Bewegte Bilder - Bedeutungswelt zweier Wiesenfalter. Elemente der

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ELEMENTE DER NATURWISSENSCHAFT
76 1/2002
Bewegte Bilder – Bedeutungswelt zweier Wiesenfalter
Daniel Kuster und Johannes Wirz
Summary
Butterflies are fascinating creatures. Although most of us know little about their biological task in biotopes,
they are greatly admired for their obvious contribution to the ensoulment of landscapes. What exactly does
this concept mean? In the present study an attempt was made to approach these animals by a variety of
methods. In particular, single animal observations of the activities from two species living in extensively used
grasslands, the Mazarine Blue (C. semiargus) and the Marbled White (galathea), were converted into
ethochronograms, which allow for a clear distinction between frequent versus rare behaviours and reveal
patterns of sequential activities that are species specific, as well as in unison with the particular environments.
The results presented provide first steps towards the elucidation of the concept of ensoulment. It will be
shown that the elaboration of spaces of soul activity (Seelentätigkeitsräume) by single species reveal their organ-like character and that their subsequent integration contributes to the whole atmosphere of grasslands
in a way similar to the way instruments do in an orchestra, each contributing to the whole experience
(Gesamterlebnis) of a symphony.
1 Einleitung
«Wir denken uns also das abgeschlossene Tier als eine kleine Welt,
die um ihrer selbst willen und durch sich selbst da ist»
Goethe (1820)
Auf den ersten Blick scheint Goethe mit diesem Zitat dazu aufzurufen, Tiere isoliert
von ihren Umwelten, sozusagen in der Museumsvitrine, zu betrachten. Aus seinen
morphologischen Schriften geht jedoch hervor, dass die Bildung der Tiergestalt sowohl «von innen nach außen» wie von «außen nach innen», d.h. als Ergebnis der
spezifischen inneren Bildemöglichkeiten und der vollkommenen Übereinstimmung
mit den äußeren Gegebenheiten, zu verstehen ist. Deshalb ist offensichtlich, dass es
das intime Wechselverhältnis zwischen Tier und seiner Lebenswelt zu beachten gilt.
Nicht, dass z.B. jede Schmetterlingsart auf unseren Wiesen notwendig an ihr Flugbiotop angepasst ist, hätte Goethe in erster Linie interessiert, sondern wie die Falter
mit den Blüten, Strukturen und anderen Tieren des gemeinsamen Wiesenraumes in
Beziehung treten. Jede Art gestaltet, so betrachtet, ihren eigenen Lebensraum. Die
vielen Insektenarten auf der Wiese teilen zwar dasselbe Flugbiotop, denselben phy51
sischen Ort, leben aber seelisch in verschiedenen Welten. Jede Falterart er-lebt ihre
eigene Wiese, ihre «abgeschlossene Welt».
Diese Überlegungen umreißen das Anliegen des vorliegenden Aufsatzes. Am Beispiel von zwei einheimischen Schmetterlingsarten versuchen wir, vertiefte Einblicke
in ihre Lebenswelten zu erarbeiten, gesättigte Bilder dieser Tiere zu entwerfen und
diese schließlich auf ihre Bedeutung für die Beseelung oder Astralisierung von Landschaften – ein Ausdruck, den Steiner (1924) geprägt hat – zu untersuchen. Bockemühl (1997, S. 177) hat die Beseelung als innere Natur des Tieres beschrieben, die
«bewusst an die Oberfläche der Wahrnehmung [tritt], wenn nicht Sinnestatsachen
seelisch interpretiert werden, sondern die Erscheinung selbst für das Erleben durchsichtig wird». Das Seelische der Tiere manifestiert sich in ihren Sympathien und
Antipathien, ihren intentionalen Ausrichtungen auf bestimmte Elemente in Lebensräumen und ihrer vollkommenen Blindheit für andere, ihrer gerichteten Aufmerksamkeit, die sich in spezifischen Bewegungs- und Verhaltensabläufen widerspiegelt,
und in der vollkommenen Übereinstimmung von Gestalt, Färbung, Verhalten und
Lebenswelt.
Wer mit Beobachtungen am einzelnen Tier vertraut ist, mag entdeckt haben, welcher
Verzicht geleistet werden muss, um in der Vielfalt von Blumen, Insekten, Vögeln
usw. in einer schönen Magerwiese seine Aufmerksamkeit während längerer Zeit ausschließlich einem einzigen Tier zu widmen. Und er oder sie wird fast schmerzlich erlebt haben, wie die Reduktion der Beobachtung auf Häufigkeit und Dauer von Aktivitäten zunächst den Zauber der Tiere und die Stimmung eines Ortes vernichtet.
Gleichzeitig – und das ist die These dieser Arbeit – wird er oder sie gemerkt haben,
wie in der Aufarbeitung solcher Beobachtungen eine ungeahnte Präzision der räumlich-zeitlichen Dynamik im Verhalten der Tiere entwickelt werden kann. In diesem
inneren Nachschaffen entsteht ein von Begriffen getragenes Gefühl, das mehr über
Tiere, Landschaft und «Seelenstimmung» offenbart als die erste, von der Wahrnehmung geprägte Empfindung während der aktuellen Beobachtung (Kuster/Wirz
1996, siehe auch Marti 1989). Darüber hinaus geben Einzeltierbeobachtungen die
Gelegenheit, sich als körperlich aktiven Beobachter wahrzunehmen: Der Aktionsradius und die Fluggeschwindigkeit variieren von Art zu Art, ebenso wie die maximale Annäherung, die für das Tier noch keine Störung bedeutet. Ähnlich prägen eine
lange Verweildauer auf Blüten oder die Intensität von Interaktionen unmittelbar die
Befindlichkeit des Beobachters, die sich in Schläfrigkeit oder gesteigerter Wachheit
äußert. Damit lernt er nicht nur über die Beobachtungen draußen, sondern auch
über die Selbstbeobachtung die spezifische Eigenart der Schmetterlinge kennen.
Der Ausgangspunkt
Eine Annäherung an die spezifischen Tier-Welten ist vielfach und mit unterschiedlichen Fragestellungen und Methoden versucht worden. Auf den gestaltlichen (morphologischen) Zusammenhang zwischen der Tracht der Schmetterlinge und ihrer
Umwelt hat Suchantke (1974, 1976, 1991) aufmerksam gemacht. Er konnte an Fluggemeinschaften in den Tropen zeigen, dass die Trachten verschiedener Schmetterlingsarten eines bestimmten Flugbiotops hinsichtlich Färbung und Musterung sehr
52
ähnlich sind. Diese Tatsache bezeichnete er als Biotoptracht. Dabei sind Ähnlichkeiten zwischen der Tracht und dem Farben- und Lichtspiel des Lebensraums nicht
Folge einer systematischen Verwandtschaft, sondern Abbild, Spiegelung der engen
Beziehung zwischen Organismus und Umwelt. Verhaltensbiologische Aspekte von
Tagfaltern in ihren Lebensräumen wurden von Tinbergen (1967) erstmals am Samtfalter (H. semele) in der holländischen Heidelandschaft beschrieben. Obwohl in diesen Arbeiten die funktionale Verarbeitung der Beobachtungen im Vordergrund
steht, klingen in ihnen immer wieder bildhafte Elemente an, z.B. wenn Tinbergen in
der farblichen Übereinstimmung der Ruhetracht dieses Schmetterlings mit seinem
Ruheplatz von der «lebendigen Rinde» spricht. Vereijken (1990) hat das Phänomen
der Biotoptracht u.a. am Waldbrettspiel verdeutlicht, auf einige Phänomene des Zusammenhanges zwischen Beobachter, Tracht, Verhalten und Umgebung aufmerksam gemacht und darüber hinaus Aspekte der Urteils- und Begriffsbildung kritisch
beleuchtet.
