Chromosom verloren? - Kinderkrebsstiftung

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Klinik und Forschung
Chromosom
verloren?
Die Bedeutung genetischer Veränderungen
für die Vorhersage des Erkrankungsverlaufs bei
Neuroblastomen
Rüdiger Spitz
Das Projekt: „Evaluierung der
Bedeutung molekularer Marker für
die Prognose von NeuroblastomPatienten“ wird von der Deutschen
Kinderkrebsstiftung gefördert.
Mittelbereitstellung: 210.650 € für
einen Förderzeitraum von 2 Jahren
bis 4/2006, Anschlussprojekt in
Vorbereitung
Neuroblastome stellen neben den
Hirntumoren die häufigste solide Tumorart im Kindesalter dar. In Deutschland erkranken jährlich rund 120-130
Kinder. Neuroblastome entstehen aus
Vorläuferzellen des sympathischen
Nervensystems1 und finden sich
überwiegend im Bereich der Nebennieren, des Unterleibs und seltener
im Brustkorb (Thorax). Zum Zeitpunkt
der Diagnose ist der zu erwartende
Erkrankungsverlauf außerordentlich
vielgestaltig. Etwa 50% der Neuroblastome stellen eine Subgruppe mit
eher günstigem Verlauf dar. Sie sind
begrenzt in ihrer Ausdehnung (=lokalisierter Tumor); neben einer chirurgischen Entfernung des Tumors ist
oftmals keine oder nur wenig Chemotherapie notwendig für eine komplette
Genesung. Bei weiteren 40% der Tumoren zeigen sich allerdings bereits
Metastasen an verschiedenen Stellen
des Körpers (z.B. Knochenmark, Knochen, Leber). Diese Gruppe der metastasierten Neuroblastome bedarf einer
intensiven Chemotherapie; die Sterblichkeit ist trotz erheblicher therapeu1 Das sympathische Nervensystem, auch als Sympathikus bezeichnet, ist neben seinem Gegenspieler,
dem Parasympathikus, ein Teil des vegetativen Nervensystems, welches lebenswichtige Vorgänge im
Körper steuert und unwillkürlich die Funktionen der
meisten inneren Organe und den Kreislauf kontrolliert.
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tischer Anstrengungen dennoch sehr
hoch. Die übrigen 10% entfallen auf
Tumoren, die hinsichtlich ihrer Lokalisation und ihres klinischen Verlaufes
unterschiedlich sind.
Aufgrund dieses gegensätzlichen
klinischen Verhaltens sind Neuroblastome sehr wichtige Forschungsobjekte zur Aufklärung grundlegender
biologischer Mechanismen, die zum
einen bestimmen, warum eine Zelle zur Tumorzelle wird, und zum anderen, warum sich Tumorzellen sehr
unterschiedlich verhalten können. Da
die Therapieoptionen von Beobachten
und Abwarten bis hin zu monatelanger intensiver Chemotherapie reichen
können, ist es für den Patienten von
unmittelbarer Bedeutung, Informationen über den Tumor zu erhalten, die
den Erkrankungsverlauf vorhersagen.
Bestimmte Veränderungen der
Chromosomen (=Träger der Erbsubstanz) in den Tumorzellen spielen eine
wichtige Rolle für das Verhalten von
Neuroblastomen. Hierzu zählen insbesondere Stückverluste in den Chromosomen1 und 11, sowie die Vervielfachung (=Amplifikation) eines Gens
mit dem Namen MYCN, welches das
Wachstum von Zellen fördert. Da solche Veränderungen Fehler in der Entwicklung und Vermehrung einzelner
Zellen darstellen, also nicht vererbt
werden, finden sie sich in den übrigen
Zellen des Körpers nicht. Die Kinderonkologie in Köln beschäftigt sich seit
Jahren damit, diese chromosomalen
Veränderungen in einer großen Gruppe von Neuroblastomen nachzuweisen
und zu bewerten. Auf diese Weise soll
geklärt werden, ob ein Zusammenhang
besteht zwischen dem Auftreten bestimmter genetischer Veränderungen
der Tumorzellen und dem Tumorverhalten. Die Untersuchung erfolgt mittels Fluoreszenz in situ Hybridisierung
(FISH), einer Methode, die den Nach-
Abbildung 1:
a) Mikroskopisches Bild von Neuroblastomzellen (blau). Die überlagernde rote Färbung entspricht einer riesigen Zahl von Kopien des MYCN-Gens.
