Schizophrenie des Kindes- und Jugendalters - vub

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Christian Eggers
Schizophrenie des
Kindes- und
Jugendalters
Christian Eggers
Schizophrenie des Kindes- und Jugendalters
Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft
Christian Eggers
Schizophrenie des
Kindes- und
Jugendalters
Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft
Der Autor
Univ.-Prof. em. Dr. med. Christian Eggers
Rheinische Kliniken Essen
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
des Kindes- und Jugendalters
Kliniken der Universität Duisburg-Essen
Virchowstraße 174
45030 Essen
MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG
Zimmerstr. 11
10969 Berlin
www.mwv-berlin.de
ISBN 978-3-95466-173-2 (eBook: PDF)
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 MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Berlin, 2011
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Lektorat: Monika Laut-Zimmermann, Berlin
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Zuschriften und Kritik an:
MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Zimmerstr. 11, 10969 Berlin, [email protected]
Vorwort
Die Schizophrenie ist sicher die faszinierendste aller psychiatrischen Erkrankungen.
Besonders faszinierend ist die Frühschizophrenie (Beginn vor dem 13. Lebensjahr).
Während man früher davon ausging, dass die kindliche Schizophrenie durch eine
eher karge und einfache psychopathologische Symptomatologie gekennzeichnet sei,
muss diese Ansicht aufgrund detaillierter phänomenologischer und verlaufstypologischer Untersuchungen deutlich relativiert werden. Im Gegenteil, die individuelle
Vielfalt und der Facetten- und Variationsreichtum gerade von Früherkrankungen ist
imponierend. Aufgrund der Seltenheit des Krankheitsbildes ist die diagnostische und
prognostische Beurteilung der Frühschizophrenie immer noch mit z.T. großen
Schwierigkeiten verbunden, weshalb eine ausführliche monographische Darstellung
sinnvoll ist.
Der Autor hat das Glück gehabt, schon in jungen Jahren als Medizinalassistent Ende
der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts ausführliche Begegnungen mit jungen Erwachsenen gehabt zu haben, die im Kindesalter erkrankt waren. Die Gespräche mit
diesen Menschen waren sehr bewegend, sie gewährten tiefe Einblicke in die persönlichen leidvollen Erfahrungen der Patienten und deren Versuche, sie in ihr Leben zu
integrieren und zu bewältigen. Dabei offenbarten sie oftmals ein hohes Maß an Offenheit, Empfindsamkeit, Zutrauen und Feinfühligkeit, was so gar nicht dem Klischee der affektiven Nivellierung („Defekt“), die diesen Patienten eigen sei, entsprach. Dies zeigte sich auch darin, dass einige Patienten und deren Angehörige über
Jahre hinweg den Kontakt über Briefe aufrechterhielten. Bewegend war, dass knapp
30 Jahre nach der ersten Nachuntersuchung nicht selten unmittelbar ein herzlicher
Kontakt bestand und trotz des langen Intervalls bei telefonischen Terminvereinbarungen ein rasches Wiedererkennen bzw. -erinnern erfolgte. Ein Patient hat 45 Jahre nach der ersten und 16 Jahre nach der zweiten Nachuntersuchung spontan telefonisch die Verbindung wieder aufgenommen, eine freudige Überraschung!
Die bei den persönlichen Begegnungen mit den ehemaligen Patienten gemachten
Erfahrungen habe ich als sehr wertvoll, als ein Geschenk erlebt. Dafür bin ich sehr
dankbar, und es waren die Explorationen und Gespräche, die dazu geführt haben,
dass die Beschäftigung mit dem Krankheitsbild der Frühschizophrenie den Verfasser
nie los gelassen hat. Die Idee, eine Stiftung zur Verbesserung der poststationären
Weiterbetreuung junger Patienten mit einer schizophrenen Erkrankung zu errichten,
ist letztlich den Menschen zu verdanken, denen ich im Rahmen der beiden Nachuntersuchungen begegnet bin. Ihnen und den jungen Menschen, welche durch die
Stiftung betreut wurden und werden, ist diese Monographie gewidmet.
