5 Affektive Störungen (F3)

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91
a5.1 · Depression (F32)
5 Affektive Störungen (F3)
> Unter affektiven Störungen versteht man Erkrankungen, die mit
Störungen der Affekte (niedergeschlagene Stimmung/Hochstimmung)
einhergehen, also Depressionen und Manien.
> Unter bipolaren Störungen versteht man Erkrankungen, die mal mit
maniformen, mal mit depressiven Episoden einhergehen – im Gegensatz zu den unipolaren Störungen, bei denen entweder nur manische
oder nur depressive Episoden vorkommen. Zu den bipolaren affektiven Störungen gehören die manisch-depressive Erkrankung und die
schizoaffektiven Störungen.
4 Lebenszeitprävalenz: 5–10%
4 Bipolare Störungen: 1,5%
4 Chronischer rezidivierender Verlauf bei unipolar Depressiven: 40–80%;
bei bipolar Depressiven: 95%
4 15% der Kranken mit affektiven Störungen sterben durch Suizid (Mortalität 30-fach erhöht)
4 50% der Suizidtoten litten an einer affektiven Störung. Nur ein Bruchteil
der Suizidtoten war zum Zeitpunkt des Todes antidepressiv behandelt
worden
4 Höheres Suizidrisiko bei unipolar Depressiven als bei bipolar Depressiven
4 Spontane Rezidivrate: 40–100%
4 Geringeres Rezidivrisiko bei unipolar-depressiv Kranken
4 »Akzeleration«: zunehmende Episodenfrequenz (ein im Krankheitsverlauf
zunehmendes Rezidivrisiko).
5.1
Depression (F32)
Depressionen gehören zu den häufigsten psychiatrischen Erkrankungen. In
psychiatrischen Kliniken stellen Patienten mit Depressionen die häufigste Diagnose dar.
5
92
Kapitel 5 · Affektive Störungen (F3)
] Symptome
Quick Start
Depression: Leitsymptome: niedergeschlagene Stimmung, Antriebs- und Interessenverlust. In schwereren Fällen somatisches Syndrom (z. B. mit Früherwachen) oder psychotisches Syndrom (z. B. mit Verarmungswahn). Therapie:
Antidepressiva und Psychotherapie; bei psychotischem Syndrom auch Neuroleptika; in anderweitig therapieresistenten Fällen EKT
5
Affektive Symptome
5 Gedrückte Stimmung: Niedergeschlagenheit, Traurigkeit. Die Patienten
sind bei schweren Depressionen nicht aufzuheitern
5 Grübeln: sich aufdrängende Gedanken, die immer um die gleichen belastenden Themen kreisen
5 Interessenverlust: Hobbies werden vernachlässigt
5 Außenkontakte werden reduziert, gesellschaftliche Veranstaltungen vermieden; die Patienten versuchen auf der Straße Begegnungen mit Bekannten auszuweichen
5 Energie- und Antriebsverlust; einfache Verrichtungen fallen unendlich
schwer (»Die Arbeit liegt wie ein Berg vor mir«)
5 Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, die dadurch entstehen, dass
durch ständiges Grübeln die Fokussierung auf alltägliche Verrichtungen
wie Kochen schwer fällt, die aber nicht auf tatsächlichen kognitiven Einschränkungen beruhen
5 Entscheidungen fallen extrem schwer, auch bei kleineren Problemen
5 Gefühl der Gefühllosigkeit: Der Patient kann nicht lachen, aber auch nicht
weinen. Er erlebt sich als gefühlsverarmt, leer oder verödet, nicht nur, was
Freude angeht, sondern auch für Trauer und andere Emotionen – ein
außerordentlich quälender Zustand von Emotionslosigkeit. Die Patienten
sehnen sich sogar nach negativen Emotionen (»Ich möchte wieder weinen
können«). Wenn ein schwer Depressiver in diesem Zustand einen Trauerfall erlebt, kann er nicht trauern – das geht erst bei Besserung der Depression. Dieses Symptom ist ein Hinweis auf besonders schwere Depressionen
5 Psychomotorische Hemmung: Der Patient sitzt mit versteinertem Gesicht
unbeweglich auf einem Stuhl, die Sprache ist wortkarg