Marti (1989) hat an Heuschrecken in der Camargue exemplarisch eine integrale
Betrachtungsweise dargestellt, die Eindrücke und Stimmungen sowie verschiedene
biologische Fachgebiete wie Morphologie, Ethologie und Ökologie integriert. Dabei entstand ein umfassendes Bild der vielschichtigen Beziehung eines Tierorganismus zu seiner Umwelt. Ergebnis dieses Vorgehens ist allerdings nicht ein ökologischer Steckbrief der verschiedenen vorkommenden Heuschreckenarten, der z.B. als
Grundlage für den Arten- und Biotopschutz dienen könnte. Die eigentliche Leistung
seiner Arbeit besteht vielmehr im Nachweis, dass die Beziehung des Beobachters zu
Tieren und ihren Lebenswelten erfolgreich vertieft und gesteigert werden kann und
damit Einsichten in die Lebendigkeit eines Landschaftsorganismus möglich werden.
Anders als in der Camargue, wo die einzelnen Heuschreckenarten in unterschiedlichen Biotopen im Rhone-Deltas leben und auf einer höheren Ebene integriert werden, haben wir es im Lebensraum Wiese mit einer komplexen, raum-zeitlichen Verzahnung von Qualitäten zu tun, die sich in der Vielzahl von Schmetterlingsarten und
der Häufigkeit ihres Auftretens zeigen. Man darf erwarten, dass die Tagfalter hier in
ähnlicher Weise wie die Heuschrecken in der Camargue die spezifischen Strukturen
oder «Organe» dieses Biotops zur Erscheinung bringen.
Landschaft und Schmetterlingstracht
Mitteleuropäische Kulturlandschaften, die in ursprünglicher und in gewissem Sinne
idealer Form nur noch an wenigen Orten im Wallis, im Jura, auf der Schwäbischen
Alb oder am Kaiserstuhl vorhanden sind, zeigen auf kleinstem Raum ein reiches
Mosaik. Durchlichtete warme Felsgebiete, Magerrasen, blumenreiche Wirtschaftswiesen, Feldraine und Äcker, Gebüsche und Hecken, Wald und Waldlichtungen berühren und durchdringen sich. In diesem Landschaftsmosaik leben eine Fülle von
verschiedensten Schmetterlingsarten, die in Färbung und Verhalten Qualitäten ihrer
Lebensräume widerspiegeln (siehe Abb. 1, S. 50).
Bereits Anfang Mai fliegen in der warmen, fast gleißend besonnten Felsensteppe
im Wallis einige auffallend helle Falter wie der blendend weiße Baumweißling, der
fast durchsichtige Große Apollo, der elegante Segelfalter und der schnelle Schwal53
benschwanz. Zusammen mit dem etwas später auftretenden Schachbrettfalter gehören die Arten der offenen Landschaften nach Suchantke (1991) zum heliophilen
Komplex.
Mit etwas Aufmerksamkeit findet man im gleichen Landschaftsraum auch unauffälligere, eher dunkelbraune Mohrenfalter, erdfarbige Würfelfalter und Bläulinge.
Oft saugen die Tiere dieser Gruppe gemeinsam an feuchten Erdstellen. Sie zeichnen
sich durch relativ erdnahe Lebensweise aus und gehören zu den Mitgliedern des geophilen Komplexes. Die Männchen vom Himmelblauen Bläuling oder vom Silbergrünen Bläuling zeigen sowohl in ihrer Tracht wie in ihrem Flugverhalten einen Übergang zum heliophilen Komplex: Mit strahlend blauen Flügeloberseiten fliegen sie
zeitweise im Lichtraum über der Magerwiesenvegetation.
Abgedämpfter wirkt das Licht in der Umgebung der Hecken, Gebüsche und Einzelbäume. Hier begegnen und durchmischen sich Elemente des Waldes mit jenen der
offenen Landschaft. Waldpflanzen wie Aronstab, Bingelkraut u.a. wachsen neben
den Wiesenkräutern. Schmetterlinge dieser Übergangslandschaft können zwischen
Wald und Wiese hin und her wechseln. Die in flachem Flug fliegenden orange-braunen Scheckenfalter, die Perlmutterfalter, der Kleine Fuchs und andere mehr gehören
zu diesem intermediären Kreis.
Mit etwas Phantasie ließe sich das Weiß des heliophilen Schachbrettfalters durch
Orange-braun ersetzen – es ergäbe sich nahezu die Tracht des Mauerfuchses oder
des rostbraun gefärbten Samtfalters. Diese beiden Tagfalter wechseln gerne zwischen Gebüsch, Waldrand und vegetationsfreien, oft felsigen Stellen und bevorzugen warme, windgeschützte Orte.
Der noch unbelaubte Frühlingswald äußert im Bezug auf den Lichtcharakter eine
intermediäre Qualität, die sich nicht nur an den vielen blühenden Veilchen und Buschwindröschen, sondern auch eindrücklich am Landkärtchenfalter zeigt, der in der
Frühlingsgeneration wie ein Scheckenfalter aussieht. In der Sommergeneration dagegen ist er schwarzweiß gebändert, dem Großen Schillerfalter, dem Großen und
dem Kleinen Eisvogel nicht unähnlich. Mit ihrer kontrastreichen, schwarzweißen
Tracht widerspiegeln sie die Farbgebung ihres umbrophilen Waldflugbiotops. Unvergesslich ist das Bild der Großen Schillerfalter, wenn sie während der späten Morgenstunden aus dem Dunkel der Baumkronen in eleganten schwungvollen Bögen
ins gleißende Licht fliegen, die Baumkronen im kraftvollen Flug umspielen, aufleuchten und wieder im Dunkeln verschwinden. Dass es auch hier wieder verschiedene Waldrand- und Waldbiotope mit unterschiedlichen Lichtverhältnissen gibt,
zeigen die beiden Walportier-Arten: Abgedämpft und fast verschwommen ist der
Kontrast der hellen Bänderung auf dunklem Hintergrund. Sie leben in aufgelockerten, warm-trockenen Wäldern und gebüschreichen Heiden mit einzeln stehenden
Kiefern oder Eichen.
Diese Beispiele mögen genügen, um auf den von Suchantke gefundenen Zusammenhang zwischen der Lichtqualität der europäischen Landschaften und der
Farbgebung der Trachten unserer heimischen Tagfalter aufmerksam zu machen. Immer steht der Schmetterling je nach Geschlecht und Stimmung in einem bestimmten
aktuellen Verhältnis zur Umgebung. Die Tiere suchen aktiv Nahrung an bestimm54
ten Orten und Blütenpflanzen, sie suchen aktiv ihre Geschlechtspartner oder versuchen sie zu meiden. Sie sind auf spezifische Eiablage- und Raupenfutterpflanzen angewiesen, die sie an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten aufsuchen. Weiter
brauchen die Imagines Ruhe- und Schlafstrukturen – das Verständnis, wie der
Schmetterling aktiv mit seiner Mitwelt in Beziehung tritt, ist essentiell für die Einsicht in seine Seelentätigkeitsräume (Klett 2002).
Fragestellungen und Methode
Umfassende Schilderungen der Lebensweise von Insekten gibt es im Vergleich mit
solchen von Säugetieren und Vögeln nur wenige. Die «Souvenirs entomologiques»
von Jean Henri Fabre (in Guggenheim/Portmann 1961) ragen besonders heraus. In
seinem Garten in der Provence hat Fabre bis ins hohe Alter in jahrelanger Zuwendung das «Tun und Lassen» von Sandwespen, Wildbienen, Spinnen, Käfern und
Nachtfaltern genauestens beobachtet und in einer großartigen Sprache zur «Naturgeschichte» einer Art verdichtet. Später beschränkten Feldforscher wie Baerends
(1941) und Tinbergen (1967) ihre Aufmerksamkeit immer stärker auf bestimmte
Teilfragen. Sie interessierten sich nicht mehr für «die» Sandwespe im Allgemeinen
(Portmann 1953), sondern erforschten z.B. das Fortpflanzungsverhalten der Schmetterlinge oder die Orientierung von Grabwespen an ihrem Nistplatz.