Zu danken habe ich Viola Heinrich, ganz besonders aber Frauke Virnich. Beide haben
mich bei der Literaturrecherche sowie beim Erstellen von Tabellen und Abbildungen
und beim Korrekturlesen unterstützt. Ebenso schulde ich Dank der Medizinisch Wissen­
schaftlichen Verlagsgesellschaft (MWV) in Berlin, Herrn Dr. Hopfe und seinen Mitarbeiterinnen, die es ermöglicht haben, dass das Buch sehr kurze Zeit nach Manuskriptablieferung erscheinen konnte.
Christian Eggers
v
Inhalt
1
2
3
4
Historisches, Definitionsbemühungen_ _________________________________________ 1
Klassifikation_______________________________________________________________ 7
Prävalenz__________________________________________________________________ 13
Symptomatologie___________________________________________________________ 17
4.1
4.2
4.3
4.4
Allgemeines ______________________________________________________________
Symptomatologie im frühen Kindesalter_ ______________________________________
Symptomatologie im späteren Kindesalter______________________________________
Schicksal von Wahn und Halluzinationen im Weiterverlauf_ _______________________
17
18
20
24
5 Denk- und Sprachstörungen von schizophrenen Kindern ___________________________ 39
5.1
5.2
5.3
5.4
5.5
5.6
5.7
5.8
5.9
Klinische Beobachtungen____________________________________________________
Charakteristika sprachlicher Auffälligkeiten bei schizophrenen Kindern ______________
Störung des Sprachverständnisses ____________________________________________
Linguistische Befunde_______________________________________________________
Differentialdiagnostische Hinweise____________________________________________
Prämorbide Sprech- und Sprachstörungen ______________________________________
Sprachstörung als Störung der Kommunikation__________________________________
Kognitionen_______________________________________________________________
Soziale Kognitionen_ _______________________________________________________
39
41
47
47
50
50
51
52
55
6 Diagnostik_________________________________________________________________ 59
6.1 Psychopathologische Diagnostik______________________________________________ 59
6.2 Interviewinstrumente_______________________________________________________ 60
6.3 Beurteilungsskalen zur Bestimmung der psychopathologischen Symptomatologie
und postpsychotischer Defizienzverfassungen___________________________________ 63
7 Differentialdiagnose_________________________________________________________ 65
7.1 Frühkindlicher Autismus Kanner und andere Autismusformen,
tiefgreifende Entwicklungsstörungen (PDD)_____________________________________
7.2 Schizotype Persönlichkeitsstörungen __________________________________________
7.3 Zwangsstörungen__________________________________________________________
7.4 Körperlich begründbare Psychosen____________________________________________
7.5 Akute vorübergehende psychotische Störungen_ ________________________________
7.6 Psychotische affektive Störungen_ ____________________________________________
7.7 Schizoaffektive Psychosen_ __________________________________________________
65
76
79
82
96
98
100
8 Verlauf und Prognose________________________________________________________ 117
8.1
8.2
8.3
8.4
Vorbemerkungen_ _________________________________________________________
Methodische Erfordernisse der Verlaufsforschung zur Schizophrenie_ _______________
Beschreibung der eigenen Verlaufsstudie_______________________________________
Ergebnisse________________________________________________________________
117
119
122
132
9 Frühentwicklung, prämorbide Symptome, Prodrome, Vorpostensyndrome_ ___________ 175
9.1
9.2
9.3
9.4
9.5
Einleitung_ _______________________________________________________________
Prämorbide Entwicklung_ ___________________________________________________
Vorläufersymptome_ _______________________________________________________
Diagnostisches Vorgehen zur Beurteilung des Frühverlaufs von Psychosen____________
Frühwarnzeichen___________________________________________________________
175
175
184
187
188
vii
Inhalt
10 Mortalität_ ________________________________________________________________ 195
