Umgang mit der Progredienzangst: Herausforderung für Krebskranke, ihre Angehörigen, Arbeitgeber, Ärzte und Pflegende Andreas Dinkel Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Klinikum rechts der Isar, Technische Universität München Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Ängste bei körperlichen Erkrankungen „Ich habe unheimliche Angst, wie noch nie in meinem Leben. Ich möchte doch noch meine Enkel aufwachsen sehen. Glauben Sie, ich habe eine Chance? Es sagt ja niemand. Kann auch keiner. Aber ein kleiner Trost? Ich kann mich überhaupt nicht mehr zusammenreißen. Ich habe noch nie so viel geheult, wie in den letzten Wochen, sehe kein Land mehr. Ich denke so oft an den Tod – will aber nicht. Die Gedanken sind jeden Tag da. Ich kann für nichts mehr Freude empfinden,…“ Bericht einer Tumorpatientin, aus Waadt et al. (2011) Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Progredienzangst • Phänomen Progredienzangst • Einflussfaktoren • Erfassung von Progredienzangst • Progredienzangst und psychische Störung • Progredienzangst und Familie, Arbeitgeber, Behandler • Umgang mit Progredienzangst Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Progredienzangst • Angst vor dem Fortschreiten einer bestehenden körperlichen Erkrankung gehört zu den stärksten und häufigsten psychischen Belastungen chronisch Kranker • Fortschreiten der Erkrankung umfasst den Krankheitsverlauf, z.B. Schub oder Rezidiv, aber auch die psychosozialen Konsequenzen • Häufige Ängste • Angst vor Hilflosigkeit/Siechtum • Angst, nicht mehr für die Familie da sein zu können • Angst nicht mehr arbeiten zu können • Angst vor Verschlechterung der familiären Beziehungen Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Progredienzangst – ein generisches Konzept • Dankert et al. (2003): qualitative Interviews zu krankheitsspezifischen Ängsten bei drei Krankheitsgruppen • Hauptängste bei Krebspatienten • Sterben/Tod • Unvorhersehbarkeit des Krankheitsverlaufs • Hauptängste bei Arthritispatienten • Angst vor Kontrollverlust • Antizipierte Hilflosigkeit • Hauptängste bei Diabetespatienten • Angst vor zunehmender körperlicher Beeinträchtigung • Angst, die nötige Disziplin nicht aufbringen zu können Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Progredienzangst - Definition • Ist die Angst vor dem Fortschreiten der Erkrankung mit all ihren biopsychosozialen Konsequenzen • Reaktiv • Bewusst wahrgenommen • Resultiert aus der realen Erfahrung einer schweren, potentiell • • • lebensbedrohlichen oder zur Behinderung führenden Erkrankung und ihrer Behandlung Normale Reaktion mit adaptiver Funktion Kann jedoch ein dysfunktionales Ausmaß annehmen Wird als behandlungsbedürftig angesehen, wenn sie die Lebensqualität nachhaltig beeinträchtigt (Herschbach et al., 2005) Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Diagnostic groups Progredienzangst – ein generisches Konzept Stroke 8.09 PAOD 8.18 Cancer 9.07 MS 9.36 DM 9.37 RT 9.41 AMI 9.66 COPD 9.69 CD 10.56 PD 10.70 RD 11.04 4.0 5.0 6.0 7.0 8.0 9.0 10.0 FOP score means Berg et al. (2011) 11.0 12.0 13.0 14.0 Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Progredienzangst - Rezidivangst • International „fear of recurrence“ gebräuchlich • Definiert als „Angst oder Sorge, dass die Krebserkrankung wieder auftritt, voranschreitet oder Metastasen bildet“ (Crist & Grunveld, 2012) • Progredienzangst und Rezidivangst konzeptuell sehr ähnlich • Prävalenz: 22-99 % (Simard et al., 2010) • Ausprägung über die Zeit eher stabil (Crist & Grunveld, 2012) Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Progredienzangst bei