5 Verlangsamtes Denken, Denkhemmung
5 Agitiertheit: Der Patient läuft aufgeregt auf und ab
5 Klagsamkeit, Jammern und Ängstlichkeit werden ausdrucksstark in Worten, Mimik und Gestik vorgetragen
5 Mangelnde Reagibilität auf günstige oder negative Ereignisse. Die frischgebackene Großmutter freut sich nicht über die Geburt eines Enkelkindes;
den Friseur lässt ein Lottogewinn von 15000 1 völlig kalt
5 Morgentief: Morgens ist die Depression schwerer. Nachmittags, z. B. ab
15 Uhr, geht es leichter (Tagesschwankung)
93
a5.1 · Depression (F32)
5 Dysphorie: missmutige Verstimmtheit. Der Patient ist übellaunig, mürrisch, moros, nörgelnd, missgestimmt, unzufrieden, ärgerlich
5 Ängstlichkeit: Die Patienten haben oft eine ungerichtete Angst (ohne zu
wissen, wovor) oder eine übertriebene Angst, dass ihren Verwandten oder
anderen nahestehenden Personen etwas zustoßen könnte (wie bei der generalisierten Angststörung)
5 Insuffizienzgefühle, mangelndes Selbstwertgefühl: Das Vertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit oder den eigenen Wert ist vermindert (»Ich bin
nichts wert, keiner würde mir nachtrauern«)
5 Schuldgefühle: Übertriebene und unrealistische Schuldgefühle (»Ich falle
meiner Familie zur Last«). Vor allem bei den schweren Depressionen zeigt
der »Zeiger der Schuld« auf den Patienten selbst, während bei leichteren
Depressionen oder Anpassungsstörungen anderen Menschen die Schuld
am Unglück des Patienten gegeben wird; bei wahnhaften (psychotischen)
Depressionen in Form von Schuldwahn
5 Suizidgedanken bzw. Suizidversuche
Schlafstörungen
5 Einschlafstörungen: Manche Patienten mit schweren Depressionen können oft rasch einschlafen, haben aber dann Früherwachen.
5 Zerhackter Schlaf: mehrfaches Erwachen pro Nacht mit subjektivem Leiden, Verlängerung der Zeit bis zum Einschlafen
5 Früherwachen: ein wichtiges Symptom zur Erkennung besonders schwerer Depressionen. Der Patient wacht an den meisten Tagen morgens um 3
oder 4 Uhr auf, obwohl er erst um 7 aufstehen müsste. Danach kann er
nicht wieder einschlafen
5 Hypersomnie: verlängerte Schlafdauer, bei 10% der Patienten. Bei saisonalen Depressionen (s. u.) möglich
5 Tagesmüdigkeit: Die Patienten haben morgens um 11 Uhr bereits wieder
das Gefühl, sich hinlegen zu müssen
Körperliche Störungen (Vitalstörungen)
5 Druckgefühl oder Schmerzen in der Brust
5 Druckgefühl im Kopf
5 Appetitverlust
5 Gewichtsverlust: Für eine schwere Depression spricht ein Gewichtsverlust
von über 5% des Körpergewichts in 4 Wochen (abzugrenzen von absichtlichem Gewichtsverlust bei Schlankheitskur oder Anorexie)
5 Obstipation überzufällig häufig
5 Bei Frauen Menstruationsstörungen
5 Libidoverlust (Scheuen Sie sich nicht, Fragen zum Sexualleben zu stellen.
Meist ist der Patient nicht peinlich berührt, sondern eher dankbar, da vorher dieses Thema niemand angesprochen hat)
5
94
Kapitel 5 · Affektive Störungen (F3)
Psychotische Symptome
5
5 Wahn
Typisch sind:
– Verarmungswahn (»Das Geld reicht nicht, die Krankenkasse bezahlt
den Arzt nicht, die Kinder verhungern«)
– Schuldwahn (»Ich habe das ganze Dorf in Unglück gestürzt, wegen
mir muss das Vieh verdursten«)
– Hypochondrischer Wahn: Angst, unheilbar an Krebs erkrankt zu sein
– Nihilistischer Wahn: wahnhafte Überzeugung, nichts zu sein, nicht
mehr zu existieren (»Die Welt ist nicht existent, es ist alles nur ein böser
Traum«)
– Versündigungswahn: wahnhafte Überzeugung, schwere Sünden begangen zu haben, die dann Krankheitsursache sind (oder sein können).
