
1
a
xn+1 =
xn +
.
2
xn
Die Motivation für diese Definition ist die folgende: ist x2n ≥ a, d.h. xn ist
2
√
2
eine obere Abschätzung von a, so ist xan
= xa2 ≤ a, d.h. xan ist eine unn
√
tere Abschätzung von a. Wir definieren xn+1 als arithmetisches Mittel dieser
Werte.
Wir zeigen, dass x2n ≥ a für alle n ≥ 1:
2
2
1
1
a
a
2
−a=
≥ 0.
xn+1 − a =
xn +
xn −
4
xn
4
xn
Daraus folgt aber auch, dass die Folge ab n = 1 monoton fallend ist, denn
1
a
1
xn − xn+1 =
xn −
=
(x2 − a) ≥ 0.
2
xn
2xn n
Da die Folge also monoton und beschränkt ist, folgt aus Satz 1.6.6, dass sie eine
Cauchy-Folge (in Q) ist.
Nehmen wir nun an, die Folge (xn ) würde konvergieren, mit Grenzwert x,
so würde dieser die folgende Gleichung erfüllen:
a
1
a
1
x+
,
(1.6.2)
x = lim xn+1 = lim
xn +
=
n→∞
n→∞ 2
xn
2
x
also x2 = a. Da es keine rationale Zahl x mit x2 = 2 gibt, stellt dies also
z.B. für a = 2 einen Widerspruch dar; für a = 2 kann die Folge (in Q) nicht
konvergieren.
Später werden wir aber sehen, dass diese Folge in R durchaus konvergiert!
Dann kann man diese Folge verwenden, um die Existenz von Quadratwurzeln
in R zu zeigen.
Definition 1.6.8. Ein metrischer Raum (X, d) heißt vollständig, wenn jede
Cauchy-Folge in X konvergiert.
Der metrische Raum Q ist also nicht vollständig.
1.7
Vervollständigung
In diesem Abschnitt kommen wir auf die Vollständigkeit der reellen Zahlen
zurück – dazu betrachten wir die Konstruktion der reellen Zahlen aus den rationalen Zahlen; gleichzeitig behandeln wir aber auch eine viel allgemeinere Konstruktion der Vervollständigung.
Es sei (X, d) ein metrischer Raum und
C = {(xn )n∈N | (xn ) ist eine Cauchy-Folge}
Auf C definieren wir wie folgt eine Relation: Es gelte für (xn ), (yn ) ∈ C:
(xn ) ∼ (yn ) :⇐⇒ (d(xn , yn ))n∈N ist eine Nullfolge.
(1.7.1)
22
KAPITEL 1. FOLGEN
Lemma 1.7.1. Die Relation ∼ ist eine Äquivalenzrelation.
Beweis. Die Reflexivität ist offensichtlich, da d(x, x) = 0 für alle x ∈ X. Die
Symmetrie ist auch klar, da d symmetrisch ist. Zur Transitivität: es seien (xn ),
(yn ) und (zn ) Cauchy-Folgen, so dass (d(xn , yn ))n und (d(yn , zn ))n Nullfolgen
sind. Da 0 ≤ d(xn , zn ) ≤ d(xn , yn ) + d(yn , zn ) → 0 für n → ∞, folgt aus Satz
1.3.13, dass auch (d(xn , zn ))n eine Nullfolge ist.
Wir setzen
X := C/∼ .
(1.7.2)
Wir haben eine natürliche Abbildung X → X, die einem Element x ∈ X die
konstante Folge x zuordnet. Diese Abbildung ist injektiv, da für x, y ∈ X mit
x 6= y gilt, dass d(x, y) > 0.
Die Idee hinter dieser Konstruktion ist die folgende: gibt es in einem metrischen Raum (X, d) Cauchy-Folgen, die nicht konvergieren, so fügen wir künstlich
Elemente zu X hinzu, die als Grenzwerte dieser Cauchy-Folgen fungieren. Formal betrachten wir die Cauchy-Folgen selbst (bzw. Äquivalenzklassen dieser) als
Elemente des Raumes X: ist (xn ) eine Cauchy-Folge in X, so wird (xn ) sowohl
eine Cauchy-Folge in X definieren (für jedes n entspricht xn der Äquivalenzklasse der konstanten Folge xn ) als auch ein Element von X (als Äquivalenzklasse
der Folge (xn ) selbst). Um in X von Cauchy-Folgen sprechen zu können, müssen
wir auf X eine Abstandsfunktion definieren, und dann zeigen, dass der Raum X,
den wir als Vervollständigung von X bezeichnen, wirklich vollständig ist (dies
wird nicht offensichtlich sein, da es ja in X weitere Cauchy-Folgen geben könnte,
die nicht von Cauchy-Folgen in X induziert sind). Vorher betrachten wir aber
noch einmal den Fall von Q genauer, den einige von Ihnen bereits im letzten
Semester kennengelernt haben.
Die reellen Zahlen werden aus Q folgendermaßen konstruiert:
R = {(xn )n∈N | (xn ) ist eine Cauchy-Folge in Q}/∼ ,
wobei die Äquivalenzrelation ∼ wie in (1.7.1) definiert ist.
Bemerkung 1.7.2. Unsere Formulierung ist ein wenig anders als in der Grundlagenvorlesung des letzten Semesters, um den Begriff des Vektorraumes zu vermeiden, den die Sommersemesteranfänger noch nicht kennengelernt haben. Die
Idee ist dieselbe.
Bemerkung 1.7.3. In der Grundlagenvorlesung dieses Semesters werden die
reellen Zahlen anders konstruiert, mittels sogenannter Dedekindscher Schnitte.
Eine weitere gebräuchliche Konstruktion verwendet das Prinzip der Intervallschachtelung. Welche Konstruktion man verwendet ist irrelevant, denn es gilt:
sind K und L zwei vollständige, archimedisch geordnete Körper, so existiert eine Abbildung ϕ : K → L, die die gesamte Struktur von K und L respektiert,
d.h. die ϕ(1) = 1 und
ϕ(a + b) = ϕ(a) + ϕ(b),
ϕ(a · b) = ϕ(a) · ϕ(b)
für alle a, b ∈ K erfüllt (d.h. die Körperstruktur wird erhalten), sowie ϕ(a) ≤
ϕ(b), wann immer a ≤ b für zwei Elemente a, b ∈ K (d.h. die Ordnungsrelation
wird erhalten). Man sagt: je zwei vollständige, archimedisch geordnete Körper
sind isomorph.
1.7. VERVOLLSTÄNDIGUNG
23
Haben wir nun also R als Menge definiert, so können wir Addition und
Multiplikation von Q übertragen: für Cauchy-Folgen (xn ), (yn ) in Q definiert
man [(xn )] + [(yn )] = [(xn + yn )] sowie [(xn )] · [(yn )] = [(xn · yn )], zeigt, dass
diese Abbildungen wohldefiniert sind, und R zu einem Körper machen. Weiterhin macht man R zu einem archimedisch geordneten Körper, indem man für
Cauchy-Folgen (xn ), (yn ) in Q definiert: es gelte genau dann [(xn )] ≤ [(yn )]
wenn entweder [(xn )] = [(yn )] oder es ein ε > 0, ε ∈ Q, sowie ein n0 ∈ N gibt,
so dass xn + ε < yn für alle n ≥ n0 . All dies wurde in der Grundvorlesung
behandelt.
Mit Hilfe dieser Ordnungsrelation erhalten wir
( auch wie üblich die Betrwirkx
x>0
. Damit ergibt auch
lichagsfunktion |·| : R → R: für x ∈ R ist |x| =
−x x ≤ 0
der Begriff der Cauchy-Folge in R Sinn, und wir können uns der Frage zuwenden, ob R vollständig ist, d.h. ob alle Cauchy-Folgen in R konvergieren. Diese
Aussage wurde in der Grundlagenvorlesung zwar erwähnt, aber nicht bewiesen.
Dies holen wir nun nach, aber beweisen die Aussage direkt für die allgemeine
Vervollständigung eines metrischen Raumes mit.
Dafür definieren wir auf X wie in (1.7.2) eine Abstandsfunktion d: für zwei
Cauchy-Folgen (xn ) und (yn ) im metrischen Raum X beobachten wir, dass nach
der in den Übungen (für R; der Beweis für allgemeine metrische Räume geht
analog) gezeigten Vierecksungleichung gilt, dass
|d(xn , yn ) − d(xm , ym )| ≤ d(xn , xm ) + d(yn , ym ),
und dass deswegen (d(xn , yn )) auch eine Cauchy-Folge (in R) darstellt. Da wir
zeigen werden, dass R vollständig ist, existiert also
d([(xn )], [(yn )]) := lim d(xn , yn ).
n→∞
Lemma 1.7.4. (X, d) ist ein metrischer Raum.
Beweis. Nach Definition nimmt d nur nichtnegative Werte an. Seien (xn ) und
(yn ) Cauchy-Folgen, so dass d([(xn )], [(yn )]) = 0, d.h. limn→∞ d(xn , yn ) = 0.
Nach Definition sind die Cauchy-Folgen (xn ) und (yn ) damit äquivalent, d.h. es
gilt [(xn )] = [(yn )].
Die Symmetrie ist offensichtlich: es gilt d([(xn )], [(yn )]) = limn→∞ d(xn , yn ) =
limn→∞ d(yn , xn ) = d([(yn )], [(xn )]) für alle Cauchy-Folgen (xn ) und (yn ).
Zur Dreiecksungleichung: es seien (xn ), (yn ) und (zn ) Cauchy-Folgen in X.
Dann gilt wegen der Dreiecksungleichung in X, dass für alle n
d(xn , zn ) ≤ d(xn , yn ) + d(yn , zn ).
Die drei reellen Folgen (d(xn , yn ))n , (d(xn , yn ))n und (d(yn , zn ))n sind konvergent. Damit folgt
d([(xn )], [(zn )]) = lim d(xn , zn )
n→∞
≤ lim d(xn , yn ) + d(yn , zn )
n→∞
= lim d(xn , yn ) + lim d(yn , zn )
n→∞
n→∞
= d([(xn )], [(yn )]) + d([(yn )], [(zn )]).
24
KAPITEL 1. FOLGEN
Definition 1.7.5. Wir nennen (X, d) die Vervollständigung von X.
Direkt aus der Definition der Abstandsfunktion folgt, dass die natürliche
Inklusion X → X abstandserhaltend ist, d.h. es gilt für alle x, y ∈ X, dass
d(x, y) = d(x, y), wobei wir auf der rechten Seite x und y als die Äquivalenzklassen der entspechenden konstanten Folgen betrachten.
Lemma 1.7.6. Es sei (xn ) eine Cauchy-Folge in X. Wir betrachten (xn ) als
Folge in X, d.h. fassen jedes xn als konstante Folge auf. Dann konvergiert (xn )
in X gegen das Element [(xn )] ∈ X.
Beweis. Zu zeigen ist: für alle ε > 0 gibt es ein n0 ∈ N, so dass für alle m ≥ m0
gilt, dass limn→∞ d(xn , xm ) = d([(xn )n ], xm ) < ε. Da (xn ) aber eine CauchyFolge ist, gibt es ein n0 ∈ N, so dass für alle n, m ≥ n0 gilt, dass d(xn , xm ) < 2ε .
Im Grenzwert n → ∞ gilt dann immer noch die Ungleichung < ε.
Dieselbe Aussage gilt auch für Q und R, mit demselben Beweis. Das Lemma
impliziert, dass X dicht in X ist (und Q dicht in R): für alle ε > 0 und alle a ∈ X
gibt es ein x ∈ X, so dass d(x, a) < ε (wobei wir x vermöge der natürlichen
Inklusion X → X als Element von X auffassen).
Nun beweisen wir die folgenden beiden Sätze gleichzeitig:
Satz 1.7.7. R ist vollständig.
Satz 1.7.8. Die Vervollständigung X eines metrischen Raumes X ist vollständig.
Beweis. Um die Notation einheitlich zu machen, schreiben wir im Beweis des
ersten Satzes auch X = Q und X = R. In Q setzen wir auch d(x, y) = |x − y|,
und in R schreiben wir d(x, y) = |x − y|.
Es sei (an ) eine Cauchy-Folge in X. Wie wir oben gezeigt haben, existiert
für jedes n ∈ N ein xn ∈ X ⊂ X mit d(an , xn ) < n1 . Wir behaupten zunächst,
dass (xn ) eine Cauchy-Folge in X darstellt: es sei ε > 0 beliebig vorgeben. Da
(an ) eine Cauchy-Folge ist, gibt es n0 ∈ N, so dass für alle n, m ≥ n0 gilt, dass
d(an , am ) < 3ε . Dann gilt für alle natürlichen Zahlen n, m ≥ max{n0 , 3ε }, dass
d(xn , xm ) = d(xn , xm ) ≤ d(xn , an ) + d(an , am ) + d(am , xm ) < ε.
| {z } | {z } | {z }
1
<n
≤ 3ε
< 3ε
< 3ε
Damit ist (xn ) eine Cauchy-Folge in X. Nach Lemma 1.7.6 konvergiert diese
Folge in X, mit Grenzwert [(xn )].
Wir behaupten nun, dass auch die ursprüngliche Folge (an ) gegen denselben
Grenzwert konvergiert. Es sei wieder ε > 0 vorgegeben. Dann existiert ein m0 ∈
N, so dass für alle m ≥ m0 gilt, dass d([(xn )], xm ) < 2ε . Für alle m ≥ max{m0 , 2ε }
gilt dann
d([(xn )], am ) ≤ d([(xn )], xm ) + d(xm , am ) < ε.
|
{z
} | {z }
< 2ε
Dies zeigt die Behauptung.
1
<n
≤ 2ε
1.8. FOLGERUNGEN AUS DER VOLLSTÄNDIGKEIT VON R
1.8
1.8.1
25
Folgerungen aus der Vollständigkeit von R
Existenz von Supremum und Infimum
Satz 1.8.1. Es sei (an ) eine beschränkte, monoton wachsende Folge reeller
Zahlen. Dann ist (an ) konvergent, und es gilt, dass limn→∞ an das Supremum
der Menge {an | n ∈ N} ist.
Ist (an ) beschränkt und monoton fallend, dann konvergiert (an ) ebenfalls,
und es gilt, dass limn→∞ an das Infimum der Menge {an | n ∈ N} ist.
Beweis. Wir zeigen nur die erste Aussage, die zweite zeigt man analog. In Satz
1.6.6 haben wir gesehen, dass eine monoton wachsende, beschränkte Folge reeller
Zahlen eine Cauchy-Folge ist. Da R vollständig ist, ist (an ) also konvergent.
Wir zeigen, dass der Grenzwert a := limn→∞ an gleichzeitig das Supremum
der Folge (an ) darstellt. Gäbe es ein m ∈ N, so dass am > a, so gäbe es ein ε > 0,
so dass am > a + ε. Da (an ) monoton wachsend ist, würde diese Ungleichung
auch für alle k > m gelten, was einen Widerspruch zur Konvergenz der Folge
gegen a darstellen würde. Damit ist a eine obere Schranke der Folge (an ). Eine
kleinere obere Schranke der Folge (an ) als a kann es aber nicht geben: für alle
b < a gibt es, da (an ) gegen a konvergiert, ein n, so dass an > b.
Satz 1.8.2. Jede nichtleere, nach unten beschränkte Teilmenge M ⊂ R besitzt
ein Infimum. Jede nichtleere, nach oben beschränkte Teilmenge M ⊂ R besitzt
ein Supremum.
Beweis. Wir zeigen nur die erste Aussage; die zweite beweist man analog.
Es sei M ⊂ R eine nach unten beschränkte Menge. Hat M ein Minimum, so
ist dieses das Infimum von M , und sind wir fertig. Wir nehmen nun an, dass M
kein Minimum besitzt.
Wir konstruieren nun eine monoton fallende Folge (xn ) von Elementen aus
M , die die Eigenschaft hat, dass ihr Grenzwert x eine untere Schranke von M
ist. Dieser Grenzwert x ist damit notwendigerweise das Infimum von M : gäbe es
nämlich eine größere untere Schranke von M als x, so könnte x nicht Grenzwert
von Elementen aus M sein.
Wir konstruieren die Folge (xn ) parallel zu einer weiteren, monoton wachsenden, Folge (an ), so dass jedes an eine untere Schranke von M ist, und an < xn für
alle n. Es sei x0 ∈ M beliebig, und a0 eine beliebige untere Schranke von M . Da
M nach Annahme kein Minimum besitzt, gilt a0 < x0 . Es seien nun a0 , . . . , an
n
sowie x0 , . . . , xn bereits konstruiert. Wir betrachten nun das Element an +x
,
2
das arithmetische Mittel von an und xn . Falls dieses eine untere Schranke von
n
M ist, so setzen wir an+1 := an +x
> an und xn+1 := xn . Diese beiden Zahlen
2
n
erfüllen wieder die verlangten Eigenschaften. Ist an +x
keine untere Schranke
2
n
von M , so sei xn+1 ein beliebiges Element aus M , das kleiner ist als an +x
, und
2
an+1 := an . Wieder erfüllen beide Zahlen die gesuchten Eigenschaften.
Nach Konstruktion sind beide Folgen beschränkt und monoton (die eine
fallend, die andere wachsend) und damit, da R vollständig ist, konvergent. Weiterhin gilt, dass |xn − an | ≤ 12 |xn−1 − an−1 | ≤ · · · ≤ 21n |x0 − a0 | → 0 für n → ∞.
Damit sind die Grenzwerte dieser beiden Folgen identisch. Da an für alle n eine
untere Schranke von M ist, ist aber auch limn→∞ an eine untere Schranke von
M.
26
KAPITEL 1. FOLGEN
Definition 1.8.3. Für eine nach unten beschränkte Teilmenge M ⊂ R bezeichnen wir das Infimum von M mit inf M ; ist M nach oben beschränkt, so
bezeichnen wir das Supremum von M mit sup M .
Der obige Beweis zeigt: für eine nichtleere, nach unten bzw. oben beschränkte
Teilmenge M ⊂ R existiert eine Folge von Elementen von M , die gegen inf M
bzw. sup M konvergiert.
Definition 1.8.4. Ist (an ) eine nach unten beschränkte Folge, so nennen wir
inf{an | n ∈ N} auch das Infimum der Folge (an ), und bezeichnen es mit
inf n∈N an . Analog nennen wir, sofern (an ) nach oben beschränkt ist, sup{an |
n ∈ N} das Supremum der Folge (an ), und bezeichnen es mit supn∈N an .
1.8.2
Existenz k-ter Wurzeln
Satz 1.8.5. Es sei x ≥ 0 eine reelle Zahl und k ∈ N, k ≥ 1. Dann existiert eine
eindeutige nichtnegative reelle Zahl y, so dass y k = x.
Beweis. Wir zeigen zunächst die Eindeutigkeit: angenommen, es gäbe y, y 0 ≥ 0,
so dass y k = y 0k = x. Dann gilt
0 = y k − y 0k = (y k−1 + y k−2 y 0 + · · · + yy 0k−2 + y 0k−1 )(y − y 0 ).
Einer der beiden Faktoren muss also verschwinden. Der erste ist aber eine Summe nichtnegativer reeller Zahlen, und kann damit nur verschwinden, wenn alle
Summanden einzeln gleich Null sind; ist das der Fall, so gilt bereits y k−1 =
y 0k−1 = 0, was nur sein kann, wenn y = y 0 = 0. Andernfalls verschwindet der
zweite Faktor, was ebenfalls bedeutet, dass y = y 0 .
Für die Existenz definieren wir M := {z ∈ R | z k ≤ x}. Da 0 ∈ M , ist M
nicht leer. Weiterhin ist M nach oben beschränkt, da für alle z ∈ M gilt, dass
z k ≤ x < x + 1 ≤ (x + 1)k (Potenzen einer Zahl ≥ 1 sind mindestens so groß wie
diese Zahl) und damit z < x + 1 (wäre z ≥ x + 1, so wäre auch z k ≥ (x + 1)k ).
Damit existiert nach Satz 1.8.2 das Supremum y := sup M von M .
Wir behaupten, dass y die Gleichung y k = x erfüllt. Da es eine Folge von
Elementen aus M gibt, die gegen y = sup M konvergiert, erfüllt y auf jeden Fall
die Gleichung y k ≤ x. Nehmen wir nun an, dass y k < x gilt, dann behaupten
wir, dass es ein ε > 0 gibt, so dass auch (y + ε)k ≤ x gilt, und damit auch
y + ε ∈ M , was ein Widerspruch dazu ist, dass y = sup M . Auf jeden Fall
werden wir ε ≤ 1 wählen, und berechnen mit Hilfe des binomischen Lehrsatzes
aus der Grundlagenvorlesung:
!
k k X
X
k i k−i
k i−1 k−i
k
k
k
(y + ε) = y +
εy
=y +ε·
ε y
i
i
i=1
i=1
!
k X
k k−i
k
≤y +ε·
y
i
i=1
|
{z
}
=:C
= y k + ε · C,
wobei wir betonen, dass C eine von ε unabhängige Zahl ist. Wählen wir nun
k
C·(x−y k )
k
k
k
ε = min{1, x−y
= y k +x−y k =
C }, dann folgt (y+ε) ≤ y +ε·C ≤ y +
C
x.
1.9. MEHR BEISPIELE VON GRENZWERTEN
27
Definition 1.8.6. Für x ≥ 0 und k ∈ N, k ≥ 1, nennen wir die eindeutige
nichtnegative
reelle Zahl y mit y k = x die k-te Wurzel von x, und bezeichnen
√
k
sie mit x oder auch x1/k .
√
√
Für k = 2 schreiben wir auch einfach x anstatt 2 x.
Bemerkung 1.8.7. Die Existenz von Wurzeln lässt sich auch anders zeigen,
aber immer unter Verwendung der Vollständigkeit von R. Wir erinnern an die
rekursiv definierte Cauchy-Folge rationaler Zahlen (xn ) aus Beispiel 1.6.7. Da
R vollständig ist, wissen wir nun, dass sie in R konvergiert, und mit demselben
Argument wie√dort sehen wir, dass der Grenzwert x die Gleichung x2 = a erfüllt.
Wir können a also als Grenzwert der Folge (xn ) definieren.
Die k-te Wurzel ist streng monoton: ist 0 ≤ x < y und k ∈ N, k ≥ 1, so
gilt auch x1/k < y 1/k (denn wäre x1/k ≥ y 1/k , so würde auch x = (x1/k )k ≥
(y 1/k )k = y gelten).
Wir können nun auch Potenzen nichtnegativer reeller Zahlen mit beliebigen
rationalen Exponenten definieren: für x ≥ 0 und p/q ∈ Q, wobei q ≥ 1 und p ∈
Z, setzen wir xp/q = (x1/q )p , was identisch ist zu (xp )1/q . Es gilt xa+b = xa · xb
für x ≥ 0 und a, b ∈ Q.
1.8.3
Der Satz von Bolzano-Weierstraß
Satz 1.8.8 (Satz von Bolzano-Weierstraß). Jede beschränkte Folge reeller Zahlen besitzt eine konvergente Teilfolge (und damit einen Häufungspunkt).
Beweis. Es sei (an ) eine beschränkte Folge reeller Zahlen. Wir definieren induktiv eine monoton wachsende Folge (bk ), eine monoton fallende Folge (ck ), und
eine Teilfolge (ank ) von (an ), so dass bk ≤ ank ≤ ck für alle k, und so, dass
limk→∞ bk = limk→∞ ck .
Es sei b0 eine untere Schranke, c0 eine obere Schranke dieser Folge, und n0 :=
0. Sind bk , ck und nk bereits definiert, so gehen wir wie folgt vor: wir betrachten
bk +ck
k
unendlich viele
das arithmetische Mittel bk +c
2 . Liegen zwischen bk und
2
k
Folgenglieder der Folge (an ), so setzen wir bk+1 := bk , ck+1 := bk +c
und
2
nk+1 > nk sei eine natürliche Zahl, so dass bk+1 ≤ ank+1 ≤ ck+1 (diese existiert,
da es ja unendlich viele Folgenglieder der Folge (an ) in diesem Intervall gibt,
also insbesondere eines später als ank ). Andernfalls muss es unendlich viele
k
k
und ck geben; wir setzen bk+1 := bk +c
Folgenglieder zwischen bk +c
2
2 , ck+1 := ck
und nk+1 > nk sei so, dass bk+1 ≤ ank+1 ≤ ck+1 .
Nun argumentieren wir ähnlich wie im Beweis von Satz 1.8.2: die Folgen (bk )
und (ck ) sind beschränkt und monoton (eine wachsend, eine fallend), und damit
in R konvergent. Da sich der Abstand ck − bk in jedem Schritt halbiert, müssen
die Grenzwerte identisch sein. Insbesondere folgt nach Satz 1.3.13, dass auch
die Folge (ank ) konvergiert.
1.9
Mehr Beispiele von Grenzwerten
Nun können wir einige weitere konvergente Folgen und ihre Grenzwerte betrachten:
√
1. Es sei p ∈ N. Dann ist die Folge (1/ p n) eine Nullfolge: Es sei ε > 0
beliebig. Dann ist auch εp > 0, und es gibt daher, da ( n1 ) eine Nullfolge
28
KAPITEL 1. FOLGEN
ist, ein n0 ∈ N, so dass für alle n ≥ n0 gilt, dass | n1 | = n1 < εp . Da x 7→
1
streng monoton wachsend ist, folgt, dass √
p n < ε für all diese n.
√
p
x
√
2. Es gilt limn→∞ n n = 1: Es√sei ε > 0 beliebig. Wir müssen zeigen, dass ein
n0 ∈ N existiert, so√dass | n n − 1| < ε für alle n ≥ n0 . Dafür beobachten
√
wir zunächst, dass √n n − 1 ≥ 0 für alle n. (Andernfalls, d.h. wäre n n < 1,
n
so wäre auch n = n n < 1.)
Wir berechnen mit Hilfe des binomischen Lehrsatzes
√
n = (1 + ( n n − 1))n
n √
n √
n √
=1+
( n n − 1) +
( n n − 1)2 + · · · +
( n n − 1)n
1
2
n
n √
n · (n − 1) √
≥1+
( n n − 1)2 = 1 +
( n n − 1)2
2
2
wobei wir im vorletzten Schritt die restlichen Summanden weggelassen
haben (die nach unserer Vorüberlegung sämtlich positiv sind).
√
2(n−1)
Es folgt ( n n − 1)2 ≤ n·(n−1)
= n2 , und damit
√
n
| n − 1| =
√
n
√
2
n−1≤ √ .
n
(1.9.1)
√
Nach dem ersten Beispiel handelt es sich bei ( √n2 ) um eine Nullfolge. Aus
√
(1.9.1) und Satz 1.3.13 folgt, dass auch ( n n − 1) eine Nullfolge ist.
√
3. Wir betrachten die Folge an := n c, für eine reelle Zahl
√ c > 0, und behaupten, dass limn→∞ = 1. Für n√> c gilt, dass an ≤ n n, und wir haben
im letzten Beispiel gezeigt, dass n n gegen 1 konvergiert. Für n > 1c gilt,
q
1
dass n1 < c, und also an ≥ n n1 = √
n n ; auch diese Folge konvergiert gegen
1. Nach Satz 1.3.13 folgt, dass auch (an ) konvergent ist, mit limn→∞ = 1.
√
√
4. Wir
betrachten die Folge an := n 17n + 19n . Es gilt
an ≤ n 19n + 19n =
√
√
n
2 · 19 → 19 für n → ∞. Andererseits gilt an ≥ n 19n = 19. Nach dem
Sandwichsatz 1.3.13 folgt, dass (an ) konvergent ist, mit Grenzwert 19.
5. Wir betrachten die Folge an := (1 + n1 )n , und behaupten, dass sie konvergent ist. Dafür zeigen wir, dass sie beschränkt ist und monoton wächst;
aus Satz 1.8.1 folgt dann die Konvergenz.
Die Beschränkung nach oben folgt mit dem binomischen Lehrsatz:
n n
X
X
1 n
n 1
n · (n − 1) · · · · · (n − k + 1) 1
(1 + ) = 1 +
=
1
+
· k
k
n
k n
1 · ··· · k
n
k=1
k=1
n
n
n−1
X
X
X 1
nk
1
1
≤1+
·
=
1
+
=
1
+
2k−1 nk
2k−1
2k
k=1
k=1
1 − 1/2n
1
=1+
<1+
= 3.
1 − 1/2
1/2
k=0
1.10. KOMPLEXE ZAHLEN
29
Die strenge Monotonie sieht man wie folgt ein: Für m < n gilt
m
m X
X
1 m
m · (m − 1) · · · · · (m − k + 1)
m 1
=
1
+
(1 + ) = 1 +
k
m
k! · mk
k m
k=1
k=1
m
X
1
2
k−1
1
=1+
1· 1−
1−
· ··· · 1 −
k!
m
m
m
k=1
m
X 1
1
2
k−1
<1+
1· 1−
1−
· ··· · 1 −
k!
n
n
n
k=1
n
m
X
X
1
n 1
n 1
<
1
+
= (1 + )n .
=1+
k
k
k n
n
k n
k=1
k=1
Mit Hilfe von Satz 1.8.1 folgt, dass (an ) gegen eine reelle Zahl konvergiert.
(Da die Folge monoton wächst, ist sie trivialerweise auch nach unten beschränkt.) Wir definieren e := limn→∞ an , und nennen e die Eulersche
Zahl. Angenähert hat e den Wert e = 2, 7182818284 . . ..
1.10
Komplexe Zahlen
Manche von Ihnen kennen die komplexen Zahlen C bereits aus der Schule, weitere aus der Grundlagenvorlesung. Die Motivation, komplexe Zahlen einzuführen,
besteht darin, dass die Gleichung x2 + 1 = 0 in R keine Lösung besitzt. Die Idee
der Konstruktion von C ist nun die, ein Element zu R hinzuzufügen (genannt i,
die komplexe Einheit), das eine Lösung dieser Gleichung darstellt. Da C wieder
ein Körper sein soll, gelangen wir zu folgender Definition:
Wir definieren folgende Verknüpfungen auf R2 :
(a, b) + (c, d) := (a + c, b + d),
(a, b) · (c, d) := (ac − bd, ad + bc).
Weiterhin sei i := (0, 1) ∈ R2 , so dass sich jedes Element aus R2 in der Form
a + ib, mit a, b ∈ R, schreiben lässt. In dieser Form lauten die Verknüpfungen
(a + ib) + (c + id) = (a + c) + i(b + d),
(a + ib) · (c + id) = (ac − bd) + i(ad + bc),
d.h. die Addition ist gewöhnliches komponentenweises Addieren, die Multiplikation ist einfaches Ausmultiplizieren, unter Berücksichtigung der Konvention
i2 = −1. Es ist hilfreich, sich komplexe Zahlen als Elemente der Ebene R2 vorzustellen; die Addition ist dann die eventuell bereits aus der Schule bekannte
Vektoraddition. In diesem Kontext nennt man R2 auch komplexe Ebene, oder
Gaußsche Zahlenebene. Man zeigt (siehe Grundlagenvorlesung), dass R2 , mit
diesen Verknüpfungen, einen Körper bildet, mit mit 1 = 1 + i0 als Einselement
und 0 = 0 + i0 als Nullelement.