11 Straftaten__________________________________________________________________ 205
12 Ätiopathogenese____________________________________________________________ 215
12.1 Vorbemerkungen__________________________________________________________
12.2 Genetische Faktoren _______________________________________________________
12.3 Hirnmorphologische Normabweichungen _____________________________________
12.4 Neuromorphologische Veränderungen bei Psychosen des Kindes- und Jugendalters_ __
12.5 Statik oder Progression_____________________________________________________
12.6 Histologische Befunde______________________________________________________
12.7 Diskonnektivität __________________________________________________________
12.8 Neurobiochemische Befunde und Hypothesen __________________________________
12.9 Prä- und Perinatale Risikofaktoren____________________________________________
12.10 Gen-Umwelt-Interaktion, Epigenetik__________________________________________
12.11 Psychosoziale Faktoren _____________________________________________________
12.12 Ätiologisch bedeutsame Stressoren _ _________________________________________
215
217
231
235
240
242
245
248
263
281
290
292
13 Therapie _ _________________________________________________________________ 303
13.1
13.2
13.3
13.4
13.5
13.6
Allgemeine Richtlinien_ ____________________________________________________
Pharmakotherapie_________________________________________________________
Psychosoziale Therapie_____________________________________________________
Familientherapie__________________________________________________________
Angehörigenarbeit_________________________________________________________
Individuelle Psychotherapie_________________________________________________
303
304
318
328
333
337
14 Beschreibung der pädagogisch-therapeutischen Modelleinrichtung
„Trialog“ in Essen___________________________________________________________ 339
15 Schule für Betreuung und berufliche Weiterbildung Jugendlicher
und junger Erwachsener mit einer schizophrenen Erkrankung ______________________ 351
15.1 An gute Noten muss ich mich erst gewöhnen –
Erfahrungsbericht aus einem Modellprojekt
für psychisch erkrankte Jugendliche und junge Erwachsene_______________________ 354
15.2 Bisherige Resultate aus dem Modellprojekt ____________________________________ 365
16 Unart aus therapeutischer Sicht _______________________________________________ 369
17 Tiefenpsychologisch-psychodynamische Aspekte
der Behandlung schizophrener Psychosen ______________________________________ 373
17.1 Allgemeines______________________________________________________________ 373
17.2 Spezielle Aspekte der Psychosentherapie bei Jugendlichen _ ______________________ 376
18 Stigma/Antistigma __________________________________________________________ 389
19 Stellungnahmen der Patienten zur Krankheit_ ___________________________________ 397
19.1
19.2
19.3
19.4
19.5
Vorbemerkungen _ ________________________________________________________
Reaktionsweisen während der akuten Erkrankung_______________________________
Stellungnahmen zur abgelaufenen akuten Psychose_____________________________
Stellungnahme bei chronischen Psychosen ____________________________________
Epikritische Betrachtung____________________________________________________
397
397
398
399
400
20 Zusammenfassende Darstellung einiger exemplarischer Krankheitsverläufe___________ 405
Literatur______________________________________________________________________ 451
Sachwortverzeichnis____________________________________________________________ 493
viii
1 Historisches, Definitionsbemühungen
Trotz weltweit intensiver Forschungsbemühungen, v.a. auf neurobiologischem und
molekulargenetischem Gebiet, hat die Schizophrenie („Rätsel des Menschseins selber“, K. Jaspers) nichts von ihrer Rätselhaftigkeit eingebüßt. Die Feststellung von
W. Griesinger in seiner Rede zur Eröffnung der psychiatrischen Klinik Berlin im Jahr
1867 ist nach wie vor aktuell:
„Unterdrücken Sie die Seelenbewegung nicht, die uns ergreift, wenn wir vor diesem Rätsel
des Schicksals stehen ..., die großen Gedanken kommen aus dem Herzen ...“.
