91 a5.1 · Depression (F32) 5 Affektive Störungen (F3) > Unter affektiven Störungen versteht man Erkrankungen, die mit Störungen der Affekte (niedergeschlagene Stimmung/Hochstimmung) einhergehen, also Depressionen und Manien. > Unter bipolaren Störungen versteht man Erkrankungen, die mal mit maniformen, mal mit depressiven Episoden einhergehen – im Gegensatz zu den unipolaren Störungen, bei denen entweder nur manische oder nur depressive Episoden vorkommen. Zu den bipolaren affektiven Störungen gehören die manisch-depressive Erkrankung und die schizoaffektiven Störungen. 4 Lebenszeitprävalenz: 5–10% 4 Bipolare Störungen: 1,5% 4 Chronischer rezidivierender Verlauf bei unipolar Depressiven: 40–80%; bei bipolar Depressiven: 95% 4 15% der Kranken mit affektiven Störungen sterben durch Suizid (Mortalität 30-fach erhöht) 4 50% der Suizidtoten litten an einer affektiven Störung. Nur ein Bruchteil der Suizidtoten war zum Zeitpunkt des Todes antidepressiv behandelt worden 4 Höheres Suizidrisiko bei unipolar Depressiven als bei bipolar Depressiven 4 Spontane Rezidivrate: 40–100% 4 Geringeres Rezidivrisiko bei unipolar-depressiv Kranken 4 »Akzeleration«: zunehmende Episodenfrequenz (ein im Krankheitsverlauf zunehmendes Rezidivrisiko). 5.1 Depression (F32) Depressionen gehören zu den häufigsten psychiatrischen Erkrankungen. In psychiatrischen Kliniken stellen Patienten mit Depressionen die häufigste Diagnose dar. 5 92 Kapitel 5 · Affektive Störungen (F3) ] Symptome Quick Start Depression: Leitsymptome: niedergeschlagene Stimmung, Antriebs- und Interessenverlust. In schwereren Fällen somatisches Syndrom (z. B. mit Früherwachen) oder psychotisches Syndrom (z. B. mit Verarmungswahn). Therapie: Antidepressiva und Psychotherapie; bei psychotischem Syndrom auch Neuroleptika; in anderweitig therapieresistenten Fällen EKT 5 Affektive Symptome 5 Gedrückte Stimmung: Niedergeschlagenheit, Traurigkeit. Die Patienten sind bei schweren Depressionen nicht aufzuheitern 5 Grübeln: sich aufdrängende Gedanken, die immer um die gleichen belastenden Themen kreisen 5 Interessenverlust: Hobbies werden vernachlässigt 5 Außenkontakte werden reduziert, gesellschaftliche Veranstaltungen vermieden; die Patienten versuchen auf der Straße Begegnungen mit Bekannten auszuweichen 5 Energie- und Antriebsverlust; einfache Verrichtungen fallen unendlich schwer (»Die Arbeit liegt wie ein Berg vor mir«) 5 Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, die dadurch entstehen, dass durch ständiges Grübeln die Fokussierung auf alltägliche Verrichtungen wie Kochen schwer fällt, die aber nicht auf tatsächlichen kognitiven Einschränkungen beruhen 5 Entscheidungen fallen extrem schwer, auch bei kleineren Problemen 5 Gefühl der Gefühllosigkeit: Der Patient kann nicht lachen, aber auch nicht weinen. Er erlebt sich als gefühlsverarmt, leer oder verödet, nicht nur, was Freude angeht, sondern auch für Trauer und andere Emotionen – ein außerordentlich quälender Zustand von Emotionslosigkeit. Die Patienten sehnen sich sogar nach negativen Emotionen (»Ich möchte wieder weinen können«). Wenn ein schwer Depressiver in diesem Zustand einen Trauerfall erlebt, kann er nicht trauern – das geht erst bei Besserung der Depression. Dieses Symptom ist ein Hinweis auf besonders schwere Depressionen 5 Psychomotorische Hemmung: Der Patient sitzt mit versteinertem Gesicht unbeweglich auf einem Stuhl, die Sprache ist wortkarg 5 Verlangsamtes Denken, Denkhemmung 5 Agitiertheit: Der Patient läuft