Christian Eggers Schizophrenie des Kindes- und Jugendalters Christian Eggers Schizophrenie des Kindes- und Jugendalters Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Christian Eggers Schizophrenie des Kindes- und Jugendalters Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Der Autor Univ.-Prof. em. Dr. med. Christian Eggers Rheinische Kliniken Essen Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters Kliniken der Universität Duisburg-Essen Virchowstraße 174 45030 Essen MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG Zimmerstr. 11 10969 Berlin www.mwv-berlin.de ISBN 978-3-95466-173-2 (eBook: PDF) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte b­ ibliografische Informationen sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Berlin, 2011 Dieses Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und MarkenschutzGesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Die Verfasser haben große Mühe darauf verwandt, die fachlichen Inhalte auf den Stand der Wissenschaft bei Drucklegung zu bringen. Dennoch sind Irrtümer oder Druckfehler nie auszuschließen. Daher kann der Verlag für Angaben zum diagnostischen oder therapeutischen Vorgehen (zum Beispiel Dosierungsanweisungen oder Applikationsformen) keine Gewähr übernehmen. Derartige Angaben müssen vom Leser im Einzelfall anhand der Produktinformation der jeweiligen Hersteller und anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Eventuelle Errata zum Download finden Sie jederzeit aktuell auf der Verlags-Website. Produkt-/Projektmanagement: Silke Hutt, Berlin Lektorat: Monika Laut-Zimmermann, Berlin Layout & Satz: eScriptum GmbH & Co KG – Digital Solutions, Berlin Zuschriften und Kritik an: MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Zimmerstr. 11, 10969 Berlin, [email protected] Vorwort Die Schizophrenie ist sicher die faszinierendste aller psychiatrischen Erkrankungen. Besonders faszinierend ist die Frühschizophrenie (Beginn vor dem 13. Lebensjahr). Während man früher davon ausging, dass die kindliche Schizophrenie durch eine eher karge und einfache psychopathologische Symptomatologie gekennzeichnet sei, muss diese Ansicht aufgrund detaillierter phänomenologischer und verlaufstypologischer Untersuchungen deutlich relativiert werden. Im Gegenteil, die individuelle Vielfalt und der Facetten- und Variationsreichtum gerade von Früherkrankungen ist imponierend. Aufgrund der Seltenheit des Krankheitsbildes ist die diagnostische und prognostische Beurteilung der Frühschizophrenie immer noch mit z.T. großen Schwierigkeiten verbunden, weshalb eine ausführliche monographische Darstellung sinnvoll ist. Der Autor hat das Glück gehabt, schon in jungen Jahren als Medizinalassistent Ende der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts ausführliche Begegnungen mit jungen Erwachsenen gehabt zu haben, die im Kindesalter erkrankt waren. Die Gespräche mit diesen Menschen waren sehr bewegend, sie gewährten tiefe Einblicke in die persönlichen leidvollen Erfahrungen der Patienten und deren Versuche, sie in ihr Leben zu integrieren und zu bewältigen. Dabei offenbarten sie oftmals ein hohes Maß an Offenheit, Empfindsamkeit, Zutrauen und Feinfühligkeit, was so gar nicht dem Klischee der affektiven Nivellierung („Defekt“), die diesen Patienten eigen sei, entsprach. Dies zeigte sich auch darin, dass einige Patienten und deren Angehörige über Jahre hinweg den Kontakt über Briefe aufrechterhielten. Bewegend war, dass knapp 30 Jahre nach der ersten Nachuntersuchung nicht selten unmittelbar ein herzlicher Kontakt bestand und trotz des langen Intervalls bei telefonischen Terminvereinbarungen ein rasches Wiedererkennen bzw. -erinnern erfolgte. Ein Patient hat 45 Jahre