Krebspatienten Herschbach et al. (2004) Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Progredienzangst bei Krebspatienten Rogers et al. (2009) Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Progredienzangst - Einflussfaktoren • Soziodemographische Merkmale • Jüngeres Alter ↑ (konsistentester Effekt) • Patienten mit Kinder ↑ • Geschlecht: inkonsistent • Krankheitsbezogene Merkmale • Rezidiv ↑ • Krankheitsdauer inkonsistent • Krebsdiagnose: kein Effekt • Behandlungsbezogene Merkmale • Hinweis: Chemotherapie (gegenüber Radiotherapie; OP) ↑ • Körperliche Beschwerden ↑ Crist & Grunveld (2012); Mehnert et al. (2009; Herschbach et al. (2005) Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Erfassung von Progredienzangst Progredienzangstfragebogen (PA-F; Herschbach et al, 2005) • 48 Items • Subskalen • Affektive Reaktionen (13 Items) • Partnerschaft und Familie (7 Items) • Arbeit und Beruf (7 Items) • Autonomieverlust (7 Items) • Coping (7 Items) • Gesamtwert: Subskalen exklusive Copingskala • Reliabilität > .70 • Mittlere Korrelationen zu anderen Angstmaßen (HADS) • Kurzform mit 12 Items (Mehnert et al., 2006) • Kein etablierter Cut-off • Koreanische und niederländische Version verfügbar Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Progredienzangstfragebogen – Kurzform (Auszug) Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Progredienzangstfragebogen – Kurzform (Auszug) Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Thewes et al. (2012) Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Diagnose Progredienzangst? „Ich habe unheimliche Angst, wie noch nie in meinem Leben. Ich möchte doch noch meine Enkel aufwachsen sehen. Glauben Sie, ich habe eine Chance? Es sagt ja niemand. Kann auch keiner. Aber ein kleiner Trost? Ich kann mich überhaupt nicht mehr zusammenreißen. Ich habe noch nie so viel geheult, wie in den letzten Wochen, sehe kein Land mehr. Ich denke so oft an den Tod – will aber nicht. Die Gedanken sind jeden Tag da. Ich kann für nichts mehr Freude empfinden,…“ -Angstgefühl -Sorgen -Intrusiv erlebt -Affektive Beeinträchtigung -Nicht irrational (Phobie: „im Allgemeinen ungefährliche Situationen oder Objekte“ -Nicht situationsungebunden (Panik) -Nicht frei flottierend (GAS) -Anpassungsstörung? Beginn innerhalb eines Monats; Symptome i.d.R. nicht länger als 6 Monate; eigentlich Restkategorie -These: Realängste körperlich Kranker sind etwas eigenständiges und lassen sich nur schwer im Rahmen der gängigen psychiatrischen Klassifikationssysteme abbilden Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Studie zu Progredienzangst und Angststörungen Stichprobe: • Stationäre Patienten mit gastrointestinalen Tumoren bzw. hämatologischen Neoplasien Erhebungszeitraum: • 1 Jahr Einschlusskriterien: • gesicherte Diagnose einer Krebserkrankung • Alter mindestens 18 Jahre • explizite Zustimmung der Studienteilnahme (informed consent) Untersuchungsinstrumente: • Strukturiertes Klinisches Interview für DSM-IV (SKID-I) zur Diagnose psychischer Störungen • Progredienzangstfragebogen • Patient Health Questionnaire: Module PHQ-15 (Körperbeschwerden), PHQ-2 (Sreening Depression), GAD-2 (Screening Angst) Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Ergebnisse Soziodemographische und medizinische Patientenmerkmale (n=341) N Alter (in Jahren) % M=58,4 (SD=12,7;range 20-87) Geschlecht männlich weiblich 220 121 64,5 35,5 Partnerschaft (n=328) 276 80,5 Erwerbstätigkeit (n=329) arbeitstätig Altersrente 122 120 35,5 35,0 Aktuelle Krebsdiagnose gastrointestinaler Tumor hämatologische Neoplasien 209 132 61,2 38,8 Behandlungssituation (n=340) Operation Chemotherapie 145 111 42,3 32,4 Krankheitsstatus (n=339) Ersterkrankung Zweit-, Dritttumor, Rezidiv 233 75 67,9 21,9 Dauer akt. Erkrankung (in Monaten) (n=328) M=13,2 (SD=29,4; range 0-197) Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Prävalenz Angststörungen stationäre Krebspatienten • Irgendeine Angststörung 18.6 % • Panikstörung 4.7 % • Agoraphobie ohne Panikstörung 1.2 % • Soziale Phobie 3.5 % • Spezifische Phobie 1.5 % • Zwangsstörung 1.8 % • Posttraumatische Belastungsstörung 3.5 % • Generalisierte Angststörung 2.1 % • Hypochondrie 0% Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Prävalenz (%) Progredienzangst und Angststörungen Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Einflussfaktoren auf Komorbidität • Soziodemographische Merkmale • Geschlecht: ns • Bildungsstand: ns Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Einflussfaktor Alter p < .001 Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Einflussfaktoren auf Komorbidität • Klinische Merkmale • Diagnose: ns • Metastasen: ns • Krankheitssituation (Ersterkrankung vs Zweittumor/Rezidiv): ns • Krankheitsdauer: ns • Funktionale Beeinträchtigung (KPS): ns Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Einflussfaktor Progredienzangst p < .001; post hoc: alle verschieden, außer PA vs PA/Angst Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Einflussfaktor Angst p < .001; .001 post hoc: alle verschieden, außer PA vs Angststörung Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Einflussfaktor Depression .001 post hoc: alle verschieden, außer Keine vs. Angststörung; PA p < .001; vs. Angststörung Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Einflussfaktor körperliche Beschwerden .001 post hoc: alle verschieden, außer keine vs. Angststörung, PA p < .001; vs. Angststörung Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Komorbidität Progredienzangst und Angststörungen • Prävalenz Angststörungen vergleichbar mit den Ergebnisse vorliegender Meta-Analysen (Singer et al., 2010) • 13 % isolierte dysfunktionale Progredienzangst • 7 % komorbides Muster von dysfunktionaler Progredienzangst und Angststörung • Progredienzangst mit jüngerem Alter assoziiert • Krankheitsbezogene Merkmale ohne Einfluss auf Komorbiditätsmuster • Patienten mit komorbidem Muster hatten die höchste Symptombelastung • Patienten mit isolierter dysfunktionaler Progredienzangst unterschieden sich nicht von Patienten mit Angststörungen bzgl. Symptombelastung Progredienzangst Risikofaktor für Entwicklung einer Angststörung? Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Progredienzangst und Familie, Arbeitgeber • Belastungen von Familienangehörigen? Ansteckungseffekte? • Auswirkungen auf berufliche Tätigkeit? Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Progredienzangst und Familie • Angehörige äußerten stärkere Progredienzangst als Patienten • Primär intraindividuelle Effekte der Einflussvariablen Mellon et al. (2007) Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Progredienzangst und Familie Hodges & Humphris (2009) Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Umgang mit Progredienzangst • Bisher kaum Erkenntnisse zum Zusammenhang Bewältigungsverhalten und Progredienzangst zwischen • Bisher kaum Publikationen zu therapeutischen Ansätzen zur Behandlung von Progredienzangst • Sind besondere Therapiekonzepte nötig? Befürworter betonen die Notwendigkeit medizinischer Kenntnisse und einer im Unterschied zur klassischen Psychotherapie veränderten therapeutischen Haltung (keine Heilung möglich) wichtiger Unterschied für Therapeuten: man kann sich