Definition 1.10.1. Diesen Körper nennen wir den Körper der komplexen Zahlen und bezeichnen ihn mit C.
Es ist R als {a + i0 | a ∈ R} in C enthalten. Eine komplexe Zahl der Form
ib, wobei b ∈ R, nennen wir (rein) imaginär. Man beachte, dass das Quadrat
einer imaginären Zahl eine nichtpositive reelle Zahl ist.
Wir wiederholen kurz, wie das inverse Element einer komplexen Zahl 6= 0
aussieht: dafür ist es hilfreich, folgende natürliche Abbildung einzuführen:
30
KAPITEL 1. FOLGEN
Definition 1.10.2. Die komplexe Konjugation ist die Abbildung C → C; z 7→
z̄, wobei wir für z = a + ib setzen: z̄ = a − ib.
Geometrisch, d.h. in der Gaußschen Zahlenebene stellt die Konjugation die
Spiegelung an der reellen Geraden dar.
Definition 1.10.3. Der Betrag einer
√ komplexen Zahl ist folgendermaßen definiert: für a + ib ∈ C ist |a + ib| := a2 + b2 ∈ R.
Lemma 1.10.4. Für alle z ∈ C gilt z · z̄ = |z|2 .
Beweis. Wir rechnen nach: für z = a + ib gilt z · z̄ = (a + ib)(a − ib) = (a2 +
b2 ) + i(ab − ab) = |z|2 .
Insbesondere ist bemerkenswert: das Produkt einer komplexen Zahl z mit
der zu z konjugierten komplexen Zahl ist immer eine nichtnegative reelle Zahl!
Damit haben wir auch das multiplikative Inverse einer komplexen Zahl bestimmt:
Korollar 1.10.5. Für z ∈ C, z 6= 0, gilt z −1 =
z̄
|z|2 .
Es gelten weitere Rechenregeln für die komplexe Konjugation und den Betrag:
Lemma 1.10.6. Es seien z, w ∈ C. Dann gilt:
1. z + w = z̄ + w̄ und z · w = z̄ · w̄.
2. |z · w| = |z||w|
3. Es gilt die Dreiecksungleichung: |z + w| ≤ |z| + |w|.
Beweis. Wir schreiben z = a + ib und w = c + id. Dann gilt
z + w = (a + c) + i(b + d) = (a + c) − i(b + d) = (a − ib) + (c − id) = z̄ + w̄.
Da
z · w = (a + ib)(c + id) = (ac − bd) + i(ad + bc) = (ac − bd) − i(ad + bc)
und
z̄ · w̄ = (a − ib)(c − id) = (ac − bc) − i(ad + bc),
folgt auch der zweite Teil der ersten Aussage.
Der zweite Teil ist äquivalent zu |z · w|2 = |z|2 |w|2 , d.h. zu zw · zw = z z̄ww̄,
was nach dem ersten Teil erfüllt ist.
Da der Betrag einer komplexen Zahl immer eine nichtnegative reelle Zahl
ist, ist die zu zeigende Dreiecksungleichung äquivalent zu |z + w|2 ≤ (|z| + |w|)2 ,
was wiederum mit Hilfe von Lemma 1.10.4 zu
z z̄ + ww̄ + z w̄ + wz̄ = (z + w)(z̄ + w̄) ≤ |z|2 + 2|z||w| + |w|2 = z z̄ + 2|z||w| + ww̄
äquivalent ist. Kürzen der Terme, die auf beiden Seiten auftreten, resultiert in
der äquivalenten Ungleichung
z w̄ + wz̄ ≤ 2|z||w|.
1.11. NORMIERTE RÄUME
31
Ist die linke Seite negativ, so ist die Ungleichung erfüllt. Ist sie nicht negativ,
so ist sie äquivalent zu
(z w̄ + wz̄)2 ≤ 4|z|2 |w|2 = 4z z̄ww̄.
Diese Ungleichung ist aber äquivalent zu
(z w̄ − wz̄)2 ≤ 0.
Die komplexe Zahl u = z w̄ − wz̄ erfüllt nun aber ū = −u, d.h. sie ist rein
imaginär – damit ist ihr Quadrat in der Tat nichtpositiv.
1.11
Normierte Räume
Da wir nun k-te Wurzeln zur Verfügung haben, können wir eine wichtige Beispielklasse metrischer Räume konstruieren.
Definition 1.11.1. Wir betrachten V = Rn oder Cn , die Menge der n-Tupel
reeller oder komplexer Zahlen (v1 , . . . , vn ). Eine Norm auf V ist eine Abbildung
|| · || : V −→ R≥0 ; v 7−→ ||v||,
die folgende Bedingungen erfüllt:
1. Definitheit: Für alle v ∈ V gilt genau dann ||v|| = 0, wenn v = 0.
2. Homogenität: Für alle v ∈ V und a ∈ R bzw. C gilt ||a · v|| = |a| · ||v||.
3. Dreiecksungleichung: Für alle v, w ∈ V gilt ||v + w|| ≤ ||v|| + ||w||.
In dieser Definition haben wir die Addition zweier Elemente aus V benutzt:
(v1 , . . . , vn ) + (w1 , . . . , wn ) := (v1 + w1 , . . . , vn + wn )
für alle (v1 , . . . , vn ), (w1 , . . . , wn ) ∈ V , sowie die skalare Multiplikation: für a ∈ R
oder C und v = (v1 , . . . , vn ) ∈ V ist
a · v := (av1 , . . . , avn ).
Bemerkung 1.11.2. Für diejenigen, die wissen, was ein Vektorraum ist: in
Definition 1.11.1 kann Rn durch einen beliebigen reellen oder komplexen Vektorraum V ersetzt werden. Das Paar (V, ||·||) wird dann als normierter Vektorraum
bezeichnet.
Wir werden gleich einige Beispiele für Normen geben; um zu zeigen, dass es
sich in diesen Beispielen wirklich um Normen handelt, benötigen wir die sogenannte Minkowski-Ungleichung. Diese leiten wir nun mit Hilfe der Hölderschen
Ungleichung her, die wiederum aus der Youngschen Ungleichung folgt. Für den
Beweis der Youngschen Ungleichung brauchen wir aber eine Verallgemeinerung
der Bernoullischen Ungleichung für rationale Exponenten, die wir nun aus der
gewöhnlichen Bernoullischen Ungleichung herleiten.
Satz 1.11.3 (Bernoullische Ungleichung mit rationalen Exponenten). Für alle
x ∈ R mit x ≥ −1 und alle p ∈ Q, p ≥ 1, gilt (1 + x)p ≥ 1 + px.
32
KAPITEL 1. FOLGEN
Beweis. Für n ∈ N, n ≥ 1, und eine reelle Zahl y > −n berechnen wir
n+1
y
y n+1 1 + n+1
1 + n+1
y
=
·
1
+
n
1 + ny
n
1 + ny
n+1 n · (n + 1 + y)
y
=
· 1+
(n + 1) · (n + y)
n
n+1 (n + 1) · (n + y) − y
y
=
· 1+
(n + 1) · (n + y)
n
n+1 y
y
.
= 1−
· 1+
(n + 1) · (n + y)
n
y
Nun behaupten wir, dass die Voraussetzung y > −n impliziert, dass − (n+1)·(n+y)
>
−1, d.h. dass wir auf die rechte Seite des erhaltenen Ausdrucks die Bernoullische
y
>
Ungleichung mit ganzzahligen Exponenten anwenden können: − (n+1)·(n+y)
2
−1 ist äquivalent zu y < (n + 1)(n + y) = n + n + y + ny = n(n + 1 + y) + y,
was wahr ist, da n + 1 + y > 0. Anwenden von Satz 1.3.14 ergibt also
n+1
y
1 + n+1
y
y
n+y
n
≥
1
−
1
+
·
= 1,
=
n
y
n
+
y
n
n
+
y
n
1+ n
d.h.
y
1+
n+1
n+1
y n
.
≥ 1+
n
Per Induktion über n sehen wir: für alle natürlichen Zahlen m ≥ n und alle
reellen Zahlen y > −n gilt
y m y n
1+
≥ 1+
.
m
n
Für x = y/m (d.h. eine beliebige reelle Zahl > −n/m) folgt
m n
(1 + x)m ≥ 1 + x .
n
Anwenden der n-ten Wurzel ergibt
(1 + x)m/n ≥ 1 +
m
x,
n
(1.11.1)
was genau die behauptete Ungleichung ist, allerdings nur für Zahlen x > −n/m;
Ist −1 < x ≤ −n/m, so ist aber die linke Seite von (1.11.1) positiv, die rechte
Seite aber negativ, und die Ungleichung damit trivialerweise erfüllt.
Satz 1.11.4 (Youngsche Ungleichung). Es seien p, q > 1 rationale Zahlen mit
1
ap
bq
1
p + q = 1, und a, b ≥ 0 reelle Zahlen. Dann gilt a · b ≤ p + q .
Beweis. Wir setzen u = ap und v = bq . Dann ist zu zeigen, dass u1/p · v 1/q ≤
u
v
p + q . Es gilt
u1/p v 1/q = u1/p v 1−1/p = (u/v)1/p v,
1.11. NORMIERTE RÄUME
33
so dass die zu zeigende Ungleichung zu
(u/v)1/p ≤
u/v 1
+
p
q
äquivalent ist. Es sei x so, dass 1 + p · x = u/v. Dann ist also zu zeigen, dass
(1 + px)1/p = (u/v)1/p ≤
1 + px 1
u/v 1
+ =
+ = 1 + x.
p
q
p
q
Dies ist aber wiederum zu (1 + x)p ≥ 1 + px äquivalent, was aufgrund der Bernoullischen Ungleichung mit rationalen Exponenten 1.11.3 eine wahre Aussage
ist (man beachte, dass x > −1, da u/v > 0).
Satz 1.11.5 (Höldersche Ungleichung). Es seien p, q > 1 rationale Zahlen mit
1
1
n
p + q = 1. Dann gilt für (z1 , . . . , zn ), (w1 , . . . , wn ) ∈ C :
n
X
|zi wi | ≤
i=1
n
X
!1/p
|zi |
p
·
i=1
n
X
!1/q
q
|wi |
.
i=1
|zi |
|wi |
P
P
1/p ≥ 0 und bi :=
1/q ≥ 0. Dann
( nj=1 |zj |p )
( nj=1 |wj |q )
folgt aus der Youngschen Ungleichung
Pn
Pn
n
n
X
X
api
bqi
1 i=1 |zi |p
1 i=1 |wi |q
1 1
ai bi ≤
+
= Pn
+ Pn
= + = 1,
p
q
p
q
p
q
p
q
|z
|
|w
|
j
j=1 j
j=1
i=1
i=1
Beweis. Wir setzen ai :=
was äquivalent zur Behauptung ist.
Für den Fall p = q = 2 erhalten wir den wichtigen Spezialfall:
Korollar 1.11.6 (Cauchy-Schwarzsche Ungleichung). Es gilt für (z1 , . . . , zn ),
(w1 , . . . , wn ) ∈ Cn :
!1/2 n
!1/2
n
n
X
X
X
|zi wi | ≤
|zi |2
|wi |2
.
i=1
i=1
i=1
Satz 1.11.7 (Minkowskische Ungleichung). Es seien (z1 , . . . , zn ), (w1 , . . . , wn ) ∈
Cn , sowie p ∈ Q, p ≥ 1. Dann gilt
!1/p
!1/p
!1/p
n
n
n
X
X
X
p
p
p
|zi + wi |
≤
|zi |
+
|wi |
i=1
i=1
i=1
Beweis. Für p = 1 folgt die Behauptung sofort aus der Dreiecksungleichung für
komplexe Zahlen:
n
X
i=1
|zi + wi | ≤
n
X
|zi | + |wi | =
i=1
n
X
i=1
|zi | +
n
X
|wi |.
i=1
Sei also nun p > 1. Schreiben wir si := (zi + wi )p−1 , dann gilt, wieder unter
Benutzung der Dreiecksungleichung,
|zi + wi |p = |zi + wi | · |zi + wi |p−1
= |zi + wi | · |si | ≤ |zi | · |si | + |wi | · |si | = |zi · si | + |wi · si |. (1.11.2)
34
KAPITEL 1. FOLGEN
Es sei q > 1 so, dass p1 + 1q = 1. Dann folgt aus der Ungleichung (1.11.2) und
der Hölderschen Ungleichung
n
X
p
|zi + wi | ≤
i=1
n
X
|zi · si | +
n
X
|wi · si |
i=1
!1/p n
!1/q
n
X
X
p
q
|zi |
|si |
i=1
i=1

!1/p
n
n
i=1
≤
=
X
|zi |p
X
+
i=1
+
n
X
i=1
!1/p 
|wi |p
·
i=1
!1/p
|wi |
p
n
X
n
X
!1/q
q
|si |
i=1
!1/q
|si |q
(1.11.3)
i=1
Nun ist aber |si |q = |zi + wi |(p−1)·q = |zi + wi |pq−q = |zi + wi |p , da p1 + 1q = 1.
Wir ersetzen |si |q auf der rechten Seite von (1.11.3) mit Hilfe dieser Gleichung,
Pn
−1/q
multiplizieren dann auf beiden Seiten mit ( i=1 |zi + wi |p )
und erhalten
somit
!1−1/q
!1/p
!1/p
n
n
n
X
X
X
p
p
p
|zi + wi |
≤
|zi |
+
|wi |
.
i=1
i=1
i=1
Da 1 − 1/q = 1/p, haben wir die Behauptung gezeigt.
Beispiel 1.11.8.
ist durch
1. Die Standardnorm oder 2-Norm auf V = Rn bzw. Cn
||v||2 :=
n
X
!1/2
|vi |
2
i=1
für v = (v1 , . . . , vn ) ∈ V definiert. Wir müssen überprüfen, dass es sich
wirklich um eine Norm handelt – tun dies aber direkt für eine allgemeinere
Norm:
2. Wir definieren für p ∈ N, p ≥ 1 die p-Norm auf Rn bzw. Cn : für v =
(v1 , . . . , vn ) setzen wir
||v||p :=
n
X
!1/p
|vi |
p
.
i=1
Die Definitheit und die Homogenität sind klar; die Dreiecksungleichung
lautet wie folgt: für v = (v1 , . . . , vn ) und w = (w1 , . . . , wn ) ist zu zeigen,
dass
!1/p
!1/p
!1/p
n
n
n
X
X
X
p
p
p
|vi − wi |
≤
|vi |
+
|wi |
.
i=1
i=1
i=1
Dies ist aber die Minkowski-Ungleichung 1.11.7, angewandt auf (v1 , . . . , vn )
und (−w1 , . . . , −wn )!
Umgekehrt gilt also: die Minkowski-Ungleichung ist nichts anderes als die
Ungleichung
||v + w||p ≤ ||v||p + ||w||p .
1.11. NORMIERTE RÄUME
35
3. Die ∞-Norm oder Maximumsnorm auf Rn bzw. Cn ist folgendermaßen
definiert: wir setzen für v = (v1 , . . . , vn ):
||v||∞ := max{|v1 |, . . . , |vn |}.
Auch dies stellt eine Norm dar: die Definitheit gilt, da v genau dann 0 ist,
wenn vi = 0 für alle i, was wiederum genau dann gilt, wenn das Maximum
der Zahlen |v1 |, . . . , |vn | gleich 0 ist.
Für jede Zahl a ∈ R bzw. C und für alle i und j gilt genau dann |vi | ≤ |vj |,
wenn |avi | = |a||vi | ≤ |a||vj | = |avj |. Damit ist ||av||∞ = |a| · ||v||∞ .
Die Dreiecksungleichung gilt ebenfalls: für alle v = (v1 , . . . , vn ) und w =
(w1 , . . . , wn ) sowie alle i = 1, . . . , n gilt |vi + wi | ≤ |vi | + |wi | ≤ ||v||∞ +
||w||∞ , und damit auch ||v + w||∞ = maxi {|vi + wi |} ≤ ||v||∞ + ||w||∞ .
Beispiel 1.11.9. Wir betrachten auf Rn+1 die 2-Norm || · ||2 und definieren
S n := {x ∈ Rn+1 | ||x||2 = 1}
und versehen S n mit der durch Rn+1 induzierten Metrik. Diesen metrischen
Raum nennen wir die n-dimensionale Sphäre.
Bemerkung 1.11.10. Die Hölder-Ungleichung lässt sich prägnanter mit Hilfe
der p-Normen schreiben: Sind v = (v1 , . . . , vn ), w = (w1 , . . . , wn ) ∈ Cn und
1
1
p + q = 1, so gilt
||(v1 w1 , . . . , vn wn )||1 ≤ ||v||p · ||w||q .
Satz 1.11.11. Es sei || · || eine Norm auf V = Rn bzw. Cn . Definieren wir
d : V × V → R≥0 durch d(v, w) := ||v − w||, so ist (V, d) ein metrischer Raum.
Beweis. Wir müssen die drei Bedingungen überprüfen, die d zu einer Abstandsfunktion machen:
Für alle v, w ∈ V gilt aufgrund der Definitheit der Norm genau dann d(v, w) =
||v − w|| = 0, wenn v − w = 0, d.h. wenn v = w. Außerdem gilt aufgrund der
Homogenität der Norm d(v, w) = ||v − w|| = ||(−1)(w − v)|| = | − 1| · ||w − v|| =
||w − v|| = d(w, v).
Die Dreiecksungleichung ergibt sich aus der Dreicksungleichung der Norm:
für alle u, v, w ∈ V gilt
d(u, w) = ||u − w|| = ||u − v + v − w|| ≤ ||u − v|| + ||v − w|| = d(u, v) + d(v, w).
Satz 1.11.12. Rm , versehen mit der durch irgendeine Norm induzierte Metrik,
ist vollständig.
Diesen Satz werden wir später allgemein beweisen; jetzt zeigen wir ihn nur
für die Maximumsnorm.
Beweis. Es sei d die durch || · ||∞ induzierte Metrik auf Rm . Es sei (xn )n eine
Cauchy-Folge in Rm , d.h. für alle ε > 0 existiert ein k0 , so dass für k, l ≥ k0
gilt, dass ||xk − xl ||∞ = maxi {|xki − xli | | i = 1, . . . , m} < ε. Insbesondere gilt
dann für jedes i separat |xki − xli | < ε, so dass auch jede der Komponentenfolgen
36
KAPITEL 1. FOLGEN
(xni )n eine Cauchy-Folge in R ist. Da R vollständig ist, konvergieren diese; es
sei xi = limn→∞ xni . Wir behaupten, dass (xn ) gegen (x1 , . . . , xm ) konvergiert:
dafür sei ε > 0 vorgegeben. Es gibt für jedes i = 1, . . . , m eine Zahl ni , so dass
für n ≥ ni gilt, dass |xni − xi | < ε. Für n ≥ max{n1 , . . . , nm } gilt dann auch
||xn − x||∞ < ε. Wir haben gezeigt, dass limn→∞ xn = x.
Beispiel 1.11.13. Betrachten wir auf C die Abstandsfunktion d(z, w) = |z −w|,
so wird C zu einem metrischen Raum. In der Tat folgt die Dreiecksungleichung
für d sofort aus der Dreiecksungleichung für den Betrag komplexer Zahlen, die
wir in Lemma 1.10.4 gezeigt haben. Man beachte auch, dass | · | identisch zur
Standardnorm auf R2 ist. Insbesondere folgt damit aus Satz 1.11.12, dass C
vollständig ist; wir werden dies aber auch jetzt schon separat in den Übungen
beweisen.
1.12
Topologische Räume
Der Begriff des metrischen Raumes lässt sich weiter abstrahieren, zum Begriff
des topologischen Raumes: wir nehmen die in Proposition 1.5.11 gezeigten Eigenschaften offener Mengen nun als Definition:
Definition 1.12.1. Es sei X eine Menge. Eine Familie O ⊂ P(X) von Teilmengen von X, genannt in X offene Mengen, heißt eine Topologie auf X, wenn
gilt:
1. ∅ und X sind in X offen,
2. Die beliebige Vereinigung von in X offener Mengen ist wieder offen in X,
und
3. Der endliche Durchschnitt von in X offener Mengen ist wieder offen in
X.
Ist O eine Topologie auf X, so nennen wir die Elemente aus O in X offene
Mengen. Das Paar (X, O) heißt ein topologischer Raum.
Oft lässt man die Topologie O in der Notation weg, und spricht von X selbst
als topologischem Raum.
Beispiel 1.12.2.
1. Jeder metrische Raum (X, d) ist auf natürliche Weise
ein topologischer Raum: Als Topologie wählen wir die Menge aller Teilmengen von X, die nach Definition 1.5.9 offen in X sind. Wir nennen
diese Topologie die von d induzierte Topologie auf X.
2. Nicht zu jedem topologischen Raum (X, O) gibt es eine Metrik d : X ×
X → R, so dass O die von d induzierte Topologie ist. Um dies zu sehen,
beobachten wir, dass es in einem metrischen Raum zu je zwei Punkten x
und y eine offene Menge U gibt, so dass x ∈ U , aber y ∈
/ U . (Man wähle
als U zum Beispiel einen Ball um x vom Radius d(x, y).)
Andererseits können wir auf jeder Menge X die sogenannte Klumpentopologie definieren: diese ist durch O = {∅, X} definiert. Hat X nun mindestens zwei Elemente, so erfüllt sie nicht die obige Bedingung.
1.13. KOMPAKTHEIT
37
3. Es sei X ein topologischer Raum und Y ⊂ X eine Teilmenge. Dann erbt
Y wie folgt eine Topologie: Eine Teilmenge U ⊂ Y sei offen in Y , wenn
es eine in X offene Menge V ⊂ X gibt, so dass V ∩ Y = U . Wir nennen
diese Topologie die Teilraumtopologie auf Y ⊂ X, oder die durch X auf
Y induzierte Topologie.
In einer Übungsaufgabe haben wir gezeigt: ist (X, d) ein metrischer Raum
und Y ⊂ X eine Teilmenge, die wir mit der induzierten Metrik versehen,
dann sind die in Y offenen Teilmengen genau diejenigen der Form V ∩ Y ,
wobei V ⊂ X offen in X ist. Die durch die induzierte Metrik gegebene
Topologie ist also genau die durch die Topologie von X auf Y induzierte
Topologie.
Topologische Räume gehören zum mathematischen Teilgebiet der Topologie,
und nur eher am Rande zur Analysis. Sie werden in dieser Vorlesung daher
eine untergeordnete Rolle spielen; wir erwähnen sie der Vollständigkeit halber,
und weil es instruktiv ist zu sehen, welche Sachverhalte nur von den offenen
Mengen eines metrischen Raumes abhängen, und welche die konkrete Gestalt
der Abstandsfunktion benutzen.
Obwohl man in einem topologischen Raum nicht vom Abstand zweier Punkte
sprechen kann, ergibt der Begriff der Konvergenz auch in topologischen Räumen
Sinn:
Definition 1.12.3. Es sei X ein topologischer Raum, (xn ) eine Folge in X,
sowie x ∈ X. Dann sagen wir, dass (xn ) gegen x konvergiert, wenn für jede in
X offene Menge U , die x enthält, ein n0 ∈ N existiert, so dass für n ≥ n0 gilt,
dass xn ∈ U .
Ist die Topologie von X durch eine Metrik d induziert, so stimmt diese
Definition mit der üblichen Definition der Konvergenz überein: dies liegt daran,
dass ε-Bälle in X offen sind, und dass zu jeder offenen Menge U mit x ∈ U ein
ε > 0 existiert, so dass x ∈ Bε (x) ⊂ U .
Ein Indiz, dass sich topologische Räume anders als metrische Räume verhalten, zeigt das folgende Beispiel:
Beispiel 1.12.4. Es sei X eine Menge, versehen mit der Klumpentopologie und
(xn ) eine Folge in X. Dann konvergiert (xn ) gegen jedes Element aus X: für die
einzige nichtleere in X offene Menge X gilt natürlich, dass sie alle Folgenglieder
der Folge enthält.
Die in metrischen Räumen gültige Eindeutigkeit des Grenzwerts einer konvergenten Folge gilt also in allgemeinen topologischen Räumen nicht. Man sollte
also in diesem Kontext davon absehen, Ausdrücke der Form limn→∞ xn zu verwenden, da diese keine wohldefinierten Elemente des Raumes sind.
1.13
Kompaktheit
Definition 1.13.1. Eine offene Überdeckung eines topologischen Raumes X
ist eine Familie {Ui | i ∈S
I} von in X offener Mengen Ui , wobei I eine beliebige
Indexmenge ist, so dass i∈I Ui = X.
38
KAPITEL 1. FOLGEN
Definition 1.13.2. Ein topologischer Raum X heißt kompakt, wenn jede offene Überdeckung von X eine endliche Teilüberdeckung besitzt: für jede offene
Überdeckung
{Ui | i ∈ I} gibt es endlich viele Indizes i1 , . . . , in ∈ I, so dass
Sn
X = k=1 Uik .
Definition 1.13.3. Ein topologischer Raum X heißt folgenkompakt, wenn jede
Folge in X eine konvergente Teilfolge besitzt.
Wir erinnern daran, dass die Bedingung an eine Folge, eine konvergente
Teilfolge zu besitzen, äquivalent dazu ist, einen Häufungspunkt zu haben.
Beispiel 1.13.4.
1. Wir betrachten das abgeschlossenes Intervall [a, b] ⊂ R,
für a < b, mit der Standardtopologie (induziert durch die Standardmetrik
von R). Nach dem Satz von Bolzano-Weierstraß besitzt jede Folge in [a, b]
eine konvergente Teilfolge. Der Satz von Bolzano-Weierstraß besagt also,
dass [a, b] ein folgenkompakter metrischer Raum ist.
2. R, mit der Standardtopologie, ist nicht folgenkompakt, da die Folge an = n
keine konvergente S
Teilfolge besitzt. R ist auch nicht kompakt, da die offene
Überdeckung R = n∈N (n, n + 2) keine endliche Teilüberdeckung besitzt.
Satz 1.13.5. Es sei (X, d) ein metrischer Raum. Dann ist X genau dann kompakt, wenn X folgenkompakt ist.
Beweis. Es sei X ein kompakter metrischer Raum, und (xn ) eine Folge in X.
Wir müssen zeigen, dass (xn ) eine konvergente Teilfolge besitzt. Wir nehmen
an, dies sei nicht der Fall. Dann finden wir zu jedem y ∈ X eine offene Menge
Uy ⊂ X mit y ∈ Uy , so dass Uy nur endlich viele Folgenglieder der Folge (xn )
enthält (d.h. genauer: so dass es nur endlich viele natürliche
Zahlen n gibt, so
S
dass xn ∈ Uy ). Da für alle y ∈ X gilt, dass y ∈ Uy ⊂ y∈X Uy , bilden die Uy
eine offene Überdeckung von X. Diese besitzt aufgrund der Kompaktheit von X
eine endliche Teilüberdeckung X = Uy1 ∪ . . . ∪ Uyl . Jede der Mengen Uyi enthält
aber nach Konstruktion nur endlich viele der Folgenglieder von (xn ), weswegen
nun also auch X nur endlich viele Folgenglieder enthielte – ein Widerspruch.
Die Rückrichtung ist schwieriger. Es sei X ein folgenkompakter metrischer
Raum und {Ui | i ∈ I} eine offene Überdeckung von X. Wir zeigen zunächst
folgende Behauptung: es gibt ein ε > 0, so dass für jedes x ∈ X ein i ∈ I
existiert, so dass Bε (x) ⊂ Ui . (Wichtig: es ist klar, dass es für jedes x und jedes
i ein solches ε gibt – die Behauptung ist aber, dass wir ein globales ε mit dieser
Eigenschaft finden.)
Wir nehmen das Gegenteil an: dann gibt es für jedes n ∈ N ein xn ∈ X, so
dass B n1 (xn ) in keiner der Mengen Ui enthalten ist. Da X folgenkompakt ist,
hat die Folge (xn ) eine konvergente Teilfolge yk := xnk → z ∈ X. Da nk ≥ k
und damit n1k ≤ k1 , gilt B n1 (xnk ) ⊂ B k1 (yk ), und damit liegen die Bälle B k1 (yk )
k
erst recht in keiner der Mengen Ui . Nun gilt aber z ∈ Ui für ein i ∈ I, und damit
gibt es ein ε > 0, so dass Bε (z) ⊂ Ui . Da (yk ) gegen z konvergiert, gibt es ein
k0 ∈ N, so dass für alle k ≥ k0 gilt, dass d(yk , z) < 2ε . Nun sei k > max{k0 , 2ε }
eine natürliche Zahl; dann gilt
B k1 (yk ) ⊂ B 2ε (yk ) ⊂ Bε (z) ⊂ Ui ,
wobei die Inklusion B 2ε (yk ) ⊂ Bε (z) aus d(z, yk ) < 2ε und der Dreiecksungleichung folgt. Dies widerspricht unserer Konstruktion der Folge (yk ).
1.13. KOMPAKTHEIT
39
Als zweiten Schritt zeigen wir nun die Behauptung, dass wir für jedes δ > 0
den folgenkompakten metrischen Raum X durch endlich viele Bälle der Form
Bδ (x), mit x ∈ X, überdecken können. Wäre dies nicht der Fall, so konstruieren
wir folgendermaßen eine Folge in X: es sei x0 ∈ X beliebig. Sind x0 , . . . , xn
bereits konstruiert, so betrachten wir Bδ (x0 ) ∪ . . . ∪ Bδ (xn ). Nach Annahme ist
diese offene Menge nicht ganz X. Wir können also xn+1 ∈ X außerhalb dieser
Menge (und ansonsten beliebig) wählen. Nach Konstruktion hat xn+1 von jedem
der Punkte x0 , . . . , xn einen Abstand von mindestens δ.
Die so konstruierte Folge (xn ) hat also die Eigenschaft, dass je zwei Folgenglieder xn und xm mindestens Abstand δ haben. Solch eine Folge kann aber
keine konvergente Teilfolge besitzen; ein Widerspruch zur Folgenkompaktheit
von X.
Nun kombinieren wir im letzten Schritt die ersten beiden Schritte: zuerst
sei ε > 0 so, dass für jedes x ∈ X ein i ∈ I existiert, so dass Bε (x) ⊂ Ui .