nach der ersten und 16 Jahre nach der zweiten Nachuntersuchung spontan telefonisch die Verbindung wieder aufgenommen, eine freudige Überraschung! Die bei den persönlichen Begegnungen mit den ehemaligen Patienten gemachten Erfahrungen habe ich als sehr wertvoll, als ein Geschenk erlebt. Dafür bin ich sehr dankbar, und es waren die Explorationen und Gespräche, die dazu geführt haben, dass die Beschäftigung mit dem Krankheitsbild der Frühschizophrenie den Verfasser nie los gelassen hat. Die Idee, eine Stiftung zur Verbesserung der poststationären Weiterbetreuung junger Patienten mit einer schizophrenen Erkrankung zu errichten, ist letztlich den Menschen zu verdanken, denen ich im Rahmen der beiden Nachuntersuchungen begegnet bin. Ihnen und den jungen Menschen, welche durch die Stiftung betreut wurden und werden, ist diese Monographie gewidmet. Zu danken habe ich Viola Heinrich, ganz besonders aber Frauke Virnich. Beide haben mich bei der Literaturrecherche sowie beim Erstellen von Tabellen und Abbildungen und beim Korrekturlesen unterstützt. Ebenso schulde ich Dank der Medizinisch Wissen­ schaftlichen Verlagsgesellschaft (MWV) in Berlin, Herrn Dr. Hopfe und seinen Mitarbeiterinnen, die es ermöglicht haben, dass das Buch sehr kurze Zeit nach Manuskriptablieferung erscheinen konnte. Christian Eggers v Inhalt 1 2 3 4 Historisches, Definitionsbemühungen_ _________________________________________ 1 Klassifikation_______________________________________________________________ 7 Prävalenz__________________________________________________________________ 13 Symptomatologie___________________________________________________________ 17 4.1 4.2 4.3 4.4 Allgemeines ______________________________________________________________ Symptomatologie im frühen Kindesalter_ ______________________________________ Symptomatologie im späteren Kindesalter______________________________________ Schicksal von Wahn und Halluzinationen im Weiterverlauf_ _______________________ 17 18 20 24 5 Denk- und Sprachstörungen von schizophrenen Kindern ___________________________ 39 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 5.7 5.8 5.9 Klinische Beobachtungen____________________________________________________ Charakteristika sprachlicher Auffälligkeiten bei schizophrenen Kindern ______________ Störung des Sprachverständnisses ____________________________________________ Linguistische Befunde_______________________________________________________ Differentialdiagnostische Hinweise____________________________________________ Prämorbide Sprech- und Sprachstörungen ______________________________________ Sprachstörung als Störung der Kommunikation__________________________________ Kognitionen_______________________________________________________________ Soziale Kognitionen_ _______________________________________________________ 39 41 47 47 50 50 51 52 55 6 Diagnostik_________________________________________________________________ 59 6.1 Psychopathologische Diagnostik______________________________________________ 59 6.2 Interviewinstrumente_______________________________________________________ 60 6.3 Beurteilungsskalen zur Bestimmung der psychopathologischen Symptomatologie und postpsychotischer Defizienzverfassungen___________________________________ 63 7 Differentialdiagnose_________________________________________________________ 65 7.1 Frühkindlicher Autismus Kanner und andere Autismusformen, tiefgreifende Entwicklungsstörungen (PDD)_____________________________________ 7.2 Schizotype Persönlichkeitsstörungen __________________________________________ 7.3 Zwangsstörungen__________________________________________________________ 7.4 Körperlich begründbare