Bei allen Erörterungen über Erscheinungsformen, Verlaufsweisen, Ursachen und
Behandlungsmöglichkeiten ist zu bedenken, was M. Bleuler 1987 sehr schön zum
Ausdruck gebracht hat:
„Nach unserem heutigen Wissen bedeutet Schizophrenie in den meisten Fällen die besondere Entwicklung, den besonderen Lebensweg eines Menschen unter besonders schwerwiegenden inneren und äußeren disharmonischen Bedingungen, eine Entwicklung, die einen Schwellenwert überschritten hat, nach welchem die Konfrontation der persönlichen inneren Welt
mit der Realität zu schwierig und zu schmerzhaft geworden und aufgegeben worden ist.“
Im Gegensatz zur Erwachsenenpsychiatrie bietet die Kinder- und Jugendpsychiatrie
bei der Erforschung kindlicher Psychosen erhebliche Vorteile: Durch die persönliche
Verfügbarkeit der Angehörigen ist das Spektrum der Erkenntnismöglichkeiten erheblich erweitert. Das eröffnet die Chance, detaillierte Informationen über den prä‑,
peri- und postnatalen Zeitraum und über die weiter zurückliegende sowie die dem
Ausbruch der Psychose unmittelbar vorausgehende Entwicklungsperiode des betroffenen Kindes zu erhalten. Beides steht heute im Zentrum der Forschung (Stichworte:
Früherkennung, Prävention). Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, den Verlauf
der psychotischen Erkrankung zumindest bis zur Adoleszenz oder zum frühen Er-
1
1 Historisches, Definitionsbemühungen
wachsenenalter zu verfolgen. Auch die Auswirkungen des psychotischen Zusammenbruchs und die dadurch ausgelösten Sorgen, Ängste und Irritationen bei den Familienangehörigen können u.U. unmittelbar miterlebt werden, sodass die Chance besteht, darauf therapeutisch Einfluss zu nehmen.
Die früh, d.h. vor dem 13. Lebensjahr beginnenden Schizophrenien sind allerdings
wegen ihrer Seltenheit bislang noch wenig erforscht, und die Beschäftigung mit
diesem Thema hat eine recht kurze Geschichte.
In der Epoche der Romantik glaubte man, die reine Kinderseele könne gar nicht an
einer Psychose erkranken, und so nimmt es nicht wunder, dass erst ab Mitte des
19. Jahrhunderts vereinzelt psychotiforme Störungen bei Kindern beschrieben worden sind (s. Tab. 1). Aus heutiger Sicht würden wir diese Störungen eher als „emotionale Störungen“ klassifizieren. Güntz (1859) sprach z.B. von sog. „Überbürdungspsychosen“, worunter er psychische Dekompensationsbilder als Folge schulischer „Überbürdung“ verstand; heute würden wir sagen, Folgezustände von „Schulstress“. Kelp
(1875) berichtete über 3 Kinder mit psychotischen Störungen, die jedoch nach modernen Maßstäben nicht als kindliche Schizophrenie zu klassifizieren wären. Einmal
handelte es sich um ein histrionisches Zustandsbild, einmal um eine „melancholie
attonita“ und im 3. Fall um eine Erkrankung von zirkulärem Typus mit hochgradigen
Erregungen, Schmieren mit Kot usw., die unverkennbar die Züge der Dementia praecox tragen (L. Voigt 1919). Bei diesem Patienten liegt eine hirnorganische Ursache
nahe, das Krankheitsbild wäre am ehesten als eine frühkindliche Psychose vom Typ
der Dementia praecocissima Sante de Sanctis (1908, 1958) bzw. eines Kramer-PollnowSyndroms (Kramer u. Pollnow 1932) zu diagnostizieren.