b) Schematische Darstellung der Lage des MYCN-Gens auf Chromosom 2
a
b
2
WIR 3/2006
Abbildung 2:
a) Mikroskopisches Bild von Neuroblastomzellen (blau) und b) schematische Darstellung eines
Verlustes in Chromosom 1 mit Lage der Farbmarkierungen. Die grünen Signale markieren die
Zentromere der Chromosomen 1 (=Kontrolle). Das rote Signal kennzeichnet die Region, die üblicherweise von einem Verlust betroffen ist.
a
b
1
weis spezifischer chromosomaler Regionen in Zellen durch Anfärbung mit
Fluoreszenzfarbstoffen erlaubt (siehe
Abbildung 1).
Die wohl spektakulärste chromosomale Veränderung beim Neuroblastom
stellt die Amplifikation von MYCN dar.
Wie in Abbildung 1 gezeigt, finden sich
bis zu mehrere hundert Kopien des
Gens. Die biologischen Folgen dieser
Genvervielfachung sind dramatisch:
Die Zellen wachsen in der Regel sehr
rasch, häufig zeigen sich Metastasen.
In einem Kollektiv von 1.092 untersuchten Tumoren konnten wir zeigen,
dass rund 20% aller Neuroblastome
eine Amplifikation von MYCN aufweisen. Mehr als 60% aller Patienten mit
MYCN-amplifiziertem Neuroblastom
erleiden ein Rezidiv oder sterben sogar am Tumor. Somit stellt der massive
Überschuss des MYCN-Gens einen
sehr wichtigen Risikofaktor dar, der
eine intensive Therapie zwingend notwendig macht.
Eine weitere häufige Veränderung
ist der Verlust von Teilen des Chromosoms 1 (Abbildung 2). Bislang wurden 480 Neuroblastome hinsichtlich
dieses genetischen Fehlers untersucht
und rund 30% ließen tatsächlich einen
Verlust in Chromosom 1 erkennen.
Vieler dieser Tumoren wiesen gleichzeitig eine Amplifikation von MYCN
auf, die Ursache für diese Assoziation
ist bislang unbekannt. Patienten mit
Verlusten im Chromosom1 zeigen eine
deutlich höhere Rate an Rezidiven als
Patienten ohne diese Veränderungen.
WIR 3/2006
Das Vorliegen einer Störung im Chromosom 1 bedeutet somit ebenfalls ein
gesteigertes Risiko für den Erkrankungsverlauf. Eine Intensivierung der
Chemotherapie wäre in diesem Falle
angeraten.
Ein Verlust im Chromosom 11 stellt
die dritte häufige chromosomale Veränderung dar. In 611 untersuchten
Neuroblastomen fand sich ein solcher
Verlust in 30%, wobei auffällig war,
dass Veränderungen in Chromosom11
nur selten zusammen mit einer Amplifikation von MYCN auftraten. Aus bisher nicht geklärten Gründen scheint
das Vorliegen beider Veränderungen
für die Zelle nicht tolerabel zu sein.
Von allen Patienten mit Verlusten in
Chromosom 11 zeigten mehr als die
Hälfte ein Rezidiv. Bemerkenswert war
die Beobachtung, dass bei diesen Patienten häufig besonders schwerwiegende Rezidive auftraten. Der Stückverlust im Chromosom 11 stellt somit
den dritten genetischen Faktor dar,
der mit einem ungünstigen Erkrankungsverlauf verbunden ist.
Bestimmt man zum Diagnosezeitpunkt alle 3 beschriebenen möglichen
Veränderungen, so kann bereits heute eine sehr zuverlässige Vorhersage
über das Risiko jedes Patienten getroffen werden. Abbildung 3 zeigt ein
Diagramm, welches die Wahrscheinlichkeit für einen günstigen Verlauf in
Abhängigkeit von den 3 genetischen
Veränderungen anzeigt. Zeigt sich keine der 3 genetischen Veränderungen,
so beträgt die Wahrscheinlichkeit,
dass der Patient genesen wird, 83%
(nach 3 Jahren). Bei Vorliegen von
einer oder mehreren Veränderungen
sinkt die Wahrscheinlichkeit für eine
Genesung auf 41%.