Psychosen____________________________________________ 7.5 Akute vorübergehende psychotische Störungen_ ________________________________ 7.6 Psychotische affektive Störungen_ ____________________________________________ 7.7 Schizoaffektive Psychosen_ __________________________________________________ 65 76 79 82 96 98 100 8 Verlauf und Prognose________________________________________________________ 117 8.1 8.2 8.3 8.4 Vorbemerkungen_ _________________________________________________________ Methodische Erfordernisse der Verlaufsforschung zur Schizophrenie_ _______________ Beschreibung der eigenen Verlaufsstudie_______________________________________ Ergebnisse________________________________________________________________ 117 119 122 132 9 Frühentwicklung, prämorbide Symptome, Prodrome, Vorpostensyndrome_ ___________ 175 9.1 9.2 9.3 9.4 9.5 Einleitung_ _______________________________________________________________ Prämorbide Entwicklung_ ___________________________________________________ Vorläufersymptome_ _______________________________________________________ Diagnostisches Vorgehen zur Beurteilung des Frühverlaufs von Psychosen____________ Frühwarnzeichen___________________________________________________________ 175 175 184 187 188 vii Inhalt 10 Mortalität_ ________________________________________________________________ 195 11 Straftaten__________________________________________________________________ 205 12 Ätiopathogenese____________________________________________________________ 215 12.1 Vorbemerkungen__________________________________________________________ 12.2 Genetische Faktoren _______________________________________________________ 12.3 Hirnmorphologische Normabweichungen _____________________________________ 12.4 Neuromorphologische Veränderungen bei Psychosen des Kindes- und Jugendalters_ __ 12.5 Statik oder Progression_____________________________________________________ 12.6 Histologische Befunde______________________________________________________ 12.7 Diskonnektivität __________________________________________________________ 12.8 Neurobiochemische Befunde und Hypothesen __________________________________ 12.9 Prä- und Perinatale Risikofaktoren____________________________________________ 12.10 Gen-Umwelt-Interaktion, Epigenetik__________________________________________ 12.11 Psychosoziale Faktoren _____________________________________________________ 12.12 Ätiologisch bedeutsame Stressoren _ _________________________________________ 215 217 231 235 240 242 245 248 263 281 290 292 13 Therapie _ _________________________________________________________________ 303 13.1 13.2 13.3 13.4 13.5 13.6 Allgemeine Richtlinien_ ____________________________________________________ Pharmakotherapie_________________________________________________________ Psychosoziale Therapie_____________________________________________________ Familientherapie__________________________________________________________ Angehörigenarbeit_________________________________________________________ Individuelle Psychotherapie_________________________________________________ 303 304 318 328 333 337 14 Beschreibung der pädagogisch-therapeutischen Modelleinrichtung „Trialog“ in Essen___________________________________________________________ 339 15 Schule für Betreuung und berufliche Weiterbildung Jugendlicher und junger Erwachsener mit einer schizophrenen Erkrankung ______________________ 351 15.1 An gute Noten muss ich mich erst gewöhnen – Erfahrungsbericht aus einem Modellprojekt für psychisch erkrankte Jugendliche und junge Erwachsene_______________________ 354 15.2 Bisherige Resultate aus dem Modellprojekt ____________________________________ 365 16 Unart