Die quantitativen Methoden, die heute in der Ökologie der Schmetterlinge angewendet werden, sollten in ihrer Bedeutung auch für qualitative Forschungsansätze
nicht unterschätzt werden. Sie vermitteln eine Übersicht über die Artenvielfalt und
die Häufigkeit der Tiere und erinnern daran, dass die Totalität der Beseelung eines
Standortes von allen Akteuren abhängt. Außerdem erlauben mehrfache Begehungen
einen Einblick in die Dynamik des Auftretens und Verschwindens einzelner Arten
im Jahreslauf. Daten zur Diversität, Häufigkeit und Populationsstruktur von
Schmetterlingsarten werden heute mit Transektmethoden (Pollard/Yates 1993, Settele 1999) erfasst. Dabei wird eine zuvor festgelegte Strecke in regelmäßigen zeitlichen Abständen abgeschritten, und es werden alle Schmetterlinge innerhalb eines
Bandes von sechs Metern bestimmt und gezählt. Mit Markierungs- und WiederfangMethoden (mark-release-recapture, Shreeve 1992) können Aussagen gemacht werden über die Dispersion, d. h. Aus- und Einwanderung von Tieren aus der bzw. in
die Population. Einzeltiere z.B. einer nordamerikanischen Apollofalterart können
mit Radartechniken in ihrem Flug verfolgt werden. Die Untersuchungen erlauben
Rückschlüsse auf die Reaktion der Schmetterlinge auf Veränderungen ihres Lebensraumes, wie die zunehmende Verkleinerung und Isolierung ihrer Habitate (Roland
et al. 1996, Caldwell 1997).
Bei weniger mobilen Arten kann ein mit einem Diktiergerät ausgerüsteter Beobachter eine Fülle von Informationen zum Verhalten und zur Raumnutzung von Einzeltieren erfassen. Dabei registriert er alle auftretenden Verhaltensereignisse wie
Blütenbesuch, Interaktionen, Ruhen, Flug, Paarung und Eiablage und die Aufenthaltsorte, kurz die spezifischen Verhaltensweisen einer Art. Mit diesen Beobachtungen können einerseits die Bedeutung der Ressourcen in einem bestimmten Habitat,
anderseits die wesentlichen Ansprüche einer Art ermittelt werden. Mit der Direkt55
beobachtung am Einzeltier lassen sich häufige Verhaltensweisen von seltenen unterscheiden und man kann erkennen, ob und wie der Lebensraum geschlechtsspezifisch
unterschiedlich genutzt wird. So kann ein Bild vom zeitlichen Verhältnis der Verhaltensaktivitäten und damit von der Lebensweise der Tiere entworfen werden, das
in Bezug auf die Frage nach der Beseelung von Landschaften und nach den Seelentätigkeitsräumen differenzierte Gesichtspunkte liefert. Außerdem wird damit Material zu autökologischen Fragestellungen bereitgestellt, aus denen Vorschläge zur
Förderung von gefährdeten Arten, z.B. in der Diskussion um Fragmentierung und
regionale Vernetzung von isolierten Biotopen (Dover 1989, Turchin/Odendaal/Rausher 1991, Schultz 1998, Shreeve 1992, Baur/Erhardt 1995, Bosshard/Kuster 2001),
entwickelt werden können.
Ausgehend von Stimmungsbildern, phänologischen Erhebungen, Transektbegehungen und ausgedehnten Beobachtungen an einzelnen Tieren wurde die Welt von
Schachbrett und Rotkleebläuling erkundet, mit dem Ziel, ihre artspezifische seelische
Bedeutung zu beschreiben. Die Auswahl der beiden Arten hat verschiedene Gründe. Sicher spielt unsere Vorliebe für diese Tagfalter, die mit ihren Trachten und Verhaltensweisen immer wieder die Aufmerksamkeit erregten, eine große Rolle. Darüber hinaus fliegen sie zu verschiedenen Zeiten, sind in ungedüngten, blumenreichen
Glatthaferwiesen noch relativ häufig vorhanden und zeigen eine vergleichsweise geringe Mobilität, sind also für ausgedehnte Einzeltierbeobachtungen gut geeignet.
An drei Terminen wurde mit einem Transektmonitoring Artenvielfalt und Häufigkeit ermittelt. Einzeltierbeobachtungen wurden am Schachbrettfalter ca. 12 Stunden lang, an den Rotkleebläulingen während ca. 9 Stunden durchgeführt. Detaillierte Angaben zu Häufigkeit, Dauer und Ort von Aktivitäten wurden dokumentiert.
Ebenso wichtig war das Beobachtungsjournal, in dem auffällige Eindrücke, Stimmungsbilder u.ä. bei den Feldbegehungen festgehalten wurden. Aus diesen Grundlagen kristallisierten wir die folgenden Fragen heraus:
1. Wie verhalten sich Weibchen und Männchen der untersuchten Arten im gleichen
Flugbiotop?
2. Welche Bedeutung hat der gleiche Wiesenraum bezüglich Nahrungsangebot, Raupenfutterpflanzen und anderen Lebensansprüchen dieser beiden Arten?
3. Welche Qualitäten der Landschaft werden erfahrbar und welche seelischen Erlebnisse und Erfahrungen können beim Beobachten und Verfolgen von Einzeltieren
gewonnen werden?
Die quantitativen Erhebungen sind nicht Ziel, sondern notwendiger Baustein für ein
ganzheitliches Bild des Schmetterlings in seiner Umwelt. Wie Portmann (1952) bemerkt hat, erlauben quantitative Aussagen eine Objektivierung der «schwer zugänglichen Realität der Innerlichkeit». Es geht also nicht darum, mit den Zahlenverhältnissen und den ermittelten prozentualen Beziehungen ein quantitativ exaktes
Ergebnis zu formulieren, sondern mit Hilfe von Ethochronogrammen, d.h. einer
grafischen Auswertung der beobachteten Aktivitäten, einen Beitrag zur Beurteilung
der Umgebungsbeziehung des Tieres als aktives Zentrum (Innerlichkeit) zu leisten
und es schließlich in einen Zusammenhang zu den Stimmungsbildern zu stellen.
«Die in ein systematisches Bild gebrachten einzelnen Eigenschaften und Verhaltens56
weisen sind nicht Ergebnis (…), sondern notwendige Marksteine eines Weges, die
man selbst immer neu setzen muss, die aber bedeutungslos werden, wenn man den
Weg dabei nicht selbst geht.» (Bockemühl 1997, 180)
Die Akteure
Der Schachbrettfalter (Melanargia galathea) zeigt eine auffällige, schwarzweiße
Musterung (Abb. 2), die beim Weibchen gelb überstäubt ist. Die geschlechtsspezifischen Unterschiede sind in der Tracht nicht ohne weiteres erkennbar, können jedoch
leicht am Verhalten beobachtet werden. Der Falter fliegt ab Mitte Juni und ist je nach
Abb. 2
a
b
Weibchen des Schachbrettfalters (Melanargia galathea) bei der Eiablage (a) und beim Blütenbesuch (b),
nat. Grösse.
Ab. 3:
a
b
Weibchen des Rotkleebläulings (Cyaniris semiargus) bei der Eiablage (a) und beim Blütenbesuch (b),
nat.Grösse.
57
Eichenmischwald
Wiesenbrache
Feldrain
Magere Glatthaferwiese
Maisacker
Maisacker
50 m
Abb. 4
Artenreiche Wiesen
N
Karte des Untersuchungsgebietes mit Landnutzung 2000 und 2001.
Wetter bis Ende Juli anzutreffen. Das Weibchen lässt einzelne Eier in die hohe Vegetation kollern. Aus diesen entwickeln sich Raupen, die meist nach der ersten Häutung überwintern. Ihre Nahrungspflanzen sind verschiedene Gräser, auf deren grünen oder gelben Halmen die ebenso gefärbten Raupen oft übersehen werden. Die
älteren Raupenstadien sind nachtaktiv. Verpuppung und Metamorphose finden tief
in der Vegetation statt (SBN 1987, Ebert 1991).
Der Rotkleebläuling (Cyaniris semiargus) fliegt auf mageren, trockenen bis frischen Glatthaferwiesen mit zwei bis drei Generationen von Mai bis Oktober, in höheren Lagen nur mit einer Generation (Abb. 3). Die Oberseite der Flügel ist beim
Männchen kühl violett-blau, beim Weibchen meist braun, selten blau unterlegt. Die
Eier werden einzeln in die Blütenköpfchen von Rotklee abgelegt, in denen sich die
Raupen entwickeln. Die Verpuppung findet wie beim Schachbrett am Boden statt
(SBN 1987, Ebert 1991).