innerlich nicht auf einen „bequemen Sessel“ zurückziehen – die Ängste der Patienten sind real begründet; gemeinsames Aushalten einer existentiellen Bedrohung Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Umgang mit der Progredienzangst - Bewältigungsverhalten Dinkel et al. (2011) Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Progredienzangst - Gruppenpsychotherapie • Therapiestudie in der stationären Rehabilitation • 174 Krebspatienten; 174 Rheumapatienten • Randomisierte Zuweisung zu Gruppentherapie; 4 x 90 Minuten • kognitive Verhaltenstherapie (KVT) oder supportiv-erfahrungsorientierte Therapie (SET); Kontrollgruppe TAU • Follow-up nach 12 Monaten • KVT und SET reduzierten Progredienzangst, Effekt bestand ein Jahr nach Therapieende • … aber nur bei Krebspatienten, nicht bei Arthritispatienten • 40 % der Krebspatienten zeigten eine reliable Verbesserung Herschbach et al. (2010); Dinkel et al. (2012) Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Progredienzangst - Gruppentherapiestudie Herschbach et al. (2010) Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Progredienzangst - Gruppentherapiekonzept Verhaltenstherapeutisches Rational •Therapieziel: nicht Angstfreiheit, sondern Umgang Spezifizieren, Überprüfen und ggf. Verändern der Auslöser; Überprüfen der Einschätzung der Bedrohung; Nutzen des Gefühls; Selbstfürsorge •1. Sitzung: Einführung; Einführung in die Verhaltensanalyse; Hausaufgabe: Angsttagebuch •2. Sitzung: Lösungskoffer; Einführung Konfrontation; Durchführung mit Beispielen aus Angsttagebüchern; „Schlimmstenfalls“ – zu Ende denken •3. Sitzung: erneute Durchführung •4. Sitzung: Achtsamkeit/Selbstfürsorge; Ausarbeitung Aktionsplan („Meiner größten Angst möchte ich begegnen: xxx“) Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Progredienzangst – weitere Therapieansätze • Algorithmus zur verhaltenstherapeutischen Sorgenexposition • Sorgen unrealistisch ( Standard-VT) oder realistisch? • Realistische Sorgen kann etwas getan werden? • Es kann etwas getan werden Handlung • Es kann nichts getan werden Akzeptanz • Therapeutenverhalten: Empathie; Validierung Otto & Hofmann (2009); Greer et al. (2010) • Studien zur VT, akzeptanz- und achtsamkeitsbasierten Therapien in Planung (evtl. laufend) Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Zusammenfassung • Progredienzangst: normale Reaktion bei Krebs, aber dysfunktionales Ausmaß möglich • Prävalenz: 22 % - 99 % spricht für Varianz der Erhebungsinstrumente • Jüngere Patienten haben höhere Progredienzangst • Insgesamt eher schwache Zusammenhänge zu erkrankungs- und behandlungsbezogenen Faktoren • Isolierte Progredienzangst geht mit einer starken Symptomlast einher, vergleichbar einer manifesten Angststörung • Komorbides Auftreten von Progredienzangst und Angststörung mit höchster Symptomlast verbunden • Hinweise auf familiäre Belastung und bestehende Progredienzangst bei Partnern und Familienmitgliedern Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Zusammenfassung • Dysfunktionale Progredienzangst stellt eine Indikation psychoonkologische/psychotherapeutische Behandlung dar • Bisher nur wenige Progredienzangst überprüfte Ansätze zur für eine Behandlung von • Konfrontative wie auch akzeptanzbasierte Interventionen erscheinen viel versprechend • Herausforderung für Behandler: Akzeptanz der Unlösbarkeit und reellen Ernsthaftigkeit der Bedrohung • Was steht an?: • Identifikation von Einflussfaktoren (prä-morbide) • weitere Studien zur Komorbidität (Angst, Depression) im Verlauf • Entwicklung und Überprüfung therapeutischer Konzepte unterschiedlichen Settings in