aus therapeutischer Sicht _______________________________________________ 369 17 Tiefenpsychologisch-psychodynamische Aspekte der Behandlung schizophrener Psychosen ______________________________________ 373 17.1 Allgemeines______________________________________________________________ 373 17.2 Spezielle Aspekte der Psychosentherapie bei Jugendlichen _ ______________________ 376 18 Stigma/Antistigma __________________________________________________________ 389 19 Stellungnahmen der Patienten zur Krankheit_ ___________________________________ 397 19.1 19.2 19.3 19.4 19.5 Vorbemerkungen _ ________________________________________________________ Reaktionsweisen während der akuten Erkrankung_______________________________ Stellungnahmen zur abgelaufenen akuten Psychose_____________________________ Stellungnahme bei chronischen Psychosen ____________________________________ Epikritische Betrachtung____________________________________________________ 397 397 398 399 400 20 Zusammenfassende Darstellung einiger exemplarischer Krankheitsverläufe___________ 405 Literatur______________________________________________________________________ 451 Sachwortverzeichnis____________________________________________________________ 493 viii 1 Historisches, Definitionsbemühungen Trotz weltweit intensiver Forschungsbemühungen, v.a. auf neurobiologischem und molekulargenetischem Gebiet, hat die Schizophrenie („Rätsel des Menschseins selber“, K. Jaspers) nichts von ihrer Rätselhaftigkeit eingebüßt. Die Feststellung von W. Griesinger in seiner Rede zur Eröffnung der psychiatrischen Klinik Berlin im Jahr 1867 ist nach wie vor aktuell: „Unterdrücken Sie die Seelenbewegung nicht, die uns ergreift, wenn wir vor diesem Rätsel des Schicksals stehen ..., die großen Gedanken kommen aus dem Herzen ...“. Bei allen Erörterungen über Erscheinungsformen, Verlaufsweisen, Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten ist zu bedenken, was M. Bleuler 1987 sehr schön zum Ausdruck gebracht hat: „Nach unserem heutigen Wissen bedeutet Schizophrenie in den meisten Fällen die besondere Entwicklung, den besonderen Lebensweg eines Menschen unter besonders schwerwiegenden inneren und äußeren disharmonischen Bedingungen, eine Entwicklung, die einen Schwellenwert überschritten hat, nach welchem die Konfrontation der persönlichen inneren Welt mit der Realität zu schwierig und zu schmerzhaft geworden und aufgegeben worden ist.“ Im Gegensatz zur Erwachsenenpsychiatrie bietet die Kinder- und Jugendpsychiatrie bei der Erforschung kindlicher Psychosen erhebliche Vorteile: Durch die persönliche Verfügbarkeit der Angehörigen ist das Spektrum der Erkenntnismöglichkeiten erheblich erweitert. Das eröffnet die Chance, detaillierte Informationen über den prä‑, peri- und postnatalen Zeitraum und über die weiter zurückliegende sowie die dem Ausbruch der Psychose unmittelbar vorausgehende Entwicklungsperiode des betroffenen Kindes zu erhalten. Beides steht heute im Zentrum der Forschung (Stichworte: Früherkennung, Prävention). Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, den Verlauf der psychotischen Erkrankung zumindest bis zur Adoleszenz oder zum frühen Er- 1 1 Historisches, Definitionsbemühungen wachsenenalter zu verfolgen. Auch die Auswirkungen des psychotischen Zusammenbruchs und die dadurch ausgelösten Sorgen, Ängste und Irritationen bei den Familienangehörigen können u.U. unmittelbar miterlebt werden, sodass die Chance besteht, darauf therapeutisch Einfluss zu nehmen. Die früh, d.h. vor dem 13. Lebensjahr beginnenden Schizophrenien sind allerdings wegen ihrer Seltenheit bislang noch wenig erforscht, und die Beschäftigung mit diesem Thema hat eine recht kurze Geschichte. In der