aufgeregt auf und ab 5 Klagsamkeit, Jammern und Ängstlichkeit werden ausdrucksstark in Worten, Mimik und Gestik vorgetragen 5 Mangelnde Reagibilität auf günstige oder negative Ereignisse. Die frischgebackene Großmutter freut sich nicht über die Geburt eines Enkelkindes; den Friseur lässt ein Lottogewinn von 15000 1 völlig kalt 5 Morgentief: Morgens ist die Depression schwerer. Nachmittags, z. B. ab 15 Uhr, geht es leichter (Tagesschwankung) 93 a5.1 · Depression (F32) 5 Dysphorie: missmutige Verstimmtheit. Der Patient ist übellaunig, mürrisch, moros, nörgelnd, missgestimmt, unzufrieden, ärgerlich 5 Ängstlichkeit: Die Patienten haben oft eine ungerichtete Angst (ohne zu wissen, wovor) oder eine übertriebene Angst, dass ihren Verwandten oder anderen nahestehenden Personen etwas zustoßen könnte (wie bei der generalisierten Angststörung) 5 Insuffizienzgefühle, mangelndes Selbstwertgefühl: Das Vertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit oder den eigenen Wert ist vermindert (»Ich bin nichts wert, keiner würde mir nachtrauern«) 5 Schuldgefühle: Übertriebene und unrealistische Schuldgefühle (»Ich falle meiner Familie zur Last«). Vor allem bei den schweren Depressionen zeigt der »Zeiger der Schuld« auf den Patienten selbst, während bei leichteren Depressionen oder Anpassungsstörungen anderen Menschen die Schuld am Unglück des Patienten gegeben wird; bei wahnhaften (psychotischen) Depressionen in Form von Schuldwahn 5 Suizidgedanken bzw. Suizidversuche Schlafstörungen 5 Einschlafstörungen: Manche Patienten mit schweren Depressionen können oft rasch einschlafen, haben aber dann Früherwachen. 5 Zerhackter Schlaf: mehrfaches Erwachen pro Nacht mit subjektivem Leiden, Verlängerung der Zeit bis zum Einschlafen 5 Früherwachen: ein wichtiges Symptom zur Erkennung besonders schwerer Depressionen. Der Patient wacht an den meisten Tagen morgens um 3 oder 4 Uhr auf, obwohl er erst um 7 aufstehen müsste. Danach kann er nicht wieder einschlafen 5 Hypersomnie: verlängerte Schlafdauer, bei 10% der Patienten. Bei saisonalen Depressionen (s. u.) möglich 5 Tagesmüdigkeit: Die Patienten haben morgens um 11 Uhr bereits wieder das Gefühl, sich hinlegen zu müssen Körperliche Störungen (Vitalstörungen) 5 Druckgefühl oder Schmerzen in der Brust 5 Druckgefühl im Kopf 5 Appetitverlust 5 Gewichtsverlust: Für eine schwere Depression spricht ein Gewichtsverlust von über 5% des Körpergewichts in 4 Wochen (abzugrenzen von absichtlichem Gewichtsverlust bei Schlankheitskur oder Anorexie) 5 Obstipation überzufällig häufig 5 Bei Frauen Menstruationsstörungen 5 Libidoverlust (Scheuen Sie sich nicht, Fragen zum Sexualleben zu stellen. Meist ist der Patient nicht peinlich berührt, sondern eher dankbar, da vorher dieses Thema niemand angesprochen hat) 5 94 Kapitel 5 · Affektive Störungen (F3) Psychotische Symptome 5 5 Wahn Typisch sind: – Verarmungswahn (»Das Geld reicht nicht, die Krankenkasse bezahlt den Arzt nicht, die Kinder verhungern«) – Schuldwahn (»Ich habe das ganze Dorf in Unglück gestürzt, wegen mir muss das Vieh verdursten«) – Hypochondrischer Wahn: Angst, unheilbar an Krebs erkrankt zu sein – Nihilistischer Wahn: wahnhafte Überzeugung, nichts zu sein, nicht mehr zu existieren (»Die Welt ist nicht existent, es ist alles nur ein böser Traum«) – Versündigungswahn: wahnhafte Überzeugung, schwere Sünden begangen zu haben, die dann Krankheitsursache sind (oder sein können). Die Sünden sind oft läppische Kleinigkeiten, die Jahrzehnte zurückliegen (als Kind Kaugummi im Supermarkt gestohlen) – Kleinheitswahn (Nichtigkeitswahn): wahnhafte Überzeugung klein, nichtig, verloren, unbedeutend zu sein 5 Halluzinationen: Bei sehr schweren Depressionen können auch akustische Halluzinationen auftreten (Stimmenhören), die zu einer Verwechslung mit einer Schizophrenie führen könnten. Auch Geruchshalluzinationen i. S. von Fäulnis und Verwesung kommen (selten) vor 5 Fehlende Krankheitseinsicht (»Kein Arzt kann mir helfen«) 5 Depressiver Stupor: Dies ist die schwerste Form der Depression. Der Kranke nimmt keinen Kontakt mehr zur Umgebung auf, antwortet nicht auf Fragen, stammelt manchmal nur unverständliche Silben oder Wörter, wiederholt sich dabei (perseveriert), zeigt Stereotypien oder verharrt bewegungslos im Sitzen oder im Liegen ] Einteilung der Depressionen nach ICD-10 Die ICD-Einteilung ist hilfreich bei Einschätzung der Schwere der Depression. A gedrückte Stimmung B Interessenverlust, Freudlosigkeit C Verminderung des Antriebs (Ermüdbarkeit, Aktivitätseinschränkung) 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. Verminderung von Konzentration und Aufmerksamkeit Vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen Schuldgefühle, Gefühle von Wertlosigkeit Negative und pessimistische Zukunftsperspektiven Gedanken an (bzw. erfolgte) Selbstverletzung oder Suizidhandlungen Schlafstörungen Verminderter Appetit 5 95 a5.1 · Depression (F32) . Schweregradeinteilung nach ICD-10 Schweregrad Bedingungen Leicht mindestens 2 von A–C und mindestens 2 von 1–7 F32.0 Mittel mindestens 2 von A–C und mindestens insgesamt 6 von A-C und 1–7 F32.1 ohne somatisches Syndrom F32.10 mit somatischem Syndrom somatisches Syndrom Schwer alle 3 von A–C, mindestens 5 von 1–7, somatisches Syndrom ohne psychotisches Syndrom mit psychotischem Syndrom ICD-10 F32.11 F32.2 psychotisches Syndrom F32.3 > Die Diagnose einer schweren depressiven Episode setzt das Vorhandensein eines somatischen Syndroms voraus. Somatisches Syndrom bei Depressionen nach ICD-10 Mindestens 4 der folgenden 8 Symptome: 5 5 5 5 5 5 5 5 Interessenverlust Mangelnde Reagibilität Früherwachen Morgentief Hemmung oder Agitiertheit Appetitverlust Gewichtsverlust > 5% des Körpergewichts Libidoverlust Das somatische Syndrom hat also wenig mit dem veralteten Begriff »somatisierte Depression« zu tun, der der heutigen Somatisierungsstörung entspricht (siehe dort). > Das Vorliegen eines somatischen Syndroms hat insofern Bedeutung, dass diese Depressionen sich besonders gut durch »somatische« Therapien (wie Antidepressiva, Schlafentzug, EKT) beeinflussen lassen. Nach Ansicht mancher Psychiater wirken trizyklische Antidepressiva hier besser als andere Antidepressiva (Studienlage nicht konsistent). 96 Kapitel 5 · Affektive Störungen (F3) Psychotisches Syndrom bei Depressionen (wahnhafte Depression) nach ICD-10 5 Wahn 5 Halluzinationen 5 Depressiver Stupor > Das Vorliegen eines psychotischen Syndroms hat insofern Bedeutung, 5 als dass hier oft neben Antidepressiva auch Neuroleptika eingesetzt werden. ] Formen 4 Ängstlich-agitierte Depression: Diese Depressionsform ist durch ein Überwiegen von Unruhezuständen, Schreckhaftigkeit und Ängstlichkeit gekennzeichnet. Die Patienten sind sehr besorgt und laufen unruhig hin und her. Sie klagen über Angstsymptome wie z. B. Herzrasen, Zittern oder Luftnot bis hin zu vollständigen Panikattacken 4 Gehemmt-apathische Depression: Die Patienten klagen über Energieverlust und Müdigkeit. Auf normalerweise