Die Sünden sind oft läppische Kleinigkeiten, die Jahrzehnte zurückliegen (als Kind Kaugummi im Supermarkt gestohlen)
– Kleinheitswahn (Nichtigkeitswahn): wahnhafte Überzeugung klein,
nichtig, verloren, unbedeutend zu sein
5 Halluzinationen: Bei sehr schweren Depressionen können auch akustische
Halluzinationen auftreten (Stimmenhören), die zu einer Verwechslung mit
einer Schizophrenie führen könnten. Auch Geruchshalluzinationen i. S.
von Fäulnis und Verwesung kommen (selten) vor
5 Fehlende Krankheitseinsicht (»Kein Arzt kann mir helfen«)
5 Depressiver Stupor: Dies ist die schwerste Form der Depression. Der Kranke nimmt keinen Kontakt mehr zur Umgebung auf, antwortet nicht auf
Fragen, stammelt manchmal nur unverständliche Silben oder Wörter, wiederholt sich dabei (perseveriert), zeigt Stereotypien oder verharrt bewegungslos im Sitzen oder im Liegen
] Einteilung der Depressionen nach ICD-10
Die ICD-Einteilung ist hilfreich bei Einschätzung der Schwere der Depression.
A gedrückte Stimmung
B Interessenverlust, Freudlosigkeit
C Verminderung des Antriebs (Ermüdbarkeit, Aktivitätseinschränkung)
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
Verminderung von Konzentration und Aufmerksamkeit
Vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen
Schuldgefühle, Gefühle von Wertlosigkeit
Negative und pessimistische Zukunftsperspektiven
Gedanken an (bzw. erfolgte) Selbstverletzung oder Suizidhandlungen
Schlafstörungen
Verminderter Appetit
5
95
a5.1 · Depression (F32)
. Schweregradeinteilung nach ICD-10
Schweregrad
Bedingungen
Leicht
mindestens 2 von A–C und mindestens 2 von 1–7
F32.0
Mittel
mindestens 2 von A–C und mindestens
insgesamt 6 von A-C und 1–7
F32.1
ohne somatisches
Syndrom
F32.10
mit somatischem
Syndrom
somatisches Syndrom
Schwer
alle 3 von A–C, mindestens 5 von 1–7,
somatisches Syndrom
ohne psychotisches
Syndrom
mit psychotischem
Syndrom
ICD-10
F32.11
F32.2
psychotisches Syndrom
F32.3
> Die Diagnose einer schweren depressiven Episode setzt das Vorhandensein eines somatischen Syndroms voraus.
Somatisches Syndrom bei Depressionen nach ICD-10
Mindestens 4 der folgenden 8 Symptome:
5
5
5
5
5
5
5
5
Interessenverlust
Mangelnde Reagibilität
Früherwachen
Morgentief
Hemmung oder Agitiertheit
Appetitverlust
Gewichtsverlust > 5% des Körpergewichts
Libidoverlust
Das somatische Syndrom hat also wenig mit dem veralteten Begriff »somatisierte
Depression« zu tun, der der heutigen Somatisierungsstörung entspricht (siehe dort).
> Das Vorliegen eines somatischen Syndroms hat insofern Bedeutung,
dass diese Depressionen sich besonders gut durch »somatische« Therapien (wie Antidepressiva, Schlafentzug, EKT) beeinflussen lassen.
Nach Ansicht mancher Psychiater wirken trizyklische Antidepressiva
hier besser als andere Antidepressiva (Studienlage nicht konsistent).
96
Kapitel 5 · Affektive Störungen (F3)
Psychotisches Syndrom bei Depressionen (wahnhafte Depression)
nach ICD-10
5 Wahn
5 Halluzinationen
5 Depressiver Stupor
> Das Vorliegen eines psychotischen Syndroms hat insofern Bedeutung,
5
als dass hier oft neben Antidepressiva auch Neuroleptika eingesetzt
werden.