Epoche der Romantik glaubte man, die reine Kinderseele könne gar nicht an einer Psychose erkranken, und so nimmt es nicht wunder, dass erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts vereinzelt psychotiforme Störungen bei Kindern beschrieben worden sind (s. Tab. 1). Aus heutiger Sicht würden wir diese Störungen eher als „emotionale Störungen“ klassifizieren. Güntz (1859) sprach z.B. von sog. „Überbürdungspsychosen“, worunter er psychische Dekompensationsbilder als Folge schulischer „Überbürdung“ verstand; heute würden wir sagen, Folgezustände von „Schulstress“. Kelp (1875) berichtete über 3 Kinder mit psychotischen Störungen, die jedoch nach modernen Maßstäben nicht als kindliche Schizophrenie zu klassifizieren wären. Einmal handelte es sich um ein histrionisches Zustandsbild, einmal um eine „melancholie attonita“ und im 3. Fall um eine Erkrankung von zirkulärem Typus mit hochgradigen Erregungen, Schmieren mit Kot usw., die unverkennbar die Züge der Dementia praecox tragen (L. Voigt 1919). Bei diesem Patienten liegt eine hirnorganische Ursache nahe, das Krankheitsbild wäre am ehesten als eine frühkindliche Psychose vom Typ der Dementia praecocissima Sante de Sanctis (1908, 1958) bzw. eines Kramer-PollnowSyndroms (Kramer u. Pollnow 1932) zu diagnostizieren. Tab. 1 Beschriebene psychotiforme Störungen bei Kindern (Mitte des 19. Jahrhunderts) Frühe Erstbeschreibungen FRIEDREICH (1835) GRIESINGER (1845) GÜNTZ (1859) MOREL (1860) EMMINGHAUS (1887) MOREAU DE TOURS (1888) CHASTENET (1890) Bei den frühen Beschreibungen psychotiformer Erkrankungen des Kindesalters im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert wurden häufig organisch bedingte psychotische Störungen miteinbezogen, z.B. im Rahmen einer Masernerkrankung oder eines zerebralen Anfallsleidens. Vereinzelt werden aber eindeutig schizophrene Psychosen bei Kindern beschrieben mit den klassischen Symptomen wie nn katatone und stuporöse Symptome, nn hebephrene, läppisch-manierierte Verhaltensweisen, nn Zerfahrenheit, nn Inkohärenz und Sprunghaftigkeit des Denkens und Wollens, 2 � 1 Historisches, Definitionsbemühungen nn Negativismus, nn Mutismus, nn Befehlsautomatismus, nn paranoide Wahnideen (vorwiegend Verfolgung und Vergiftung), nn akustische, optische und haptische Halluzinationen, nn sprachliche und motorische Stereotypien, nn Logorrhoe, nn Echolalie, nn Phonographismus. Erst in der Mitte des letzten Jahrhunderts wurde von verschiedenen Kinderpsychiatern das Krankheitsbild „kindliche Schizophrenie“ klinisch näher umgrenzt. Hier sind in erster Linie die beiden Schweizer Kinder- und Jugendpsychiater Jakob Lutz (1937, 1938) und Moritz Tramer (1964) sowie die russische Kinderforscherin G. Ssucharewa (1932, 1968) zu nennen. Die Beschreibungen entsprechen weitgehend den heutigen diagnostischen und klassifikatorischen Maßstäben. Vor Einführung der DSM-III- bzw. DSM-III-R- und der ICD-9-Kriterien wurden v.a. in der angloamerikanischen Literatur ganz heterogene Krankheitsbilder unter dem Oberbegriff „childhood schizophrenia“ subsumiert, wie autistische Syndrome, tiefgreifende Entwicklungsstörungen oder frühkindliche Demenzprozesse mit autistoiden Verhaltensweisen sowie sprachlichen und motorischen Auffälligkeiten. So stellte die berühmte amerikanische Kinderpsychiaterin Lauretta Bender (1953, 1956, 1958) fest: „Childhood schizophrenia does not always mean psychosis“. Der bekannte englische Kinderpsychiater M. Rutter (1972) bezeichnete die diagnostische Situation, in Bezug auf die kindliche Schizophrenie als „chaotisch“ und folgerte daraus, dass der Begriff ausgedient habe, weil er nicht mehr der wissenschaftlichen Verständigung und Klarheit diene, es sei deshalb höchste