freudige Ereignisse reagieren sie nicht mit positiven Gefühlsäußerungen; auch traurige Ereignisse lassen sie scheinbar unberührt 4 Anankastische Depression: mit Zwangsgedanken/-handlungen wie bei einer Zwangsstörung. Im Gegensatz zur Zwangsstörung kommt es hier immer zu einer kompletten Besserung der Zwangssymptome, wenn die Depression gebessert wird 4 Saisonale affektive Störung: Depression, die regelmäßig in den dunklen Jahreszeiten auftritt. Merkmale (zusätzlich zu den anderen Depressionssymptomen): – Gereiztheit – Heißhunger auf Kohlenhydrate (»carbohydrate craving«) – Kälteempfindlichkeit – Gewichtszunahme – vermehrtes Schlafbedürfnis – soll angeblich durch Lichttherapie beeinflussbar sein (Studienlage inkonsistent). Veraltete Depressionseinteilungen Die folgenden Begriffe wurden abgeschafft, weil sich die dahinter stehenden Konstrukte nicht als valide erwiesen hatten. Da sie hin und wieder verwendet werden, sollen sie hier dennoch erläutert werden: 4 »Endogene« Depression: entspricht der heutigen »depressiven Episode mit somatischem (und/oder psychotischem) Syndrom« 97 a5.1 · Depression (F32) 4 »Neurotische« Depression: entspricht der heutigen »leichten oder mittleren depressiven Episode ohne somatisches Syndrom« oder der »Dysthymie« 4 Die Einteilung in endogene und neurotische Depressionen wurde fallengelassen, nachdem man mit Hilfe multivariater statistischer Verfahren festgestellt hatte, dass diese klare Trennung in der Realität nicht verlässlich vollzogen werden kann. Auch die Trennung in Depressionen, die nur mit Medikamenten und solche, die nur mit Psychotherapie behandelt wurden, war nicht hilfreich. Heute werden alle Depressionen mit Medikamenten und (im günstigsten Fall) mit Psychotherapie behandelt. Allerdings ist bei den schweren Depressionen mit psychotischem Syndrom die Einsatzmöglichkeit der Psychotherapie begrenzt, während Antidepressiva und EKT oft eine deutliche Wirkung haben 4 »Larvierte« (versteckte) Depression: Damit war eine Depression gemeint, die sich hinter Klagen über körperliche Symptome wie Schmerzen u. a. versteckt, wobei die eigentlichen Depressionssymptome im Hintergrund stehen. Diese Form entspricht am ehesten der heutigen Somatisierungsstörung. Sie wurde auch als »somatisierte Depression« bezeichnet. > Früher gab es noch den Begriff der »reaktiven Depression«. Damit waren verständliche depressive Reaktionen nach belastenden Ereignissen (z. B. Tod eines nahen Angehörigen, Scheidung, Arbeitsplatzverlust) gemeint. Diese Reaktion wird heute nicht mehr als »Depression«, sondern als Anpassungsstörung (s. u.) bezeichnet. ] Differenzialdiagnose 4 Generalisierte Angststörung: Hier können auch Symptome wie Schlaflosigkeit, Konzentrationsstörungen u. a. auftreten; allerdings steht die Angst im Vordergrund 4 Andere Angststörungen (Panikstörung, soziale Phobie) 4 Depressive Episode bei schizoaffektiver Störung 4 Depressive Syndrome im Rahmen einer postpsychotischen Phase bei Schizophrenie 4 Organische depressive Syndrome (eher selten) 4 Bei schweren Depressionen ist bei älteren Patienten gelegentlich eine Abgrenzung gegenüber einer Demenz schwierig. > Viele Depressive glauben, ihr Gedächtnis zu verlieren, nichts mehr auf die Reihe zu bekommen oder gar zu »verblöden«. Man spricht dann von Pseudodemenz. Testpsychologische Untersuchungen der Mnestik ergeben bei Depressiven Normalbefunde oder allenfalls leichte Beeinträchtigungen, die aber subjektiv als sehr schwer erlebt werden. Die Pseudodemenz bessert sich mit der Remission der Depression. 