] Formen
4 Ängstlich-agitierte Depression: Diese Depressionsform ist durch ein Überwiegen von Unruhezuständen, Schreckhaftigkeit und Ängstlichkeit gekennzeichnet. Die Patienten sind sehr besorgt und laufen unruhig hin
und her. Sie klagen über Angstsymptome wie z. B. Herzrasen, Zittern oder
Luftnot bis hin zu vollständigen Panikattacken
4 Gehemmt-apathische Depression: Die Patienten klagen über Energieverlust
und Müdigkeit. Auf normalerweise freudige Ereignisse reagieren sie nicht
mit positiven Gefühlsäußerungen; auch traurige Ereignisse lassen sie
scheinbar unberührt
4 Anankastische Depression: mit Zwangsgedanken/-handlungen wie bei einer
Zwangsstörung. Im Gegensatz zur Zwangsstörung kommt es hier immer
zu einer kompletten Besserung der Zwangssymptome, wenn die Depression gebessert wird
4 Saisonale affektive Störung: Depression, die regelmäßig in den dunklen
Jahreszeiten auftritt. Merkmale (zusätzlich zu den anderen Depressionssymptomen):
– Gereiztheit
– Heißhunger auf Kohlenhydrate (»carbohydrate craving«)
– Kälteempfindlichkeit
– Gewichtszunahme
– vermehrtes Schlafbedürfnis
– soll angeblich durch Lichttherapie beeinflussbar sein (Studienlage inkonsistent).
Veraltete Depressionseinteilungen
Die folgenden Begriffe wurden abgeschafft, weil sich die dahinter stehenden Konstrukte
nicht als valide erwiesen hatten. Da sie hin und wieder verwendet werden, sollen sie hier
dennoch erläutert werden:
4 »Endogene« Depression: entspricht der heutigen »depressiven Episode mit somatischem (und/oder psychotischem) Syndrom«
97
a5.1 · Depression (F32)
4 »Neurotische« Depression: entspricht der heutigen »leichten oder mittleren depressiven Episode ohne somatisches Syndrom« oder der »Dysthymie«
4 Die Einteilung in endogene und neurotische Depressionen wurde fallengelassen,
nachdem man mit Hilfe multivariater statistischer Verfahren festgestellt hatte, dass
diese klare Trennung in der Realität nicht verlässlich vollzogen werden kann. Auch
die Trennung in Depressionen, die nur mit Medikamenten und solche, die nur mit
Psychotherapie behandelt wurden, war nicht hilfreich. Heute werden alle Depressionen mit Medikamenten und (im günstigsten Fall) mit Psychotherapie behandelt. Allerdings ist bei den schweren Depressionen mit psychotischem Syndrom die Einsatzmöglichkeit der Psychotherapie begrenzt, während Antidepressiva und EKT
oft eine deutliche Wirkung haben
4 »Larvierte« (versteckte) Depression: Damit war eine Depression gemeint, die sich
hinter Klagen über körperliche Symptome wie Schmerzen u. a. versteckt, wobei
die eigentlichen Depressionssymptome im Hintergrund stehen. Diese Form entspricht am ehesten der heutigen Somatisierungsstörung. Sie wurde auch als »somatisierte Depression« bezeichnet.
> Früher gab es noch den Begriff der »reaktiven Depression«. Damit waren verständliche depressive Reaktionen nach belastenden Ereignissen
(z. B. Tod eines nahen Angehörigen, Scheidung, Arbeitsplatzverlust)
gemeint. Diese Reaktion wird heute nicht mehr als »Depression«, sondern als Anpassungsstörung (s. u.) bezeichnet.
] Differenzialdiagnose
4 Generalisierte Angststörung: Hier können auch Symptome wie Schlaflosigkeit, Konzentrationsstörungen u. a. auftreten; allerdings steht die Angst
im Vordergrund
4 Andere Angststörungen (Panikstörung, soziale Phobie)
4 Depressive Episode bei schizoaffektiver Störung
4 Depressive Syndrome im Rahmen einer postpsychotischen Phase bei
Schizophrenie
4 Organische depressive Syndrome (eher selten)
4 Bei schweren Depressionen ist bei älteren Patienten gelegentlich eine Abgrenzung gegenüber einer Demenz schwierig.
> Viele Depressive glauben, ihr Gedächtnis zu verlieren, nichts mehr auf
die Reihe zu bekommen oder gar zu »verblöden«. Man spricht dann
von Pseudodemenz. Testpsychologische Untersuchungen der Mnestik
ergeben bei Depressiven Normalbefunde oder allenfalls leichte Beeinträchtigungen, die aber subjektiv als sehr schwer erlebt werden. Die
Pseudodemenz bessert sich mit der Remission der Depression.