Tab. 1
Beschriebene psychotiforme Störungen bei Kindern (Mitte des 19. Jahrhunderts)
Frühe Erstbeschreibungen
FRIEDREICH (1835)
GRIESINGER (1845)
GÜNTZ (1859)
MOREL (1860)
EMMINGHAUS (1887)
MOREAU DE TOURS (1888)
CHASTENET (1890)
Bei den frühen Beschreibungen psychotiformer Erkrankungen des Kindesalters im
späten 19. und frühen 20. Jahrhundert wurden häufig organisch bedingte psychotische Störungen miteinbezogen, z.B. im Rahmen einer Masernerkrankung oder eines
zerebralen Anfallsleidens. Vereinzelt werden aber eindeutig schizophrene Psychosen
bei Kindern beschrieben mit den klassischen Symptomen wie
nn katatone und stuporöse Symptome,
nn hebephrene, läppisch-manierierte Verhaltensweisen,
nn Zerfahrenheit,
nn Inkohärenz und Sprunghaftigkeit des Denkens und Wollens,
2
�
1 Historisches, Definitionsbemühungen
nn Negativismus,
nn Mutismus,
nn Befehlsautomatismus,
nn paranoide Wahnideen (vorwiegend Verfolgung und Vergiftung),
nn akustische, optische und haptische Halluzinationen,
nn sprachliche und motorische Stereotypien,
nn Logorrhoe,
nn Echolalie,
nn Phonographismus.
Erst in der Mitte des letzten Jahrhunderts wurde von verschiedenen Kinderpsychiatern das Krankheitsbild „kindliche Schizophrenie“ klinisch näher umgrenzt. Hier
sind in erster Linie die beiden Schweizer Kinder- und Jugendpsychiater Jakob Lutz
(1937, 1938) und Moritz Tramer (1964) sowie die russische Kinderforscherin G. Ssucharewa (1932, 1968) zu nennen. Die Beschreibungen entsprechen weitgehend den heutigen diagnostischen und klassifikatorischen Maßstäben.
Vor Einführung der DSM-III- bzw. DSM-III-R- und der ICD-9-Kriterien wurden v.a. in
der angloamerikanischen Literatur ganz heterogene Krankheitsbilder unter dem
Oberbegriff „childhood schizophrenia“ subsumiert, wie autistische Syndrome, tiefgreifende Entwicklungsstörungen oder frühkindliche Demenzprozesse mit autistoiden Verhaltensweisen sowie sprachlichen und motorischen Auffälligkeiten. So stellte die berühmte amerikanische Kinderpsychiaterin Lauretta Bender (1953, 1956, 1958)
fest: „Childhood schizophrenia does not always mean psychosis“. Der bekannte englische Kinderpsychiater M. Rutter (1972) bezeichnete die diagnostische Situation, in
Bezug auf die kindliche Schizophrenie als „chaotisch“ und folgerte daraus, dass der
Begriff ausgedient habe, weil er nicht mehr der wissenschaftlichen Verständigung
und Klarheit diene, es sei deshalb höchste Zeit, ihn „höflich und respektvoll, aber
fest“ in das Schubfach „Geschichte der Psychiatrie“ zu sperren. Nun, dies war ein
voreiliger Vorschlag, der die Schwierigkeit einer befriedigenden Definition kindlicher
Psychosen widerspiegelt. Dies hängt ganz wesentlich damit zusammen, dass psychische Prozesse dynamischer Natur sind, nicht statisch, und dass eine heterogene Vielfalt
organischer, konstitutioneller, reifungsbiologischer, situativer, lebensgeschichtlicher und genetischer Determinanten sowohl das klinische Erscheinungsbild als auch
die Verlaufsgestalt psychischer Erkrankungen bestimmen. Dies ist bei nosographischen, diagnostischen, differentialtypologischen und therapeutischen Überlegungen
stets mit zu bedenken.