5 98 Kapitel 5 · Affektive Störungen (F3) ] Verlauf 4 Eine unbehandelte Depression kann zwischen mehreren Monaten und mehreren Jahren anhalten, im Durchschnitt etwa 1 Jahr 4 Bei Depressionen mit somatischem Syndrom kommt es in 75 % der Fälle zu einem Rezidiv. Je mehr frühere Episoden und je kürzer die Abstände zwischen den Phasen, desto höher das Rezidivrisiko 4 Manche Depressionsformen haben einen chronischen Verlauf. 5 ] Häufigkeit 4 Die unipolare »Major Depression« hat eine 1-Jahres-Prävalenz von 5,0% 4 Depressionen sind bei Frauen doppelt so häufig wie bei Männern – und das im Wesentlichen unabhängig von der Kultur. ] Ursachen Depressionen entstehen wie alle psychischen Erkrankungen durch ein Zusammenspiel von biologischen und psychischen Faktoren. Folgende Hypothesen zur Ätiologie werden diskutiert: Biologische Faktoren 4 Genetische Disposition: gleichzeitiges Auftreten bei beiden Zwillingen (Konkordanzrate) bei unipolarer Depression bei eineiigen Zwillingen 50%, bei zweieiigen 20%. Erkrankungsrisiko für Kinder bei einem Elternteil mit unipolarer Depression 10%. Risiko bei bipolaren Störungen noch höher (siehe dort) 4 Neurotransmitterstörungen: Katecholaminhypothese (Serotonin/Noradrenalin). Alle Antidepressiva erhöhen die Wirkung von Serotonin und/ oder Noradrenalin im Gehirn 4 Störungen der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse werden vermutet 4 Nachweise von morphologischen Gehirnveränderungen durch Magnetresonanztomographie und andere bildgebende Verfahren 4 Saisonale Einflüsse: Die Häufung von Depressionen im Herbst und Frühjahr und das verstärkte Auftreten von Depressionen in nördlichen Ländern lassen auf Lichtmangel als möglichen ätiologischen Faktor schließen 4 Hormonelle Einflüsse: Das gehäufte Auftreten von Depressionen im Wochenbett wird durch Hormonveränderungen erklärt 4 Organische Schädigungen oder Medikamente können Depressionen auslösen. 99 a5.1 · Depression (F32) Psychische Faktoren 4 Traumatische Kindheitserlebnisse (Trennung von den Eltern, sexueller Missbrauch) finden sich gehäuft bei Depressionen, aber nicht deutlich erhöht bei den schwereren Formen mit somatischem und psychotischem Syndrom. 4 Belastende Ereignisse im Erwachsenenalter (Ehescheidung, Todesfall) werden mit Depressionen in Verbindung gebracht, führen aber eher zu Anpassungsstörungen (akute Belastungsreaktion oder posttraumatische Belastungsstörung), die eine andere Symptomatik haben. 4 Überdauernde Persönlichkeitsfaktoren, wie zum Beispiel eine zwanghafte Persönlichkeit, wurden mit einer Prädisposition für Depressionen in Verbindung gebracht. 4 Lerntheoretische Erklärungen: ins Negative verzerrte Wahrnehmungen der eigenen Person, der Umwelt und der Zukunft erhöhen die Anfälligkeit für Stressfaktoren. 4 Das mit Hilfe von Tierexperimenten entwickelte Paradigma der »erlernten Hilflosigkeit« (Seligman) erklärt Depressionen durch lang dauernde, als unkontrollierbar empfundene psychische Belastungen. ] Therapie Depressionen werden vorwiegend mit Antidepressiva und Psychotherapie behandelt, wobei diese beiden Behandlungsmodalitäten synergistisch wirken. 