Mit Hilfe des zweiten Schrittes überdecken wir X durch endlich viele ε-Bälle:
X = Bε (x1 )∪. . .∪Bε (xn ). Jeder dieser endlich vielen Bälle liegt aber in einer der
Mengen Ui ; damit ist X auch durch endlich viele der Mengen Ui überdeckt.
Bemerkung 1.13.6. Für allgemeine topologische Räume sind die Begriffe Kompaktheit und Folgenkompaktheit nicht äquivalent. Leider ist es nicht einfach,
Gegenbeispiele zu konstruieren, so dass wir hier darauf verzichten.
Der Begriff der Kompaktheit ist strukturell anders als der der Offenheit oder
der Abgeschlossenheit. Offenheit und Abgeschlossenheit einer Teilmenge sind
relative Begriffe, die vom umgebenden Raum abhängen: in Beispiel 1.5.12 haben
wir das Beispiel (0, 1] betrachtet, das als Teilmenge von (0, ∞) abgeschlossen
ist, als Teilmenge von R jedoch nicht. Kompaktheit ist jedoch erst einmal eine
Eigenschaft eines topologischen Raumes selbst, nicht einer Teilmenge.
Trotzdem können wir definieren:
Definition 1.13.7.
1. Es sei A ⊂ X eine Teilmenge eines topologischen
Raumes. Dann ist eine offene Überdeckung von
S A ⊂ X eine Familie von
in X offenen Mengen Ui , i ∈ I, so dass A ⊂ i∈I Ui .
2. Es sei X ein topologischer Raum. Dann nennen wir eine Teilmenge K ⊂
X kompakt, wenn jede offene Überdeckung von K ⊂ X eine endliche
Teilüberdeckung besitzt.
Lemma 1.13.8. Es sei K ⊂ X eine Teilmenge eines topologischen Raumes.
Dann ist K genau dann als Teilmenge von X kompakt, wenn K als topologischer
Raum, versehen mit der durch X induzierten Teilraumtopologie, kompakt ist.
Beweis. Wir müssen für den Beweis
S nur zwei Dinge beobachten: zum einen
induziert jede Überdeckung K ⊂ i∈I Ui der Teilmenge K ⊂ X auch eine
Überdeckung des topologischen Raumes K: Wir setzen Vi := Ui ∩ K; nach
Definition der Teilraumtopologie
sind die Vi in K offen. Wir erhalten also eine
S
offene Überdeckung K = i∈I Vi von K.
S
Starten wir umgekehrt mit einer offenen Überdeckung K = i∈I Vi des topologischen Raumes K, so können wir aufgrund der Definition der TeilraumtopoloS
gie in X offene Mengen Ui wählen, so dass Ui ∩ K = Vi . Dann gilt K ⊂ i∈I Ui ,
d.h. die Ui bilden eine offene Überdeckung der Teilmenge K ⊂ X.
40
KAPITEL 1. FOLGEN
Satz 1.13.9. Eine kompakte Teilmenge eines metrischen Raumes ist abgeschlossen und beschränkt.
Beweis. Es sei K eine kompakte Teilmenge eines metrischen Raumes X. Wäre
K nicht abgeschlossen, so gäbe es nach Lemma 1.5.13 eine Folge in K, die in X
konvergiert, deren Grenzwert aber nicht in K läge. Aufgrund der Kompaktheit
von K müsste diese Folge aber eine in K konvergente Teilfolge besitzen. Dies
kann aber nicht sein, wenn ihr Grenzwert nicht in K liegt.
Wir nehmen an, K sei nicht beschränkt. Es sei x ∈ X fixiert. Da K nicht
beschränkt ist, gibt es zu jedem n ∈ N ein an ∈ K, so dass d(x, an ) > n. Insbesondere ist also die Folge (an ) nicht beschränkt; genauer ist sogar keine Teilfolge
von (an ) beschränkt. Damit kann (an ) keine konvergente Teilfolge besitzen, was
einen Widerspruch zur Folgenkompaktheit von K darstellt.
Korollar 1.13.10. Eine Teilmenge K ⊂ R ist genau dann kompakt, wenn sie
beschränkt und abgeschlossen ist.
Beweis. Der soeben bewiesene Satz zeigt, dass eine kompakte Teilmenge von R
beschränkt und abgeschlossen ist. Ist umgekehrt K ⊂ R beschränkt und abgeschlossen, so hat jede Folge in K aufgrund des Satzes von Bolzano-Weierstrass
eine in R konvergente Teilfolge, deren Grenzwert dann aufgrund der Abgeschlossenheit von K auch in K liegt. Damit ist K folgenkompakt.
Beispiel 1.13.11. Diese Äquivalenz gilt nicht für allgemeine metrische Räume:
Es sei X eine unendliche Menge, versehen mit der diskreten Metrik. Dann ist X
selbst beschränkt und in X abgeschlossen. Der Raum X ist jedoch nicht kompakt:
es sei (xn ) eine Folge in X mit paarweise verschiedenen Gliedern (eine solche
existiert, da X unendlich ist). Dann gilt d(xn , xm ) = 1 für alle n 6= m, so dass
(xn ) keine konvergente Teilfolge haben kann.
Korollar 1.13.12. Jede kompakte Teilmenge K ⊂ R besitzt Maximum und
Minimum.
Beweis. Es sei K ⊂ R eine kompakte Teilmenge. Dann ist K abgeschlossen und
beschränkt. Da K beschränkt ist, gibt es, wie in Abschnitt 1.8.1 gezeigt, eine
Folge in K, die gegen das Supremum von K konvergiert. Da K abgeschlossen ist,
ist dieses Supremum, als Grenzwert einer Folge in K, ebenfalls in K; es handelt
sich also um das Maximum von K. Für das Minimum von K argumentiert man
analog.
Kapitel 2
Reihen
2.1
Konvergente Reihen
Reihen sind spezielle Arten von Folgen reeller oder komplexer Zahlen:
Definition 2.1.1. Es sei (an ) eine Folge reeller (oder komplexer) Zahlen. Dann
nennen wir die Folge (sk ), wobei
sk =
k
X
an ,
n=0
die Folge der Partialsummen. Man nennt diese Folge auch die Reihe über die
an . Falls dieP
Folge (sk ) konvergiert, so bezeichnen wir ihren Grenzwert mit
∞
demPSymbol n=0 an . Diesen Grenzwert nennt man auch den Wert der Rei∞
he n=0 an .
P∞
Mit der Reihe
n=0 an wird auch oft etwas ungenau die Folge der Partialsummen selbst bezeichnet.
Man spricht also von der Konvergenz bzw. der
P∞
Divergenz der Reihe n=0 an .
P∞
1
konvergiert. Denn es gilt für die k-te
Beispiel 2.1.2. Die Reihe n=1 n(n+1)
Partialsumme sk :
X
k
k k
k+1
X
X
1
1
1
1 X1
1
sk =
=
−
=
−
=1−
n(n
+
1)
n
n
+
1
n
n
n
+
1
n=1
n=1
n=1
n=2
P
∞
1
1
und damit, da ( n+1
) eine Nullfolge ist, n=1 n(n+1)
= limk→∞ sk = 1.
P∞
Beispiel 2.1.3. Es sei z ∈ C mit |z| < 1. Dann nennen wir die Reihe n=0 z n
eine geometrische Reihe. Die Folge der Partialsummen haben wir bereits früher
betrachtet: es ist
k
X
1 − z k+1
zk =
(2.1.1)
1−z
n=0
P∞
k+1
1
und damit n=0 z n = limk→∞ 1−z
= 1−z
.
1−z
Man beachte: für |z| > 1 gilt die Gleichung 2.1.1 immer noch, aber die rechte
Seite
z, aufgefasst als Folge in k, divergent. In der Gleichung
P∞ istn für solche
1
n=0 z = 1−z ergibt die rechte Seite zwar auch für solche z Sinn, die linke
aber nicht!
41
42
KAPITEL 2. REIHEN
Wir haben Reihen als spezielle Folgen definiert; ist umgekehrt eine Folge
(sk ) gegeben, so können wir eine Folge (an ) wie folgt definieren: a0 := s0 , sowie
Pk
an := sn − sn−1 . Dann gilt sk = n=0 an für alle k, d.h. die Folge (sk ) ist die
Reihe über die an . Wir sehen also: Folgen und Reihen sind im Prinzip ein und
dasselbe Konzept, nur aus einem anderen Blickwinkel betrachtet – der Grund,
warum wir hier Reihen separat betrachten, ist der, dass viele Folgen in der
Analysis natürlicherweise als Reihen auftreten.
Da R und C vollständig sind, gilt der folgende Satz, der manchmal als
Cauchy-Kriterium der Konvergenz einer Reihe bezeichnet wird:
P∞
Satz 2.1.4. Eine Reihe n=0 an reeller oder komplexer Zahlen konvergiert genau dann, wenn die Folge ihrer Partialsummen eine Cauchy-Folge bildet, d.h.
wenn für alle ε >P
0 ein n0 ∈ N existiert, so dass für alle n ≥ n0 und alle q ∈ N,
q
q ≥ 1, gilt, dass | i=1 an+i | < ε.
Satz 1.8.1 impliziert sofort das folgende Kriterium für die Konvergenz von
Reihen mit nichtnegativen Gliedern:
P∞
Satz 2.1.5. Eine Reihe n=0 an mit reellen, nichtnegativen Gliedern an konvergiert genau dann, wenn die Folge ihrer Partialsummen beschränkt ist.
P∞
Bemerkung 2.1.6. Es folgt aus dem Cauchy-Kriterium:
P∞Eine Reihe n=0 an
konvergiert genau dann, wenn die abgeschnittene Reihe n=m an für irgend ein
m ≥ 0 konvergiert.
P∞
Satz 2.1.7. Es sei n=0 an eine konvergente
P∞ Reihe. Dann sind sowohl die Folge
(an ) als auch die Folge (rk ), wobei rk = n=k+1 an , Nullfolgen.
Beweis. Wir zeigen zunächst, dass (an ) eine Nullfolge ist. Dafür wenden wir das
Cauchy-Kriterum wie folgt an: für gegebenes ε > 0 gibt es ein n0 ∈ N, so dass
für alle n ≥ n0 gilt, dass |an+1 | < ε. (Wir setzen q = 1 in der Notation von Satz
2.1.4.) Das bedeutet gerade, dass
P∞an eine Nullfolge ist.
P∞
Die Konvergenz der Reihe n=0 an impliziert, dass rk = n=k+1 an wohldefiniert ist. Um zu zeigen, dass (rk ) eine Nullfolge ist, wenden wir ebenfalls das
Cauchy-Kriterium an: für gegebenes
Pq ε > 0 gibt es ein k0 ∈ N, so dass für alle
k ≥ k0 und alle
q
≥
1
gilt,
dass
|
i=1 ak+i | < ε/2. Für den Grenzwert q → ∞
P∞
folgt |rk | = | i=1 ak+i | ≤ ε/2 < ε.
P∞
Beispiel 2.1.8. Die harmonische Reihe n=1 n1 konvergiert nicht, obwohl die
Folge der Reihenglieder (1/n) eine Nullfolge ist. Um dies einzusehen, betrachten wir für jedes k die 2k -te Partialsumme s2k der harmonischen Reihe und
klammern wie folgt:
 i+1

k−1
2X
2k
X
X
1
1


s2k =
=1+
n
n
i
n=1
i=0
n=2 +1
1
1 1
1 1 1 1
1
1
=1+ +
+
+
+ + +
+ ··· +
+
·
·
·
+
.
2
3 4
5 6 7 8
2k−1 + 1
2k
Wir schätzen in jeder Klammer jeden Summanden gegen den kleinsten Summanden in der Klammer ab und erhalten
i+1
2X
n=2i +1
1
1
2i
1
≥ (2i+1 − 2i ) · i+1 = i+1 = ,
n
2
2
2
2.1. KONVERGENTE REIHEN
43
so dass wir
k
2
erhalten. Die Folge der Partialsummen ist also unbeschränkt und kann daher
nicht konvergieren.
s2k ≥ 1 +
Beispiel 2.1.9. Als Anwendung der Divergenz der harmonischen Reihe betrachten wir folgendes Problem: wir möchten (identische, quaderförmige) Holzklötze
der Länge l so versetzt aufeinanderstapeln, dass der oberste Klotz möglichst weit
über den untersten herausragt.
Wir bezeichnen mit dn den horizontalen Abstand der äußeren Kante des
obersten Klotzes zum n-ten Klotz. Insbesondere: d1 = 0. Der Schwerpunkt eines
Klotzes liegt genau in der Mitte des Klotzes; damit liegt der Schwerpunkt des
n-ten Klotzes genau an der Stelle dn + l/2. Der Gesamtschwerpunkt der ersten
n Klötze liegt daher bei
!
n
l
1 X
di +
.
n i=1
2
Damit der Stapel nicht umfällt, müssen wir garantieren, dass dieser Gesamtschwerpunkt über dem n + 1-ten Klotz liegt, d.h. dass obiger Ausdruck ≥ dn+1 ist. Wir
möchten den Überhang der Klötze maximieren, und setzen die Klötze daher so
aufeinander, dass
!
n
n
l
l
1X
1 X
di +
= +
di .
dn+1 =
n i=1
2
2 n i=1
So ist gesichert, dass der Turm nicht umfällt. Damit ist aber
n
n−1
1X
1 X
di −
di
n i=1
n − 1 i=1
!
n−1
X
1
1
1
=
di
−
+ dn
n
n
−
1
n
i=1
!
n−1
X
1
1
=−
di + dn
n · (n − 1) i=1
n
1
l
1
=−
dn −
+ dn
n
2
n
l
.
=
2n
dn+1 − dn =
Es ist also
dn+1 = dn +
l
l
= ··· =
2n
2
1 1
1
1 + + + ··· +
.
2 3
n
Da die harmonische Reihe divergiert, divergiert auch die Folge (dn ). Wir sehen,
dass wir einen beliebig großen Überhang erzeugen können, ohne dass der Turm
umfällt.
P∞
P∞
Satz 2.1.10. Es seien
n=0 an und
n=0 bnPzwei konvergente Reihen mit
∞
reellen P
oder komplexen Gliedern.
Dann
ist
P∞
P∞ auch n=0 (an + bn ) konvergent, und
∞
es gilt n=0 (an + bn ) = n=0 an + n=0 bn .
44
KAPITEL 2. REIHEN
P∞
Beweis. Die Folge der Partialsummen der Reihe n=0 (an + bn ) ist gleich der
Summe der Folgen der Partialsummen der ursprünglichen Reihen ist. Da die
Summe zweier konvergenter Folgen wieder konvergent, mit Summe der Grenzwerte als Grenzwert, ist, folgt die Behauptung sofort.
P∞
Genauso leicht zeigt man: ist n=0 an eine konvergente
P∞ Reihe mit reellen
oder komplexen
Gliedern,
und
b
∈
R
oder
C,
so
ist
auch
n=0 ban konvergent,
P∞
P∞
und es gilt n=0 ban = b n=0 an
2.2
Absolute Konvergenz
P∞
Definition 2.2.1. Eine Reihe
Zahlen heißt
n=0 an reeller oder komplexer
P∞
absolut konvergent, wenn die Reihe der Absolutbeträge n=0 |an | konvergiert.
P∞
Satz 2.2.2. Eine absolut konvergente
an reeller oder komplexer
P∞ Reihe Pn=0
∞
Zahlen ist konvergent, und es gilt | n=0 an | ≤ n=0 |an |.
Beweis. Wenden wir das Cauchy-Kriterium auf die Reihe der Absolutbeträge
an, so erhalten wir: für vorgegebenes
ε > 0 gibt es n0 ∈ N, so dass für alle
Pq
n ≥ n0 und alle q ≥ 1 gilt, dass i=1 |an+i | < ε. Nach der Dreiecksungleichung
gilt nun aber auch
q
q
X
X
an+i ≤
|an+i | < ε,
i=1
i=1
P∞
so dass die Reihe n=0 an nach dem Cauchy-Kriterium konvergiert.
Für die Ungleichung beobachten wir, dass für alle N ∈ N gilt, dass
N
N
X X
an ≤
|an |.
n=0
n=0
Sowohl die rechte als auch die linke Seite dieser Ungleichung konvergiert für
N → ∞, so dass gilt:
∞
N
∞
N
N
X X X
X
X
|an |.
an = lim
an = lim an ≤ lim
|an | =
N →∞
n→∞ N →∞
n=0
n=0
n=0
n=0
n=0
Satz 2.2.3 (Leibnizkriterium). Es sei (an ) eine monoton
P∞ fallende Nullfolge
(insbesondere an ∈ R). Dann ist die alternierende Reihe n=0 (−1)n an konvergent.
Beweis. Wir betrachten die Folge (sk ) der Partialsummen der alternierenden
P∞
Pk
n
n
Reihe
n=0 (−1) an . Betrachten wir die Teilfolge
n=0 (−1) an , d.h. sk =
(s2k ), so sehen wir:
s2k+2 = s2k − a2k+1 + a2k+2 ≤ s2k
für alle k, da die Folge (an ) monoton fallend, und damit −a2k+1 + a2k+2 ≤ 0
ist. Weiterhin ist
s2k = (a0 − a1 ) + (a2 − a3 ) + · · · + (a2k−2 − a2k−1 ) + a2k ≥ a2k ≥ 0,
2.3. WEITERE KONVERGENZKRITERIEN
45
da alle Klammern aufgrund der Monotonie von (an ) nichtnegative reelle Zahlen
sind. Es handelt sich bei (s2k ) also um eine monoton fallende, beschränkte Folge,
die damit konvergieren muss.
Genauso zeigt man, dass die Teilfolge (s2k+1 ) konvergieren muss. Weiterhin
gilt s2k+1 = s2k − a2k+1 , und damit, da (an ) eine Nullfolge ist, limk→∞ s2k+1 =
limk→∞ s2k . Wir haben die Folge (sk ) also durch zwei Teilfolgen ausgeschöpft,
die beide denselben Grenzwert besitzen. Es folgt, dass auch sk gegen diesen
Grenzwert konvergiert.
P∞
Beispiel 2.2.4. Die Reihe n=1 (−1)n n1 ist nicht absolut konvergent, da die
entsprechende Reihe der Absolutbeträge gerade die harmonische Reihe ist. Da
(1/n) aber eine Nullfolge ist, konvergiert sie nach dem Leibnizkriterium.
2.3
Weitere Konvergenzkriterien
P∞
Satz 2.3.1 (Majorantenkriterium). Es sei n=0 cn eine konvergente Reihe mit
reellen, nichtnegative
Gliedern cn . Sind an ∈ C, so dass |an | ≤ cn für alle n, so
P∞
ist die Reihe n=0 an absolut konvergent.
PN
PN
P∞
Beweis. Für alle N ∈ N gilt n=0 |aP
n| ≤
n=0 cn ≤
n=0 cn . Damit ist die
∞
Folge der Partialsummen der Reihe n=0 |an | beschränkt, und die (absolute)
Konvergenz folgt direkt aus Satz 2.1.5.
P∞
Satz 2.3.2 (Wurzelkriterium). Es sei eine Reihe
n=0 an mit reellen oder
komplexen Gliedern gegeben. Falls ein 0 < C < 1 und ein n0 ∈ N existiert, so
dass
p
n
|an | ≤ C
P∞
für alle n ≥ n0 , dann ist die Reihe n=0 an absolut konvergent.
P∞
Beweis. In der gegebenen Situation ist die geometrische Reihe n=0 C n konn
vergent, da C < 1. Nach Annahme
P∞gilt |an | ≤ C für alle n ≥ n0 , so dass die
absolute Konvergenz der Reihe
aus dem Majorantenkriterium 2.3.1
n=0 an P
∞
folgt. (Die absolute Konvergenz
der
Reihe
n=0 an ist äquivalent zur absoluten
P∞
Konvergenz der Reihe n=n0 an .)
Oft wird das Wurzelkriterium mit Hilfe des sogenannten Limes superior formuliert. Um ihn zu definieren, erinnern wir daran, dass wir in den Übungen
gezeigt haben, dass die Menge der Häufungspunkte einer Folge reeller Zahlen
eine abgeschlossene Teilmenge von R ist. Ist (an ) nun eine beschränkte Folge
reeller Zahlen, so ist die Menge ihrer Häufungspunkte abgeschlossen und beschränkt (sowie nichtleer nach dem Satz von Bolzano-Weierstraß), und besitzt
somit Maximum und Minimum.
Definition 2.3.3. Ist (an ) eine beschränkte Folge reeller Zahlen, so bezeichnen
wir den größten Häufungspunkt von (an ) als den Limes superior der Folge (an );
in Zeichen lim supn→∞ an .
Analog bezeichnet man den kleinsten Häufungspunkt von (an ) als den Limes
inferior der Folge (an ); in Zeichen lim inf n→∞ an .
p
Dann lautet das
wenn lim supn→∞ n |an | < 1, dann konPWurzelkriterium:
∞
vergiert die Reihe n=0
an absolut. Insbeondere konvergiert die Reihe also abp
n
solut, wenn limn→∞ |an | existiert und echt kleiner als 1 ist.
46
KAPITEL 2. REIHEN
P∞
Bemerkung 2.3.4. Ist
für eine Reihe
n=0 an mit reellen oder komplexen
p
n
Gliedern lim supn→∞ |an | > 1, so kann die Reihe nicht konvergieren, da die
Folge (an ) dann keine Nullfolge bilden kann.
p
Das Wurzelkriterium trifft im Fall, dass lim supn→∞ n |an | = 1, keine Aussage.
Beispiel 2.3.5.
P∞ n1. Wir betrachten für z ∈ C mit |z| < 1 die geometrische
Konvergenz dieser Reihe folgt auch aus dem WurReihe
n=0 z . Diep
zelkriterium: es ist n |z n | = |z| < 1, sogar unabhängig von n. (Dieses
Beispiel ist etwas tautologisch, da das Wurzelkriterium ja gerade über den
Vergleich mit einer geometrischen Reihe bewiesen wurde.)
P∞ 1
die alternierende
2. Wir betrachten die harmonische Reihe
n=0 n sowie
q
P∞
n 1
n1
harmonische Reihe n=0 (−1) n . Es gilt limn→∞ n = 1, andererseits
wissen wir, dass die alternierende harmonische Reihe konvergiert, die harmonische Reihe
p jedoch divergiert. Wir sehen also, dass die Bedingung
lim supn→∞ n |an | = 1 keine Aussage über die Konvergenz oder Divergenz einer Reihe impliziert.
P∞
Satz 2.3.6 (Quotientenkriterium). Es sei eine Reihe n=0 an mit reellen oder
komplexen Gliedern gegeben. Falls ein 0 < C < 1 und ein n0 ∈ N existiert, so
dass
an+1 an ≤ C,
P∞
für alle n ≥ n0 , so konvergiert die Reihe n=0 an absolut.
Beweis. In der gegebenen Situation gilt für alle n ≥ n0
|an |
|an0 +1 | |an0 +2 |
|an |
≤ C n−n0 ,
=
·
· ··· ·
|an0 |
|an0 |
|an1 |
|an−1 |
also |an | ≤ (|an0 | · C −n0 )C n . Die absolute Konvergenz folgt also wie beim Wurzelkriterium aus dem Majorantenkriterium,
diesmal angewandt auf das Produkt
P∞
der geometrischen Reihe n=0 C n mit der Konstanten |an0 |C −n0 .
Auch dieses Kriterium kann
man
äquivalent mit Hilfe des Limes Superior
P∞
formulieren: ist lim supn→∞ aan+1
<
1,
so konvergiert die Reihe n=0 an abso
n
lut.
Beispiel 2.3.7.
Warnung:
Anders als beim Wurzelkriterium gilt nicht, dass aus
P∞
an+1 lim supn→∞ an > 1 folgt, dass die Reihe n=0 an divergiert. Wir betrachten
P∞
zum Beispiel die Reihe n=0 an , wobei
(
an =
1
2n
1
2n−2
n gerade
n ungerade.
q
q
√
p
n
1
Da n 21n = 12 und n 2n−2
= 2 4 → 12 für n → ∞, gilt limn→∞ n |an | = 12 < 1,
P
weswegen die Reihe n→∞ an nach dem Wurzelkriterium absolut konvergiert.
2.3. WEITERE KONVERGENZKRITERIEN
47
Andererseits gilt für gerades n, dass
an+1
2n
= n−1 = 2,
an
2
während für ungerades n gilt, dass
1
an+1
2n−2
= n+1 = .
an
2
8
Damit ist lim supn→∞ aan+1
= 2 > 1, obwohl die Reihe, wie oben gezeigt, konn
vergiert.
Beispiel 2.3.8. Wir betrachten für ein festes x ∈ C die Reihe
∞
X
xn
n!
n=0
und zeigen mit Hilfe des Quotientenkriteriums, dass sie absolut konvergent ist:
n
Setzen wir an := xn! , so gilt
an+1 xn+1
n! |x|
=
·
an (n + 1)! xn = n + 1 .
1
Für n ≥ 2|x| gilt also aan+1
≤ 2 < 1, so dass das Quotientenkriterium anwendn
bar ist. Wir definieren
∞
X
xn
;
ex := exp(x) :=
n!
n=0
die Reihe
xn
n=0 n!
P∞
nennen wir die Exponentialreihe. Insbesondere ist
e = e1 =
∞
X
1
.
n!
n=0
Man beachte, dass wir
n in Abschnitt 1.9 die Eulersche Zahl e anders, nämlich als
e = limn→∞ 1 + n1
definiert haben. In den Übungen werden wir sehen, dass
diese Definitionen übereinstimmen.
P∞
Satz 2.3.9 (Cauchyscher Verdichtungssatz). Eine Reihe n=0 an mit reellen,
nichtnegativen, monotonP
fallenden Gliedern an ist genau dann konvergent, wenn
∞
die ,,verdichtete” Reihe n=0 2n a2n konvergiert.
P∞
Beweis. Es konvergiere die Reihe n=0 an gegen einen Wert s. Da die Folge
(an ) monoton fallend ist und aus nichtnegativen Gliedern besteht, gilt
s ≥ a1 + a2 + (a3 + a4 ) + (a5 + a6 + a7 + a8 ) + · · · + (a2n−1 +1 + · · · + a2n )
1
≥ a1 + a2 + 2a4 + 4a8 + · · · + 2n−1 a2n ,
2
Pn
also i=0 2i a2i ≤ 2s. Damit konvergiert die verdichtete Reihe nach Satz 2.1.5.
48
KAPITEL 2. REIHEN
P∞
Es konvergiere nun umgekehrt die verdichtete Reihe i=0 2i ai gegen einen
Wert r. Für n ∈ N und k, so dass 2k ≥ n, schätzen wir nun umgekehrt ab:
n
X
ai ≤ a1 + (a2 + a3 ) + (a4 + · · · + a7 ) + · · · + (a2k + · · · + a2k+1 −1 )
i=1
≤ a1 + 2a2 + 4a4 + · · · + 2k a2k ≤ r,
und wieder folgt die Konvergenz aus Satz 2.1.5.
Beispiel 2.3.10. Wir
für a ∈ Q die Konvergenz der allgemeinen
Puntersuchen
∞
1
harmonischen Reihe
mit
Hilfe
des Cauchyschen Verdichtungssatzes.
n=1 na
Der Satz besagt, dass die Konvergenz dieser Reihe zur Konvergenz der Reihe
∞
X
n
∞ X
1
=
2
(2n )a
2a−1
n=1
n=1
n
1
1
< 1, und damit handelt es sich bei der
äquivalent ist. Für a > 1 gilt 2a−1
Reihe auf der rechten Seite um eine konvergente geometrische Reihe. Für a ≤ 1
1
ist 2a−1
≥ 1, und damit divergiert die Reihe. Dasselbe gilt also auch für die
allgemeine harmonische Reihe.
2.4
Klammerung und Umordnung
Der folgende Satz besagt, dass man in einer konvergenten Reihe die Glieder
beliebig klammern darf, solange man die Reihenfolge der Glieder beibehält:
P∞
Satz 2.4.1. Es sei eine konvergente Reihe n=0 an mit reellen oder komplexen Gliedern gegeben. Es seien
Pnkweiterhin 0 ≤ n1 < n2 < n3 < · · · gegebene
natürliche Zahlen und bk := n=n
a für jedes k. Dann konvergiert auch
P∞
P∞k−1 +1 nP∞
die Reihe k=0 bk , und es gilt k=0 bk = n=0 an .
P∞
Beweis. Die Konvergenz der Reihe n=0 an ist
gleichbedeutend mit der KonPm
vergenz der Folge der Partialsummen sm := n=0 an . Die l-te Partialsumme
P∞
Pl
Pnl
der Reihe k=0 bk ist aber gleich k=0 bk = n=0
an = snl , d.h. die Folge
der Partialsummen der Reihe über die bk ist eine Teilfolge der Folge (sm ). Eine
Teilfolge einer konvergenten Folge ist aber konvergent, mit demselben Grenzwert.
Man beachte, dass es problematischer
ist, eine vorhandene
Klammerung
P∞
P∞
wegzulassen: Betrachten wir die Reihe
k=0 bk =
k=0 (1 − 1), d.h. bk =
1 − 1 = 0, so ist diese natürlich trivialerweise konvergent. Die gegebene Klammerung
dürfen wir aber nicht weglassen – tun wir dies, so erhalten wir die Reihe
P∞
n
n=0 an , mit an = (−1) , die divergiert (da (an ) keine Nullfolge ist). Um eine vorhandene Klammerung wegzulassen, muss man die Konvergenz der dann
entstehenden Reihe noch separat zeigen.
Als nächstes wenden wir uns der Frage zu, ob die Reihenfolge der Glieder einer Reihe einen Einfluss auf die Konvergenz einer Reihe, und auf denP
Wert einer
∞
konvergenten Reihe, hat. Wir betrachten Umordnungen einer Reihe n=0 an in
folgendem Sinn: ist f : N → N eine bijektive Abbildung und bn := af (n) , so
2.4. KLAMMERUNG UND UMORDNUNG
49
P∞
betrachten wir die Reihe n=0 bn und
uns, ob diese genau dann konverPfragen
∞
giert, wenn die ursprüngliche Reihe n=0 an konvergiert, und wenn ja, ob sie
denselben Wert hat.
P∞
Definition 2.4.2. Eine konvergente Reihe n=0 an mit reellen oder komplexen
Gliedern heißt P
unbedingt konvergent, wenn für jede Bijektion f : NP→ N gilt,
∞
∞
dass
die
Reihe
n=0 bn , mit bn := af (n) , ebenfalls konvergiert, mit
n=0 bn =
P∞
a
.
n
n=0
Eine konvergente, aber nicht unbedingt konvergente Reihe heißt bedingt konvergent.
Satz 2.4.3. Eine absolut konvergente Reihe mit reellen oder komplexen Gliedern
ist auch unbedingt konvergent.