Für die Kinderpsychiatrie sinnvoll ist eine Beziehungssetzung zwischen Psychosedefinitionen und entwicklungspsychologischen Reifestadien bzw. Altersphasen des
Kindes. Unter Psychose kann dabei ganz allgemein eine schwere Störung der Beziehung
sowohl zum eigenen Selbst als auch zur personalen Mit- und dinglichen Umwelt verstanden werden. Diese Beeinträchtigung ist je nach dem Grad der Ich-Reife und dem erreichten
Niveau der strukturellen Ausformung der Persönlichkeit sowie in Abhängigkeit vom
Grundmorbus und von den erwähnten Determinanten unterschiedlich ausgeprägt.
Unter entwicklungspsychologischen Aspekten lassen sich demnach verschiedene Psychoseformen beschreiben, die von den französischen Autoren als „psychoses de développement“ zusammengefasst werden. In frühen Entwicklungsstadien erscheinen psychotische Beziehungsstörungen unter dem Bild des frühkindlichen Autismus (Kanner 1957) oder der symbiotischen Psychose (Mahler 1954). Hierzu gehören weiterhin
3
1 Historisches, Definitionsbemühungen
die pseudodefektive Form (Bender 1956) und der no-onset-type (Despert 1938) der kindlichen Schizophrenie. Die von Despert gewählte Bezeichnung weist schon darauf
hin, dass ein eigentlicher Anfang und damit eine unauffällige prämorbide Entwicklung nicht abgrenzbar sind. Letzteres ist jedoch bei solchen Psychosen der Fall, die
sich um das 3. bis 5. Lebensjahr herum manifestieren wie die Dementia infantilis
Heller, die Dementia praecocissima Sante de Sanctis (1908) und die pseudoneurotische Form der kindlichen Schizophrenie (Bender 1956).
Die nosologische Zugehörigkeit dieser Psychosengruppen zur kindlichen Schizophrenie ist umstritten. Manche Autoren halten sie für Früh- oder Sonderformen schizophrener Erkrankungen. Solche Hypothesen sind jedoch recht spekulativ; je jünger
das Kind ist, desto größer ist die Unsicherheit der nosologischen Zuordnung einer
psychotiformen Störung. In diesem Alter ist die Gefahr groß, dass organische Befunde und eine bestehende frühkindliche Hirnschädigung übersehen werden.
Die Fähigkeit zur Produktion psychotischer Symptome, die denjenigen Erwachsener
ähneln oder gar gleichen, hat bereits ein differenziertes geistig-seelisches Entwicklungsniveau, einen höheren Grad der Ich-Reife, zur Voraussetzung. Es ist dann eine
solche Ich-Strukturierung erreicht, die z.B. das Entstehen von Schuldgefühlen oder
Minderwertigkeitsideen und die Erfahrung von Ich-Fremdheit ermöglicht, was wiederum das Erleben der eigenen Identität zur Voraussetzung hat. („Ich bin, ich existiere, ich sammle Erfahrungen und bereichere mich und habe eine introjektive und
projektive Interaktion mit dem Nicht-Ich, der wirklichen Welt der gemeinsamen
Realität“, Winnicott 1974). Ein solches psychisches Integrationsniveau ermöglicht
erst depressive oder schizophrene Psychosen, die als late-onset-psychoses bzw. psychoses de la phase de latence (Beginn kaum vor dem 5. Lebensjahr) bezeichnet werden, im Gegensatz zu den autistischen, symbiotischen oder organischen frühkindlichen Psychosen des Säuglings- und Kleinkindalters (infantile psychoses, early onset
psychoses, psychoses précoces).
Inzwischen haben sorgfältige klinisch-phänomenologische und verlaufstypologische
Untersuchungen die Existenz kindlicher Schizophrenien bewiesen. U.a. durch eigene Langzeituntersuchungen und durch die Verwendung der modernen Klassifikationssysteme konnte die nosologische Zusammengehörigkeit schizophrener Psychosen des Kindes- und des Erwachsenenalters belegt werden (Eggers u. Bunk 1997, 1999).