Standort und Fluggemeinschaft
Das Untersuchungsgebiet liegt in einer kleinräumig gegliederten Wiesenlandschaft
bei Oltingue im Elsass (Frankreich). Alte Weinberge und trocken warme EichenHainbuchen-Waldgesellschaften weisen auf ein relativ mildes Klima hin. Die durch
Erbteilung klein parzellierte Landschaft wurde früher gemischt wirtschaftlich mit
Wölbackerbau, Streuobst und Wiesen genutzt. Heute erhält sich die kleine Parzellierung mit Magerwiesen nur noch in den steilen Hanglagen. In den flacheren Lagen
wird Mais angebaut. Abb. 4 zeigt die Beobachtungsorte und die landwirtschaftliche
Nutzung des weiteren Umfelds. In der Glatthaferwiese wurden auf einer Probefläche
58
Abb. 5
Blühphänologie der von den Faltern bevorzugten Blütenpflanzen in der artenreichen Glatthaferwiese.
Schwalbenschwanz Papilio machaon
Heufalter Colias hyale/alfacariensis
Grosser Kohlweissling Pieris brassicae
Weisslinge spec. Pieris rapae+napi
Senfweissling Leptidea sinapis
Aurorafalter Anthocharis cardamines
Kleiner Eisvogel Limenitis camilla
Tagpfauenauge Inachis Io
Distelfalter Cynthia cardui
Kleiner Fuchs Aglais urticae
Kaisermantel Argynnis paphia
Kleiner Perlmutterfalter Issoria lathonia
Brombeerperlmutterfalter Brenthis daphne
Mittelwegerichfalter Mellicta athalia
Weisser Waldportier Brintesia circe
Schachbrett Melanargia galathea
Grosses Ochsenauge Maniola jurtina
Braungerändertes Ochsenauge Pyronia tithonus
Brauner Waldvogel Aphantopus hyperantus
Kleines Wiesenvögelchen Coenonympha pamphilus
Waldbrettspiel Pararge aegeria
Mauerfuchs Lasiommata megera
Brauner Feuerfalter Lycaena tityrus
Dunkelbrauner Bläuling Aricia agestis
Rotkleebläuling Cyaniris semiargus
Hauhechelbläuling Polyommatus icarus
Gelber Würfelfalter Carterocephalus palaeomon
Braunkolbiger Dickkopffalter Thymelicus sylvestris
Mattfleckiger Kommafalter Ochlodes venatus
Dunkler Dickkopffalter Erynnis tages
Veränderliches Widderchen Zygaena ephialtes
Gewöhnliches Widderchen Zygaena filipendulae
Tab. 1
von 100 Quadratmeter in drei
Aufnahmen (Juni bis August)
die für beide Schmetterlingsarten relevanten Blütenpflanzen und ihre Häufigkeit
ermittelt (Abb. 5).
In einem zweieinhalbmonatigen Zeitraum konnten
in drei Transektbegehungen
insgesamt 32 Arten festgestellt werden (Tab. 1). Falter
aller von Suchantke beschriebenen Komplexe wa-
Heliophil, offene Landschaften, Binnenwanderer
Heliophil, offenes Grünland, Wanderfalter
Heliophil, offene Landschaft, Wanderfalter
Heliophile, offene Landschaften, Wanderfalter
Heliophil, waldnahe Wiesen
Heliophil, waldnahe Wiesen
Umbrophil, Waldränder, Waldlichtungen
«Individualist», Wanderfalter
Intermediär, Wanderfalter
Intermediär, Wanderfalter
Intermediär, Waldränder u. Wege, Lichtungen
Intermediär, Wege, Säume, Wanderfalter
Intermediär, heisse brombeerreiche Waldränder
Intermediär, Trockenwiesenlandschaften
Umbrophil, trockene Wald-und Buschwiesen
Heliophil, Trockenwiesen
Geophil, extensiv genutztes Grünland
Intermediär, Säume, Waldränder
Geophil, waldnahe Wiesen
Geophil, extensiv genutztes Grünland
Intermediär, Waldwege, Waldränder
Intermediär, warme trockene Biotope
Intermediär, extensiv genutztes Grünland
Geophil, Trockenwiesen, Magerrasen
Geophil, extensiv genutztes Grünland
Geophil, extensiv genutztes Grünland
Intermediär, Waldsaumstrukturen
Intermediär, Säume in der offenen Landschaft
Intermediär, Saumstandorte, Waldränder
Geophil, Wegränder, magere Wiesen
Versaumende Trockenwiesen
Frische bis trockene Glatthaferwiesen, Säume
1
2
4
3
1
2
2
1
2
3
11
2
1
2
2
1
2
1
1
1
2
1
25
1
78 380
95
23
3
1
1
4
4
1
3
2
1
1
8
7
16
1
18
8
2
2
1
12
Artenreichtum und Häufigkeiten der Schmetterlinge im Untersuchungsgebiet im Sommer 2001. Die Zahlen geben die effektiv gezählten Tiere wider. Fläche des Transekts: 2750 m2. Erhebungsdaten: 4. Juni, 22.
Juni, 5. August.
59
ren vertreten und bestätigen die hohe Qualität des Landschaftsmosaiks mit seinem
Strukturreichtum. Die Tabelle zeigt, wie die einzelnen Arten in den Jahreslauf eingebunden sind. Es gibt Schmetterlinge, die im Frühsommer angetroffenen werden
(Aurorafalter, Wiesenvögelchen, Waldbrett und Gelber Würfelfalter). Andere haben
ihren Höhepunkt um die Sonnenwende (Schachbrett, Mittelwegerichfalter, Brauner
Waldvogel), weitere Arten prägen die Fluggemeinschaft des Hochsommers (Ochsenaugen, Feuerfalter der zweiten Fluggeneration, Widderchen). Anders als bei den
Blüten, deren Überfülle jeder Beobachter sofort bemerkt, sind die Schmetterlingsarten
oft nur in geringer Zahl vertreten, abgesehen von den Ochsenaugen, die mit ihren
Massenauftritten allen auffallen. Hat man die selteneren Arten einmal entdeckt, so bezaubern sie mit ihrer unverwechselbaren Lebensweise. Unauffällig sonnt sich z.B.
das Wiesenvögelchen, die geschlossenen Flügel immer der Sonne zugewendet.
Schnell und in weitem Segelflug quert der Waldportier die Wiese. Wie der Reichtum
der Wiesen von der Blumenfülle und den Vegetationsstrukturen lebt, so vibriert der
Luftraum darüber von der Vielfalt der Bewegungen und Verhaltensweisen der
Schmetterlinge – jede Art einzigartig, unaustauschbar.
Ein Blick auf die Ansprüche der Tagfalter an die Biotopqualität zeigt, dass die Vielfalt zum größten Teil durch die Mosaikstruktur des Ortes bedingt ist. Von den 32
Arten sind neun im engeren Sinne an Wiesen und Grünland gebunden. Die anderen,
von den Wanderfaltern abgesehen, sind auf Grenzlinien und -bereiche angewiesen.
Sie zeigen deutlich den Mehrwert von klein strukturierten Arealen mit gegenseitiger
Durchdringung, der die Summe der Wertigkeit der Einzelareale weit übertrifft.
Erste Begegnungen mit dem Schachbrettfalter, Stimmungsbilder
In der Streuobstwiesenlandschaft, insbesondere am alten Weinberg, ist es schon mild
und warm, wenn es rundherum noch kühl und windig ist. Im Hintergrund liegt ein
trockener Eichen-Mischwald, in der Ferne gegen Osten sieht man über Wiesen und
Äcker eine Burgruine auf dem bewaldeten Hügel. Südlich gegenüber liegt der kleinräumige, je nach Steilheit mehr oder weniger eng terrassierte Hügel mit alten Obstbäumen. In der Ferne singen Mönchs- und Gartengrasmücke ihre schnellen Strophen, begleitet von den Fanfarenklängen der Singdrosseln und dem Trommeln des
Schwarzspechts tiefer im Waldesinnern. Aus dem Dornengebüsch am Wegrain pfeift
die Goldammer ihr gemütliches, aber wenig melodiöses Lied, zeitweise hart unterbrochen vom rauhen Köck-Köck des Neuntöters, der sich auf einem dürren, frei stehenden Ast auffällig zur Schau stellt. Die Wiesen wären mähreif: Doch wer weiß,
vielleicht hat der Bauer Hemmungen, die reich blühenden Flockenblumen, Feldwitwenblumen, Esparsetten und Margeriten, den Rot- und Hornklee wegzuschneiden.