P∞
Beweis. Es sei n=0 an eine absolut konvergente Reihe mit reellen oder komplexen Gliedern, f : N → N eine Bijektion und bn := af (n) für alle n. Wir bezeichPk
Pk
nen die Folgen der Partialsummen mit sk := n=0 an und rk := n=0 bn =
Pk
f (n) .
n=0 aP
∞
Da n=0 |an | nach Voraussetzung konvergiert, existiert für jedes ε > 0 ein
N ∈ N, so dass für alle p ≥ 1 gilt, dass
|aN +1 | + · · · + |aN +p | < ε.
(2.4.1)
Da f eine Bijektion ist, sind die Zahlen 0, 1, . . . , N im Bild von f ; damit finden
wir also eine Zahl K, so dass {0, 1, . . . , N } ⊂ {f (0), f (1), . . . , f (K)}. Es gilt
automatisch, dass K ≥ N . Für k ≥ K ≥ N treten also die Zahlen a0 , a1 , . . . , aN
sowohl in der Summe sk auf, als auch in der Summe rk . Es folgt, dass für solche
k
N
+p
X
sk − rk =
δi ai
i=N +1
für ein p ≥ 1, wobei δi jeweils entweder −1, 0 oder 1 ist. Damit folgt mit (2.4.1)
|sk − rk | ≤
N
+p
X
|ai | < ε,
i=N +1
was bedeutet, dass (sk − rk ) eine Nullfolge ist. Da s nach Voraussetzung konvergiert, konvergiert also auch rk , und zwar gegen denselben Grenzwert.
Als nächstes beweisen wir eine sehr starke Umkehrung dieses Satzes für
Reihen von reellen Zahlen:
Satz 2.4.4 (Riemannscher Umordnungssatz). Eine konvergente, aber nicht absolut konvergente Reihe mit reellen Gliedern ist bedingt konvergent. Es gilt in
diesem Fall sogar: für jede vorgegebene reelle Zahl gibt es eine Umordnung der
Reihe, die gegen diese reelle Zahl konvergiert.
P∞
Beweis. Wir müssen nur die zweite Aussage zeigen. Es sei n=0 an eine konvergente Reihe reeller Zahlen, die nicht absolut konvergiert. Wir nehmen ohne Beschränkung der Allgemeinheit an, dass an 6= 0 für alle n. Wir setzen
−
+ −
a+
, an ≥ 0
n := max{an , 0} und an := max{−an , 0}. Für alle n gilt dann anP
∞
−
−
+
−
sowie die Gleichungen an = an − an und |an | = an + an . Die Reihen n=0 a+
n
50
KAPITEL 2. REIHEN
P∞ −
und n=0 P
an sind notwendigerweise divergent: wäre eine dieser Reihen konver∞
−
+
gent, P
z.B. n=0 a+
n , dann auch die andere, da an = an − an . Dann wäre aber
∞
+
auch n=0 |an | als Summe der Reihen über die an und die a−
n konvergent, in
Widerspruch zu unserer Annahme. Wir definieren nun die Folge (pn ) als die
Folge, die aus der Folge (a+
n ) entsteht, wenn man alle Nullen streicht. Genauso
−
definieren wir diePFolge (qn ) durch
P∞ Streichung der Nullen in der Folge (an ).
∞
Auch die Reihen n=0 pn und n=0 qn sind divergent. Es gilt: jedes Glied an
entspricht entweder einem pk oder einem −qk .
Es sei nun
P∞eine reelle Zahl G vorgegeben. Wir konstruieren eine Umordnung
der Reihe n=0 an wie folgt: Es gibt einen kleinsten Index n0 , so dass
n0
X
pn > G
n=0
(ist G negativ, so ist n0 = 0). Dann gibt es einen kleinsten Index n1 , so dass
n0
X
pn +
n=0
n1
X
−qn < G.
n=0
Wir fahren mit dem kleinsten Index n2 > n0 fort, so dass
n0
X
n=0
pn +
n1
X
−qn +
n2
X
pn > G
(2.4.2)
n=n0 +1
n=0
P∞
usw. Die entstehende Reihe ist eine Umordnung der Reihe n=0 an . Der Abstand zwischen G und den Partialsummen der neuen Reihe lässt sich folgendermaßen abschätzen: z.B. in (2.4.2) gilt
!
n2
n1
n0
X
X
X
pn − G ≤ pn2
−qn +
pn +
n=0
n=0
n=n0 +1
aufgrund der Minimalität von n2 : würde die umgekehrte Ungleichung gelten, so
wäre schon nach Addition von pn2 −1 ein Wert > G entstanden. So können wir
alle Partialsummen durch immer spätere Folgenglieder pn bzw. qn abschätzen;
da diese aufgrund der Konvergenz der ursprünglichen Reihe Nullfolgen bilden,
folgt die Konvergenz der Folge der Partialsummen der neu konstruierten Reihe
gegen G.
2.5
Das Cauchyprodukt
Multiplizieren wir
Pnein Produkt der Form (a0 + · · · + an ) · (b0 + · · · + bn ) aus,
so erhalten wir i,j=0 ai bj . In dieser Doppelsumme ist es, da wir es nur mit
endlich vielen Summanden zu tun haben, unerheblich, in welcher Reihenfolge
wir sie aufaddieren. Problematischer wird es, wenn wir die analoge Fragestellung
für Reihen betrachten. In Anbetracht der Resultate des letzten Abschnittes ist
der folgende Satz jedoch nicht überraschend:
P∞
P∞
Satz 2.5.1. Es seien
n=0 an und
n=0 bn absolut konvergente Reihen mit
reellen oder komplexen Gliedern. Wir setzen für jedes n ∈ N
cn :=
n
X
k=0
ak bn−k = a0 bn + a1 bn−1 + · · · + an−1 b1 + an b0 .
2.5. DAS CAUCHYPRODUKT
Dann ist auch die Reihe
51
P∞
n=0 cn
absolut konvergent, und es gilt
!
!
∞
∞
∞
X
X
X
cn =
an ·
bn .
n=0
n=0
(2.5.1)
n=0
Beweis. Wir bezeichnen die Partialsummen der auftretenden Reihen
P∞ mit den
entsprechenden Großbuchstaben: die N -te Partialsumme der Reile n=0 cn lautet dann
N
X
X
CN :=
cn =
ak bl .
n=0
Andererseits gilt für AN :=
PN
k,l≥0, k+l≤N
n=0
an und BN :=
X
AN B N =
PN
n=0 bn ,
dass
a k bl .
0≤k,l≤N
Wir stellen uns die Summationsindizes als Teilmengen von N × N vor. Setzen
wir Qn := {(k, l) ∈ N × N | k, l ≤ N } und ∆N := {(k, l) ∈ N × N | k + l ≤ N },
so erhalten wir
X
CN =
a k bl
(k,l)∈∆N
und
X
AN BN =
ak bl .
(k,l)∈QN
Mit ÃN , B̃N und C̃N bezeichnen wir
die Partialsummen der Reihen über die
PN
entsprechenden Beträge, z.B. ÃN = n=0 |an |. Dann gilt
X
ÃN B̃N =
|ak ||bl |.
(k,l)∈QN
Es gilt QbN/2c ⊂ ∆N , also QN \ ⊂ QN \ QbN/2c und damit folgt wegen
AN B N − C N =
X
ak bl
(k,l)∈QN \∆N
die Ungleichung
X
|AN BN − CN | = ak bl (k,l)∈QN \∆N
X
≤
|ak ||bl |
(k,l)∈QN \∆N
≤
X
|ak ||bl |
(k,l)∈QN \QbN/2c
= ÃN B̃N − ÃbN/2c B̃bN/2c .
(2.5.2)
P∞
P∞
Da die Reihen n=0 an und n=0 bn nach Voraussetzung absolut konvergent
sind, existieren die Grenzwerte limN →∞ ÃN und limN →∞ B̃N . Sie stimmen mit
52
KAPITEL 2. REIHEN
den Grenzwerten limN →∞ ÃbN/2c und limN →∞ B̃bN/2c überein, weswegen die
rechte Seite in (2.5.2) gegen 0 konvergiert. Damit folgt die im Satz behauptete
Formel (2.5.1).
P∞
Es bleibt, die Aussage über die absolute Konvergenz der Reihe n=0 cn zu
beweisen. Dafür beobachten wir, dass
C̃N =
N
X
|cn | ≤
n=0
X
|ak ||bl | ≤
(k,l)∈∆N
X
|ak ||bl | = ÃN B̃N .
(k,l)∈Qn
Da
P∞limN →∞ ÃN B̃N existiert, folgt, dass auch limN →∞ C̃N existiert. Damit ist
n=0 cn absolut konvergent.
Korollar 2.5.2. Für alle x, y ∈ C gilt exp(x + y) = exp(x) · exp(y). Für alle
1
.
x ∈ C gilt exp(−x) = exp(x)
Beweis. Da die Exponentialreihe (siehe Beispiel 2.3.8) absolut konvergent ist,
gilt nach Satz 2.5.1
!
!
∞
∞
∞
X
X
X
yn
xn
·
=
cn ,
(2.5.3)
exp(x) · exp(y) =
n!
n!
n=0
n=0
n=0
wobei
cn =
n
X
xk
k=0
n y n−k
1 X n k n−k
(x + y)n
·
=
·
.
x y
=
k! (n − k)!
n!
n!
k
k=0
Damit ist die rechte Seite von (2.5.3) gleich exp(x + y). Die zweite folgt, indem
wir in der ersten x = y einsetzen und exp(0) = 1 verwenden.
Kapitel 3
Stetigkeit
3.1
Stetige Abbildungen
Eine Abbildung zwischen metrischen Räumen soll stetig heißen, wenn eine kleine
Änderung des Arguments nur in einer kleinen Änderung des Funktionswerts
resultiert. Wir haben zwei Möglichkeiten, dies zu formalisieren. Die erste lautet
wie folgt:
Definition 3.1.1. Eine Abbildung f : X → Y zwischen metrischen Räumen
heißt stetig in einem Punkt x ∈ X, wenn für alle ε > 0 ein δ > 0 existiert, so
dass f (Bδ (x)) ⊂ Bε (f (x)).
Die Abbildung f heißt stetig, wenn sie in jedem Punkt x ∈ X stetig ist.
Etwas ausführlicher: f ist in x0 stetig, wenn für alle ε > 0 ein δ > 0 existiert,
so dass für alle x ∈ X mit d(x, x0 ) < δ gilt, dass d(f (x), f (x0 )) < ε.
Die zweite Möglichkeit benutzt Folgen:
Definition 3.1.2. Eine Abbildung f : X → Y zwischen metrischen Räumen
heißt folgenstetig in einem Punkt x ∈ X, wenn für jede Folge (xn ) in X mit
limn→∞ xn = x gilt, dass limn→∞ f (xn ) = f (x).
Die Abbildung f heißt folgenstetig, wenn sie in jedem Punkt x ∈ X folgenstetig ist.
Satz 3.1.3. Es sei f : X → Y eine Abbildung zwischen metrischen Räumen
und x ∈ X. Dann ist f genau dann stetig in x, wenn f folgenstetig in x ist.
Insbesondere ist f genau dann stetig, wenn f folgenstetig ist.
Beweis. Es sei f stetig in x und (xn ) eine Folge in X, die gegen x konvergiert.
Es sei ε > 0 vorgegeben. Dann gibt es, da f stetig in x ist, ein δ > 0, so dass
f (Bδ (x)) ⊂ Bε (f (x)). Da (xn ) gegen x konvergiert, gibt es ein n0 ∈ N, so dass
d(x, xn ) < δ für alle n 6= n0 . Für diese n gilt also auch d(f (x), f (xn )) < ε. Wir
haben gezeigt, dass die Folge (f (xn )) gegen f (x) konvergiert.
Für die Rückrichtung nehmen wir an, dass f nicht in x stetig ist, d.h. es ein
ε > 0 gibt, so dass für alle δ > 0 ein z ∈ X existiert, so dass zwar d(x, z) < δ,
aber d(f (x), f (z)) ≥ ε. Insbesondere gibt es zu jedem N ∈ N ein xn , so dass
d(x, xn ) < n1 , aber d(f (x), f (xn )) ≥ ε. Die Folge (xn ) konvergiert also gegen x,
aber die Folge (f (xn )) nicht gegen f (x).
53
54
KAPITEL 3. STETIGKEIT
Beispiel 3.1.4.
1. Es sei X ein metrischer Raum und f = idX : X → X die
identische Abbildung, d.h. f (x) = x für alle x ∈ X. Wann immer (xn ) eine
konvergente Folge mit Grenzwert x ∈ X ist, dann ist auch (f (xn )) = (xn )
konvergent, mit Grenzwert f (x) = x. Damit ist f stetig.
2. Allgemeiner sei Y ⊂ X eine Teilmenge eines metrischen Raumes mit der
induzierten Metrik. Dann ist die Inklusion Y → X; y 7→ y stetig.
3. Es seien X und Y metrische Räume und y0 ∈ Y . Dann ist die konstante
Abbildung f : X → Y , gegeben durch f (x) = y0 , stetig. Es sei nämlich
(xn ) eine in X konvergente Folge, mit Grenzwert x. Dann ist (f (xn )) die
konstante Folge y0 , die natürlich gegen y0 = f (x) konvergiert.
4. Die Betragsfunktion | · | : C → R (oder R → R) ist stetig: es sei a ∈ C und
ε > 0 gegeben. Wir setzen δ = ε. Ist nun b ∈ C mit |a − b| < δ = ε, dann
ist ||a| − |b|| ≤ |a − b| < ε, d.h. | · | ist in a stetig.
(
0 x<0
5. Wir betrachten die Abbildung f : R → R; x 7→
und behaupten,
1 x ≥ 0.
dass sie in 0 nicht stetig ist. Denn für ε = 21 und ein beliebig vorgegebenes
δ > 0 gibt es ein x ∈ R mit |x − 0| < δ, aber |f (x) − 1| ≥ ε: setzen wir
x = − 2δ , so gilt |x| = 2δ < δ, aber |f (− 2δ ) − 1| = |0 − 1| = 1 ≥ 21 .
Mittels Folgen argumentiert man so: die Folge (an ), definiert durch an =
− n1 , erfüllt an → 0, aber (f (an )) ist konstant Null, konvergiert also nicht
gegen f (0) = 1.
6. Allgemeiner betrachten wir für eine Teilmenge A ⊂ X eines metrischen
Raumes
die charakteristische Funktion χA : X → R, die durch χA (x) =
(
1 x∈A
definiert ist. Man zeigt: χA ist genau dann stetig, wenn A in
0 x∈
/A
X offen und abgeschlossen ist.
Wir sagen, dass ein metrischer Raum X zusammenhängend ist, wenn eine
Teilmenge von X, die zugleich offen und abgeschlossen ist, schon gleich
∅ oder X sein muss. Es folgt: ist X ein zusammenhängender Raum und
A ⊂ X weder leer noch der ganze Raum X, so ist χA unstetig.
(
0 x≤0
7. Es sei f : R → R; x 7→
und behaupten, dass sie stetig ist. Da
x x>0
Stetigkeit in einem Punkt x nur von der Funktion in einer offenen Menge um x abhängt, ist die Stetigkeit in jedem Punkt x0 6= 0 offensichtlich.
(Entweder stimmt die Funktion in einer offenen Menge mit der konstanten Nullfunktion überein, oder mit der Funktion x 7→ x.) Es bleibt, die
Stetigkeit in x0 = 0 zu zeigen. Dafür sei ε > 0 gegeben. Wir behaupten,
dass für |x − x0 | = |x| < δ := ε gilt, dass |f (x) − f (x0 )| = |f (x)| < ε. Dies
ist aber klar, da f (x) entweder gleich x ist, so dass die Ungleichung nach
Wahl von x gilt, oder gleich 0 ist, in welchem Fall sogar |f (x)| = 0 ist.
8. Es sei (X, d) ein metrischer Raum. Wir betrachten (X × X, d0 ) als metrischen Raum wie in Beispiel 1.5.2. Dann ist die Abstandsfunktion d :
3.1. STETIGE ABBILDUNGEN
55
X × X → R stetig: es seien (x, y) ∈ X × X sowie ε > 0 gegeben. Mit
δ := ε gilt für alle (x0 , y 0 ) ∈ X × X mit d0 ((x, y), (x0 , y 0 )) < δ, dass
|d(x, y) − d(x0 , y 0 )| ≤ d(x, x0 ) + d(y, y 0 ) = d0 ((x, y), (x0 , y 0 )) < δ = ε.
Es folgt, dass d stetig ist.
9. Wir zeigen, dass exp : C → C stetig ist. Zuerst zeigen wir die Stetigkeit
in 0: Dafür notieren wir, dass für jedes z ∈ C mit |z| ≤ 1 und jedes n ∈ N
gilt, dass
∞
∞
∞
X
X
1
z n X |z|n
≤
≤
· |z| = (e − 1) · |z|,
| exp(z) − 1| = n! n!
n!
n=1
n=1
n=1
wobei wir im vorletzten Schritt benutzt haben, dass |z|n−1 ≤ 1, da |z| ≤ 1.
Ist nun (zn ) eine Nullfolge in C, so gilt, dass | exp(zn )−exp(0)| = | exp(zn )−
1| ≤ (e − 1) · |zn |, also konvergiert die Folge (exp(zn )) gegen exp(0) = 1.
Damit ist die Exponentialfunktion stetig in 0.
Nun sei (zn ) eine konvergente Folge in C mit Grenzwert z. Dann gilt
exp(zn ) = exp(zn − z + z) = exp(zn − z) exp(z);
da zn − z gegen 1 konvergiert, konvergiert diese Folge also gegen exp(z).
Damit ist exp in z stetig.
Man kann die Stetigkeit einer Abbildung auch mit Hilfe eines allgemeineren
Grenzwertbegriffs formulieren:
Definition 3.1.5. Es sei f : X → Y eine Abbildung zwischen metrischen
Räumen , p ∈ X und a ∈ Y . Falls für jede Folge (xn ) in X\{p} mit limn→∞ xn =
p gilt, dass limn→∞ f (xn ) = a, so schreiben wir
lim f (x) = a.
x→p
Bemerkung 3.1.6. Man beachte, dass in dieser Definitions der Funktionswert
f (p) vollkommen
irrelevant ist. Beispielsweise erfüllt die Funktion f : R →
(
0 x 6= 0
R; f (x) =
, dass limx→0 f (x) = 0, obwohl f (0) 6= 0. Dieser Grenz1 x=0
wertbegriff ergibt insbesondere auch Sinn für Funktionen, die nur auf X \ {p}
definiert sind.
Es gibt Autoren, die diese Limes-Schreibweise anders verwenden, und verlangen, dass die Bedingung in Definition 3.1.5 für alle Folgen (xn ) in X gilt.
Es ist dann in der Definition automatisch a = f (p).
Mit dieser Grenzwertdefinition ist die (Folgen)-Stetigkeit einer Abbildung
f : X → Y in einem Punkt p ∈ X nun äquivalent zu der Bedingung
lim f (x) = f (p).
x→p
(3.1.1)
56
KAPITEL 3. STETIGKEIT
Satz 3.1.7. Es seien X ein metrischer Raum und f, g : X → C zwei stetige
Funktionen. Dann sind auch
f + g : X −→ C; x 7−→ f (x) + g(x)
und
f · g : X −→ C; x 7−→ f (x) · g(x)
stetig.
Beweis. Dies folgt sofort daraus, dass Summe und Produkt konvergenter Folgen
komplexer Zahlen wieder konvergent sind, mit Grenzwert gleich der Summe bzw.
dem Produkt der entsprechenden Grenzwerte.
Beispiel 3.1.8. Wir wissen, dass die identische Abbildung C → C stetig ist.
Durch mehrfache Anwendung von Satz 3.1.7 folgt, dass auch C → C; x 7→ xk
stetig ist. Es folgt, wieder durch Anwendung von Satz 3.1.7,
Pn dass Polynomfunktionen, d.h. Abbildungen f : C → C der Form f (x) = k=0 ak xk für gewisse
a0 , . . . , an ∈ C, stetig sind.
Satz 3.1.9. Es seien X ein metrischer Raum und f, g : X → C zwei stetige
Abbildungen. Weiterhin sei x0 ∈ X, so dass g(x0 ) 6= 0. Dann gibt es ein δ > 0,
so dass g(x) 6= 0 für alle x ∈ δ(x0 ), und die Funktion
f (x)
f
: Bδ (x0 ) −→ C; x 7−→
g
g(x)
ist stetig.
Beweis. Da g in x0 stetig ist, gibt es zu ε =
g(x0 )| < ε für alle x ∈ Bδ (x0 ). Es folgt, dass
|g(x0 )|
2
ein δ > 0, so dass |g(x) −
|g(x)| = |g(x) − g(x0 ) + g(x0 )| ≥ |g(x0 )| > |g(x) − g(x0 )| ≥ 2ε − ε = ε > 0
für alle x ∈ Bδ (x0 ).
Die Stetigkeit der Abbildung fg auf Bδ (x0 ) folgt nun, da der Quotient zweier
konvergenter Folgen mit Grenzwert der Nennerfolge ungleich 0 wieder konvergent ist, mit Grenzwert gleich dem Quotienten der Grenzwerte.
Satz 3.1.10. Eine Abbildung f : X → Y zwischen metrischen Räumen ist
genau dann stetig, wenn das Urbild f −1 (U ) einer jeden in Y offenen Menge
U ⊂ Y offen in X ist.
Beweis. Es sei f : X → Y eine stetige Abbildung zwischen metrischen Räumen
und U ⊂ Y offen. Wir müssen zeigen, dass f −1 (U ) offen in X ist. Es sei dafür
x ∈ f −1 (U ) beliebig. Da U offen ist, gibt es ein ε > 0, so dass Bε (f (x)) ⊂ U .
Da f stetig in x ist, gibt es also ein δ > 0, so dass f (Bδ (x)) ⊂ Bε (f (x)) ⊂ U .
Das bedeutet, dass Bδ (x) ⊂ f −1 (U ), was zeigt, dass f −1 (U ) offen ist.
Es gelte nun umgekehrt, dass f −1 (U ) für jede in Y offene Menge U offen in
X ist. Es sei x ∈ X beliebig; wir zeigen, dass f stetig in x ist. Dafür sei ε > 0
beliebig. Da Bε (f (x)) offen in Y ist, ist nach Voraussetzung f −1 (Bε (f (x))) eine
offene Menge in X, die außerdem x enthält. Damit gibt es ein δ > 0, so dass
Bδ (x) ⊂ f −1 (Bε (f (x))), d.h. so, dass f (Bδ (x)) ⊂ Bε (f (x)).
3.2. STETIGE ABBILDUNGEN AUF R
57
Satz 3.1.11. Es seien f : X → Y und g : Y → Z stetige Abbildungen zwischen
metrischen Räumen. Dann ist auch die Komposition g ◦ f : X → Z stetig.
Beweis. Wir verwenden die Charakterisierung der Stetigkeit aus Satz 3.1.10.
Für jede in Z offene Menge U ist (g ◦ f )−1 (U ) offen in X: da g stetig ist, ist
g −1 (U ) offen in Y , und da f stetig ist, dann auch f −1 (g −1 (U )) = (g ◦ f )−1 (U )
offen in X.
Korollar 3.1.12. Es sei f : X → Y eine stetige Abbildung zwischen metrischen Räumen und Z ⊂ X eine Teilmenge, die wir mit der induzierten Metrik
versehen. Dann ist die Einschränkung f |Z : Z → Y auch stetig.
Beweis. Die Einschränkung f |Z ist nach Definition die Verknüpfung der Inklusion Z → X mit f . Dass die Inklusion stetig ist, haben wir in Beispiel 3.1.4
beobachtet; damit folgt die Behauptung aus Satz 3.1.11.
Bemerkung 3.1.13. Es ist möglich, die Konzepte der Stetigkeit für Abbildungen zwischen topologischen Räumen zu verallgemeinern. Der Begriff der Folgenstetigkeit lässt sich wörtlich übernehmen, da wir einen Begriff von Konvergenz einer Folge in einem topologischen Raum haben. Da der Begriff der Stetigkeit die Abstandsfunktion benutzt, lässt dieser sich nicht direkt übertragen; die
äquivalente Charakterisierung in Satz 3.1.10 benutzt aber lediglich den Begriff
der offenen Menge, der in einem allgemeinen topologischen Raum verfügbar ist.
Dies nimmt man als Motivation, eine Abbildung f : X → Y zwischen topologischen Räumen als stetig zu definieren, wenn das Urbild f −1 (U ) einer jeden in
Y offenen Menge U ⊂ Y offen in X ist.
Eine Abbildung f : X → Y zwischen topologischen Räumen ist nun aber im
Allgemeinen nicht genau dann stetig, wenn sie folgenstetig ist – ein weiteres Indiz dafür, dass sich allgemeine topologische Räume viel pathologischer verhalten
können als metrische Räume.
3.2
Stetige Abbildungen auf R
Für Funktionen f : R → R können wir, ähnlich wie in Definition 3.1.5, weitere
Typen von Limiten definieren:
Definition 3.2.1. Es sei f : R → R eine Funktion. Falls eine Zahl a ∈ R existiert, so dass für jede Folge (xn ), die gegen +∞ (bzw. −∞) divergiert, gilt, dass
limn→∞ f (xn ) = a, so schreiben wir limx→+∞ f (x) = a (bzw. limx→−∞ f (x) =
a.
Falls für jede Folge (xn ), die gegen +∞ divergiert, gilt, dass (f (xn )) gegen +∞ (bzw. −∞ divergiert), so schreiben wir limx→+∞ f (x) = ∞ (bzw.
limx→−∞ f (x) = −∞). Entsprechendes definieren wir für −∞ statt +∞.
Man kann diese Bedingungen auch ohne Folgen formulieren. Zum Beispiel
gilt genau dann limx→+∞ f (x) = a, wenn gilt: Für alle ε > 0 gibt es ein C > 0,
so dass für alle x > C gilt, dass |f (x) − a| < ε.
Definition 3.2.2. Es sei f : R → R eine Funktion, p ∈ R und a ∈ R. Falls
für alle ε > 0 ein δ > 0 existiert, so dass für alle x ∈ (p − δ, p) gilt, dass
|f (x) − a| < ε, so schreiben wir limx%p f (x) = a.
Falls für alle ε > 0 ein δ > 0 existiert, so dass für alle x ∈ (p, p + δ) gilt,
dass |f (x) − a| < ε, so schreiben wir limx&p f (x) = a.
58
KAPITEL 3. STETIGKEIT
Man zeigt: f ist genau dann stetig in p, wenn limx%p f (x) = limx&p f (x) =
f (p).
Satz 3.2.3 (Zwischenwertsatz). Es seien a, b ∈ R, a < b, und f : [a, b] → R
stetig, so dass f (a) ≤ f (b). Dann gibt es für jede reelle Zahl u ∈ [f (a), f (b)] ein
x ∈ [a, b], so dass f (x) = u.
Gilt stattdessen, dass f (a) ≥ f (b), so gilt dieselbe Aussage für alle u ∈
[f (b), f (a)].
Beweis. Es sei M := {x ∈ [a, b] | f (x) < u}. Da M ⊂ [a, b], ist M beschränkt und besitzt, da M außerdem nicht leer ist, also nach Satz 1.8.2 ein
Supremum s. Es gibt eine Folge (xn ) von Elementen von M , die gegen s konvergiert. Da f (folgen)stetig ist und f (xn ) < u für alle n, folgt also, dass
f (s) = limn→∞ f (xn ) ≤ u. Wir behaupten, dass f (s) = u. Ist dies nicht der
Fall, so ist f (s) < u. Wir setzen ε := u − f (s); da f stetig ist, gibt es δ > 0, so
dass für alle x ∈ [a, b] mit |s − x| < δ gilt, dass |f (s) − f (x)| < ε. Insbesondere
ist f (x) < u für alle solche x, weswegen folgt, dass (s − δ, s + δ) ⊂ M . Dies ist
ein Widerspruch dazu, dass s das Supremum von M ist.
Der zweite Teil des Satzes folgt, indem wir den ersten auf −f und −u anwenden.
Korollar 3.2.4. Jede reelle Polynomfunktion von ungeradem Grad hat eine
reelle Nullstelle.
Beweis. Es sei f (x) = ad xd + ad−1 xd−1 + · · · + a1 x + a0 eine reelle Polynomfunktion, wobei d ungerade ist und ad 6= 0. Wir können annehmen, dass ad > 0
(ansonsten ersetzen wir f durch −f ; dies dürfen wir, da die Nullstellen von f
und −f identisch sind).
Für n ∈ N gilt
a1
a0 ad−1
f (n) = nd ad +
+ · · · + d−1 + d ;
n
n
n
der Ausdruck in der Klammer geht für n → ∞ gegen ad > 0. Da (nd ) gegen
+∞ divergiert, folgt, dass es eine Zahl N ∈ N gibt, so dass f (N ) > 0.
Wir betrachten weiterhin
a1
a0 ad−1
+ · · · + d−1 − d .
f (−n) = −nd ad −
n
n
n
Auch hier geht der Klammerausdruck für n → ∞ gegen ad > 0. Da (−nd ) gegen
−∞ divergiert, folgt, dass es eine Zahl M ∈ N gibt, so dass f (−M ) < 0.
Aus dem Zwischenwertsatz, angewandt auf die stetige Abbildung f |[−M,N ] :
[−M, N ] → R, folgt nun, dass es ein x ∈ [−M, N ] gibt, so dass f (x) = 0.
Korollar 3.2.5. Ist I ⊂ R ein Intervall und f : I → R stetig, so ist auch das
Bild f (I) ein Intervall.
Beweis. Eine Teilmenge J ⊂ R ist genau dann ein Intervall, wenn für je drei
reellen Zahlen x < y < z mit x, z ∈ J auch y ∈ J gilt. Es seien also x =
f (a), z = f (c) ∈ f (I), für a, c ∈ I, sowie y so, dass x < y < z. Nach dem
Zwischenwertsatz, angewandt auf f |[a,c] , folgt, dass es b ∈ [a, c] gibt, so dass
f (b) = y. Damit ist y ∈ f (I).
3.2. STETIGE ABBILDUNGEN AUF R
59
Ist f : X → Y eine bijektive Abbildung (zwischen Mengen), so können wir
die Umkehrabbildung f −1 : Y → X zu f betrachten. Sind X und Y metrische
Räume und f : X → Y stetig, so muss die Umkehrabbildung nicht unbedingt
stetig sein, wie das folgende Beispiel zeigt:
Beispiel 3.2.6. In Beispiel 3.9.11 werden wir sehen, dass die Abbildung f :
[0, 1) → S 1 ; t 7→ e2πit stetig und bijektiv ist, aber die Umkehrabbildung von f
nicht stetig ist.