5
98
Kapitel 5 · Affektive Störungen (F3)
] Verlauf
4 Eine unbehandelte Depression kann zwischen mehreren Monaten und
mehreren Jahren anhalten, im Durchschnitt etwa 1 Jahr
4 Bei Depressionen mit somatischem Syndrom kommt es in 75 % der Fälle
zu einem Rezidiv. Je mehr frühere Episoden und je kürzer die Abstände
zwischen den Phasen, desto höher das Rezidivrisiko
4 Manche Depressionsformen haben einen chronischen Verlauf.
5
] Häufigkeit
4 Die unipolare »Major Depression« hat eine 1-Jahres-Prävalenz von 5,0%
4 Depressionen sind bei Frauen doppelt so häufig wie bei Männern – und
das im Wesentlichen unabhängig von der Kultur.
] Ursachen
Depressionen entstehen wie alle psychischen Erkrankungen durch ein Zusammenspiel von biologischen und psychischen Faktoren. Folgende Hypothesen zur Ätiologie werden diskutiert:
Biologische Faktoren
4 Genetische Disposition: gleichzeitiges Auftreten bei beiden Zwillingen
(Konkordanzrate) bei unipolarer Depression bei eineiigen Zwillingen
50%, bei zweieiigen 20%. Erkrankungsrisiko für Kinder bei einem Elternteil mit unipolarer Depression 10%. Risiko bei bipolaren Störungen noch
höher (siehe dort)
4 Neurotransmitterstörungen: Katecholaminhypothese (Serotonin/Noradrenalin). Alle Antidepressiva erhöhen die Wirkung von Serotonin und/
oder Noradrenalin im Gehirn
4 Störungen der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse
werden vermutet
4 Nachweise von morphologischen Gehirnveränderungen durch Magnetresonanztomographie und andere bildgebende Verfahren
4 Saisonale Einflüsse: Die Häufung von Depressionen im Herbst und Frühjahr und das verstärkte Auftreten von Depressionen in nördlichen Ländern lassen auf Lichtmangel als möglichen ätiologischen Faktor schließen
4 Hormonelle Einflüsse: Das gehäufte Auftreten von Depressionen im Wochenbett wird durch Hormonveränderungen erklärt
4 Organische Schädigungen oder Medikamente können Depressionen auslösen.
99
a5.1 · Depression (F32)
Psychische Faktoren
4 Traumatische Kindheitserlebnisse (Trennung von den Eltern, sexueller
Missbrauch) finden sich gehäuft bei Depressionen, aber nicht deutlich
erhöht bei den schwereren Formen mit somatischem und psychotischem
Syndrom.
4 Belastende Ereignisse im Erwachsenenalter (Ehescheidung, Todesfall)
werden mit Depressionen in Verbindung gebracht, führen aber eher zu
Anpassungsstörungen (akute Belastungsreaktion oder posttraumatische
Belastungsstörung), die eine andere Symptomatik haben.
4 Überdauernde Persönlichkeitsfaktoren, wie zum Beispiel eine zwanghafte
Persönlichkeit, wurden mit einer Prädisposition für Depressionen in Verbindung gebracht.
4 Lerntheoretische Erklärungen: ins Negative verzerrte Wahrnehmungen
der eigenen Person, der Umwelt und der Zukunft erhöhen die Anfälligkeit
für Stressfaktoren.
4 Das mit Hilfe von Tierexperimenten entwickelte Paradigma der »erlernten
Hilflosigkeit« (Seligman) erklärt Depressionen durch lang dauernde, als
unkontrollierbar empfundene psychische Belastungen.
] Therapie
Depressionen werden vorwiegend mit Antidepressiva und Psychotherapie behandelt, wobei diese beiden Behandlungsmodalitäten synergistisch wirken.