Für das Kindesalter ist eine alters- und entwicklungsbezogene Einteilung sinnvoll:
nn Beginn vor dem 11./12. Lebensjahr: sehr früh beginnende Schizophrenien (Very
Early Onset Schizophrenia, VEOS)
nn Beginn zwischen dem 12. und 15. Lebensjahr: präpuberal bzw. früh beginnen-
de Schizophrenie (Early Onset Schizophrenia, EOS)
nn Beginn zwischen 15 und 20 Jahren: Psychosen der Adoleszenz (AdOS)
In den Richtlinien der Amerikanischen Akademie für Kinder- und Jugendpsychiatrie
wird nur zwischen VEOS (< 13 Jahre) und EOS (< 18 Jahre) unterschieden (McClellan & Werry 2001).
Früher wurden der frühkindliche Autismus (Kanner), frühe desintegrative Psychosen
und Demenzprozesse mit psychotiformen Symptomen, welche sich vor dem 5. Lebensjahr manifestieren, als EOS, und Psychosen mit Beginn nach dem 5. Lebensjahr
als LOS (Late Onset Schizophrenia) bezeichnet, um zu einer nosologischen Abgrenzung zwischen den sowohl ätiologisch als auch symptomatologisch heterogenen
4
�
1 Historisches, Definitionsbemühungen
Krankheitsbildern zu gelangen (Kolvin 1971). Die Arbeitsgruppe um Judith Rapoport
am NIMH in Washington hat eine genauere nosologische und symptomatologische
Differenzierung sehr früh, i.d.R. vor dem 5. Lebensjahr sich manifestierenden psychotiformen Syndromen einerseits und eigentlichen frühkindlichen Schizophrenien
(VEOS) andererseits vorgenommen (Kumra et al. 1998). Kinder der ersten Gruppe
werden als „multidimensional beeinträchtigt“ bezeichnet und den „nicht näher zu klassifizierenden Psychosen des Kindesalters“ zugerechnet.
Kennzeichnend für die erste Gruppe sind
1. ein gegenüber den VEOS früherer Erkrankungsbeginn,
2. deutliche Knabenwendigkeit im Verhältnis 2:1 bzw. 3:1,
3. gestörter Realitätsbezug, Verschwimmen von Phantasie und Realität, flüchtige Beziehungsideen und Wahrnehmungsstörungen,
4. hohe emotionale Labilität mit fast täglich auftretenden unmotivierten, situationsunabhängigen Wut- und Erregungszuständen,
5. multiple kognitive Defizite und Beeinträchtigungen der Informationsverarbeitung und
6. Abwesenheit von formalen Denkstörungen.
Zu dieser Gruppe gehörig sind tiefgreifende Entwicklungsstörungen wie u.a. frühkindlicher Autismus Kanner, desintegrative dementielle Zustandsbilder mit motorischen und sprachlichen Auffälligkeiten, wie z.B. Echolalie, pronominale Umkehr,
multiple Dysgrammatismen, Stereotypien, Manierismen, soziales Rückzugsverhalten, Neigung zu Selbstverletzungen. Typisch für diese frühen Entwicklungsstörungen ist eine deutliche Knabenwendigkeit im Gegensatz zu den eigentlichen VEOS,
bei denen das Geschlechtsverhältnis vor Einsetzen der Pubertät ausgewogen ist
(Eggers 1973, Eggers & Bunk 1997, Kumra et al. 1998, Werry et al. 1991). Dagegen berichten Autoren, die Kinder mit einem sehr frühen Beginn und mit Symptomen einer
tiefgreifenden Entwicklungsstörung (Pervasive Developmental Disorder, PDD) in ihre
Untersuchung einbeziehen, über ein Überwiegen des männlichen Geschlechts. Diese Kinder zeigen typische Phänomene wie autistische Beziehungs- und Verhaltensstörungen, Automutilationen, fehlende soziale Reagibilität und starke Retardierung
der sprachlichen und motorischen Entwicklung.
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