Für
Definition 3.2.7. Eine Funktion f : I → R, wobei I ⊂ R ein Intervall ist,
heißt
1. monoton wachsend, wenn für alle x, y ∈ I mit x < y gilt, dass f (x) ≤ f (y).
2. streng monoton wachsend, wenn für alle x, y ∈ I mit x < y gilt, dass
f (x) < f (y).
3. monoton fallend, wenn für alle x, y ∈ I mit x < y gilt, dass f (x) ≥ f (y).
4. streng monoton fallend, wenn für alle x, y ∈ I mit x < y gilt, dass f (x) >
f (y).
Ist f monoton wachsend oder monoton fallend, so nennen wir f monoton. Ist f
streng monoton wachsend oder streng monoton fallend, so nennen wir f streng
monoton.
Wir notieren, dass eine streng monotone Funktion automatisch injektiv ist.
Satz 3.2.8. Es sei I ⊂ R ein Intervall und f : I → R eine stetige, streng
monoton wachsende (oder fallende) Funktion. Dann bildet f das Intervall I
bijektiv auf das Intervall J := f (I) ab, und die Umkehrfunktion f −1 : J → I ist
ebenfalls stetig und streng monoton wachsend (oder fallend).
Beweis. Es reicht, den Fall zu betrachten, dass f : I → R streng monoton
wachsend ist; im anderen Fall betrachten wir −f und wenden den ersten Fall
an.
Nach Korollar 3.2.5 ist J := f (I) wieder ein Intervall. Da f als streng monotone Funktion injektiv ist, bildet f das Intervall I bijektiv auf J ab. Wir können
dahher die Umkehrfunktion f −1 : J → I betrachten. Wir zeigen, dass f −1 wieder streng monoton wachsend ist: es seien x, y ∈ J mit x < y. Wir müssen
zeigen, dass f −1 (x) < f −1 (y). Wäre jedoch f −1 (x) ≥ f −1 (y), so wrde, da f
streng monoton wachsend ist, folgen, dass x = f (f −1 (x)) ≥ f (f −1 (y)) = y, was
der Annahme, dass x < y ist, widerspricht.
Nun zeigen wir, dass f −1 stetig ist. Dafür geben wir uns eine konvergente
Folge (xn ) in J vor, mit x = limn→∞ xn ∈ J. Wir definieren zwei weitere Folgen
in J wie folgt: für alle n ∈ N sei yn := inf{xm | m ≥ n} und zn := sup{xm |
m ≥ n}.
Nach Konstruktion gilt yn ≤ xn ≤ zn ; weiterhin ist yn eine monoton wachsende und zn eine monoton fallende Folge. Gilt |x − xn | < ε für alle n ≥ n0 , so
folgt aus der Definition der beiden neu konstruierten Folgen, dass |x − yn | ≤ ε
und |x − zn | ≤ ε für n ≥ n0 . Es folgt also, dass sowohl (yn ) als auch (zn )
gegen x konvergieren. Da (yn ) und f −1 monoton wachsend sind, folgt, dass
60
KAPITEL 3. STETIGKEIT
die Folge (f −1 (yn )) auch monoton wachsend ist. Da yn ≤ x für alle n, ist
f −1 (yn ) ≤ f −1 (x), so dass (f −1 (yn )) auch eine beschränkte Folge ist. Daher
folgt aus dem Satz 1.8.8 von Bolzano-Weierstrass, dass (f −1 (yn )) konvergiert.
Da f stetig ist, folgt
f ( lim f −1 (yn )) = lim f (f −1 (yn )) = lim yn = x,
n→∞
n→∞
n→∞
d.h. limn→∞ f −1 (yn ) = f −1 (x). Da f −1 monoton wachsend ist und (zn ) monoton fallend, ist auch (f −1 (zn )) monoton fallend. Wie argumentieren analog wie
bei der Folge (yn ) und erhalten, dass auch die Folge (f −1 (zn )) konvergent ist,
mit Grenzwert f −1 (x).
Die Situation ist nun wie folgt: es gilt für alle n, dass f −1 (yn ) ≤ f −1 (xn ) ≤
−1
f (zn ), und die beiden äußeren Folgen konvergieren gegen f −1 (x). Nach dem
Sandwichsatz 1.3.13 konvergiert auch f −1 (xn ) gegen f −1 (x), was die Stetigkeit
von f −1 in x zeigt.
Definition 3.2.9. Eine stetige, bijektive Abbildung f : X → Y zwischen metrischen Räumen, so dass die Umkehrabbildung f −1 : Y → X ebenfalls stetig ist,
heißt ein Homöomorphismus.
Wir haben also gezeigt: eine auf einem Intervall I definierte, stetige, streng
monotone Funktion f : I → R, definiert einen Homöomorphismus auf ihr Bild
f (I).
Beispiel 3.2.10. Wir betrachten für k ∈ N, k ≥ 1, die Abbildung (0, ∞) →
(0, ∞); x 7→ xk . Diese Abbildung ist eine stetige und streng monoton wachsende
k
(sind 0 < x < y, so ist 0 < x/y < 1 und damit auch 0 < (x/y)
= xk /y k < 1)
√
k
Bijektion. Damit ist die Umkehrfunktion, die durch x 7→ x gegeben ist, auch
stetig und streng monoton wachsend.
Als weiteres Beispiel betrachten wir die Einschränkung der Exponentialabbildung auf die reelle Achse. Wir zeigen:
Satz 3.2.11. Die stetige Abbildung exp : R → (0, ∞) ist streng monoton wachsend und bijektiv. Es gilt 0 < ex < 1 für x < 0 und 1 < ex < ∞ für x > 0.
Weiterhin gilt für jedes α ∈ Q:
ex
= +∞.
x→∞ xα
Beweis. Da für x > 0 alle Reihenglieder der Exponentialreihe positiv sind, gilt
lim
ex = 1 +
∞
X
xn
>1
n!
n=1
für solche x. Ist x < 0, so ist ex = e−(−x) = 1/e−x ∈ (0, 1), da dann e−x ∈
(1, ∞).
Die strenge Monotonie von exp folgt, da für x < y gilt, dass ex > 0 und
y−x
e
> 1, und daher
ey = ex+y−x = ex ey−x > ex .
Die Grenzwertaussage ist für α < 0 klar, also betrachten wir den Fall α ≥ 0. Es
sei n eine natürliche Zahl > α. Dann ist ex > xn+1 (n + 1)! und daher
ex
x
ex
>
>
.
xα
xn
(n + 1)!
3.2. STETIGE ABBILDUNGEN AUF R
61
x
Daraus folgt limn→∞ xeα = +∞.
Für α = 0 ergibt sich insbesondere die Aussage limx→∞ ex = +∞. Daraus
folgt limx→−∞ ex = limx→∞ e1x = 0. Dies impliziert, dass exp : R → (0, ∞)
bijektiv ist.
Wir haben gezeigt, dass exp : R → (0, ∞) streng monoton, stetig und bijektiv
ist. Damit erhalten wir, dass die Umkehrabbildung auch streng monoton und
bijektiv ist:
Definition 3.2.12. Wir bezeichnen die Umkehrabbildung von exp : R → (0, ∞)
mit ln : (0, ∞) → R und nennen sie den natürlichen Logarithmus. Sie ist stetig
und streng monoton wachsend.
Korollar 2.5.2 liefert folgende Aussage über den natürlichen Logarithmus:
Lemma 3.2.13. Es gilt für alle x, y ∈ (0, ∞):
ln(xy) = ln x + ln y
sowie
ln
x
= ln x − ln y.
y
Beweis. Es seien x, y ∈ (0, ∞). Dann gilt wegen Korollar 2.5.2
exp(ln x + ln y) = exp(ln x) exp(ln y) = xy.
1
Durch Anwenden von ln folgt die erste Gleichung. Da exp(− ln y) = exp(ln
y) =
1
1
y , folgt − ln y = ln y , was in Kombination mit der ersten Gleichung die zweite
zeigt.
Lemma 3.2.14. Es gilt für a ∈ R, a > 0, und r ∈ Q, dass ar = er ln a .
Beweis. Wir zeigen die Aussage zunächst für eine rationale Zahl r der Form
r = 1/q, mit q ∈ N, q ≥ 1; wir wollen also verifizieren, dass a1/q = e(1/q)·ln a .
Dafür müssen wir zeigen, dass die q-te Potenz dieser Ausdrücke gleich sind: mit
Hilfe von Korollar 2.5.2 berechnen wir
(e(1/q)·ln a )q = eq·(1/q)·ln a = eln a = a.
Nun schreiben wir r = p/q, wobei p ∈ Z und q ≥ 1, und berechnen, wieder mit
Korollar 2.5.2:
ar = ap/q = (a1/q )p = (e(1/q)·ln a )p = e(p/q)·ln a = er ln a .
Diese Aussage nehmen wir als Motivation, Potenzen auch für reelle Exponenten zu definieren:
Definition 3.2.15. Es sei a ∈ R, a > 0, und r ∈ R. Wir definieren
ar := er ln a .
62
KAPITEL 3. STETIGKEIT
3.3
Varianten der Stetigkeit
Die Stetigkeit einer Abbildung f : X → Y zwischen metrischen Räumen ist
punktweise definiert: f ist genau dann stetig, wenn gilt:
∀ x0 ∈ X ∀ ε > 0 ∃ δ > 0 ∀ x ∈ X (d(x, x0 ) < δ =⇒ d(f (x), f (x0 )) < ε.
Wichtig ist hierbei: δ darf sowohl von ε als auch vom Punkt x0 abhängen.
Verlangen wir stattdessen, dass δ von x0 unabhängig ist, so gelangen wir zu
folgender Definition:
Definition 3.3.1. Es sei f : X → Y eine Abbildung zwischen metrischen
Räumen. Dann heißt f gleichmäßig stetig, wenn gilt:
∀ ε > 0 ∃ δ > 0 ∀ x, x0 ∈ X (d(x, x0 ) < δ =⇒ d(f (x), f (x0 )) < ε).
Man beachte, dass es keinen Sinn ergibt, davon zu sprechen, dass eine Abbildung gleichmäßig stetig in einem Punkt ist – diese Definition ist ihrer Natur
nach globaler. Sofort aus den Definitionen folgt:
Satz 3.3.2. Eine gleichmäßig stetige Abbildung f : X → Y zwischen metrischen
Räumen ist stetig.
Beispiel 3.3.3. Wir betrachten die stetige Abbildung f : R → R; x 7→ x2 und
behaupten, dass sie nicht gleichmäßig stetig ist. Wir setzen ε = 1 und geben
uns ein δ > 0 vor. Wir müssen x, x0 ∈ R finden, so dass |x − x0 | < δ, aber
|x2 −x02 | ≥ 1. Wir versuchen den Ansatz x0 = x+δ/2, mit x > 0, und berechnen
2 δ2 δ δ2
2
2
02
|x − x | = x − x +
= −xδ − = xδ +
2 4
4
ist x nun eine beliebige positive reelle Zahl, die größer als
1 δ
δ2
2
02
|x − x | >
−
δ+
= 1.
δ
4
4
1
δ
−
δ
4
ist, so folgt
Wir wissen bereits, dass stetige Abbildungen zwischen metrischen Räumen
folgenstetig sind. Insbesondere bilden sie konvergente Folgen auf konvergente
Folgen ab. Der folgende Satz behandelt die analoge Frage für Cauchy-Folgen:
Satz 3.3.4. Es sei f : X → Y eine gleichmäßig stetige Abbildung zwischen
metrischen Räumen und (xn ) eine Cauchy-Folge in X. Dann ist (f (xn )) eine
Cauchy-Folge in Y .
Beweis. Es sei ε > 0 beliebig. Es sei δ > 0 so, dass für alle x, x0 ∈ X mit
d(x, x0 ) < δ folgt, dass d(f (x), f (x0 )) < ε. Da (xn ) eine Cauchy-Folge in X ist,
gibt es ein n0 ∈ N, so dass für alle n, m ≥ n0 gilt, dass d(xn , xm ) < δ. Für solche
n, m gilt dann d(f (xn ), f (xm )) < ε, d.h. die Folge (f (xn )) ist eine Cauchy-Folge
in Y .
Beispiel 3.3.5. Die Aussage des Satzes ist für allgemeine stetige Abbildungen
falsch: Wir betrachten die stetige Abbildung f : (0, 1] → R; x 7→ 1/x, sowie
die Cauchy-Folge (1/n) in (0, 1]. Da f (1/n) = n, ist die Bildfolge (f (1/n))
divergent. Es folgt also aus Satz 3.3.4, dass die Abbildung f nicht gleichmäßig
stetig sein kann.
3.4. STETIGE FUNKTIONEN AUF KOMPAKTEN RÄUMEN
63
Eine weitere, viel stärkere Form der Stetigkeit ist durch folgende Definition
gegeben:
Definition 3.3.6. Es sei f : X → Y eine Abbildung zwischen metrischen
Räumen und K ∈ R, K ≥ 0. Dann heißt f Lipschitzstetig mit Lipschitzkonstante K, wenn für alle x, x0 ∈ X gilt, dass
d(f (x), f (x0 )) ≤ K · d(x, x0 ).
Wir können uns diese Definition für Funktionen f : R → R anhand des
(x0 )|
ist die Steigung der
Graphen von f veranschaulichen: der Quotient |f (x)−f
|x−x0 |
Gerade zwischen den Punkten (x, f (x)) und (x0 , f (x0 )). Die Lipschitzstetigkeit
von f besagt nun gerade, dass diese Steigungen durch eine globale Konstante
K beschränkt sind.
Satz 3.3.7. Eine Lipschitzstetige Abbildung f : X → Y zwischen metrischen
Räumen ist gleichmäßig stetig (und damit auch stetig).
Beweis. Es sei f : X → Y Lipschitzstetig mit Lipschitzkonstante K. Es sei
ε > 0 beliebig. Wir setzen δ = ε/K. Dann gilt für alle x, x0 ∈ X mit d(x, x0 ) <
δ = ε/K, dass d(f (x), f (x0 )) ≤ K · d(x, x0 ) < K · (ε/K) = ε.
√
Beispiel 3.3.8. Wir betrachten die Funktion f : R≥0 → R; x 7→ x. In den
Übungen werden wir sehen, dass sie gleichmäßig stetig ist; sie ist aber nicht
Lipschitzstetig. Es ist nämlich der Ausdruck
√
√
| x − x0 |
1
√
= √
0
|x − x |
| x + x0 |
für x, x0 ∈ R≥0 , x 6= x0 , nicht durch eine Konstante
beschränkt. Betrachten wir
√
jedoch die Einschränkung (c, ∞) → R; x 7→ x, für ein c > 0, so ist diese
Lipschitzstetig: es gilt dann nämlich
√
√
| x − x0 |
1
1
√
= √
≤ √ .
0
0
|x − x |
2 c
| x+ x|
für alle x, x0 > c mit x 6= x0 .
3.4
Stetige Funktionen auf kompakten Räumen
Satz 3.4.1. Es sei f : X → Y eine stetige Abbildung zwischen metrischen
Räumen, wobei X kompakt sei. Dann ist f gleichmäßig stetig.
Beweis. Wir nehmen an, f sei nicht gleichmäßig stetig, d.h. es gibt ein ε > 0,
so dass für alle δ > 0 Elemente x, x0 mit d(x, x0 ) < δ und d(f (x), f (x0 )) ≥ ε
existieren.
Wir betrachten δ = n1 und finden also Elemente xn , x0n mit d(xn , x0n ) < n1
und d(f (xn ), f (x0n )) ≥ ε. Da X kompakt ist, hat die Folge (xn ) eine konvergente
Teilfolge (xnk ), die gegen ein Element x ∈ X konvergiert. Da d(xn , x0n ) < n1 ,
folgt, dass auch limk→∞ x0nk = x. Da f stetig ist, folgt, dass limk→∞ f (xnk ) =
limk→∞ f (x0nk ) = f (x). Dies ist aber ein Widerspruch, da d(f (xnk ), f (x0nk )) ≥ ε
für alle k.
64
KAPITEL 3. STETIGKEIT
Satz 3.4.2. Es sei f : X → Y eine stetige Abbildung zwischen metrischen
Räumen, wobei X kompakt sei. Dann ist der metrische Raum f (X) ebenfalls
kompakt.
S
Beweis. Es sei f (X) ⊂ i∈I Ui eine offene Überdeckung von f (X). Wir müssen
zeigen, dass sie eine endliche Teilüberdeckung zulässt. Da
ist, ist f −1 (Ui )
S f stetig
−1
−1
für jedes i ∈ I offen in X. Da f (f (X)) = X, ist i∈I f (Ui ) eine offene
Überdeckung von X, die, da X kompakt ist, eine endliche Teilüberdeckung
X = f −1 (Ui1 ) ∪ · · · ∪ f −1 (Uin ) besitzt. Dann ist f (X) = f (f −1 (Ui1 ) ∪ · · · ∪
f −1 (Uin )) ⊂ Ui1 ∪ · · · ∪ Uin ; wir haben eine endliche Teilüberdeckung von f (X)
gefunden.
Bemerkung 3.4.3. Dieser Satz gilt auch für topologische Räume; der Beweis
ist derselbe.
Als wichtigen Spezialfall erhalten wir:
Korollar 3.4.4. Eine stetige Abbildung f : [a, b] → R nimmt Maximum und
Minimum an, d.h. es gibt x0 , x1 ∈ [a, b], so dass f (x1 ) ≤ f (x) ≤ f (x0 ) für alle
x ∈ [a, b].
Beweis. Das abgeschlossene Intervall [a, b] ist kompakt. Nach Satz 3.4.2 ist auch
f ([a, b]) kompakt. Nach Korollar 1.13.12 besitzt f ([a, b]) Maximum und Minimum.
3.5
Äquivalenz von Normen auf Rn
Definition 3.5.1. Zwei Normen ||·|| und |||·||| auf Rn heißen äquivalent, wenn
es reelle Konstanten A, B > 0 gibt, so dass
A|||x||| ≤ ||x|| ≤ B|||x|||
für alle x ∈ Rn .
Dies definiert eine Äquivalenzrelation auf der Menge der Normen auf Rn .
Lemma 3.5.2. Äquivalente Normen auf Rn induzieren dieselbe Topologie.
Beweis. Es seien || · || und ||| · ||| zwei äquivalente Normen auf Rn , d.h. es gebe
reelle Konstanten A, B > 0, so dass A|||x||| ≤ ||x|| ≤ B|||x||| für alle x ∈ Rn .
Bezeichnen wir mit Bε (0) den ε-Ball um 0 bezüglich || · || und mit Bε0 (0) den
ε-Ball bezüglich ||| · |||, so gilt also
0
0
Bε/B
(x) ⊂ Bε (x) ⊂ Bε/A
(x).
für alle x ∈ Rn und alle ε > 0. Dies zeigt, dass jede bezüglich || · || offene Menge
in Rn auch offen bezüglich ||| · ||| ist, und umgekehrt.
Wir beschäftigen uns nun mit dem folgenden Satz:
Satz 3.5.3. Je zwei Normen auf Rn sind äquivalent.
3.5. ÄQUIVALENZ VON NORMEN AUF RN
65
Der Satz besagt, dass die durch eine Norm induzierte Topologie auf Rn
von der Wahl der Norm unabhängig ist. Wir können also von in Rn offenen,
abgeschlossenen, oder kompakten Teilmengen sprechen, ohne vorher eine Norm
fixiert zu haben.
Der Satz, dass alle Normen auf Rn äquivalent sind, impliziert auch, dass der
Begriff einer beschränkten Teilmenge von Rn unabhängig von der gewählten
Norm ist. Wir können also von einer beschränkten Teilmenge des Rn sprechen,
ohne vorher eine Norm zu fixieren. Mit diesem Begriff gilt folgende Verallgemeinerung von Korollar 1.13.10:
Satz 3.5.4 (Satz von Heine–Borel). Eine Teilmenge K ⊂ Rn ist genau dann
kompakt, wenn sie abgeschlossen und beschränkt ist.
Beweis. Da aus Satz 3.5.3 folgt, dass die Begriffe von offenen, abgeschlossenen,
beschränkten und kompakten Teilmengen von Rn , unabhängig von der gewählten Norm sind, reicht es, den Satz für die Maximumsnorm zu beweisen. Man
beachte: im Beweis von Satz 3.5.3 benutzen wir die Aussage des Satzes von
Heine–Borel, wenn wir auf Rn die Maximumsnorm fixieren!
In allgemeinen metrischen Räumen gilt, dass eine kompakte Teilmenge abgeschlossen und beschränkt ist. Es sei also K ⊂ Rn abgeschlossen und beschränkt,
sowie (xk ) eine Folge in K. Wir schreiben xk = (xk1 , . . . , xkn ). Wir fixieren auf
Rn die Maximumsnorm; bezüglich dieser gilt: eine Folge in Rn ist genau dann
konvergent/Cauchy-Folge, wenn jede Komponentenfolge konvergent/CauchyFolge ist. Da (xk ) beschränkt ist, ist jede Komponentenfolge (xki )k beschränkt.
Damit besitzt die erste Komponentenfolge (xk1 ) nach dem Satz von BolzanoWeierstraß 1.8.8 eine (in R) konvergente Teilfolge. Für diese Teilfolge hat nun
die zweite Komponentenfolge eine konvergente Teilfolge, usw. Wir langen schlussendlich bei einer Teilfolge der ursprünglichen Folge (xk ) an, deren sämtliche
Komponentenfolgen konvergieren. Damit konvergiert auch die Teilfolge. Da K
abgeschlossen ist, liegt der Grenzwert in K.
Es folgt nun der Beweis von Satz 3.5.3:
Beweis von Satz 3.5.3. Es genügt zu zeigen, dass jede Norm || · || auf Rn zur
Maximumsnorm || · ||∞ äquivalent ist.
Pn
Schreiben wir einen gegebenes Element x ∈ Rn als x = i=1 xi ei , wobei
e1 = (1, 0, . . . , 0), . . . , en = (0, . . . , 0, 1), so folgt
n
!
n
n
X
X
X
xi ei ≤
|xi |||ei || ≤
||ei || · ||x||∞ ,
||x|| = i=1
i=1
i=1
Pn
d.h. mit B := i=1 ||ei || gilt die Ungleichung ||x|| ≤ B||x||∞ für alle x ∈ Rn
simultan.
Für die umgekehrte Ungleichung betrachten wir Rn als metrischen Raum
bezüglich der durch ||·||∞ induzierten Metrik d∞ , und zeigen, dass die Abbildung
|| · || : Rn → R stetig ist. Es gilt
| ||x|| − ||y|| | ≤ ||x − y|| ≤ B||x − y||∞ = Bd∞ (x, y).
für alle x, y ∈ Rn , nach der Dreiecksungleichung und der oben gezeigen Ungleichung. Dies bedeutet, dass || · || Lipschitzstetig mit Lipschitzkonstante B ist,
und insbesondere stetig.
66
KAPITEL 3. STETIGKEIT
Weiterhin betrachten wir die Teilmenge K = {x ∈ Rn | ||x||∞ = 1} und
behaupten, dass diese eine kompakte Teilmenge von Rn (bezüglich der Maximumsnorm) ist. Nach dem Satz von Heine–Borel für die Maximumsnorm reicht
es dafür zu zeigen, dass K abgeschlossen und beschränkt ist. Die Beschränktheit von K ist klar, da K ⊂ B2 (0). Die Abgeschlossenheit von K folgt, da
K = f −1 (1) das Urbild der abgeschlossenen Menge {1} ⊂ R unter der stetigen
Abbildung f = || · ||∞ : Rn → R ist.
Nach Satz 3.4.2 ist das Bild von K unter der stetigen Abbildung || · || wieder
eine kompakte Teilmenge von R und besitzt damit ein Minimum. Es gibt also
ein x0 ∈ Rn mit ||x0 ||∞ = 1, so dass A := ||x0 || = min{||x|| | ||x||∞ = 1}. Mit
anderen Worten: für alle x ∈ Rn mit ||x||∞ = 1 gilt, dass
||x||
= ||x|| ≥ ||x0 || = A.
||x||∞
Diese Ungleichung gilt dann aber auch für alle x ∈ Rn mit x 6= 0, da wir x = ay
|a|·||y||
||x||
= |a|·||y||
=
für ein y mit ||y||∞ = 1 schreiben können und erhalten, dass ||x||
∞
∞
||y||
||y||∞
≥ A. Dies zeigt, dass ||x|| ≥ A||x||∞ für alle y ∈ Rn .
Mit Hilfe dieses Satzes können wir nun den allgemeinen Beweis von Satz
1.11.12 geben:
Beweis. Es sei || · || eine beliebige Norm auf Rn . Diese ist nach dem Satz äquivalent zur Maximumsnorm, d.h. es gibt Konstanten A, B > 0, so dass
A||x||∞ ≤ ||x|| ≤ B||x||∞
(3.5.1)
für alle x ∈ Rn .
Ist (xn ) nun eine Cauchy-Folge bezüglich ||·|| (bzw. bezüglich der durch diese
Norm induzierten Metrik), so ist (xn ) wegen der linken Ungleichung in (3.5.1)
auch bezüglich ||·||∞ eine Cauchy-Folge. Für die Maximumsnorm haben wir Satz
1.11.12 bereits bewiesen, so dass (xn ) also bezüglich der Maximumsnorm gegen
ein x ∈ Rn konvergiert. Wegen der rechten Ungleichung in (3.5.1) konvergiert
(xn ) nun aber auch bezüglich || · || gegen x.
Beispiel 3.5.5. Die n-dimensionale Sphäre S n = {x ∈ Rn+1 | ||x||2 = 1} ist
kompakt: sie ist beschränkt und Urbild von 1 unter der stetigen Abbildung || · ||2 .
3.6
Konvergenz von Funktionenfolgen
Definition 3.6.1. Für alle n ∈ N sei fn : X → Y eine Abbildung zwischen
den metrischen Räumen X und Y . Wir sagen, dass (fn ) punktweise gegen die
Abbildung f : X → Y konvergiert, wenn für alle x ∈ X die Folge (fn (x)) gegen
f (x) konvergiert.
Definition 3.6.2. Für alle n ∈ N sei fn : X → Y eine Abbildung zwischen
den metrischen Räumen X und Y . Wir sagen, dass (fn ) gleichmäßig gegen die
Abbildung f : X → Y konvergiert, wenn für alle ε > 0 ein n0 ∈ N existiert, so
dass für alle n ≥ n0 gilt, dass d(fn (x), f (x)) < ε für alle x ∈ X
3.6. KONVERGENZ VON FUNKTIONENFOLGEN
67
Der Unterschied zwischen punktweiser und gleichmäßiger Konvergenz besteht darin, dass man die Zahl n0 (in Abhängigkeit von ε) bei gleichmäßiger
Konvergenz für alle x ∈ X gleich wählen kann.
Betrachten wir beispielsweise X = Y = R, so besagt die gleichmäßige Konvergenz einer Funktionenfolge (fn ) gegen eine Funktion f folgendes: für gegebenes ε > 0 betrachten wir den ε-Schlauch um den Graphen von f , d.h. die Menge
{(x, y) ∈ R2 | |y − f (x)| < ε}. Die gleichmäßige Konvergenz besagt, dass wir
für jedes ε > 0 einen Index n0 ∈ N finden, so dass für alle n ≥ n0 gilt, dass der
Graph von fn komplett im ε-Schlauch um den Graphen von f verläuft.
Beispiel 3.6.3. Wir betrachten die Funktionenfolge (fn ), wobei fn = χ[1/n+1,1/n] :
R → R. Die Funktionenfolge (fn ) konvergiert punktweise gegen die Nullabbildung, aber nicht gleichmäßig (für jedes n gibt es einen Punkt x ∈ R, so dass
fn (x) = 1, d.h. fn (x) hat Abstand 1 zum entsprechenden Funktionswert der
Grenzfunktion.
Definition 3.6.4. Für metrische Räume X und Y setzen wir
C(X, Y ) := {f : X −→ Y stetig}
und
B(X, Y ) := {f : X −→ Y beschränkt},
wobei wir eine Abbildung f : X → Y beschränkt nennen, wenn ihr Bild f (X)
eine beschränkte Teilmenge von Y ist.
In den Übungen zeigen wir, dass für kompaktes X die Inklusion C(X, Y ) ⊂
B(X, Y ) gilt. Ebenfalls in den Übungen betrachten wir auf B(X, Y ) eine natürliche Metrik:
Satz 3.6.5. Es seien X und Y metrische Räume. Dann wird B(X, Y ) mittels
der Abstandsfunktion
d∞ (f, g) := sup{dY (f (x), g(x)) | x ∈ X}
zu einem metrischen Raum.
Man beachte die Ähnlichkeit in der Notation zur Maximumsnorm || · ||∞ auf
Rn . Haben wir es mit R- oder C-wertigen Abbildungen zu tun, so erhalten wir
sogar eine Norm, wie wir auch in den Übungen sehen werden:
Satz 3.6.6. Es sei X ein metrischer Raum. Dann wird durch
||f ||∞ := sup{|f (x)| | x ∈ X}
eine Norm auf B(X, R) und B(X, C) definiert.
Definition 3.6.7. Wir nennen || · ||∞ die ∞-Norm, oder die Supremumsnorm
auf B(X, R) bzw. B(X, C).
Man beachte: die durch || · ||∞ induzierte Metrik auf B(X, R) ist gerade d∞ .
Nach Definition der gleichmäßigen Konvergenz und der Metrik d∞ auf B(X, Y )
ist die gleichmäßige Konvergenz einer Folge beschränkter Abbildungen (fn ) gegen eine Abbildung f ∈ B(X, Y ) gleichbedeutend damit, dass (fn ) bezüglich
der Metrik d∞ gegen f konvergiert. Man beachte aber, dass der Begriff der
gleichmäßigen Konvergenz trotzdem etwas allgemeiner ist, da er auch für nicht
notwendigerweise beschränkte Abbildungen Sinn ergibt.
68
KAPITEL 3. STETIGKEIT
Satz 3.6.8. Es sei fn : X → Y eine Folge stetiger Abbildungen, die gleichmäßig
gegen eine Abbildung f : X → Y konvergiert. Dann ist auch f stetig.
Beweis. Es sei x0 ∈ X beliebig, sowie ε > 0 vorgegeben. Da (fn ) gleichmäßig
gegen f konvergiert, gibt es ein n0 ∈ N, so dass dY (f (x), fn (x)) < 3ε für alle
n ≥ n0 und alle x ∈ X. Da fn0 in x0 stetig ist, finden wir ein δ > 0, so dass
dY (fn0 (x), fn0 (x0 )) < 3ε wann immer dX (x, x0 ) < δ. Dann folgt für alle x ∈ X
mit dX (x, x0 ) < δ, dass
dY (f (x), f (x0 )) ≤ dY (f (x), fn0 (x)) + dY (fn0 (x), fn0 (x0 )) + dY (fn0 (x0 ), f (x0 ))
ε ε ε
< + + = ε.