Zeit, ihn „höflich und respektvoll, aber fest“ in das Schubfach „Geschichte der Psychiatrie“ zu sperren. Nun, dies war ein voreiliger Vorschlag, der die Schwierigkeit einer befriedigenden Definition kindlicher Psychosen widerspiegelt. Dies hängt ganz wesentlich damit zusammen, dass psychische Prozesse dynamischer Natur sind, nicht statisch, und dass eine heterogene Vielfalt organischer, konstitutioneller, reifungsbiologischer, situativer, lebensgeschichtlicher und genetischer Determinanten sowohl das klinische Erscheinungsbild als auch die Verlaufsgestalt psychischer Erkrankungen bestimmen. Dies ist bei nosographischen, diagnostischen, differentialtypologischen und therapeutischen Überlegungen stets mit zu bedenken. Für die Kinderpsychiatrie sinnvoll ist eine Beziehungssetzung zwischen Psychosedefinitionen und entwicklungspsychologischen Reifestadien bzw. Altersphasen des Kindes. Unter Psychose kann dabei ganz allgemein eine schwere Störung der Beziehung sowohl zum eigenen Selbst als auch zur personalen Mit- und dinglichen Umwelt verstanden werden. Diese Beeinträchtigung ist je nach dem Grad der Ich-Reife und dem erreichten Niveau der strukturellen Ausformung der Persönlichkeit sowie in Abhängigkeit vom Grundmorbus und von den erwähnten Determinanten unterschiedlich ausgeprägt. Unter entwicklungspsychologischen Aspekten lassen sich demnach verschiedene Psychoseformen beschreiben, die von den französischen Autoren als „psychoses de développement“ zusammengefasst werden. In frühen Entwicklungsstadien erscheinen psychotische Beziehungsstörungen unter dem Bild des frühkindlichen Autismus (Kanner 1957) oder der symbiotischen Psychose (Mahler 1954). Hierzu gehören weiterhin 3 1 Historisches, Definitionsbemühungen die pseudodefektive Form (Bender 1956) und der no-onset-type (Despert 1938) der kindlichen Schizophrenie. Die von Despert gewählte Bezeichnung weist schon darauf hin, dass ein eigentlicher Anfang und damit eine unauffällige prämorbide Entwicklung nicht abgrenzbar sind. Letzteres ist jedoch bei solchen Psychosen der Fall, die sich um das 3. bis 5. Lebensjahr herum manifestieren wie die Dementia infantilis Heller, die Dementia praecocissima Sante de Sanctis (1908) und die pseudoneurotische Form der kindlichen Schizophrenie (Bender 1956). Die nosologische Zugehörigkeit dieser Psychosengruppen zur kindlichen Schizophrenie ist umstritten. Manche Autoren halten sie für Früh- oder Sonderformen schizophrener Erkrankungen. Solche Hypothesen sind jedoch recht spekulativ; je jünger das Kind ist, desto größer ist die Unsicherheit der nosologischen Zuordnung einer psychotiformen Störung. In diesem Alter ist die Gefahr groß, dass organische Befunde und eine bestehende frühkindliche Hirnschädigung übersehen werden. Die Fähigkeit zur Produktion psychotischer Symptome, die denjenigen Erwachsener ähneln oder gar gleichen, hat bereits ein differenziertes geistig-seelisches Entwicklungsniveau, einen höheren Grad der Ich-Reife, zur Voraussetzung. Es ist dann eine solche Ich-Strukturierung erreicht, die z.B. das Entstehen von Schuldgefühlen oder Minderwertigkeitsideen und die Erfahrung von Ich-Fremdheit ermöglicht, was wiederum das Erleben der eigenen Identität zur Voraussetzung hat. („Ich bin, ich existiere, ich sammle Erfahrungen und bereichere mich und habe eine introjektive und projektive Interaktion mit dem Nicht-Ich, der wirklichen Welt der gemeinsamen Realität“, Winnicott 1974). Ein solches psychisches Integrationsniveau ermöglicht erst depressive oder schizophrene Psychosen, die als late-onset-psychoses bzw. psychoses de la phase de latence (Beginn kaum vor dem 5. Lebensjahr) bezeichnet werden, im Gegensatz zu den autistischen, symbiotischen oder