Bei genauerer Betrachtung zeigt das Wiesenbild nicht überall das gleiche Farbenmeer an Blumen. Zwischen dem herausdrängenden Wald und der Heuwiese haben
die Bauern durch weniger intensive Nutzung einen rasenartigen Saumgürtel geschaffen. Hier dominiert nicht ein Blütenmeer, sondern eine lockere Grasschicht mit
Trespen, Perlgras und Wiesenzwenke, der hier und dort von einigen Skabiosenflockenblumen überragt wird. Ein Streifen von mehreren Metern Breite wird seit län60
gerer Zeit nicht mehr gepflegt. Neben Disteln und Waldreben haben sich in der Brache schon einige Brombeeren ausgebreitet – der ehemalige Wiesenboden ist nicht
mehr zu erkennen. Typische Wiesenblumen finden sich nur noch im Randbereich.
Konzentriert man sich nach dieser Rundumschau auf die unmittelbare Umgebung, so scheint die Erlebnisfülle zunächst reduziert. Blattformen, ein Gewirr von
Halmen und wenige Blüten prägen den Ausschnitt. Erst nach einer Weile sieht man
einzelne Ameisen, das von Schaum umhüllte Gelege einer Schaumzikade oder einen
trägen Käfer, der langsam über ein Blatt klettert. Wenn in der Rundsicht die volle
Atmosphäre des Ortes erlebt wird, so blickt man hier in die karge Ausstattung einer
kleinen Landschaftsszenerie, die zunächst nur wenig Spannung und Erlebnis verheißt. Der erste Eindruck täuscht. Bei aufmerksamer Beobachtung entdeckt man ein
unerwartet reiches tierisches Leben. Die große Gruppe der Insekten ist mit vielen
Ordnungen und einer großen Individuenzahl vertreten.
In dieser Vielfalt bilden die Schmetterlinge eine Ordnung, die auf allen Registern
zu spielen versteht. In Soloauftritten begeistern die großen Flieger wie Schwalbenschwanz oder Waldportier, die den Ort mit weiten und hohen Flügen überqueren.
Im dynamischen Wechsel zwischen Flug- und Sitzverhalten faszinieren die Wiesenschmetterlinge, und schließlich gibt es träge Blutströpfchen, die sich lange auf Blüten oder Stängeln aufhalten. Kein Zweifel, die Falter sind stärker an die Erde gebunden als die meisten Vögel. Doch innerhalb der Gruppe der Insekten sind sie dem
Abb. 6
Patroullierendes Schachbrettmännchen in der Trespenwiese
61
Himmel am nächsten. Den Blüten in Farbigkeit ebenbürtig, setzen sie sich in ihrem
Verhalten weit ab von Gruppen wie Heuschrecken und Käfern, die nur in seltenen
Fällen den bergenden Schutz der Kräuter und Gräser verlassen.
Am Vormittag fliegen in der Brache und im Bereich des Grassaums einige Schachbrettfalter hin und her pendelnd über den vorwiegend mit Gras bewachsenen Stellen.
Trotz der schwarzweiß gemusterten Flügel erscheinen sie im Flug sehr hell und heben sich optisch deutlich von ihrer Umgebung ab (Abb. 6). Manchmal verschwinden sie im dichten Grasgewirr, erscheinen wieder, zwischen Gleit- und Schwirrflug
abwechselnd. Während ihres Zick-Zack-Fluges tief in der Vegetation unterhalb der
Blüten scheinen die Falter an bestimmte Areale gebunden. Nicht immer, aber oft beschränken natürliche Hindernisse wie Hecken, aber auch Wege und Ackerflächen
ihren Flugraum. Aber auch an für uns weniger sichtbaren Grenzen wie frisch gemähten Wiesen kehren sie um. Die räumliche Gebundenheit wird bei Begegnungen
mit anderen hellen Faltern, Artgenossen und Weißlingen, in einem kurzfristigen
Verlassen des Flugbiotops aufgehoben.
In der benachbarten blütenreichen Wiese ist es auf den ersten Blick ruhig. Nur einige dunkle Hummeln erregen die Aufmerksamkeit. Aus der Nähe können auf den
rot-violetten Blütenköpfchen der Wiesenflockenblumen einige Schachbrettfalter
entdeckt werden, die mit voll ausgebreiteten Flügeln meist die ganze Blüte zudekken (Abb. 2b). Mit leichtem Flügelwippen saugt der schwarzweiß-gelblich gefärbte
Falter intensiv Nektar. Nähern sich Bienen oder andere Insekten, reagieren die Tiere mit heftigem Flügelschwirren. Landet ein Neuankömmling trotzdem, wird er mit
gezielten Flügelschlägen zum Weiterflug gezwungen. Begegnungen mit andern
Schachbrettfaltern fehlen weitgehend.
Die Schmetterlinge auf den Blüten erscheinen größer und insgesamt dunkler als
die vorher beobachteten Tiere über der grasigen Brache. Bei geschlossenen Flügeln
sind Flügelunterseiten der Tiere auf den Blüten etwas gelblich und kräftiger gezeichnet als jene in der Brache. Sie können als Weibchen identifiziert werden. Zu
dieser Tageszeit leben sie in anderen Lebensräumen als die Männchen.
Am Nachmittag steht die Sonne hoch am Himmel. Der Ort liegt im gleißenden
Licht, das seine Gegenständlichkeit herabdämpft. Über der Brache und dem blütenarmen Saumbereich ist es ruhig. In der Blumenwiese dagegen bewegt sich ein Heer
von Insekten. Die violettroten Körbchenblüten sind von Ochsenaugen, Bienen,
Hummeln, Schwebefliegen ebenso wie von den Schachbrettfaltern umflogen und
umkämpft. Die Zahl der Letztgenannten in der Blumenwiese ist deutlich höher als
am Morgen, denn die Männchen sind jetzt auch beim Blütenbesuch anzutreffen. In
der Folge gibt es in den heißen Nachmittagsstunden viele Interaktionen mit aggressiven Auseinandersetzungen, bei denen die Weibchen anfliegende Männchen mit einem heftigen Flügelschwirren meist erfolgreich an der Landung hindern. Gelingt
dies nicht, kommt es zu Flucht und Verfolgung. Eindrücklich ist die Beobachtung
von zwei sich hochschraubenden Faltern, die nicht selten vom Wiesenraum abdriften. Das Männchen wird vom Weibchen meist nach wenigen Sekunden mit einem
schnellen vertikalen Sturzflug abgeschüttelt. Eine andere Möglichkeit, vor dem
Männchen zu fliehen, besteht in einem abrupten horizontalen Ausweichen zur Seite.
62
Während das Männchen noch umher taumelt, kehrt das Weibchen zurück in den
Blütenraum und setzt sich auf eine Blüte. Selten konnten Schachbrettfalter bei anderen Aktivitäten beobachtet werden. Eine Kopula am späten Morgen auf einer Blüte und einige Eiablagen vervollständigen das Bild ihrer Verhaltensweisen. Anhand
dieser Beobachtungen können unsere Fragen präzisiert werden:
• Wie lebt das Schachbrett in seiner Umgebung?
• Welche Ansprüche stellt das geschlechtsspezifische Verhalten an den Lebensraum?
• Welche Rolle spielt die Vegetationsstruktur?
• Weshalb gibt es tageszeitliche Unterschiede im Verhalten?
• Wann und wo finden die Begattungen statt?
• Die Weibchen legen während der Flugzeit über 200 Eier (Sonntag 1982); Wann
finden Eiablagen statt? Gibt es dafür räumliche und zeitliche Präferenzen?
Ausgedehnte Beobachtungen an Einzeltieren und ihre Darstellung in Ethochronogrammen versprechen Antworten auf diese Fragen.