3 3 3
Beispiel 3.6.9. Ein punktweiser Grenzwert stetiger Funktionen muss nicht
stetig sein. Wir betrachten die Funktionen fn : [0, 1] → R; x 7→ xn . Diese
( Funktionenfolge konvergiert punktweise gegen die unstetige Funktion x 7→
0 x ∈ [0, 1)
.
1 x=1
Gleichmäßige Konvergenz ist eine globale Bedingung an eine Funktionenfolge
und daher eine eher unnatürliche Forderung, um eine lokal definierte Eigenschaft
an die Grenzfunktion wie Stetigkeit zu zeigen. Natürlicher in diesem Kontext ist
der folgende Begriff der lokal gleichmäßigen Konvergenz. Wir sprechen von einer
offenen Teilmenge U ⊂ X mit x ∈ U als einer offenen Umgebung des Punktes
x.
Definition 3.6.10. Es sei fn : X → Y eine Folge von Abbildungen zwischen
den metrischen Räumen X und Y . Wir sagen, dass (fn ) lokal gleichmäßig gegen
die Abbildung f : X → Y konvergiert, wenn es für alle x ∈ X eine offene
Umgebung U ⊂ X von x gibt, so dass ( fn |U ) gleichmäßig gegen f |U konvergiert.
Bei lokal gleichmäßiger Konvergenz gilt die Aussage von Satz 3.6.8 noch:
Korollar 3.6.11. Es sei fn : X → Y eine Folge stetiger Abbildungen, die lokal
gleichmäßig gegen f : X → Y konvergiert. Dann ist auch f stetig.
Beweis. Es sei x ∈ X. Nach Definition der lokal gleichmäßigen Konvergenz
gibt es eine offene Menge U ⊂ X mit x ∈ U , so dass die Funktionenfolge
( fn |U ) gleichmäßig gegen f |U konvergiert. Nach Satz 3.6.8 ist f |U also stetig.
Insbesondere ist f in x stetig. Da x beliebig gewählt war, folgt, dass f stetig
ist.
3.7
Funktionenreihen
P∞
Es sei D ⊂ C eine Teilmenge. Wir betrachten Ausdrücke der Form n=0 fn ,
wobei fn : D → C stetige Funktionen sind. Wie bei gewöhnlichen Reihen ist
eine solche Funktionreihe für uns nur eine Schreibweise für die entsprechende
Folge der Partialsummen (die hier eine Funktionenfolge im Sinne des letzten
Abschnitts ist). Wir fragen uns, wann eine solche Funktionenreihe eine stetige
3.7. FUNKTIONENREIHEN
69
Funktion auf D definiert. Wie in Satz 3.6.6 betrachten wir für eine beschränkte
Funktion f : D → C die Supremumsnorm
||f ||∞ = sup{|f (z)| | z ∈ D}
von f .
P∞
Satz 3.7.1. Es sei n=0 fn eine Funktionenreihe, soP
dass alle Funktionen fn :
∞
D → C stetig und beschränkt sind. Falls die Reihe n=0 ||fn ||∞ konvergiert,
dann gilt:
P∞
1. Für alle z ∈ D ist die Reihe n=0 fn (z) absolut konvergent.
P∞
2. Die Folge der Partialsummen der
Reihe n=0 fn konvergiert gleichmäßig
P∞
gegen die stetige Funktion z 7→ n=0 fn (z).
P∞
Beweis.
Für jedes z ∈ D gilt |fn (z)| ≤ ||fn ||∞ und daher
n=0 |fn (z)| ≤
P∞
||f
||
.
Da
die
Reihe
der
Supremumsnormen
nach
Voraussetzung
konvern
∞
n=0
P∞
giert, konvergiert
f
(z)
nach
dem
Majorantenkriterium
absolut.
Damit
ist
n
n=0
P∞
F (z) = n=0 fn (z) eine wohldefinierte Funktion F : D → C.
PN
P∞
Sei ε > 0 beliebig und Fn (z) :=
k=0 fk (z). Da die Reihe
P∞ k=0 ||fk ||∞
konvergiert, gibt es ein n0 ∈ N, so dass für alle n ≥ n0 gilt, dass k=n ||fk ||∞ <
ε. Dann gilt für alle z ∈ D, dass
∞
∞
∞
X
X
X
|F (z) − Fn (z)| = fk (z) ≤
|fk (z)| ≤
||fk ||∞ < ε.
k=n+1
k=n+1
k=n+1
Es konvergiert die Funktionenfolge (Fn ) also gleichmäßig gegen F . Nach Satz
3.6.8 ist F stetig.
P∞
Wenn die Folge der Partialsummen der Reihe n=0 fn gleichmäßig P
gegen ei∞
ne Funktion F konvergiert, dann sagen wir auch einfach, dass die Reihe n=0 fn
gleichmäßig gegen F konvergiert.
Beispiel
Form
P∞ an 3.7.2. Eine Dirichletsche Reihe ist eine Funktionenreihe ader
n
n=1 nx , wobei (an ) eine Folge reeller Zahlen ist. Jedes Reihenglied nx ist eine
auf ganz R definierte, stetige Funktion. Wir untersuchen nun die allgemeine
Dirichletsche Reihe
P∞ auf Konvergenz. Man beachte: setzen wir x = 0, so erhalten
wir die Reihe
n=1 an , über deren Konvergenz wir nichts voraussetzen; die
Konvergenz der Reihe hängt sowohl von der Folge (an ) als auch von x ∈ R ab.
Wir behaupten: falls die Folge (an ) beschränkt (sagen wir durch eine Konstante C > 0) ist, so ist die obige Dirichletsche Reihe (mindestens) auf dem
Intervall (1, ∞) absolut konvergent, und auf jedem Intervall der Form [b, ∞), wobei b > 1 beliebig, gleichmäßig konvergent. Für jedes n ist die Funktion x 7→ n1x
monoton fallend. Betrachten wir die Einschränkung dieser Funktion auf ein Intervall der Form [b, ∞) mit b > 1, so ist die ∞-Norm dieser Einschränkung also
gleich n1b . Setzen wir fn : [b, ∞) → R; x 7→ nanx , so ist die Reihe
∞
X
n=1
||fn ||∞
∞
∞
X
X
|an |
1
=
≤C
b
b
n
n
n=1
n=1
konvergent (da wir sie gegen eine verallgemeinerte harmonische Reihe mit Exponent > 1 abgeschätzt
P∞ haben, vgl. 2.3.10). Nach Satz 3.7.1 konvergiert die Dirichletsche Reihe n=1 nanx also auf [b, ∞) gleichmäßig, und definiert dort eine
70
KAPITEL 3. STETIGKEIT
stetige Funktion. Damit definiert sie auf ganz (1, ∞) eine Funktion, gegen die
sie immer noch lokal gleichmäßig konvergiert, und die somit auch stetig ist.
Die berühmteste Dirichletsche Reihe erhalten wir, wenn wir die konstante
Folge an = 1 betrachten: wir definieren die Funktion ζ : (1, ∞) → R durch
ζ(x) :=
∞
X
1
,
nx
n=1
und nennen sie die Riemannsche ζ-Funktion. Die Riemannsche ζ-Funktion ist
ein zentrales Objekt der Zahlentheorie; wir möchten kurz andeuten, warum dies
plausibel ist.
2
P∞Wir1 versuchen, für x > 1 den Ausdruck ζ(x) zu verstehen. Da die Reihe
n=1 nx absolut konvergent ist, können wir Satz 2.5.1 verwenden und erhalten
2
ζ(x) =
∞
X
1
x
n
n=1
!2
=
∞ k−1
∞ k−1
X
X 1
X
X
1
1
·
=
.
x
x
l (k − l)
(l · (k − l))x
k=2 l=1
k=2 l=1
Es treten im Nenner alle möglichen Produkte zweier natürlicher Zahlen ≥ 1
genau einmal auf. Da alle auftretenden Reihen absolut konvergent sind, können
wir diese Reihe folgendermaßen umsortieren: für jede natürliche Zahl n tritt der
Summand n1x für jeden Teiler von n genau einmal auf. Definieren wir also für
eine natürliche Zahl n ≥ 1:
X
τ (n) :=
1,
d|n
so erhalten wir, dass für alle x > 1
ζ(x)2 =
∞
X
τ (n)
,
nx
n=1
was wieder eine Dirichletsche Reihe darstellt. Wir sehen, dass die ζ-Funktion
in enger Beziehung zur zahlentheoretischen Funktion τ steht.
Eine weitere Verbindung zur Zahlentheorie besteht in der folgenden bemerkenswerten Formel: es sei (p1 , p2 , p3 , . . .) = (2, 3, 5, . . .) die Folge der Primzahlen. Wir behaupten, dass für alle x > 1 gilt:
N
Y
1
.
N →∞
1 − p−x
i
i=1
ζ(x) = lim
(3.7.1)
Um dies einzusehen, verwenden wir die geometrische Reihe: für alle i ist
1
1
1
= 1 + x + 2x + · · ·
p
p
1 − p−x
i
i
i
eine absolut konvergente Reihe. Wir können den Ausdruck
mehrfaches Cauchy-Produkt betrachten:
N
Y
1
=
1 − p−x
i
i=1
1
1
1 + x + 2x + · · ·
p1
p1
Qn
1
i=1 1−p−x
i
also als
1
1
· · · · · 1 + x + 2x + · · · .
pN
pN
3.8. POTENZREIHEN
71
Multiplizieren wir dieses Cauchy-Produkt aus, so erhalten wir eine Reihe mit
Summanden der Form n1x , wobei n über alle natürliche Zahlen läuft, in deren
Primfaktorzerlegung nur die Primzahlen p1 , . . . , pN auftreten. Da jede natürliche
Zahl eine eindeutige Primfaktorzerlegung besitzt, tritt jeder solche Summand
auch genau einmal auf. Im Grenzwert für N → ∞ tritt also jeder Summand
1
nx , wobei n über alle natürlichen Zahlen läuft, genau einmal auf; wir erhalten
die Riemannsche ζ-Funktion und haben Gleichung (3.7.1) gezeigt.
Für x = 2 erhalten wir zum Beispiel die bemerkenswerte Gleichung
∞
X
1
1
=
ζ(2)
=
;
−2
2
N →∞
n
1
−
p
i
n=1
i=1
lim
N
Y
später werden wir sehen, dass diese Reihe den exakten Wert
3.8
π2
6
annimmt.
Potenzreihen
Eine Potenzreihe um z0 ∈ C ist eine spezielle Funktionenreihe der Form
∞
X
an (z − z0 )n ,
n=0
mit Koeffizienten an ∈ C. Jede Partialsumme dieser Funktionenreihe ist eine
Polynomfunktion in der Variable z und daher stetig auf ganz C.
Satz 3.8.1. Es sei eine Potenzreihe der Form
∞
X
an (z − z0 )n
n=0
gegeben. Weiterhin sei w ∈ C \ {0} so, dass die Folge (an (w − z0 )n ) beschränkt
ist, d.h. es gebe ein C > 0, so dass |an (w
z0 )n | ≤ C für alle n ∈ N. Dann konP−
∞
vergiert für jedes r < |w−z0 | die Reihe n=0 P
an (z−z0 )n auf Br (z0 ) gleichmäßig
∞
gegen die stetige Funktion Br (z0 ) → C; z 7→ n=0 an (z − z0 )n .
Beweis. Wir möchten das Konvergenzkriterium aus Satz 3.7.1 anwenden. Dazu
sei fn : Br (z0 ) → C definiert durch fn (z) = an (z − z0 )n ; wir berechnen
||fn ||∞ = sup{|an (z − z0 )n | | z ∈ Br (z0 )}
n
n
r
r
n
n
≤C·
.
= |an |r = |an ||w − z0 |
|w − z0 |
|w − z0 |
P∞
Da r <|w − z0 | und daher r/|w − z0 | < 1, konvergiert die Reihe
n=0 C ·
n
P∞
r
. Nach dem Majorantenkriterium konvergiert die Reihe n=0 ||fn ||∞
|w−z0 |
also absolut, weswegen Satz 3.7.1 anwendbar ist.
P∞
Es gilt also: konvergiert die Reihe n=0 an (z − z0 )n für eine komplexe Zahl
z = w, so auch für alle komplexen Zahlen, für die |z − z0 | < |w − z0 |. Es folgt
sofort:
72
KAPITEL 3. STETIGKEIT
Korollar 3.8.2. Es sei eine Potenzreihe der Form
∞
X
an (z − z0 )n
(3.8.1)
n=0
gegeben. Dann existiert eine eindeutige Zahl 0 ≤ R ≤ ∞, so dass die Potenzreihe
folgende Eigenschaften hat:
1. Sie konvergiert absolut für |z − z0 | < R.
2. Sie definiert auf BR (z0 ) = {z ∈ C | |z − z0 | < R} eine stetige Funktion,
gegen die sie lokal gleichmäßig konvergiert. (Für R = ∞ sei BR (z0 ) = C.)
3. Sie konvergiert für kein z ∈ C mit |z − z0 | > R.
Definition 3.8.3. Wir nennen durch Korollar 3.8.2 eindeutig gegebene Zahl R
den Konvergenzradius der Potenzreihe.
P∞ n
Beispiel 3.8.4.
1. Die Exponentialreihe n=0 zn! konvergiert für jedes z ∈
C. Damit hat diese Potenzreihe den Konvergenzradius R = ∞.
P∞
2. Die Potenzreihe n=0 n!z n hat Konvergenzradius R = 0, da sie für kein
z 6= 0 konvergiert.
P∞
3. Die geometrische Reihe n=0 z n hat Konvergenzradius 1: wir wissen, dass
sie für |z| < 1 konvergiert, aber für |z| > 1 ist die Folge der Reihenglieder
unbeschränkt.
Der folgende Satz liefert eine explizite Formel zur Berechnung des Konvergenzradius einer Potenzreihe:
Satz 3.8.5. Der Konvergenzradius einer Potenzreihe
∞
X
an (z − z0 )n ,
n=0
ist gleich
R=
1
lim supn→∞
p
n
|an |
.
(Ausnahmsweise setzen wir in diesem Ausdruck ∞ =
1
0
und 0 =
1
∞ .)
Beweis. Wir fixieren z ∈ C und wenden das Wurzelkriterium auf die Reihe
P
∞
n
n=0 an (z − z0 ) an: es ist
lim sup
p
n
|an (z − z0 )n | = |z − z0 | · lim sup
n→∞
p
n
|an |;
n→∞
die Reihe konvergiert absolut wenn dieser Ausdruck < 1 ist, und divergiert,
1 √
wenn er > 1 ist. Damit ist
die eindeutige Zahl aus Korollar
n
lim supn→∞
3.8.2.
|an |
3.8. POTENZREIHEN
73
Beispiel 3.8.6. Wir betrachten die drei Potenzreihen
∞
X
zn,
n=0
∞
X
zn
,
n
n=0
∞
X
zn
.
n2
n=0
Alle drei Reihen haben den Konvergenzradius 1, verhalten sich aber unterschiedlich auf dem Kreis {z ∈ C | |z| = 1}. Zum Beispiel divergiert die erste Reihe in
den beiden Punkten ±1, die zweite konvergiert für z = −1 (nach dem Leibnizkriterium), divergiert aber für z = 1, die dritte konvergiert sowohl für z = −1
als auch für z = 1.
Es gilt also: kennen wir den Konvergenzradius R einer Potenzreihe, so wissen
wir, dass die Reihe für |z − z0 | < R absolut konvergiert und für |z − z0 | > R
divergiert, aber wir wissen nichts über das Verhalten für |z − z0 | = R.
Bemerkung 3.8.7. Wir bemerken, dass man den Konvergenzradius mit Hilfe
des Quotientenkriteriums nicht in jedem Fall berechnen kann: wie das Beispiel
2.3.7 zeigt, folgt aus lim supn→∞ aan+1
> 1 nicht unbedingt, dass die Reihe
n
P∞
an+1 a
divergiert.
Existiert
jedoch
der
Grenzwert
lim
n
n→∞
n=0
an , so ist der
P∞
n
Konvergenzradius der Potenzreihe n=0 an (z − z0 ) gleich
R=
1
.
limn→∞ aan+1
n
Potenzreihen können gliedweise addiert werden:
P∞
P∞
Satz 3.8.8. Es seien f (z) = k=0 ak (z−z0 )k und g(z) = k=0 bk (z−z0 )k zwei
Potenzreihen mitP
Konvergenzradien Rf bzw. Rg . Dann ist der Konvergenzradius
∞
der Potenzreihe k=0 (ak + bk )(z − z0 )k mindestens gleich R := min{Rf , Rg },
und auf BR (z0 ) stellt sie die Funktion f + g dar. Weiterhin gilt: falls Rf 6= Rg ,
so ist ihr Konvergenzradius genau R.
Beweis. Die Summe zweier konvergenter Reihen ist wieder eine konvergente
Reihe, mitPWert gleich der Summe der Reihenwerte. Daraus folgt, dass die Po∞
tenzreihe k=0 (ak + bk )(z − z0 )k auf BR (z0 ) gegen f + g konvergiert. Dies zeigt
die erste Aussage.
Für die zweite nehmen wir ohne Beschränkung der Allgemeinheit an, dass
R
dass Rf < |w| < Rg . Dann divergiert die Reihe
f
P∞< Rg . Es seik w ∈ C, so P
∞
k
a
(w
−
z
)
,
die
Reihe
k
0
k=0
k=0 bk (w − z0 ) konvergiert aber. Da die Summe
einer konvergenten und einer divergenten
Reihe divergiert, folgt, dass der KonP∞
vergenzradius der Potenzreihe k=0 (ak + bk )(w − z0 )k kleiner sein muss als |w|.
Da w beliebig mit der Eigenschaft Rf < |w| < Rg gewählt war, folgt, dass der
Konvergenzradius gleich R sein muss.
Natürlich gilt die letzte Schlussforderung nicht ohne die Voraussetzung
die
P∞ an
k
Konvergenzradien:
man
betrachte
beispielsweise
die
Potenzreihen
z
und
k=0
P∞
k
k=0 −z : ihre Summe ist die konstante Potenzreihe 0, deren Konvergenzradius
∞ beträgt.
Wir haben gezeigt, dass jede Potenzreihe eine auf einem offenen Ball definierte stetige Funktion definiert. Wir stellen uns nun die Frage, ob eine gegebene
stetige Funktion auf mehrere Weisen durch eine Potenzreihe dargestellt werden
kann. Der folgende Satz und das anschließende Korollar zeigen eine viel stärkere
Aussage, die inbesondere besagt, dass das nicht geht:
74
KAPITEL 3. STETIGKEIT
P∞
Satz 3.8.9 (Verschwindungssatz für Potenzreihen). Es sei f (z) = k=0 ak (z −
z0 )k eine Potenzreihe mit Konvergenzradius R > 0. Falls es eine Folge (wn ) in
BR (z0 ) \ {z0 } mit limn→∞ wn = z0 gibt, so dass f (wn ) = 0 für alle n, so gilt
ak = 0 für alle k.
Beweis. Es sei m ∈ N beliebig, und 0 < r < R. Wir beweisen zuerst, dass es
eine (von m und r abhängende) Konstante C gibt, so dass
∞
X
ak (z − z0 )k ≤ C(r, m) · |z − z0 |m
k=m
für alle z ∈ {w ∈ C | |w − z0 | ≤ r} gilt. Für jedes solche z berechnen wir, unter
Verwendung der absoluten Konvergenz der Potenzreihe auf BR (z0 ):
∞
∞
∞
X
X
X
k
|ak ||z − z0 |k = |z − z0 |m
ak (z − z0 ) ≤
|aj+m ||z − z0 |j
k=m
j=0
k=m
≤ |z − z0 |m ·
∞
X
|aj+m |rj .
j=0
|
{z
=:C(r,m)
}
Wir nehmen nun an, dass nicht alle Koeffizienten ak verschwinden; sei m0 der
kleinste Index, so dass am0 6= 0. Dann impliziert unsere Abschätzung, dass
∞
X
m0
k
|f (z) − am0 (z − z0 ) | = ak (z − z0 ) ≤ C(r, m0 + 1)|z − z0 |m0 +1
k=m0 +1
für alle z mit |z − z0 | ≤ r. Da die Folge (wn ) gegen z0 konvergiert, erfüllen ab
einem gewissen Index alle Folgenglieder diese Bedingung, so dass also
|am0 (wn − z0 )m0 | = |f (wn ) − am0 (wn − z0 )m0 | ≤ C(r, m0 + 1)|wn − z0 |m0 +1 ,
also
|am0 | ≤ C(r, m0 + 1)|wn − z0 |.
Für n → ∞ geht der rechte Ausdruck gegen 0, so dass notwendigerweise am0 =
0.
Aus diesem Satz ergibt sich sofort:
P∞
Korollar 3.8.10 (Identitätssatz
für Potenzreihen). Es seien f (z) = k=0 an (z−
P
∞
z0 )k und g(z) = k=0 bn (z − z0 )k zwei Potenzreihen um z0 mit Konvergenzradien Rf > 0 und Rg > 0. Falls es eine Folge (wn ) in BR (z0 ) \ {z0 }, wobei
R = min{Rf , Rg }, gibt, sodass limn→∞ wn = z0 und f (wn ) = g(wn ) für alle n,
so gilt ak = bk für alle k.
Interessant ist die Frage, ob sich eine gegebene Funktion als Potenzreihe
darstellen lässt. Wir definieren:
Definition 3.8.11. Es sei f : U → C eine Funktion, wobei U ⊂ C eine offene
Teilmenge ist, und z0 ∈ U . Wir sagen, dass f um z0 in eine Potenzreihe entwickelbar ist, wenn es ε > 0 gibt, so dass Bε (z0 ) = {z ∈ C | |z − z0 | < ε} ⊂ U ,
3.8. POTENZREIHEN
75
P∞
sowie eine Potenzreihe n=0 an (z − z0 )n mit Konvergenzradius R ≥ ε, so dass
die durch die Potenzreihe definierte Funktion auf Bε (z0 ) mit f übereinstimmt.
Ist f um jeden Punkt von U in eine Potenzreihe entwickelbar, so nennen wir
f analytisch.
Für eine Funktion f : U → R, wobei U ⊂ R eine offene Teilmenge ist, und
x0 ∈ U , definieren wir analog, dass f um x0 in eine Potenzreihe entwickelbar
ist, wenn es ε > P
0 gibt, so dass Bε (x0 ) = {x ∈ R | |x − x0 | < ε} ⊂ U , sowie
∞
eine Potenzreihe n=0 an (x − x0 )n mit Konvergenzradius R ≥ ε, so dass die
durch die Potenzreihe definierte Funktion auf Bε (x0 ) mit f übereinstimmt. Ist
f um jeden Punkt von U in eine Potenzreihe entwickelbar, so nennen wir f
(reell-)analytisch.
Man beachte: ist eine reelle Funktion in einem Punkt x0 in eine Potenzreihe
entwickelbar, so ist diese Potenzreihe automatisch auf einer Kreisscheibe in C
definiert. Die Koeffizienten der Potenzreihe sind aufgrund des Identitätssatzes,
obwohl die Funktion nur auf der reellen Achse definiert ist, eindeutig bestimmt.
Beispiel 3.8.12.
1. Wir betrachten die (stetige, da ein Produkt(zweier nach
0
x≤0
Beispiel 3.1.4 stetiger Funktionen) Funktion f : R → R; x 7→
2
x x > 0.
Diese Funktion ist nicht analytisch, da sie um 0 nicht in eine Potenzreihe
entwickelbar ist: Gäbe es eine Potenzreihe, die f auf einer offenen, die 0
enthaltenden, Menge beschreibt, so wäre diese nach dem Verschwindungssatz für Potenzreihen schon die triviale Potenzreihe. Diese stellt f aber
auf keiner offenen Teilmenge, die die 0 enthält, dar.
1
. Wir kennen eine
2. Wir betrachten die Funktion f : C \ {1} → C; z 7→ 1−z
Entwicklung dieser
Funktion
um
z
=
0,
nämlich
die
geometrische
Reihe:
0
P∞
Die Potenzreihe n=0 z n . Diese besitzt den Konvergenzradius 1 und
P∞stellt
die Funktion f auf B1 (0) dar. Wir betonen, dass die Potenzreihe n=0 z n
im Bereich |z| > 1 nicht konvergiert, und daher auch in diesem Bereich
nichts mit der Funktion f zu tun hat.
Wir behaupten nun, dass f analytisch ist. Dafür sei z0 ∈ C \ {1} beliebig; wir suchen eine Entwicklung von f in eine Potenzreihe um z0 . Dafür
schreiben wir f wie folgt:
1
1
1
=
=
1−z
1 − z0 − (z − z0 )
(1 − z0 ) · 1 −
z−z0
1−z0
und beobachten, dass sich dieser Ausdruck wieder in eine geometrische
Reihe entwickeln lässt: er ist gleich
n
∞ X
z − z0
1
·
.
1 − z0 n=0 1 − z0
0
Diese Reihe konvergiert für z−z
1−z0 < 1, d.h. genau für die z, für die
|z − z0 | < |1 − z0 |: die größte Kreisscheibe, auf der diese Potenzreihe konvergiert, ist also genau die größte Kreisscheibe um z0 , die noch in C \ {1}
enthalten ist.
76
KAPITEL 3. STETIGKEIT
3.9
Trigonometrische Funktionen und die Zahl
π.
Die Exponentialfunktion haben wir bereits kennengelernt: es ist
ez =
∞
X
zn
,
n!
n=0
und wir wissen, dass ihr Konvergenzradius ∞ ist. In den Übungen haben wir
außerdem den Sinus und Cosinus betrachtet:
∞
∞
X
X
z 2n
z 2n+1
,
cos(z) =
.
sin(z) =
(−1)n
(−1)n
(2n + 1)!
(2n)!
n=0
n=0
Wir haben gesehen, dass beide Reihen für alle z konvergierten; diese Potenzreihen haben also ebenfalls den Konvergenzradius ∞.
Als Übungsaufgabe haben wir gezeigt:
Lemma 3.9.1. Es gilt eiz = cos z + i sin z für alle z ∈ C.
Korollar 3.9.2. Für alle x ∈ R gilt cos2 x + sin2 x = |eix | = 1. Insbesondere
gilt | cos x| ≤ 1 und | sin x| ≤ 1.
Beweis. Da eix = cos x + i sin x, gilt cos2 x + sin2 x = |eix |. Es ist aber |eix |2 =
eix · eix = eix · e−ix = e0 = 1. Man beachte: wir haben benutzt, dass ez = ez ,
was aus der Stetigkeit der komplexen Konjugation folgt.
Definition 3.9.3. Wir definieren S 1 := {z ∈ C | |z| = 1} und nennen diese
Menge den Einheitskreis in C.
Die Exponentialfunktion nimmt also, eingeschränkt auf die imaginäre Achse,
nur Werte auf dem komplexen Einheitskreis an.
Wir können Cosinus und Sinus auch mit Hilfe der komplexen Exponentialfunktion ausdrücken, wie wir ebenfalls in den Übungen gezeigt haben:
Satz 3.9.4. Für z ∈ C gilt
1. cos z =
eiz +e−iz
2
und sin z =
eiz −e−iz
2i
2. cos(−z) = cos z und sin(−z) = − sin z.
Satz 3.9.5. Es gelten die Additionstheoreme: Für z, w ∈ C gilt:
cos(z + w) = cos z cos w − sin z sin w
sin(z + w) = sin z cos w + sin w cos z.
Beweis. Es gilt
(eiz + e−iz )(eiw + e−iw ) + (eiz − e−iz )(eiw − e−iw )
4
ei(z+w) + ei(z−w) + ei(w−z) + e−i(z+w)
=
4
ei(z+w) − ei(z−w) − ei(w−z) + e−i(z+w)
+
4
ei(z+w) + e−i(z+w)
=
= cos(z + w).
2
Eine analoge Rechnung zeigt die zweite Behauptung.
cos z cos w − sin z sin w =
3.9. TRIGONOMETRISCHE FUNKTIONEN UND DIE ZAHL π.
77
Lemma 3.9.6. Für x ∈ (0, 2] ⊂ R gilt
1−
x2
x2
x4
< cos x < 1 −
+
2
2
24
und
x3
< sin x < x.
6
Weiterhin ist der Cosinus im Intervall [0, 2] streng monoton fallend.
x−
Beweis. Wir fixieren x ∈ (0, 2] und schreiben den Cosinus wie folgt:
∞
∞ 4n
2n
X
X
x
x4n+2
n x
cos x =
(−1)
=
−
(2n)! n=0 (4n)! (4n + 2)!
n=0
und behaupten, dass für die Reihenglieder der rechten Reihe ab n = 1 positiv
ist: es ist
x4n+2
x4n
>
,
(4n)!
(4n + 2)!
denn (4n + 2)(4n + 1) > 4 ≥ x2 für alle n ≥ 1. Lassen wir also alle Glieder außer
dem ersten in obiger Reihe weg, so erhalten wir
x2
.
2
Für die andere Abschätzung fassen wir je zwei Glieder der Reihe ab n = 1
zusammen; da jedes Reihenglied der dann auftretenden Reihe positiv ist, können
wir abschätzen:
∞ X
x4n+2
x4n+4
x2
x4
cos x = 1 −
−
<1−
+ .
(4n + 2)! (4n + 4)!
2
24
n=0
cos x > 1 −
Die Aussage über den Sinus zeigt man analog.
Für die Monotonieaussage betrachten wir x, y ∈ [0, 2] mit x < y und berechnen
y−x
x+y
2(ei(y−x)/2 − e−i(y−x)/2 )(ei(x+y)/2 − e−i(x+y)/2 )
−2 sin
=−
2
2
(2i)2
eiy − e−ix − eix + e−iy
=
= cos y − cos x.
2
Da nach der Ungleichung für den Sinus aus diesem Lemma die beiden Sinusfaktoren auf der linken Seite dieser Gleichung positiv sind, folgt, dass cos y <
cos x.
Korollar 3.9.7. Es gibt genau eine reelle Zahl π ∈ [0, 4], so dass cos π2 = 0 und
cos x 6= 0 für alle x ∈ [0, π2 ). Weiterhin gilt sin π2 = 1.
Beweis. Es gilt cos 0 = 1, und nach Lemma 3.9.6 gilt cos 2 < 1 − 2 + 16
24 < 0.
Damit hat cos nach dem Zwischenwertsatz 3.2.3 eine Nullstelle im Intervall [0, 2].
Da der Cosinus auf [0, 2] nach Lemma 3.9.6 auf [0, 2] streng monoton fallend ist,
hat er dort nur genau eine Nullstelle. Wir bezeichnen diese mit π2 .
iπ/2
−iπ/2
Es gilt nun 0 = cos π2 = e +e
, also ist eiπ/2 eine rein imaginäre Zahl.