4 Antidepressiva (wichtigste Behandlungsform)
4 Neuroleptika (nur als Komedikation mit Antidepressiva bei wahnhafter
Depression)
4 Benzodiazepine (nur kurzfristig zur Überbrückung der Zeit bis zum
Wirkeintritt der Antidepressiva oder bei Suizidalität; haben keine antidepressive Wirkung)
4 Augmentation mit Lithium (Hinzufügen von Lithium zu einer bestehenden Antidepressivatherapie)
4 Augmentation mit Schilddrüsenhormonen (Wirkung umstritten)
4 Psychotherapie (Verhaltenstherapie, interpersonelle Therapie)
4 Elektrokonvulsionstherapie (EKT) – fast ausschließlich bei therapieresistenten schweren bzw. wahnhaften Depressionen nach dem Versagen von
medikamentösen Therapien
4 Schlafentzug; kann auch mit Lichttherapie kombiniert werden
4 Lichttherapie (Wirkung umstritten, da noch nicht ausreichend durch
kontrollierte Studien nachgewiesen)
4 Repetitive transkranielle Magnetstimulation (rTMS; Wirkung umstritten,
da noch nicht ausreichend durch kontrollierte Studien nachgewiesen)
4 Vagusnervstimulation (VNS; invasive Methode, die nicht ausreichend
durch kontrollierte Studien abgesichert ist).
5
100
Kapitel 5 · Affektive Störungen (F3)
Probleme der Depressionsbehandlung
4
4
4
4
4
4
4
Heterogenität der Depressionen
Pharmakologische Probleme (einschl. Compliance)
Psychotherapiefähigkeit
Kontraindikationen von Pharmakotherapien
Nur ein Teil der Patienten spricht an (Nonresponse, Chronifizierung)
Teilweise lange Ansprechdauer
Rezidivneigung.
7 Näheres zur Behandlung mit Antidepressiva: siehe Kap. 19.3.
5
Fallbeispiel: Schwere depressive Episode mit psychotischem Syndrom
Renate G., 54 Jahre, Landwirtin, entwickelt im Anschluss an eine gut überstandene Gallenoperation eine Depression mit niedergeschlagener Stimmung
und erniedrigtem Selbstwertgefühl. Sie ist psychomotorisch unruhig und
klagt laut über zahlreiche Sorgen. Ihr Appetit hat stark abgenommen; in 4
Wochen hat sie 6 kg an Gewicht verloren. Sie leidet unter starkem Antriebsmangel. Sie hat jedes Interesse an Hobbies verloren und weigert sich, mit ihrem Mann soziale Zusammenkünfte wie die Konfirmation der Enkelin oder
das Dorffest aufzusuchen. Vor dem Auftreten der Depression sei sie ein sehr
lebenslustiger und geselliger Mensch gewesen.
Sie geht um 20 Uhr bereits ins Bett, hat aber einen sehr unruhigen Schlaf
und liegt immer wieder wach. Sie wacht jeden Morgen um 4 Uhr auf; sie
muss dann das Bett verlassen und wandert stundenlang umher. Sie wird von
der Furcht getrieben, ihre tägliche Arbeit nicht schaffen zu können. Um
11 Uhr morgens will sie sich am liebsten wieder zum Schlafen hinlegen.
Alle Entscheidungen fallen extrem schwer; so grübelt sie zum Beispiel
mehrere Stunden lang, ob sie am nächsten Sonntag Rouladen oder einen
Schweinebraten zum Mittagessen machen will. Gegen 15 Uhr kommt es regelmäßig zu einer Aufhellung der Stimmung, wobei allerdings noch eine
deutlich depressive Stimmung bleibt.
Erst als psychotische Symptome auftreten, wird die Patientin von ihrer Familie bei einem Arzt vorgestellt. Renate G. entwickelt einen Verarmungswahn;
sie nimmt an, dass der Bauernhof bankrott sei, dass alle Maschinen bereits
gepfändet seien. Sie weigert sich anfänglich, ins Krankenhaus zu gehen, da
sie keine Kleider zum Anziehen habe – all ihr Hab und Gut sei bereits von
Gläubigern mitgenommen worden. Sie lässt sich durch nichts davon überzeugen, dass die Familie finanziell gut dastehe; die ihr vorgezeigten Kontoauszüge hält sie für gefälscht.
In der Klinik wird sie mit Venlafaxin 225 mg/Tag behandelt. Zusätzlich erhält sie 4 mg Risperidon/Tag, um die psychotischen Symptome zu bessern.
Wegen der starken psychomotorischen Unruhe erhält sie in den ersten 2 Wochen eine Benzodiazepin-Medikation. Nach fünf Wochen hellt sich ihre Stimmung deutlich auf; nach weiteren zwei Wochen kann sie komplett remittiert
entlassen werden.
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