Die Aktivitäten des Schachbrettfalters
In der Periode vom 24. Juni bis 5. Juli 2001 wurde zu verschiedenen Tageszeiten
während insgesamt 7,6 Stunden das Verhalten von 30 Weibchen beobachtet. Die Beobachtung von 26 Männchen beanspruchte einen Zeitraum von 4,6 Stunden. Bei
Temperaturen unter 15°C und über 30°C konnten nur geringe Aktivitäten registriert
werden, die sich zwischen Männchen und Weibchen kaum unterschieden. Anders
als das Große Ochsenauge, das selbst bei geringen Temperaturen bereits fliegt und
sich auch von brütender Nachmittagshitze kaum beeinflussen lässt, zeigen die
Schachbrettfalter differenzierte Verhaltensweisen am ausgeprägtesten bei 25°C
(Sonntag 1982).
Wie aus Abb. 7a ersichtlich ist, verbringen die Männchen ca. 70 Prozent der Zeit im
Flug. Während 20 Prozent besuchen sie Blüten. Der Rest der Zeit verteilt sich auf
Ruhen und Interaktionen. Es können zwei unterschiedliche Flugweisen unterschieden
werden: der gaukelnde Patrouillierflug, der stets in der Vegetation um Halme und
Stängel führt, und der Flug zur Ortsveränderung, der geradlinig, zielstrebig und rasch
erfolgt. Bei den Weibchen sind die Verhältnisse umgekehrt: Die Flugdauer beträgt
nur 15 Prozent, der Blütenbesuch dagegen 70 Prozent (Abb. 7a). Die Häufigkeit der
Flüge ist bei beiden Geschlechtern annähernd gleich, jene der Blütenbesuche nur geringfügig verschieden, d.h. dass in beiden Fällen sich die Dauer der beiden Aktivitäten
unterscheidet. Beide Geschlechter zeigen eine Vorliebe für Flocken- und Witwenblume (Abb. 7c). Das Spektrum der besuchten Pflanzenarten ist bei Weibchen größer.
Vergleicht man die einer Flugbewegung folgende Aktivität, zeigt sich, dass bei den
Weibchen über 80 Prozent aller Flüge zum Blütenbesuch führen, der Großteil aller
Flüge also im Dienst der Nahrungssuche steht. Beim Männchen folgen mehrheitlich
andere Aktivitäten: Patrouillierflug und Interaktionen. Nicht unerwartet sind die
Flugdistanzen der beiden Geschlechter sehr unterschiedlich. Die durchschnittlich
zurückgelegte Strecke, d.h. die Distanz zwischen Anfangs- und Endpunkt einer
Flugbewegung, liegt beim Weibchen zu 70 Prozent im Bereich von fünf Metern, 30
Prozent aller Bewegungen sogar im Bereich von nur einem Meter, beim Männchen
63
zu 50 Prozent im Bereich von
fünf Metern, zu 20 Prozent
bei einem Meter (Abb. 7b).
Ein Drittel der Flüge sind
länger als fünf Meter.
Die Bedeutung einer hohen
Blütendichte zeigt sich in der
Distanz der einzelnen Bewegungen: Auf 43 Prozent Flüge
im Bereich von fünf Metern
folgt beim Männchen ein Blütenbesuch, beim Weibchen
sogar auf 70 Prozent. Die
Flockenblume (Centaurea jacea) wird mit ca. 70 Prozent
vor den häufigsten Nektarpflanzen im Untersuchungsgebiet, Rotklee oder Feldwitwenblume, bevorzugt. Die in
anderen Arbeiten als beliebt
beschriebene Skabiosenflockenblume (Centaurea scabiosa) (Sonntag 1982, Ebert
1991) wurde nicht besucht.
Im Kontrast zu den häufigen Patrouillierflügen und
den relativ vielen InteraktioAbb. 7
a) Ethochronogramm. Dauer und Häufigkeiten der Verhalnen konnte während der Ditensweisen der beiden Geschlechter vom Schachbrettfalter
b) Zurückgelegte Flugdistanzen (Abstand zwischen Anfang
rektbeobachtungen nur eine
und Endpunkt einer Flugbewegung)
Kopula festgestellt werden.
c) Blütenpräferenzen des Schachbrettfalters
Weshalb das so ist, ist unklar.
Entweder ist die Zahl der täglich frisch schlüpfenden Weibchen klein oder die Paarung fand unmittelbar nach
dem Schlüpfen der Weibchen frühmorgens noch vor dem Beginn der Beobachtungen statt und/oder sie wurde in der hohen Vegetation nicht bemerkt. Bei unseren
Feldbegehungen haben wir ein paar Mal ohne Absicht Falter bei der Paarung gestört. Einmal aufgescheucht, flüchteten sie weiter als hundert Meter weg.
Gering war auch die Anzahl der beobachteten Eiablagen: Von acht Eiablagen fanden sieben im Bereich des Saumbiotops im hohen Trespengras statt. Eine einzige erfolgte in der blütenreichen, ungemähten Glatthaferwiese. Das Weibchen fliegt dabei
mit flatternden Flugbewegungen tief in die hohe Vegetation, setzt sich mit geschlossenen Flügeln auf einen Grashalm, krümmt nach einer Weile den Hinterleib nach
vorne und lässt ein Ei auf den Boden fallen. In der Wiesenbrache und in der am 1.
Juli gemähten Orchideenwiese konnten keine Eiablagen festgestellt werden. Nach
64
erfolgreicher Eiablage flogen die Weibchen stets Distanzen zwischen zehn und
zwanzig Metern.
Die Beobachtungen können in einem Stimmungsbild zusammengefasst werden.
Die Weibchen knüpfen ruhig enge Knoten, von Blüte zu Blüte, in den Aktivitätsteppich der Wiese. Ihre Existenz geht im Nahrungserwerb und der Fortpflanzung
auf. Die lange Dauer der Blütenbesuche mit kurzen Flügen von Blume zu Blume
ruft eine Empfindung von verinnerlichter Hingabe wach. Der aggressive Schwirrflug, mit dem Konkurrenten auf Blüten abgewehrt werden, kontrastiert stark dazu.
Nach der Begattung führt die Abwehr von aufdringlichen Männchen zu auffälligen,
hochsteigenden Flügen, die aus dem Gewebe der engen Knoten herausragen. Der
weite, horizontale Flug nach erfolgreicher Eiablage bringt es mit sich, dass das Weibchen das engknotige Muster des Wechsels von Blüte zu Blüte an einem neuen Ort in
die Wiese legt.
Die Männchen weben aktiver und mit schnellen Rhythmen ein weitmaschiges Gewebe in die Vegetation hinein. Die Räume für Patrouillierflug und Blütenbesuch können, müssen sich aber nicht decken. Den Raum über der Vegetation befliegen sie nur,
wenn sie mögliche Geschlechtspartner verfolgen, und bei seltenen Ortsveränderungen. Rastlose Suche des Männchens steht emsiger Ruhe des Weibchens gegenüber.
Das arttypische Verhalten des Schachbretts wird durch tageszeitliche Gegebenheiten variiert. So kann es durchaus vorkommen, dass bei großer Hitze die geschlechtsspezifischen Verhaltensweisen in den Hintergrund treten und Männchen
und Weibchen vor allem Blüten besuchen. Bei einem knappen Angebot von geeigneten Nektarpflanzen sind häufige Interaktionen, obwohl nicht beabsichtigt, unvermeidbar. Überträgt man die Ergebnisse der Beobachtungen am Einzeltier auf die gesamte Population, so wird deutlich, dass strukturreiche Altgrasbestände, hohe
Blütendichte und eine minimale Fläche von einer halben bis einer Hektare ideale
Voraussetzungen für das Gedeihen bieten. Einschürige oder brachgelegte Magerwiesen, die jedoch nicht zu alt werden dürfen, sind die Biotope des Schachbretts.
Der Schmetterling braucht Areale, in denen Reifungsvorgänge der Vegetation vollständig ablaufen können.