2
Da andererseits |eix | = 1 für alle x ∈ R, folgt, dass i sin π2 = eiπ/2 = ±i, also
sin π2 = ±1. Nach Lemma 3.9.6 gilt aber, da π2 < 2, dass sin π2 > 0, weswegen
sin π2 = 1 folgt.
78
KAPITEL 3. STETIGKEIT
Lemma 3.9.8. Für alle z ∈ C gilt cos(z + π2 ) = − sin z und sin(z + π2 ) = cos z.
Beweis. Dies folgt sofort aus den Additionstheoremen 3.9.5.
Es folgt dann auch sofort, dass cos(z + π) = − cos z und sin(z + π) = − sin z
für alle z ∈ C, sowie dass Cosinus und Sinus 2π-periodisch sind, in dem Sinne,
dass cos(z + 2π) = cos z und sin(z + 2π) = sin z für alle z ∈ C.
Lemma 3.9.9. Es sei z ∈ C. Dann gilt genau dann cos z = 0, wenn z =
(k+ 21 )·π für ein k ∈ Z. Es gilt genau dann sin z = 0, wenn z = k·π für ein k ∈ Z.
Insbesondere sind alle Nullstellen der komplexen Cosinus- und Sinusfunktion
reell.
Beweis. Wir zeigen die Aussage für den Cosinus; die Aussage für den Sinus folgt
dann sofort aus der in Lemma 3.9.8 bewiesenen Gleichung cos(z + π2 ) = − sin z.
iz
−iz
Es sei z ∈ C; dann gilt cos z = e +e
. Dieser Ausdruck ist genau dann
2
0, wenn eiz = −e−iz . Schreiben wir z = x + iy für x, y ∈ R, so heißt das,
dass eix · e−y = eix−y = −e−ix+y = −e−ix · ey . Nehmen wir den Betrag dieser
Gleichung, so impliziert dies, dass ey = e−y . Da die Exponentialfunktion auf
der reellen Achse streng monoton wachsend ist impliziert das, dass y = 0, d.h.
die Nullstellen von cos sind rein reell.
Nach Definition ist π/2 die einzige Nullstelle des Cosinus im Intervall [0, π/2].
Da
π
π
cos( − x) = − sin(−x) = sin x = − cos( + x),
2
2
folgt, dass π/2 auch die einzige Nullstelle des Cosinus im Intervall [0, π] ist. Aufgrund der Eigenschaft cos(x + π) = − cos(x), folgt, dass die einzigen Nullstellen
von cos im Intervall [0, 2π] die Werte π/2 und 3π/2 sind. Die Behauptung folgt
nun aus der 2π-Periodizität von cos.
Man vergleiche diese Aussage mit dem Verschwindungssatz für Potenzreihen
3.8.9: wir haben hier eine durch eine Potenzreihe definierte Funktion mit unendlich vielen Nullstellen gefunden, die nicht die konstante Nullfunktion ist. Dies
widerspricht dem Verschwindungssatz nicht, da keine Teilfolge der Nullstellen
konvergiert.
Satz 3.9.10. Die Abbildung f : R → S 1 ; ϕ 7→ eiϕ ist 2π-periodisch, d.h. es gilt
f (ϕ + 2π) = f (ϕ) für alle ϕ ∈ R. Sie bildet [0, 2π) stetig und bijektiv auf S 1 ab.
Beweis. Die Abbildung R → C; ϕ 7→ eiϕ ist Komposition der (stetigen) Exponentialfunktion mit der Multiplikation mit i stetig. Sie nimmt nach Korollar
3.9.2 nur Werte in S 1 an. Versehen wir S 1 ⊂ C mit der induzierten Metrik, so
wird die angegebene Abbildung f ebenfalls stetig.
Die 2π-Periodizität von f folgt so: es ist e2πi = cos(2π) + i sin(2π) = 1.
Damit ist f (ϕ + 2π) = eϕ+2πi = eϕ · e2πi = eϕ .
Zur Injektivität: Es seien ϕ, ψ ∈ [0, 2π), so dass eiϕ = eiψ , d.h. 1 = ei(ϕ−ψ) =
cos(ϕ − ψ) + i sin(ϕ − ψ). Damit ist ϕ − ψ eine Nullstelle des Sinus, also gilt nach
Lemma 3.9.9, dass ϕ − ψ = kπ für ein k ∈ Z. Es gilt cos 0 = 1 und cos π = −1;
da der Cosinus 2π-periodisch ist, folgt, dass ϕ − ψ ein ganzzahliges Vielfaches
von 2π sein muss. Da aber ϕ, ψ ∈ [0, 2π), folgt, dass ϕ = ψ.
Für die Surjektivität von f beobachten wir zunächst, dass 1 = e0 und −1 =
iπ
e im Bild von f liegen. Für alle Realteile x ∈ (−1, 1) gibt es genau zwei
3.9. TRIGONOMETRISCHE FUNKTIONEN UND DIE ZAHL π.
79
komplexe Zahlen z ∈ S 1 mit Re z = x gibt, für die dann der Imaginärteil
automatisch ungleich 0 ist. Ist z eine dieser Zahlen, so ist z̄ die andere. Wir
betrachten die Abbildung R → R; ϕ 7→ Re f (ϕ) = cos ϕ; sie schickt 0 auf 1 und
π auf −1 und ist stetig; nach dem Zwischenwertsatz muss sie alle Werte zwischen
0 und 1 annehmen. Weiterhin ist der Imaginärteil von f (ϕ) für ϕ ∈ (0, π), d.h.
sin ϕ, positiv; wir haben also gezeigt, dass die Abbildung f das Intervall [0, π]
surjektiv auf den oberen Halbkreis abbildet. Nun gilt aber f (ϕ + π) = −f (ϕ),
so dass f das Intervall [π, 2π] surjektiv auf den unteren Halbkreis abbildet.
Insgesamt wird jeder Punkt auf S 1 durch f erreicht.
Bemerkung 3.9.11. Die Abbildung [0, 2π) → S 1 ; x 7→ eix ist auch vom topologischen Standpunkt her interessant: es handelt sich um eine stetige, bijektive
Abbildung zwischen zwei metrischen Räumen, deren Umkehrabbildung jedoch
nicht stetig ist. In der Tat kann es nach Satz 3.4.2 keine stetige, bijektive Abbildung S 1 → [0, 2π) geben, da S 1 als abgeschlossene und beschränkte Teilmenge
von C kompakt ist, [0, 2π) aber nicht kompakt.
Als Korollar von Satz 3.9.10 erhalten wir die Polardarstellung einer komplexen Zahl:
Korollar 3.9.12. Es sei z ∈ C \ {0}. Dann existiert eine eindeutige Zahl ϕ ∈
[0, 2π), so dass z = |z|eiϕ = |z|(cos ϕ + i sin ϕ).
Beweis. Aus Satz 3.9.10 folgt, dass es eine eindeutige Zahl ϕ ∈ [0, 2π) gibt, so
dass eiϕ = z/|z|.
Schreiben wir eine komplexe Zahl z als z = |z|eiϕ , so nennt man ϕ das
Argument oder die Phase von z.
Mit Hilfe der Polardarstellung können wir eine geometrische Interpretation
der Multiplikation zweier komplexer Zahlen geben: sind z = |z|eiϕ und w =
|w|eiψ zwei komplexe Zahlen, so gilt
zw = |z||w|eiϕ eiψ = |z||w|ei(ϕ+ψ) ;
bei der Multiplikation zweier komplexer Zahlen werden die Beträge also multipliziert und die Argumente addiert.
Eine wichtige Folgerung aus der Polardarstellung ist die Existenz k-ter Wurzeln einer komplexen Zahl:
Definition 3.9.13. Es sei u ∈ C und k ∈ N, k ≥ 1. Eine komplexe Zahl w ∈ C
heißt eine k-te Wurzel von u, wenn wk = u.
Lemma 3.9.14. Es sei u ∈ C, u 6= 0, sowie k ∈ N, k ≥ 1. Dann besitzt u genau
k paarweise verschiedene k-te Wurzeln. Mit anderen Worten: das Polynom z k −
u besitzt genau k paarweise verschiedene Nullstellen in C.
Beweis. Es gilt allgemein, dass ein (komplexes) Polynom vom Grad k höchstens
k paarweise verschiedene Nullstellen haben. Es sei u ∈ C, u 6= 0. Wir müssen
k paarweise verschiedene Wurzeln von u finden. Dafür schreiben wir u = |u|eiϕ
für ein ϕ ∈ [0, 2π). Die paarweise verschiedenen komplexen Zahlen
p
i(ϕ+2πl)
k
|u|e k ,
l = 0, . . . , k − 1
p
i(ϕ+2πl)
sind k-te Wurzeln von u, da ( k |u|e k )k = |u|eiϕ+2πil = u.
80
KAPITEL 3. STETIGKEIT
3.10
Der Fundamentalsatz der Algebra
Als Anwendung von Korollar 3.4.4 und der Polardarstellung einer komplexen
Zahl beweisen wir nun:
Satz 3.10.1 (Fundamentalsatz der Algebra). Jede komplexe Polynomfunktion
von positivem Grad besitzt mindestens eine komplexe Nullstelle.
Man beachte, dass wir einen Spezialfall dieses Satzes, für Polynome der Form
z k − u, soeben in Lemma 3.9.14 bewiesen haben.
Pn
Beweis. Es sei f (z) = i=0 ai z i ein Polynom mit komplexen Koeffizienten ai ,
so dass n ≥ 1 und an 6= 0. Wir können ohne Beschränkungn der Allgemeinheit
annehmen, dass an = 1.
Es sei µ = inf z∈C |f (z)|. Für z ∈ C mit |z| = R gilt
|a1 |
|a0 |
|an−1 | |an−2 |
−
·
·
·
−
−
;
−
|f (z)| ≥ Rn 1 −
R
R2
Rn−1
Rn
für R → ∞ divergiert der rechte Ausdruck gegen ∞. Es gibt also ein R0 > 0,
so dass |P (z)| > 2µ wann immer |z| > R0 . Es folgt, dass µ = inf z∈BR0 (0) |f (z)|.
Da f und die Betragsfunktion stetige Funktionen sind, nimmt die Funktion
BR0 (0) → R; z 7→ |f (z)| auf BR0 (0) ihr Minimum an; es gibt also ein z0 ∈
BR0 (0), so dass |f (z0 )| = µ. Wenn wir zeigen können, dass µ = 0, so sind wir
fertig.
Wir nehmen an, f (z0 ) sei ungleich 0, und setzen g(z) = f (z + z0 )/f (z0 ).
Dann ist g eine nichtkonstante Polynomfunktion vom Grad n, die g(0) = 1 und
|g(z)| = |f (z + z0 )|/|f (z0 )| ≥ 1 für alle z ∈ C erfüllt. Wir schreiben
g(z) = 1 + bk z k + · · · + bn z n
wobei bk 6= 0. Wir schreiben bk = |bk |eiϕ und setzen ψ = (−ϕ + π)/k, so dass
eikψ bk = −e−iϕ bk = −|bk |.
Für eine reelle Zahl r > 0, die so klein ist, dass rk |bk | < 1, gilt dann
|1 + bk rk eikψ | = |1 − rk |bk || = 1 − rk |bk |,
und deshalb
|g(reiψ )| = |1 + bk rk eikψ + · · · + bn rn einψ |
≤ |1 + bk rk eikψ | + |bk+1 |rk+1 + · · · + |bn |rn
= 1 − rk |bk | + |bk+1 |rk+1 + · · · + |bn |rn
= 1 − rk (|bk | − |bk+1 |r − · · · − |bn |rn−k ).
Der Ausdruck in der Klammer geht für r → 0 gegen |bk | > 0, und wird daher
für kleines r positiv. Für ein solches r wird |g(reiψ )| also kleiner als 1, was ein
Widerspruch zur Definition von g ist. Es muss also µ = 0 gelten.
Man beachte: der Fundamentalsatz der Algebra ist nicht wirklich ein Satz
der Algebra – für seinen Beweis haben wir den Begriff der Stetigkeit verwendet,
der ein Begriff der Analysis ist.
Per Induktion über den Grad des Polynoms folgt aus dem Fundamentalsatz
der Algebra:
Korollar 3.10.2. Jedes komplexe Polynom zerfällt in Linearfaktoren.
Kapitel 4
Differentialrechnung
4.1
Die Ableitung
Wir betrachten in diesem Kapitel Funktionen f : U → C, wobei U entweder
eine offene Teilmenge von C oder von R ist. (Reellwertige Abbildungen sind in
diesen Betrachtungen enthalten, da R ⊂ C.)
Wir fixieren x0 ∈ U und betrachten die Abbildung
U \ {x0 } −→ C; x 7−→
f (x) − f (x0 )
.
x − x0
(4.1.1)
Brüche dieser Form nennen wir auch Differenzenquotienten.
Zur besseren Anschauung betrachte man den Spezialfall einer Funktion f :
U → R, wobei U ⊂ R offen ist. Im Fall einer solchen Abbildung bezeichnet der
Wert dieser Abbildung an x 6= x0 genau die Steigung der Sekante durch die
Punkte (x0 , f (x0 )) und (x, f (x)).
Definition 4.1.1. Es sei f : U → C, wobei U eine offene Teilmenge von R
oder C ist. Wir sagen, dass f in x0 ∈ U differenzierbar ist, wenn der Grenzwert
lim
x→x0
f (x) − f (x0 )
x − x0
existiert. In diesem Fall bezeichnen wir diesen Grenzwert mit f 0 (x0 ). Wir nennen f 0 (x0 ) die Ableitung von f in x0 .
Ist f in jedem Punkt x0 ∈ U differenzierbar, so sagen wir, dass f differenzierbar ist. Wir nennen f 0 : U → R; x 7→ f 0 (x) die Ableitung von f .
Betrachten wir ein weiteres Mal den Spezialfall einer Funktion f : U → R,
wobei U ⊂ R offen ist: ist f in x0 ∈ U differenzierbar, so bedeutet das, dass sich
die Sekanten durch (x0 , f (x0 )) und (x, f (x)) beim Grenzübergang x → x0 einer
Geraden durch (x0 , f (x0 )) mit Steigung f 0 (x0 ) annähern. Diese Gerade nennen
wir die Tangente an den Graphen von f im Punkt (x0 , f (x0 )).
Bemerkung 4.1.2. Bei auf offenen Teilmengen von C definierten Funktionen
spricht man auch von komplexer Differenzierbarkeit.
81
82
KAPITEL 4. DIFFERENTIALRECHNUNG
Ist f in x0 differenzierbar, so wird für a ∈ C die Abbildung
(
f (x)−f (x0 )
x 6= x0
x−x0
U −→ C; x 7−→
a
x = x0
genau dann stetig in x0 , wenn a = f 0 (x0 ). Ist f in x0 nicht differenzierbar, so
gibt es kein solches a.
Definition 4.1.3. Wir sagen, dass eine Funktion f : U → C zweimal differenzierbar ist, wenn f differenzierbar ist und die deshalb existente Ableitung
f 0 : U → C ebenfalls differenzierbar ist. Wir bezeichnen mit f 00 : U → C die
Ableitung von f 0 , und nennen sie die zweite Ableitung von f .
Rekursiv definieren wir, dass f k-mal differenzierbar heißt, wenn f k −1-mal
differenzierbar ist, und die (k − 1)-te Ableitung von f wiederum differenzierbar
ist. Wir bezeichnen die k-te Ableitung von f mit f (k) : U → C.
Ist f k-mal differenzierbar, für jedes k, so nennen wir f unendlich oft differenzierbar.
Satz 4.1.4. Es sei f : U → C in x0 ∈ U differenzierbar. Dann ist f in x0
stetig. Insbesondere: ist f differenzierbar, so ist f stetig.
Beweis. Es sei f in x0 differenzierbar. Wir zeigen die Folgenstetigkeit von f in
x0 : es sei dafür (yn ) eine Folge in U , die gegen x0 konvergiert. Dann gilt
f (yn ) − f (x0 ) =
f (yn ) − f (x0 )
· (yn − x0 );
yn − x0
in diesem Ausdruck konvergiert der linke Faktor gegen f 0 (x0 ) und der rechte
gegen 0; damit konvergiert das Produkt gegen 0. Es gilt also limn→∞ f (yn ) =
f (x0 ), d.h. f ist folgenstetig in x0 .
Die Umkehrung dieses Satzes gilt nicht, wie das folgende Beispiel zeigt:
Definition 4.1.5. Wir betrachten die Betragsfunktion | · | : R → R; x 7→ |x|.
Sie ist auf ganz R stetig; wir behaupten, dass sie in 0 nicht differenzierbar ist.
Für x > 0 gilt
|x| − |0|
= 1,
x−0
für x < 0 aber
|x| − |0|
= −1.
x−0
Damit existiert limx→0
ferenzierbar.
|x|−|0|
x−0
nicht; die Betragsfunktion ist also in 0 nicht dif-
Satz 4.1.6. Es seien f, g : U → C differenzierbar in x0 ∈ U . Dann gilt:
1. Es ist auch f + g in x0 differenzierbar, mit (f + g)0 (x0 ) = f 0 (x0 ) + g 0 (x0 ).
2. (Produktregel) Es ist auch f · g in x0 differenzierbar, mit (f · g)0 (x0 ) =
f 0 (x0 )g(x0 ) + f (x0 )g 0 (x0 ).
3. (Quotientenregel) Gilt g(x0 ) 6= 0, so ist auch
0
0
0
f
0 )−f (x0 )g (x0 )
(x0 ) = f (x0 )g(xg(x
.
2
g
0)
f
g
in x0 differenzierbar, mit
4.1. DIE ABLEITUNG
83
Beweis. Für den ersten Teil betrachten wir für x ∈ U , x 6= x0 :
(f + g)(x) − (f + g)(x0 )
f (x) − f (x0 ) g(x) − g(x0 )
=
+
.
x − x0
x − x0
x − x0
Da nach Voraussetzung die Grenzwerte der beiden Summanden auf der rechten
Seite für x → x0 existieren, existiert auch der Grenzwert der linken Seite. Die
Funktion f + g ist also in x0 differenzierbar und es gilt (f + g)0 (x0 ) = f 0 (x0 ) +
g 0 (x0 ).
Für die Produktregel berechnen wir für x ∈ U , x 6= x0 :
f (x)(g(x) − g(x0 )) + (f (x) − f (x0 ))g(x0 )
f (x)g(x) − f (x0 )g(x0 )
=
x − x0
x − x0
g(x) − g(x0 ) f (x) − f (x0 )
= f (x)
+
g(x);
x − x0
x − x0
der Grenzwert dieses Ausdrucks für x → x0 ist also, da f und g in x0 stetig
sind, gleich f (x0 )g 0 (x0 ) + f 0 (x0 )g(x0 ). Es ist also f · g in x0 differenzierbar mit
(f g)0 (x0 ) = f (x0 )g 0 (x0 ) + f 0 (x0 )g(x0 ).
Für die Quotientenregel betrachten wir zuerst den Fall einer Funktion der
Form g1 . Wir berechnen für x nahe bei x0 , so dass g(x) 6= 0:
1
g(x)
−
1
g(x0 )
x − x0
1
=
g(x)g(x0 )
g(x0 ) − g(x)
x − x0
Der Grenzwert dieses Ausdrucks, für x → x0 , existiert; damit ist die Funktion
1
g in x0 differenzierbar, und ihre Ableitung stimmt mit ihm überein:
0
1
g 0 (x0 )
.
(x0 ) = −
g
g(x0 )2
Der allgemeine Fall der Quotientenregel folgt nun aus diesem Spezialfall und
der Produktregel: auch fg ist differenzierbar und es gilt
0
0
1
1
g 0 (x0 )
f
(x0 ) = f ·
(x0 ) = f 0 (x0 )
− f (x0 )
g
g
g(x0 )
g(x0 )2
0
0
f (x0 )g(x0 ) − f (x0 )g (x0 )
=
.
g(x0 )2
Beispiel 4.1.7. Wir behaupten, dass (reelle oder komplexe) Polynomfunktionen differenzierbar sind. Es sei f (z) = an z n + an−1 z n−1 + · · · + a1 z + a0 , für
a0 , . . . , an ∈ C. Wir behaupten, dass f 0 (z) = nan z n−1 +(n−1)an−1 z n−2 +· · · a1 .
Aufgrund von Satz 4.1.6 reicht es, dies für Monome zu beweisen; da die Ableitung einer konstanten Funktion 0 ist, reicht es sogar, dies für eine Funktion der
Form f (z) = z n zu zeigen.
Wir beobachten, dass
z n − z0n = (z n−1 + z n−2 z0 + · · · + zz0n−2 + z0n−1 )(z − z0 )
84
KAPITEL 4. DIFFERENTIALRECHNUNG
für alle z, z0 ∈ C, und daher
f (z) − f (z0 )
z n − z0n
=
= (z n−1 + z n−2 z0 + · · · + zz0n−2 + z0n−1 ).
z − z0
z − z0
Der Grenzwert dieses Ausdrucks für z → z0 existiert also und ist gleich
f 0 (z0 ) = lim
z→z0
f (z) − f (z0 )
z n − z0n
= lim
= nz0n−1 .
z→z0 z − z0
z − z0
Da die Ableitung einer Polynom wieder eine Polynomfunktion ist, folgt: Polynome sind unendlich oft differenzierbar.
Beispiel 4.1.8. In den Übungen werden wir sehen, dass die komplexe Konjugation C → C; z 7→ z̄ nicht komplex differenzierbar ist.
In Satz 3.2.8 haben wir gezeigt, dass die Umkehrfunktion einer auf einem
Intervall definierten streng monotonen und stetigen Abbildung f : I → R automatisch wieder stetig ist. Nun betrachten wir die analoge Fragestellung im
Kontext der Differenzierbarkeit:
Satz 4.1.9. Es sei I ⊂ R ein offenes Intervall, f : I → J := f (I) ⊂ R eine
stetige, streng monotone Funktion. Ist f in einem Punkt x ∈ I differenzierbar
mit f 0 (x) 6= 0, so ist f −1 im Punkt y := f (x) ∈ J differenzierbar, und es gilt
(f −1 )0 (y) =
1
f 0 (x)
=
1
f 0 (f −1 (y))
.
Beweis. Es sei (yn ) eine Folge in J \ {y}, die gegen y konvergiert. Wir setzen
xn := f −1 (yn ). Da f −1 nach Satz 3.2.8 stetig ist, gilt limn→∞ xn = x. Außerdem
ist xn 6= x für alle n, da f −1 bijektiv ist. Es gilt
f −1 (yn ) − f −1 (y)
xn − x
=
=
yn − y
f (xn ) − f (x)
1
f (xn )−f (x)
xn −x
n→∞
−→
1
f 0 (x)
;
da die Folge (yn ) beliebig gewählt war, folgt, dass der Grenzwert (f −1 )0 (y)
existiert und gleich f 01(x) ist.
Beispiel 4.1.10. Es sei f : (0, ∞) → (0, ∞) gegeben durch f (x) = x2 . Diese
Abbildung ist streng monoton und differenzierbar, mit f 0 (x) = 2x √
6= 0 für alle
x. Es folgt, dass die Umkehrabbildung g : (0, ∞) → (0, ∞); x 7→ x ebenfalls
1
1
1
differenzierbar ist, mit g 0 (x2 ) = 2x
, d.h. g 0 (x) = 2√
= 21 x− 2 .
x
Beispiel 4.1.11. In den Übungen wurde gezeigt, dass die Exponentialfunktion
exp : C → C differenzierbar ist, mit exp0 = exp. Wir betrachten nun die reelle
Exponentialfunktion, die wie wir also nun wissen eine bijektive streng monotone
differenzierbare Abbildung exp : R → (0, ∞) definiert. Ihre Ableitung ist, da sie
mit exp selbst übereinstimmt, nirgends verschwindend, weswegen wir den Satz
anwenden können, um zu schließen, dass ihre Umkehrabbildung, der natürliche
Logarithmus ln : (0, ∞) → R, ebenfalls differenzierbar ist. Die Ableitung von
ln berechnet sich mit Hilfe des Satzes folgendermaßen: ln0 (exp(x)) = exp10 (x) =
1
exp(x) , also
1
ln0 (x) = .
x
4.2. STETIGE DIFFERENZIERBARKEIT
85
Satz 4.1.12. Es seien f : U → C und V → C Funktionen mit f (U ) ⊂ V . Es
sei f in x0 ∈ U differenzierbar und g in y0 = f (x0 ) differenzierbar. Dann ist
g ◦ f : U → C in x0 differenzierbar, mit
(g ◦ f )0 (x0 ) = g 0 (f (x0 )) · f 0 (x0 ).
Beweis. Wir definieren die Abbildung h : V → C durch
(
g(y)−g(y0 )
y 6= y0
y−y0
h(y) =
0
g (y0 )
y = y0 .
Da g nach Voraussetzung in y0 differenzierbar ist, ist h in y0 stetig. Weiterhin
erfüllt h die Gleichung
h(y)(y − y0 ) = g(y) − g(y0 ),
für alle y ∈ V , also insbesondere
h(f (x))(f (x) − f (x0 )) = (g ◦ f )(x) − (g ◦ f )(x0 )
für alle x ∈ U . Wir betrachten nun für x ∈ U , x 6= x0 :
(g ◦ f )(x) − (g ◦ f )(x0 )
(f (x) − f (x0 )) x→x0 0
−→ g (f (x0 )) · f 0 (x0 ),
= h(f (x))
x − x0
x − x0
wobei wir beim Grenzübergang benutzt haben, dass h in y0 stetig ist, sowie dass
f in x0 differenzierbar ist. Es folgt, dass g ◦ f in x0 differenzierbar ist, mit der
angegebenen Ableitung.
Beispiel 4.1.13. Wir betrachten für r ∈ R \ {0} die Funktion f : (0, ∞) →
(0, ∞); f (x) = xr = er ln x . Sie ist als Komposition differenzierbarer Funktionen
differenzierbar und es folgt mit Hilfe der Kettenregel
f 0 (x) = er ln x ·
4.2
r
xr
=r
= rxr−1 .
x
x
Stetige Differenzierbarkeit
Ist f eine differenzierbare Abbildung, so muss die Ableitung f 0 von f nicht
wieder differenzierbar sein, wie das folgende Beispiel zeigt:
(
0
x≤0
Beispiel 4.2.1. Wir betrachten die Funktion f : R → R; x 7→
2
x x > 0.
und behaupten, dass sie differenzierbar ist, aber nicht zweimal differenzierbar.
Die Differenzierbarkeit ist in jedem Punkt 6= 0 offensichtlich; wir zeigen also
die Differenzierbarkeit in 0: dies tun wir, indem wir die relevanten einseitigen
Grenzwerte bestimmen: es ist
x2 − 0
f (x) − f (0)
= lim
= lim x = 0
x&0 x − 0
x&0
x&0
x−0
lim
und
lim
x%0
f (x) − f (0)
= 0,
x−0
86
KAPITEL 4. DIFFERENTIALRECHNUNG
also existiert die Ableitung von f in 0 und es gilt f 0 (0) = 0. Die Ableitung von
f ist also die nicht differenzierbare Funktion
(
0
x≤0
0
f (x) =
2x x > 0.
In diesem Beispiel war die Ableitung der differenzierbaren Funktion wenigstens noch stetig; auch dies ist im Allgemeinen jedoch nicht der Fall. Um ein
Beispiel zu geben berechnen wir zunächst die Ableitung von Sinus und Cosinus:
Beispiel 4.2.2. Wir behaupten, dass die Ableitung von f (z) = sin(z) gleich
cos(z) ist. Dafür berechnen wir mit Hilfe eines Additionstheorems für z0 ∈ C
und z = z0 + h ∈ C, h 6= 0:
sin(z0 + h) − sin(z0 )
sin(z) − sin(z0 )
=
z − z0
h
sin(z0 )(cos(h) − 1) + sin(h) cos(z0 ) − sin(z0 )
=
.
h
Der Grenzwert dieses Ausdrucks für z → z0 ist identisch zum Grenzwert der
rechten Seite für h → 0.
Wir berechnen, ähnlich wie in einer Übungsaufgabe auf dem 12. Blatt, den
Grenzwert limh→0 cos(h)−1
: es gilt
h
cos(h) − 1 =
∞
X
(−1)n
n=1
h2n
;
(2n)!
P∞
2n−1
Teilen durch h 6= 0 ergibt die Reihe n=1 (−1)n h(2n)! . Sie konvergiert für jedes
h 6= 0, weswegen es sich um eine Potenzreihe mit Konvergenzradius ∞ handelt.
Ihr Wert an der Stelle 0 ist 0; da Potenzreihen stetige Funktionen auf ihrem
Konvergenzkreis definieren gilt also limh→0 cos(h)−1
= 0. Analog argumentieren
h
P∞
sin(h)
h2n+1
wir, um zu zeigen, dass limh→0 h = 1: es gilt sin(h) = n=0 (−1)n (2n+1)!
;
P∞
n h2n
nach Teilen durch h erhalten wir die Potenzreihe n=0 (−1) (2n+1)! mit Konvergenzradius ∞, deren Wert 1 an der Stelle 0 mit dem gesuchten Grenzwert
übereinstimmt.
Insgesamt existiert also der gesuchte Grenzwert: es ist
lim
z→z0
sin(z) − sin(z0 )
cos(h) − 1
sin(h)
= sin(z0 ) lim
+ cos(z0 ) lim
= cos(z0 );
h→0
h→0
z − z0
h
h
wir haben gezeigt, dass die Ableitung des Sinus der Cosinus ist. Analog zeigt
man, dass cos0 = − sin.
Mit Hilfe der Ableitung des Sinus können wir nun ein Beispiel einer differenzierbaren Funktion geben, deren Ableitung nicht stetig ist:
Beispiel 4.2.3. Wir betrachten die Funktion
(
x2 sin
f : R −→ R; x 7−→
0
1
x
x≥0
x<0
4.3. LOKALE EXTREMA
87
und behaupten, dass sie differenzierbar ist, aber f 0 nicht stetig. Differenzierbarkeit in allen Punkten ungleich 0 ist klar, da f dort lokal als Komposition
stetiger Funktionen gegeben ist. Wir zeigen die Differenzierbarkeit in 0: es ist
(0)
= 0, und
limx%0 f (x)−f
x−0
f (x) − f (0)
lim
= lim x sin
x&0
x&0
x−0
1
= 0,
x
da sin x1 auf ganz R beschränkt ist, und limx→0 x = 0. Es ist f also in 0
differenzierbar, mit f 0 (0) = 0. Für x > 0 berechnen wir:
1
1
1 1
1
f 0 (x) = 2x sin
=
2x
sin
− x2 cos
−
cos
.
x
x x2
x
x
Für x → 0 besitzt diese Funktion keinen Grenzwert: man betrachte z.B. die
1
2
Nullfolge xn = 2πn
; es gilt f 0 (xn ) = 2πn
sin (2πn) − cos(2πn) = −1. Für die
2
1
0
sin(π/2 + 2πn) − cos(π/2 +
Nullfolge yn = π/2+2πn gilt aber f (yn ) = π/2+2πn
2
2πn) = π/2+2πn → 0 für n → ∞. Damit existiert limx→0 f 0 (x) nicht, und f 0 ist
in 0 nicht stetig.