In den vorangegangenen Abschnitten wurde erläutert, dass bestimmte
Veränderungen im Erbgut der Tumorzellen einen unmittelbaren Einfluss auf
den Verlauf der Erkrankung haben können. Um aber die Entstehung und das
Verhalten einer Tumorzelle tatsächlich
zu verstehen, ist es erforderlich, nicht
nur einzelne Abschnitte des Erbgutes
(der DNA) zu kennen, sondern die Ge-
Abbildung 3:
Graphik über den Zusammenhang zwischen den beschriebenen genetischen Veränderungen
und dem Erkrankungsverlauf.
Wahrscheinlichkeit
für einen günstigen
Verlauf in %
(= Krankheitsfreies
Überleben)
Alle 3 Chromosomen normal
Mindestens eine der beschriebenen
Veränderungen
Zeit in Tagen
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Klinik und Forschung
Abbildung 4a:
Muster an Verlusten (rot) und Zugewinnen (grün) von 20 Neuroblastomen mit günstigem
Erkrankungsverlauf
Abbildung 4b:
Muster an Verlusten (rot) und Zugewinnen (grün) von 20 Neuroblastomen mit Metastasen und
ungünstigem Erkrankungsverlauf
samtheit der Veränderungen in einer
Tumorzelle darzustellen. Um dies zu
erreichen, wird die Methode der Vergleichenden Genom-Hybridisierung
(CGH) angewendet, bei der das gesamte Erbgut eines Tumors mit dem
gesamten Erbgut normaler Zellen (z.B.
Blut gesunder Personen) verglichen
wird. Auf diese Weise können alle Bereiche des Erbgutes identifiziert werden, die beim Tumor überzählig oder
verlorengegangen sind.
Abbildung 4a zeigt das Muster an
Veränderungen der DNA in 20 untersuchten Neuroblastomen mit günstigem Verlauf. Jeder grüne Strich neben
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einem schematischen Chromosom
markiert eine überzählige Region in
jeweils einem Tumor, die roten Striche verweisen auf verlorene Bereiche.
So ist z.B. das Chromosom 1 in 3 von
20 untersuchten Tumoren komplett
überzählig gewesen, in 3 weiteren
Neuroblastomen dagegen fehlten unterschiedlich große Stücke. Grundsätzlich überwiegen bei dieser Gruppe von Neuroblastomen mit wenig
problematischem Verlauf Verluste und
Zugewinne ganzer Chromosomen. Im
krassen Gegensatz dazu finden sich
in Abbildung 4b offensichtlich viele
Tumoren, bei denen häufig bestimmte
Teile der Chromosomen fehlen (z.B. bei
Chromosom1 und 11) oder überzählig
sind (z.B. bei Chromosom 17).
Die Darstellung 4b stammt aus der
Untersuchung von 20 Neuroblastomen, die bereits bei Diagnose Metastasen zeigten und einen ungünstigen
Verlauf aufwiesen. Beide Gruppen (4a
und 4b) scheinen sich im Muster ihrer
Erbgutveränderungen sehr stark zu unterscheiden. Mit der Anzahl partieller
Zugewinne und Verluste steigt auch
die Aggressivität des Tumors an.
Das Hauptziel im Rahmen dieses
Forschungsprojektes besteht nun
darin, aus der Vielzahl der Veränderungen diejenigen zu identifizieren, die
aus normalen Zellen Tumorzellen machen, sowie solche, die aus langsam
wachsenden Tumorzellen aggressive
machen. Aufgrund der Komplexität
von Tumorerkrankungen wie dem Neuroblastom ist vielfach ein erheblicher
technischer und zeitlicher Aufwand
nötig, um die Ursachen aufzuklären.
Auf dem Weg zur Identifizierung der
genetischen Fehler haben wir uns beim
Neuroblastom einem wichtigen Etappenziel genähert, einer zuverlässigen
Vorhersage des Erkrankungsverlaufes.
Dies ermöglicht eine Intensivierung
der Therapie bei allen Patienten, für
die sie erforderlich ist, auf der anderen
Seite aber auch eine Reduktion überall
dort, wo die Gefahr einer Verschlechterung gering ist.
Projektleitung:
Prof. Dr. med. Frank Berthold
Dr. rer. nat. Rüdiger Spitz
Zentrum für Kinderonkologie und -hämatologie
des Klinikums der Universität zu Köln
Kerpener Straße 62, 50924 Köln
Telefon 0221 478 4380 / 6816
Fax: 0221 478 4689
mailto:[email protected]
mailto:[email protected]
WIR 3/2006
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