Der Rotkleebläuling im Vergleich
Der Rotkleebläuling lebt zwar in denselben Wiesenlandschaften wie das Schachbrett, ist jedoch an andere Strukturen, Nektarpflanzen und an eine andere Entwicklungsdynamik der Wiese gebunden. Der Hauptunterschied besteht darin, dass die
Bläulinge zwei Fluggenerationen hervorbringen, d.h. auf Nektar- und Raupenfutterpflanzen sowohl im Früh- wie auch im Hochsommer angewiesen sind. In unseren
Kulturlandschaften werden diese Voraussetzungen durch den Heuschnitt geschaffen. Der ideale Lebensraum ist eine zweischürige Wirtschaftswiese mit Rotklee und
Hornklee, massiger im Wuchs und ertragsreicher als die Biotope des Schachbretts.
Die Bläulinge zeigen auffällige Trachtunterschiede zwischen den Geschlechtern.
Für den ungeübten oder eiligen Beobachter gilt noch in weit stärkerem Maße als
beim Schachbrett, dass er vor allem das blauflüglige Männchen bemerkt. Das braune Weibchen lebt unauffällig in der Vegetation verborgen; selbst beim Nektarsaugen
65
Abb. 8
Warteverhalten des Männchens vom Rotkleebläuling (1.Generation) in der Glatthaferwiese anfang Juni.
auf dem Hornklee fällt es kaum auf, weil sich die seitenständigen Blüten ganz im
Blattbereich entwickeln. Für die Eiablage sind die Weibchen – wie der Name andeutet, auf Rotklee angewiesen. Abb. 10 und 11 zeigen, dass Leguminosen die weitaus attraktivsten Nektarpflanzen sind. In der zweiten Fluggeneration wird gelegentlich auch die Gemeine Brunelle besucht.
Die Männchen und Weibchen des Rotkleebläulings sind in beiden Fluggenerationen in ihrem Verhalten an die jeweiligen Bedingungen des Wiesenraumes im Frühund Spätsommer nach dem ersten Schnitt angepasst. Deutlich wird dies vor allem im
Verhalten der schon durch ihre blaue Färbung umweltoffener charakterisierten
Männchen: Sie haben in den beiden Fluggenerationen ein unterschiedliches Weibchen-Suchverhalten entwickelt. Um die relativ selten vorbeifliegenden Weibchen in
der dichten und unübersichtlichen Frühsommerwiese zu finden, hat sich das Männchen hauptsächlich auf ein Warteverhalten an spezifischen, meist exponierten Stellen in der hohen Vegetation eingestellt (Abb. 8). In raschem Flug verfolgt es vom
Wartesitz aus alle vorbeifliegenden Tiere und kehrt nach der Interaktion meist an
dieselbe Stelle zurück. Während bei einigen mobileren Arten wie beim Tagpfauenauge (I. io) und beim Kleinen Fuchs (A. urticae) solche Stellen über einen großen
Landschaftsraum verteilt sind, beschränken sich die weniger mobileren Arten, wie
66
Abb. 9
Patroullierverhalten des Männchens vom Rotkleebläuling (2.Generation) im Wiesenaufwuchs anfang August.
viele Bläulinge, darunter A. agestis und C. minimus, aber auch das Waldbrettspiel (P.
aegeria) auf Waldwegen auf einige «Perching»-Plätze in einem begrenzten Areal von
nur wenigen hundert Quadratmetern. Diese Stellen werden oft, auch bei den Männchen, in unserer Untersuchung tageweise verteidigt. Die Männchen der zweiten Generation haben sich, wenn die Wiese nach dem ersten Schnitt durch lockeren Aufwuchs größere Sicht- und Flugräume freigibt, auf stundenlanges «Patrouillieren»
über dem Fluggebiet festgelegt (Abb. 9). Im Vergleich zur ersten Generation ist die
Flugdauer doppelt so lang (60 Prozent zu 30 Prozent, siehe Abb. 10 und 11). Bei diesem Patrouillierflug streift das Männchen meist über eine Fläche von einigen hundert Quadratmetern, wo es im Vergleich zur Situation der ersten Generation viel
mehr Falter antrifft, als mögliche Geschlechtspartner identifiziert und verfolgt. Aktive Suche ist die bevorzugte Strategie. Anders als bei Arten wie Weißling und Zitronenfalter, die auf der Suche nach Weibchen größere Landschaftsräume «erkunden», hält sich der Rotkleebläuling ähnlich wie der Schachbrettfalter beim
Patrouillierflug an relativ eng begrenzte Areale. Dabei werden auch «überfliegbare
Hindernisse» wie Wege und Ackergrenzen möglichst gemieden.
Die Häufigkeit der Flüge beider Geschlechter ist annähernd gleich wie beim
Schachbrett; sie fallen jedoch bei den Bläulingen kürzer aus. Bei den Weibchen beider Fluggenerationen sind über 90 Prozent aller Flüge weniger als fünf Meter weit.
Bei den Männchen gilt dies für immerhin mehr als 50 Prozent der Flüge in der ersten Generation und für über 80 Prozent in der zweiten Generation (Abb. 10 und
11). Die Bläulinge können auch auf kleinstem Raum überlebensfähige Populationen
67
ausbilden, z.B. auf kleinen,
extensiv angelegten Verkehrsinseln oder Randstreifen entlang von Straßen, vorausgesetzt, dass Nektar- und
Raupenfutterpflanze in ausreichender Zahl vorhanden
sind.
Die Unterschiede im Verhalten der Weibchen beider
Generationen sind relativ gering: Sie wechseln häufig ihren
Standort, verbringen relativ
wenig Zeit auf Blüten und –
zumindest nach unseren Beobachtungen – längere Zeit bei
der Eiablage (Abb. 10 und 11).
Dauer und Häufigkeit der
Flugbewegungen des Männchens in der ersten Generation sind ähnlich wie beim
Weibchen, in der zweiten Generation schlägt sich das Patrouillierverhalten in einer
großen Flugdauer nieder.
Die Anzahl der Paarungen
ist im Vergleich zu den InterAbb. 10
a) Ethochronogramm. Dauer und Häufigkeiten der Verhalaktionen gering. Offenbar
tensweisen der beiden Geschlechter vom Rotkleebläuling.(1.Generation, anfang Juni)
werden auch hier die Weibb) Zurückgelegte Flugdistanzen (1.Generation)
chen kurz nach dem Schlüpc) Blütenpräferenzen des Rotkleebläulings (1.Generation)
fen begattet und können sich,
wie die niedrige Häufigkeit
der Interaktionen in der ersten Generation zeigt, in der hohen und dichten Vegetation der Heuwiese erfolgreich vor den Attacken der Männchen schützen. In der
zweiten Generation sind die Männchen beim Patrouillierflug deutlich häufiger
Weibchen begegnet, die beim Blütenbesuch oder bei der Eiablage waren, als in der
ersten. Sobald das Männchen sich in der Nähe mit geöffneten Flügeln niedersetzt,
kriecht das Weibchen sofort tiefer in die Vegetation und macht sich auf diese Weise
unsichtbar. Die Paarungen, meist auf einem Pflanzenstängel, dauerten in der Regel
mehrere Stunden und sind durch ihre Länge ein wesentlicher Bestandteil des Lebenszyklus.
Fast gleichbleibend ist der zeitliche Anteil des Fortpflanzungsverhaltens für die
Weibchen beider Generationen: Ein Viertel ihrer Zeit verbringen die Weibchen bei
der Eiablage auf der einzigen Eiablagepflanze, dem Rotklee. Die Zahl der Anflüge
68
auf frische Blütenköpfchen
ist deutlich höher als die Zahl
der effektiven Eiablagen. Erfolgreiche Eiablagen erfolgten zu 80 Prozent in grünen
bis leicht rosa angehauchten
Blüten von fünf bis zehn
Millimeter Durchmesser; nur
selten wurden sie in ausgewachsenen roten Blüten festgestellt. Die Ablage folgt einem strengen Schema. Das
Weibchen dreht sich einige
Male um seine eigene Achse
und betastet die frische Blüte
intensiv mit seinen Fühlern.