4 Antidepressiva (wichtigste Behandlungsform) 4 Neuroleptika (nur als Komedikation mit Antidepressiva bei wahnhafter Depression) 4 Benzodiazepine (nur kurzfristig zur Überbrückung der Zeit bis zum Wirkeintritt der Antidepressiva oder bei Suizidalität; haben keine antidepressive Wirkung) 4 Augmentation mit Lithium (Hinzufügen von Lithium zu einer bestehenden Antidepressivatherapie) 4 Augmentation mit Schilddrüsenhormonen (Wirkung umstritten) 4 Psychotherapie (Verhaltenstherapie, interpersonelle Therapie) 4 Elektrokonvulsionstherapie (EKT) – fast ausschließlich bei therapieresistenten schweren bzw. wahnhaften Depressionen nach dem Versagen von medikamentösen Therapien 4 Schlafentzug; kann auch mit Lichttherapie kombiniert werden 4 Lichttherapie (Wirkung umstritten, da noch nicht ausreichend durch kontrollierte Studien nachgewiesen) 4 Repetitive transkranielle Magnetstimulation (rTMS; Wirkung umstritten, da noch nicht ausreichend durch kontrollierte Studien nachgewiesen) 4 Vagusnervstimulation (VNS; invasive Methode, die nicht ausreichend durch kontrollierte Studien abgesichert ist). 5 100 Kapitel 5 · Affektive Störungen (F3) Probleme der Depressionsbehandlung 4 4 4 4 4 4 4 Heterogenität der Depressionen Pharmakologische Probleme (einschl. Compliance) Psychotherapiefähigkeit Kontraindikationen von Pharmakotherapien Nur ein Teil der Patienten spricht an (Nonresponse, Chronifizierung) Teilweise lange Ansprechdauer Rezidivneigung. 7 Näheres zur Behandlung mit Antidepressiva: siehe Kap. 19.3. 5 Fallbeispiel: Schwere depressive Episode mit psychotischem Syndrom Renate G., 54 Jahre, Landwirtin, entwickelt im Anschluss an eine gut überstandene Gallenoperation eine Depression mit niedergeschlagener Stimmung und erniedrigtem Selbstwertgefühl. Sie ist psychomotorisch unruhig und klagt laut über zahlreiche Sorgen. Ihr Appetit hat stark abgenommen; in 4 Wochen hat sie 6 kg an Gewicht verloren. Sie leidet unter starkem Antriebsmangel. Sie hat jedes Interesse an Hobbies verloren und weigert sich, mit ihrem Mann soziale Zusammenkünfte wie die Konfirmation der Enkelin oder das Dorffest aufzusuchen. Vor dem Auftreten der Depression sei sie ein sehr lebenslustiger und geselliger Mensch gewesen. Sie geht um 20 Uhr bereits ins Bett, hat aber einen sehr unruhigen Schlaf und liegt immer wieder wach. Sie wacht jeden Morgen um 4 Uhr auf; sie muss dann das Bett verlassen und wandert stundenlang umher. Sie wird von der Furcht getrieben, ihre tägliche Arbeit nicht schaffen zu können. Um 11 Uhr morgens will sie sich am liebsten wieder zum Schlafen hinlegen. Alle Entscheidungen fallen extrem schwer; so grübelt sie zum Beispiel mehrere Stunden lang, ob sie am nächsten Sonntag Rouladen oder einen Schweinebraten zum Mittagessen machen will. Gegen 15 Uhr kommt es regelmäßig zu einer Aufhellung der Stimmung, wobei allerdings noch eine deutlich depressive Stimmung bleibt. Erst als psychotische Symptome auftreten, wird die Patientin von ihrer Familie bei einem Arzt vorgestellt. Renate G. entwickelt einen Verarmungswahn; sie nimmt an, dass der Bauernhof bankrott sei, dass alle Maschinen bereits gepfändet seien. Sie weigert sich anfänglich, ins Krankenhaus zu gehen, da sie keine Kleider zum Anziehen habe – all ihr Hab und Gut sei bereits von Gläubigern mitgenommen worden. Sie lässt sich durch nichts davon überzeugen, dass die Familie finanziell gut dastehe; die ihr vorgezeigten Kontoauszüge hält sie für gefälscht. In der Klinik wird sie mit Venlafaxin 225 mg/Tag behandelt. Zusätzlich erhält sie 4 mg Risperidon/Tag, um die psychotischen Symptome zu bessern. Wegen der starken psychomotorischen Unruhe erhält sie in den ersten 2 Wochen eine Benzodiazepin-Medikation. Nach fünf Wochen hellt sich ihre Stimmung deutlich auf; nach weiteren zwei Wochen kann sie komplett remittiert entlassen werden.