Definition 4.2.4. Eine Funktion f : U → C heißt k-mal stetig differenzierbar,
wenn f k-mal differenzierbar ist und die k-te Ableitung f (k) : U → C stetig ist.
Wir setzen für K = R oder C:
C k (U, K) = {f : U −→ K | f ist k-mal stetig differenzierbar}
Man sagt auch: f ist eine C k -Funktion.
Wir setzen
C ∞ (U, K) = {f : U −→ K | f ist unendlich oft differenzierbar}
und nennen eine solche Funktion auch einfach eine C ∞ -Funktion.
4.3
Lokale Extrema
Definition 4.3.1. Es sei f : (a, b) → R eine Funktion und x0 ∈ (a, b). Wir
sagen, dass f in x0 ein lokales Maximum (bzw. ein lokales Minimum) besitzt,
wenn es eine offene Umgebung V von x0 gibt, so dass f (x) ≤ f (x0 ) (bzw.
f (x) ≥ f (x0 )) für alle x ∈ V ∩ (a, b).
Ist x0 ∈ (a, b) ein lokales Minimum oder ein lokales Maximum, so sagen wir,
dass x0 ein lokales Extremum von f ist.
Satz 4.3.2. Es sei f : (a, b) → R eine Funktion und x0 ∈ (a, b) ein lokales
Extremum von f . Ist f in x0 differenzierbar, so gilt f 0 (x0 ) = 0.
Beweis. Wir betrachten den Fall, dass x0 ein lokales Maximum ist; der Fall,
dass x0 ein lokales Minimum ist, geht analog. Es sei V eine offene Umgebung
von x0 , so dass f (x) ≤ f (x0 ) für alle x ∈ (a, b) ∩ V . Für x ∈ (a, b) ∩ V mit
x > x0 gilt dann, dass
f (x) − f (x0 )
≤ 0,
x − x0
88
KAPITEL 4. DIFFERENTIALRECHNUNG
da f (x) − f (x0 ) ≤ 0 und x − x0 > 0. Für x ∈ (a, b) ∩ V mit x < x0 gilt aber
f (x) − f (x0 )
≥ 0.
x − x0
Da nach Definition der Differenzierbarkeit aber der Grenzwert der obigen Differenzenquotienten für x → x0 existiert, folgt, dass er sowohl ≤ 0, als auch ≥ 0
sein muss, also gleich 0.
Das Verschwinden der Ableitung in einem Punkt ist nur eine notwendige
Bedingung für die Existenz eines lokalen Extremums an diesem Punkt. Zum
Beispiel verschwindet die Ableitung der Funktion f (x) = x3 in 0, obwohl die
Funktion dort kein lokales Extremums hat.
Satz 4.3.3. Es sei f : (a, b) → R eine differenzierbare, monoton wachsende
(bzw. monoton fallende) Funktion. Dann gilt f 0 (x) ≥ 0 (bzw. f 0 (x) ≤ 0) für alle
x ∈ (a, b).
Beweis. Wir betrachten nur den Fall, dass f monoton wachsend ist. Es sei
x0 ∈ (a, b) und x ∈ (x0 , b). Dann gilt f (x) ≥ f (x0 ) und also ist
f (x) − f (x0 )
≥ 0.
x − x0
Der Grenzwert dieses Ausdrucks für x & x0 existiert und ist also ebenfalls ≥ 0.
Dieser ist gleich der Ableitung f 0 (x0 ).
4.4
Der Mittelwertsatz
Satz 4.4.1. Es sei f : [a, b] → R stetig und auf (a, b) differenzierbar. Dann gibt
es ein ξ ∈ (a, b), so dass
f (a) − f (b)
f 0 (ξ) =
.
a−b
Man beachte: im Fall dass f (a) = f (b) erhalten wir die Aussage, dass es
einen Punkt ξ ∈ (a, b) gibt, so dass f 0 (ξ) = 0. Diese Aussage ist auch als Satz
von Rolle bekannt.
Beweis. Wir beweisen zuerst den Satz von Rolle: es sei also f : [a, b] → R
stetig und in (a, b) differenzierbar, und es gelte f (a) = f (b). Falls f konstant
ist, so sind wir fertig; wir nehmen also an, dass f nicht konstant ist. Da f auf
dem kompakten Intervall [a, b] stetig ist, nimmt die Funktion f auf [a, b] ihr
Maximum und ihr Minimum an. Da f (a) = f (b) und f nicht konstant ist, wird
mindestens eines von beiden nicht an a oder b angenommen; es sei ξ ein solcher
Extremalwert in (a, b). Dann gilt aber nach Satz 4.3.2, dass f 0 (ξ) = 0.
Wir führen nun den Mittelwertsatz auf den Satz von Rolle zurück: wir verzichten auf die Voraussetzung, dass f (a) = f (b). Dann betrachten wir die (auf
[a, b] stetige und auf (a, b) differenzierbare) Abbildung
g(x) := f (x) −
f (b) − f (a)
(x − a).
b−a
4.4. DER MITTELWERTSATZ
89
Für diese gilt g(a) = g(b) = f (a); wir finden also nach dem Satz von Rolle ein
ξ ∈ (a, b), so dass g 0 (ξ) = 0. Es gilt aber
g 0 (ξ) = f 0 (ξ) −
f (b) − f (a)
;
b−a
das Verschwinden von g 0 (ξ) bedeutet also gerade, dass f 0 (ξ) =
gewünscht.
f (b)−f (a)
b−a
wie
Korollar 4.4.2. Es sei f : [a, b] → R stetig und auf (a, b) differenzierbar.
Weiterhin gebe es Konstanten S, T ∈ R, so dass S ≤ f 0 (x) ≤ T für alle x ∈
(a, b). Dann gilt für alle x1 , x2 ∈ [a, b] mit x1 ≤ x2 , dass
R(x2 − x1 ) ≤ f (x2 ) − f (x1 ) ≤ T (x2 − x1 ).
Beweis. Falls x1 = x2 , ist die Behauptung klar. Wir nehmen an, es gelte
x1 < x2 . Wir wenden den Zwischenwertsatz auf die Einschränkung von f auf
das Intervall [x1 , x2 ] an und erhalten, dass es ein ξ ∈ (x1 , x2 ) gibt, so dass
f (x2 )−f (x1 )
= f 0 (ξ) ∈ [S, T ].
x2 −x1
Für den Spezialfall S = T = 0 erhalten wir folgende Aussage:
Korollar 4.4.3. Es sei f : [a, b] → R stetig und in (a, b) differenzierbar, mit
f 0 (x) = 0 für alle x ∈ (a, b). Dann ist f konstant.
Als weitere Folgerung aus dem Mittelwertsatz können wir eine Umkehrung
von Satz 4.3.3 zeigen:
Satz 4.4.4. Es sei f : (a, b) → R eine differenzierbare Funktion. Wenn f 0 (x) ≥
0 (bzw. f 0 (x) > 0, f 0 (x) ≤ 0, f 0 (x) < 0) für alle x ∈ (a, b), so ist f auf (a, b)
monoton wachsend (bzw. streng monoton wachsend, monoton fallend, streng
monoton fallend).
Beweis. Wir betrachten nur den Fall, dass f 0 (x) ≥ 0 auf ganz (a, b); die anderen
Fälle gehen analog. Wir nehmen an, f sei nicht monoton wachsend, d.h. dass
es x1 < x2 gibt, so dass f (x1 ) > f (x2 ). Nach dem Mittelwertsatz gibt es ξ ∈
(x1 , x2 ), so dass
f (x2 ) − f (x1 )
f 0 (ξ) =
< 0,
x2 − x1
was ein Widerspruch zur Voraussetzung ist.
Als Korollar formulieren wir ein hinreichendes (aber nicht notwendiges) Kriterium für ein lokales Extremum:
Korollar 4.4.5. Es sei f : (a, b) → R eine differenzierbare Funktion, und
f 0 : (a, b) → R sei im Punkt x0 ∈ (a, b) differenzierbar. Es gelte f 0 (x0 ) = 0 und
f 00 (x0 ) > 0 (bzw. f 00 (x0 ) < 0). Dann besitzt f in x0 ein lokales Minimum (bzw.
Maximum).
Beweis. Wir beweisen nur den Fall, dass f 00 (x0 ) > 0. Es gilt
0 < f 00 (x0 ) = lim
x→x0
f 0 (x) − f 0 (x0 )
f 0 (x)
= lim
,
x→x0 x − x0
x − x0
90
KAPITEL 4. DIFFERENTIALRECHNUNG
also existiert ein ε > 0, so dass
f 0 (x)
>0
x − x0
für alle x mit 0 < |x − x0 | < ε. Es folgt: für alle x ∈ (x0 − ε, x0 ) gilt f 0 (x) < 0
und für alle x ∈ (x0 , x0 + ε) gilt f 0 (x) > 0. Nach Satz 4.4.4 folgt: f ist im
Intervall (x0 − ε, x0 ) streng monoton fallend und im Intervall (x0 , x0 + ε) streng
monoton wachsend. (Man sagt auch: x0 ist ein strenges lokales Minimum von
f .)
Beispiel 4.4.6. Die Funktion f (x) = x4 besitzt in 0 ein (strenges) lokales
Minimum. Es verschwinden aber sowohl die erste als auch die zweite Ableitung
von f in 0.
4.5
Die Regel von de l’Hospital
Die Regel von de l’Hospital ist ein nützliches Hilfsmittel zur Berechnung von
reellen Grenzwerten:
Satz 4.5.1. Es seien f, g : (a, b) → R differenzierbare Funktionen, mit g 0 (x) 6= 0
für alle x ∈ (a, b). (Uneigentliche Intervalle sind erlaubt.) Wir nehmen an, dass
0
(x)
der Grenzwert L := limx%b fg0 (x)
existiert. (L = ±∞ ist erlaubt.) Falls entweder
lim f (x) = lim g(x) = 0
x%b
x%b
oder
lim f (x) = ±∞,
x%b
lim g(x) = ±∞
x%b
dann gilt
lim
x%b
f (x)
= L.
g(x)
Eine analoge Aussage gilt, wenn wir stattdessen auf (a, b) definierte Funktionen
und den Grenzwert x & a betrachten.
Beweis. Wir betrachten den Fall, dass b eine reelle Zahl ist, und dass limx%b f (x) =
limx%b g(x) = 0. Wir setzen f und g auf (a, b] stetig durch f (b) := 0 und
g(b) := 0 fort. Es sei (xn ) eine Folge in (a, b), die gegen b konvergiert. Für alle
n sei Hn (x) := f (x)g(xn ) − g(x)f (xn ). Die Funktion Hn ist differenzierbar auf
(a, b), und es gilt Hn (xn ) = 0 sowie Hn (b) = f (b)g(xn ) − g(b)f (xn ) = 0. Nach
dem Mittelwertsatz (bzw. dem Satz von Rolle) existiert ξn ∈ (xn , b), so dass
0
(xn )
(ξn )
0 = Hn0 (ξn ) = f 0 (ξn )g(xn ) − g 0 (ξn )f (xn ), d.h. fg(x
= fg0 (ξ
. Da ξn ∈ (xn , b)
n)
n)
und xn % b, konvergiert auch (ξn ) gegen b. Damit gilt nach Voraussetzung
0
(ξn )
(xn )
limn→∞ fg0 (ξ
= L, also auch limn→∞ fg(x
= L. Da die Folge (xn ) beliebig
n)
n)
war, folgt die Behauptung.
Die anderen Fälle können auf diesen zurückgeführt werden. Zum Beispiel
1
betrachten wir den Fall f (x) → ∞, g(x) → ∞. Dann sei F (x) = f (x)
und
4.6. DIFFERENZIERBARKEIT UND GLEICHMÄSSIGE KONVERGENZ91
1
G(x) = g(x)
, so dass limx%b F (x) = limx%b G(x) = 0. Anwendung des ersten
Falls liefert
f 0 (x)
− f (x)2
g(x)
F (x)
F 0 (x)
f 0 (x)
g(x)2
,
lim
= lim
= lim 0
= lim g0 (x) = lim 0
· lim
x%b f (x)
x%b G(x)
x%b G (x)
x%b −
x%b g (x) x%b f (x)2
2
g(x)
0
(x)
(x)
was impliziert, dass limx%b fg(x)
= limx%b fg0 (x)
. Gilt f (x) → −∞ und/oder
g(x) → −∞, so ersetzen wir f durch −f bzw. g durch −g und wenden den
obigen Fall an.
Betrachten wir statt den Grenzwerten x % b den Fall von Grenzwerten
x & a, wobei a eine reelle Zahl ist, so ersetzen wir x 7→ f (x) und x 7→ g(x)
durch die Funktionen x 7→ f (−x) und x 7→ g(−x) und wenden den ersten Fall
an. Betrachten wir als Intervallgrenzen ±∞, so führen wir die neue Variable
u = x1 ein, und berechnen z.B. im Fall b = ∞:
f (x)
f (1/u)
−f 0 (1/u)u−2
f 0 (x)
= lim 0
= lim
= lim
.
0
−2
x→∞ g(x)
x→∞ g (x)
u&0 g(1/u)
u&0 −g (1/u)u
lim
Beispiel 4.5.2. Es gilt limx→∞ ln(x) = ∞ und limx→∞
nach der Regel von de l’Hospital:
√
x = ∞. Damit gilt
x−1
ln x
lim √ = lim 1 −1/2 = lim 2x−1/2 = 0.
x→∞ x
x→∞
x→∞
x
2
Beispiel 4.5.3. Manchmal ist die Regel von de l’Hospital nicht direkt anwendbar:
ex + e−x
ex − e−x
ex + e−x
lim x
=
lim
=
lim
= ···
x→∞ e − e−x
x→∞ ex + e−x
x→∞ ex − e−x
führt zu keinem Ergebnis.
Ersetzen wir in diesem Beispiel aber u = ex , dann gilt, wieder unter Anwendung der Regel von de l’Hospital:
ex + e−x
u + u−1
1 − u−2
=
lim
=
lim
= 1.
x→∞ ex − e−x
u→∞ u − u−1
u→∞ 1 + u−2
lim
4.6
Differenzierbarkeit und gleichmäßige Konvergenz
Wir erinnern daran, dass wir gezeigt haben, dass die Grenzfunktion einer gleichmäßig konvergenten Funktionenfolge stetiger Funktionen automatisch stetig ist.
Man könnte versucht sein zu glauben, dass ein analoger Satz für differenzierbare
Funktionen gilt. Das folgende Beispiel zeigt jedoch, dass das nicht stimmt:
q
Beispiel 4.6.1. Wir betrachten die Funktionenfolge fn : R → R; x 7→ x2 + n1 .
Da x2 + n1 immer positiv ist, ist fn als Komposition differenzierbarer Funktionen
differenzierbar.
92
KAPITEL 4. DIFFERENTIALRECHNUNG
Diese konvergiert gleichmäßig gegenq
die in 0 nicht differenzierbare Betragsfunktion f (x) = |x|: für alle x ∈ R gilt x2 + n1 + |x| ≥ √1n , und daher
1
√ ·
n
r
1
x2 + − |x|
n
!
!
1
x2 + − |x| ·
n
r
≤
r
!
1
1
x2 + + |x| = ,
n
n
weswegen also
1
||fn − f ||∞ ≤ √ .
n
Dies impliziert, dass fn gleichmäßig gegen f konvergiert.
Wir geben ein weiteres, sehr berühmtes Beispiel an:
Beispiel 4.6.2. Es sei 0 < a < 1 und b eine ungerade natürliche Zahl, so dass
ab ≥ 1. Wir betrachten die Funktionenreihe
∞
X
an cos(bn πx).
n=0
Wir wenden Satz 3.7.1 an, um zu zeigen, dass diese Funktionenreihe auf ganz
n
R gleichmäßig konvergiert: MitP
fn (x) := an cos(b
πx) gilt ||fn ||∞ = an , und da
P∞
∞
0 < a < 1, handelt es sich bei n=0 ||fn ||∞ = n=0 an also um eine (konvergente) geometrische Reihe. Die Funktionenreihe definiert also auf ganz R eine
stetige Funktion f : R → R. Sie wird eine Weierstraß-Funktion genannt.
Ohne Beweis erwähnen wir: obwohl wir die Weierstraß-Funktion als gleichmäßigen Grenzwert einer Folge differenzierbarer Funktionen definiert haben, ist
sie nicht differenzierbar. Es gilt sogar: sie ist in keinem Punkt differenzierbar,
was von Weierstraß im Jahre 1872 (unter stärkeren Annahmen an a und b,
nämlich dass ab > 1 + 23 π) bewiesen wurde.
Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts war die geläufige Meinung, dass stetige
Funktionen automatisch fast überall differenzierbar sind. Auch heute gilt: wenn
wir uns eine stetige, nicht differenzierbare Funktion vorstellen, dann haben wir
eine Funktion wie die Betragsfunktion vor Augen, die nur an isolierten Stellen
nicht differenzierbar ist. Die Weierstraß-Funktion zeigt, dass diese Vorstellung
falsch ist: eine allgemeine stetige Funktion kann ziemlich fürchterlich aussehen.
Weiterhin gilt: selbst wenn wir eine gleichmäßig konvergente Funktionenfolge
gegeben haben, deren Grenzfunktion wieder differenzierbar ist, so muss die Folge
der Ableitungen nicht gegen die Ableitung der Grenzfunktion konvergieren:
Beispiel 4.6.3. Wir betrachten die reelle Funktionenfolge fn (x) = n1 sin(nx).
Da |fn (x)| ≤ n1 für alle x ∈ R, konvergiert fn gleichmäßig gegen die Nullfunktion, die natürlich differenzierbar ist. Betrachten wir jedoch nun die Folge der
Ableitungen, fn0 (x) = cos(nx), so konvergiert diese Funktionenfolge noch nicht
einmal punktweise gegen irgendeine Funktion.
Satz 4.6.4. Es sei U ⊂ R oder U ⊂ C offen. Es seien fn : U → C stetig
differenzierbare Funktionen (d.h. alle fn sind stetig differenzierbar), so dass
(fn ) gleichmäßig gegen eine Funktion f konvergiert, und die Folge von stetigen
Funktionen (fn0 ) gleichmäßig gegen eine Funktion g konvergiert. Dann ist f ∈
C 1 (U ) und es gilt f 0 = g.
4.7. DIFFERENZIERBARKEIT VON POTENZREIHEN
93
Beweis. Wir betrachten für fixiertes x0 ∈ U die Funktion
(
f (x)−f (x0 )
x 6= x0
x−x0
h(x) =
g(x0 )
x = x0 .
Wenn wir zeigen können, dass h in x0 stetig ist, dann folgt, dass f in x0 differenzierbar ist, mit f 0 (x0 ) = g(x0 ). Da x0 beliebig ist, wird das also die Behauptung
implizieren.
Wir fixieren also ε > 0 und müssen ein δ > 0 finden, so dass |h(x)−h(x0 )| < ε
für alle x ∈ Bδ (x0 ).
Für alle n und x ∈ U \ {x0 } setzen wir
hn (x) =
fn (x) − fn (x0 )
.
x − x0
und berechnen
|h(x) − h(x0 )| = |h(x) − hn (x) + hn (x) − fn0 (x) + fn0 (x) − g(x) + g(x) − g(x0 )|
≤ |h(x) − hn (x)| + |hn (x) − fn0 (x)| + |fn0 (x) − g(x)| + |g(x) − g(x0 )| . (4.6.1)
Diese Ungleichung gilt, wie gesagt, für alle n und alle x ∈ U \ {x0 }. Nun fixieren
wir zuerst ein n0 , so dass ||fn0 − g||∞ < 4ε für alle n ≥ n0 . Danach sei δ > 0
so klein, dass für alle x ∈ Bδ (x0 ) gilt, dass |hn (x) − fn0 (x)| < 4ε (dies geht, da
n (x)
fn in x differenzierbar ist, und der Ausdruck hn (x) = fn (xx00)−f
für x0 → x
−x
ε
0
daher gegen fn (x) konvergiert) sowie |g(x) − g(x0 )| < 4 (dies geht, da g als
gleichmäßiger Grenzwert einer Folge stetiger Funktionen wieder stetig ist). Für
jedes solche x ∈ Bδ (x0 ) gibt es dann ein n ≥ n0 , so dass |h(x) − hn (x)| < 4ε .
Insgesamt gibt es also für alle x ∈ Bδ (x0 ) ein n, so dass jeder Summand in der
rechten Seite von (4.6.1) kleiner ist als 4ε , also folgt |h(x) − h(x0 )| < ε.
4.7
Differenzierbarkeit von Potenzreihen
In diesem Abschnitt werden wir den folgenden Satz beweisen, der das Analogon
von Beispiel 4.1.7 für Potenzreihen darstellt.
P∞
Satz 4.7.1. Es sei f (z) = n=0 an (z − z0 )n eine Potenzreihe um z0 ∈ C mit
Konvergenzradius R > 0. Dann ist die Funktion f : BR (z0 ) → C auf ganz
BR (z0 ) differenzierbar, und es gilt
f 0 (z) =
∞
X
nan (z − z0 )n−1 .
n=1
Diese Potenzreihe hat wieder den Konvergenzradius R.
Beweis. Wir betrachten die Potenzreihe
∞
X
nan (z − z0 )n−1
(4.7.1)
n=1
von der wir zeigen wollen, dass sie die Ableitung von f darstellt. Zuerst zeigen
wir, dass sie denselben Konvergenzradius wie f besitzt. Ihr Konvergenzradius
94
KAPITEL 4. DIFFERENTIALRECHNUNG
ist aber derselbe wie der der Potenzreihe
P∞
n=1
nan (z − z0 )n , der sich als
1
1
p
=
√ p
lim supn→∞ n |nan |
lim supn→∞ ( n n · n |an |)
√
berechnet. Da n n aber gegen 1 konvergiert, ist dieser Ausdruck dasselbe wie
1 √
= R.
lim supn→∞ n |an |
PN
Wir betrachten die Folge der Partialsummen fN (z) = n=0 an (z−z0 )n . Jede
Funktion fN ist C 1 (sogar C ∞ , da ein Polynom). Weiterhin gilt: fN konvergiert,
wie in Abschnitt 3.8 gezeigt, auf jeder Kreisscheibe Br (0), wobei 0 < r < R,
0
gleichmäßig gegen f , und die Folge der Ableitungen fN
konvergiert auf Br (0)
gleichmäßig gegen die durch (4.7.1) gegebene Funktion. Damit sind alle Voraussetzungen von Satz 4.6.4 erfüllt: es folgt, dass f differenzierbar ist, und dass die
Ableitung von f durch (4.7.1) gegeben ist.
Es folgt unmittelbar:
Korollar 4.7.2. Potenzreihen sind in ihrem Konvergenzkreis unendlich oft differenzierbar.
P∞ n
Beispiel 4.7.3.
1. Wir betrachten exp : C → C; z 7→ n=0 zn! . Es folgt aus
Satz 4.7.1:
∞
∞
X
X
zn
z n−1
=
= exp(z),
exp0 (z) =
n
n!
n!
n=0
n=1
d.h. exp0 = exp, wie bereits aus den Übungen bekannt.
P∞
z 2n+1
2. Wir betrachten sin : C → C; z 7→ n=0 (−1)n (2n+1)!
. Es folgt aus Satz
4.7.1:
∞
X
z 2n
z 2n
(−1) (2n + 1)
(−1)n
sin (z) =
=
= cos(z),
(2n + 1)! n=0
(2n!)
n=0
0
∞
X
n
d.h. sin0 = cos, wie wir bereits in Beispiel 4.2.2 gezeigt haben. Genauso
zeigt man: cos0 = − sin.
Beispiel 4.7.4. Es gibt unendlich oft differenzierbare Funktionen, die trotzdem
nicht analytisch sind. In den Übungen wurde gezeigt, dass die Funktion
(
0
x≤0
f : R −→ R; x 7−→
1
e− x
unendlich oft differenzierbar ist. Aufgrund des Verschwindungssatzes für Potenzreihen kann sie in keiner Umgebung von 0 als Potenzreihe geschrieben werden.
Man kann Satz 4.7.1 auch umgekehrt anwenden:
P∞
Korollar 4.7.5. Es sei f (z) = n=0 an (z − z0 )n eine Potenzreihe um z0 ∈ C
mit Konvergenzradius R > 0. Dann hat die Potenzreihe
F (z) =
∞
∞
X
X
an
an−1
(z − z0 )n+1 =
(z − z0 )n
n
+
1
n
n=0
n=1
ebenfalls Konvergenzradius R, und es gilt F 0 = f auf BR (z0 ).
4.8. TAYLORENTWICKLUNG
95
Beweis. Dass die Konvergenzradien übereinstimmen, zeigt man wie im Beweis
von Satz 4.7.1 mit Hilfe des Wurzelkriteriums. Damit definiert F nach Satz 4.7.1
eine differenzierbare Funktion auf BR (z0 ). Ihre Ableitung F 0 ist nach Konstruktion identisch mit f .
Beispiel 4.7.6. Wir betrachten den natürlichen Logarithmus ln : (0, ∞) → R.
In Beispiel 4.1.11 haben wir gezeigt, dass die Ableitung von ln durch die Funktion
1
x gegeben ist, welches eine analytische Funktion ist. Dies können wir benutzen,
um eine Potenzreihendarstellung von ln herzuleiten, z.B. um den Punkt 1. Wir
benutzen die geometrische Reihe: für |x − 1| < 1 gilt
∞
∞
X
X
1
1
=
=
(1 − x)n =
(x − 1)n ;
x
1 − (1 − x) n=0
n=0
die rechte Seite ist eine Potenzreihe um 1 mit Konvergenzradius 1.
Wir wenden Korollar 4.7.5 an: Auch die Reihe
∞
X
(−1)n
n=0
∞
X
(x − 1)n
1
(−1)n+1
(x − 1)n+1 =
n+1
n
n=1
hat Konvergenzradius 1, die durch sie definierte Funktion auf B1 (1) ist unendlich oft differenzierbar, und hat als Ableitung die Funktion x1 . Nach Korollar 4.4.3 stimmt diese Potenzreihe auf dem Intervall (0, 2) also bis auf eine
Konstante mit dem natürlichen Logarithmus überein. Es gilt aber außerdem:
ln(1) = 0, und die Potenzreihe hat als konstanten Term ebenfalls 0. Es folgt,
dass wir ln um 1 in eine Potenzreihe entwickelt haben: für alle x ∈ (0, 2) gilt
ln x =
∞
X
(−1)n+1
n=1
(x − 1)n
.
n
Man beachte, dass die rechte Seite, wie jede Potenzreihe, natürlicherweise auf
einem Kreis in C, hier auf B1 (1), definiert ist!
4.8
Taylorentwicklung
P∞
Wir betrachten eine Potenzreihe der Form g(z) = n=0 an (z − z0 )n mit Konvergenzradius R > 0. Im letztenP
Abschnitt haben wir gezeigt, dass g auf BR (z0 )
∞
differenzierbar ist, mit g 0 (z) = n=1 nan (z − z0 )n−1 , und dass diese neue Potenzreihe wieder differenzierbar ist. Es folgt induktiv für alle k:
g (k) (z) =
∞
X
n · (n − 1) · · · · · (n − k + 1) · an (z − z0 )n−k .
n=k
Insbesondere gilt g (k) (z0 ) = k! · ak . Der n-te Koeffizient einer Potenzreihe ist
also eindeutig durch die n-te Ableitung der durch die Potenzreihe definierten
Funktion im Punkt z0 bestimmt.
Betrachten wir nun eine unendlich oft differenzierbare Funktion f : U →
C, fixieren z0 ∈ U und stellen die Frage, ob wir eine Potenzreihe g(z) =
96
KAPITEL 4. DIFFERENTIALRECHNUNG
P∞
an (z − z0 )n um z0 finden, die mit f in einer Umgebung von z0 übereinstimmt. Falls es eine solche Potenzreihe gibt, dann folgt, dass f in dieser Umgebung unendlich oft differenzierbar sein muss, und aus unserer obigen Vorüberlegung folgt auch, dass die Koeffizienten an durch die Ableitungen von f bestimmt
sind: Falls eine solche Potenzreihe existiert, so ist sie notwendigerweise durch
n=0
∞
X
f (n) (z0 ) n
z
n!
n=0
gegeben.
Definition 4.8.1. Ist f : U → C eine unendlich oft differenzierbare Funktion
und z0 ∈ U , so heißt die Potenzreihe
∞
X
f (n) (z0 ) n
z
n!
n=0
die Taylorreihe von f um den Entwicklungspunkt z0 .
Wir betonen, dass die Taylorreihe von f um einen Punkt z0 im Allgemeinen
nicht, auch nicht in einer kleinen Umgebung von z0 , mit f übereinstimmen muss.
Man betrachte Beispiel 4.7.4: die Taylorreihe der dort angegebenen Funktion f
um 0 ist die konstante Potenzreihe 0: in den Übungen haben wir gezeigt, dass
alle Ableitungen von f im Punkt 0 verschwinden. In diesem Beispiel stimmt die
Taylorreihe wenigstens noch auf der negativen reellen Achse mit der Ausgangsfunktion überein, aber auch das muss im Allgemeinen nicht stimmen: betrachten
wir die Funktion g, die aus f durch g(x) = f (x) für x ≥ 0 und g(x) = f (−x)
für x < 0 hervorgeht, d.h.
1
g(x) = e− |x| ,
so ist sie (trotz Auftretens des Betrages) unendlich oft differenzierbar, aber ihre
Taylorreihe um 0 ist die konstante Nullfunktion. Diese stimmt also in keinem
Punkt außer 0 mit g überein.
Beispiel 4.8.2. Wir betrachten den natürlichen Logarithmus f := ln : (0, ∞) →
R und möchten die Taylorentwicklung von ln im Punkt 1 bestimmen. Wir haben
die Ableitung von ln bereits in Beispiel 4.1.11 bestimmt; es gilt f 0 (x) = x1 =
x−1 . Es folgt induktiv: f (n) (x) = (−1)n+1 (n − 1)! x1n . Insbesondere: f (n) (1) =
(−1)n+1 (n − 1)!.
Die Taylorreihe von ln um den Entwicklungspunkt 1 lautet also (man beachte
ln(1) = 0)
∞
X
(x − 1)n
(−1)n+1
,
n
n=1
was wie erwartet mit der in Beispiel 4.7.6 bestimmten Potenzreihenentwicklung
von ln übereinstimmt.
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