Dann krümmt es seinen
Hinterleib und legt in den
meisten Fällen ein einziges Ei,
hie und da aber auch bis zu
vier Eier tief zwischen die
einzelnen Knospen. Das im
Vergleich mit dem Schachbrett
«hingebungsvollere»
und aufwändigere Eiablageverhalten widerspiegelt sich
auch im Rhythmus zwischen
Abb. 11
a) Ethochronogramm. Dauer und Häufigkeiten der Verhaldieser Aktivität und dem Blütensweisen der beiden Geschlechter vom Rotkleebläuling
tenbesuch, der bei den Bläu(2.Generation)
lingen ziemlich ausgewogen
b) Zurückgelegte Flugdistanzen (2.Generation)
ist, während beim Schachc) Blütenpräferenzen des Rotkleebläulings (2.Generation)
brett der Blütenbesuch stark
dominiert.
Wie Suchantke in verschiedenen Arbeiten zur Biotoptracht der Schmetterlinge
ausführt, haben die Männchen und Weibchen besonders bei den Bläulingen ein
gegensätzliches Verhältnis zum Licht und zur Wärme: Die von uns beobachtete generell größere Flugaktivität der Männchen und der beim Weibchen in beiden Generationen stabil große Anteil des Fortpflanzungsverhaltens stützen das Bild, dass «die
strahlenden und funkelnden Männchen» das Licht größtenteils als «Geistlicht in den
Kosmos herausstrahlen», während die dunklen Weibchen «Licht und Wärme ganz
in die Fortpflanzung einfließen lassen». Dass das Männchen sein Suchverhalten nach
Weibchen auf die unterschiedliche, jahreszeitlich wechselnde Wiesenumgebung abstimmt, deutet weiter auf seine größere Plastizität und Umweltoffenheit hin.
69
Schachbrett
Rotkleebläuling
Tracht und Flugraum
Weibchen
die warm gelbe Färbung entspricht dem
durchsonnten Raum der Blüten, dem
hauptsächlichen Aufenthaltsort «trocken,
druchlichtet, blütenreif»
die dunkelbraune Färbung entspricht
dem bodennahen Flug- und Aufenthaltsraum
«feucht, frisch-jugendlich»
Eiablage
Eier werden in die Altgrasvegetation fallen gelassen
Eier werden an frische Rotkleeblüten in
der jungen Wiese geheftet
Tracht und Flugraum
Männchen
die kühle schwarz-weisse Färbung ist Bild
die dunkelblaue Färbung ist Bild des
der kontrastreichen Struktur des Flugraumes Flugraumes über der Vegetation
Weibchen-Suchverhalten
Vegetation
Patroullierflug zwischen den lockeren
Stängel im zweischichtigen Trespenrasen:
Geste wie: «basso continuo»
vor dem ersten Schnitt:
Warteverhalten in der hochgewachsenen
Juniwiese:
wie: «Horneinsatz im Orchester»
nach dem ersten Schnitt:
Patroullierflug über der Wiese im Aufwuchs
wie: «Solopart einer Flöte»
Verhaltenssequenzen
deutlich getrennte Abfolge der Aktivitäten mit tageszeitlicher räumlicher Trennung der Geschlechter
rasche, wiederkehrende Abfolge aller Aktivitäten ohne tageszeitliche Trennung der
Geschlechter
Tageszeitliche Aktivität
Zunahme der Aktivität mit steigender
Sonne, Abnahme bei grosser Hitze
geringe Unterschiede
Blüten
violette Körbchenblüten, radiär nach
oben geöffnet
gelbe Hornkleeblüten, zygomorph, zur
Seite geöffnet
Raum-zeitliche Umgebung
stabiler Trespenrasen oder Mosaik mit
blütenreichen Säumen und Glatthaferwiesen, später Schnitt
«generativ»
zweischürige Glatthaferwiesen werden
von den beiden Generationen im Aufwuchs beflogen
«vegetativ»
Tab. 2:
Zusammenschau der Einzeltierbeobachtungen von Schachbrett und Rotkleebläuling
Ausblick
Unsere Verhaltensbeobachtungen ergänzen die von Suchantke gefundene morphologische Übereinstimmung der Tracht mit der Landschaft um ein wesentliches, allen
Tieren gemeinsames Grundelement: das aktive In-Beziehung-Treten der Individuen
einer Art zu ihrer Lebewelt. Sie zeigen auf, wie die Falter als Organe innerhalb eines
übergreifenden lebendigen Ganzen «… bestimmte fest umrissene Funktionen erfüllen und in diesen Aktivitäten mit anderen Mitgliedern dieses Gefüges in Verbindung
und Austausch stehen …» (Suchantke 1965). Wir haben etwas von der Bedeutungswelt (Uexküll 1956) der beiden Wiesenfalter, von ihrem aktiven Aufsuchen und Meiden von bestimmten Gegebenheiten in ihrem Flugbiotop erfahren.
In Tab. 2 werden die Ergebnisse der Ethochronogramme zusammengefasst. Die in
den Stimmungsbildern beschriebenen Eindrücke der Schachbrettfalter werden bestätigt und in ihrer Bedeutung erfasst: Die Trennung der Lebensräume von Männchen und Weibchen sind Folge verschiedener seelischer Ausrichtungen. Männchen
patrouillieren am Standort der Eiablage, wo vermutlich auch die meisten Schmetter70
linge schlüpfen. Die Weibchen sind vor allem mit Nahrungssuche und -aufnahme
beschäftigt. Die Eier werden ohne Sorgfalt im Altgras deponiert. Tracht, Blüten und
die raum-zeitliche Umgebung betonen die enge Beziehung dieser Art zu den reifen,
generativen Stadien des Lebensraumes.
Im Vergleich dazu erscheinen die Rotkleebläulinge in vielerlei Hinsicht polar. Sie
zeigen große Unterschiede in der Tracht, nur geringe tageszeitliche Differenzierungen der Verhaltensweisen, sorgfältig ausgeführte Eiablagen sowie eine starke Bindung an die vegetativen Entwicklungsstadien in ihrem Lebensraum. Diese Skizze
weiter auszuarbeiten und durch Untersuchungen zusätzlicher Falterarten zu ergänzen wäre reizvoll und bleibt einer späteren Studie vorbehalten.
Durch solche Charakterisierungen verwandelt sich die Wiese vom wenig konturierten Gefäß zum differenzierten Raum tierischer Lebensgemeinschaften. Das «InBeziehung-Treten» von Tieren einer Schmetterlingsart zu Nahrungspflanzen, den
Eiablage- und Raupenfutterpflanzen, den Schlaf- und Ruheplätzen usw. ergibt ein
seelisches Beziehungsnetz, das Teil einer bestimmten, oft nur stimmungsmäßig erfahrbaren Atmosphäre bildet und innerhalb des Wiesenbiotops ein seelisches Organ
im Gefüge der lebendigen Ganzheit «Wiesenlebensraum» darstellt. Unsere Studie
macht deutlich, dass jede Falterart zwar einseitig und beschränkt, ist gleichzeitig
aber in größter Vollkommenheit einen Teil der «Landschaftsseele» konstituiert.
Mit Schachbrett und Bläuling haben wir zwei Mitglieder einer Fluggemeinschaft
kennen und sie in ihrer Bedeutung für die Beseelung eines Standortes schätzen gelernt. Die beiden Arten prägen unverwechselbar das Spektrum des persönlichen Erlebens. Wie bei einem Sinfonieorchester dem Laien nicht unbedingt auffallen muss,
dass z.B. Bläser fehlen, der Kenner jedoch merkt, dass ohne sie dem Stück etwas
fehlt, so verhält es sich bei den Fluggemeinschaften in den Wiesen. Jede Tierart spielt
ihren unersetzbaren Part. Ihr Verlust bedeutet Amputation eines Organs, d.h. Einschränkung der Potenz eines Biotops und damit immer auch Verarmung der Erlebnisfülle. Hier deutet sich eine Aufgabe im Schutz und der Pflege von Natur und
Landschaft an, die allen praktischen Arbeiten und Eingriffen vorangehen sollte: Das
bewusste Erleben, d.h. die Gestaltung von Beziehungen zu einzelnen Akteuren eines bestimmten Ortes.
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Wir danken Andreas Suchantke und Thomas Marti für kritische Durchsicht und hilfreiche Anregungen, und
Barbara Schmocker und Ruth Richter für ihre Hilfe zur Verbesserung der Lesbarkeit.
Forschungsinstitut am Goetheanum
Hügelweg 59
CH-4143 Dornach
[email protected]
[email protected]
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