organischen frühkindlichen Psychosen des Säuglings- und Kleinkindalters (infantile psychoses, early onset psychoses, psychoses précoces). Inzwischen haben sorgfältige klinisch-phänomenologische und verlaufstypologische Untersuchungen die Existenz kindlicher Schizophrenien bewiesen. U.a. durch eigene Langzeituntersuchungen und durch die Verwendung der modernen Klassifikationssysteme konnte die nosologische Zusammengehörigkeit schizophrener Psychosen des Kindes- und des Erwachsenenalters belegt werden (Eggers u. Bunk 1997, 1999). Für das Kindesalter ist eine alters- und entwicklungsbezogene Einteilung sinnvoll: nn Beginn vor dem 11./12. Lebensjahr: sehr früh beginnende Schizophrenien (Very Early Onset Schizophrenia, VEOS) nn Beginn zwischen dem 12. und 15. Lebensjahr: präpuberal bzw. früh beginnen- de Schizophrenie (Early Onset Schizophrenia, EOS) nn Beginn zwischen 15 und 20 Jahren: Psychosen der Adoleszenz (AdOS) In den Richtlinien der Amerikanischen Akademie für Kinder- und Jugendpsychiatrie wird nur zwischen VEOS (< 13 Jahre) und EOS (< 18 Jahre) unterschieden (McClellan & Werry 2001). Früher wurden der frühkindliche Autismus (Kanner), frühe desintegrative Psychosen und Demenzprozesse mit psychotiformen Symptomen, welche sich vor dem 5. Lebensjahr manifestieren, als EOS, und Psychosen mit Beginn nach dem 5. Lebensjahr als LOS (Late Onset Schizophrenia) bezeichnet, um zu einer nosologischen Abgrenzung zwischen den sowohl ätiologisch als auch symptomatologisch heterogenen 4 � 1 Historisches, Definitionsbemühungen Krankheitsbildern zu gelangen (Kolvin 1971). Die Arbeitsgruppe um Judith Rapoport am NIMH in Washington hat eine genauere nosologische und symptomatologische Differenzierung sehr früh, i.d.R. vor dem 5. Lebensjahr sich manifestierenden psychotiformen Syndromen einerseits und eigentlichen frühkindlichen Schizophrenien (VEOS) andererseits vorgenommen (Kumra et al. 1998). Kinder der ersten Gruppe werden als „multidimensional beeinträchtigt“ bezeichnet und den „nicht näher zu klassifizierenden Psychosen des Kindesalters“ zugerechnet. Kennzeichnend für die erste Gruppe sind 1. ein gegenüber den VEOS früherer Erkrankungsbeginn, 2. deutliche Knabenwendigkeit im Verhältnis 2:1 bzw. 3:1, 3. gestörter Realitätsbezug, Verschwimmen von Phantasie und Realität, flüchtige Beziehungsideen und Wahrnehmungsstörungen, 4. hohe emotionale Labilität mit fast täglich auftretenden unmotivierten, situationsunabhängigen Wut- und Erregungszuständen, 5. multiple kognitive Defizite und Beeinträchtigungen der Informationsverarbeitung und 6. Abwesenheit von formalen Denkstörungen. Zu dieser Gruppe gehörig sind tiefgreifende Entwicklungsstörungen wie u.a. frühkindlicher Autismus Kanner, desintegrative dementielle Zustandsbilder mit motorischen und sprachlichen Auffälligkeiten, wie z.B. Echolalie, pronominale Umkehr, multiple Dysgrammatismen, Stereotypien, Manierismen, soziales Rückzugsverhalten, Neigung zu Selbstverletzungen. Typisch für diese frühen Entwicklungsstörungen ist eine deutliche Knabenwendigkeit im Gegensatz zu den eigentlichen VEOS, bei denen das Geschlechtsverhältnis vor Einsetzen der Pubertät ausgewogen ist (Eggers 1973, Eggers & Bunk 1997, Kumra et al. 1998, Werry et al. 1991). Dagegen berichten Autoren, die Kinder mit einem sehr frühen Beginn und mit Symptomen einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung (Pervasive Developmental Disorder, PDD) in ihre Untersuchung einbeziehen, über ein Überwiegen des männlichen Geschlechts. Diese Kinder zeigen typische Phänomene wie autistische Beziehungs- und Verhaltensstörungen, Automutilationen, fehlende soziale Reagibilität und starke Retardierung der sprachlichen und motorischen Entwicklung. 5