Depressive Störungen bei Kindern und Jugendlichen Ulm 30.6.2009 Basiswissen Kinder- und Jugendpsychiatrie Michael Kölch Gibt es Depressionen bei Minderjährigen? 1. Depression kann eigenständige Erkrankung sein und 2. Depression können die „Endstrecke“ bei vielen kinder- und jugendpsychiatrischen Störungen sein: – z.B. Störung des Sozialverhaltens – ADHS – Angststörungen – Angststörungen – Psychosen Symptome depressiver Störungen Kernsymptome – Stimmungsprobleme (gedrückte Stimmung Stimmung, Traurigkeit) – Probleme im Denken, Denkhemmung – Veränderungen g im Aktivitätsniveau ((erhöhte Ermüdbarkeit), ), Hemmung der Handlungsfunktionen Häufige weitere Symptome: – Interessensverlust, Interessensverlust Freudlosigkeit – Verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit – Vermindertes Selbstwertgefühl g und Selbstvertrauen – Schuldgefühle und Gefühle von Wertlosigkeit – Negative und pessimistische Zukunftsperspektiven – Suizidgedanken, erfolgte Selbstverletzung oder Suizidhandlungen – Schlafstörungen – Verminderter Appetit – Körperlich-vegetative p g Beschwerden,, z.B. Kopfp oder Bauchschmerzen Klassifikation (ICD-10) Leicht F32.0/F33.0 Ohne somatische Symptome F3x.x0 Depr. Episode F32 Mittelgradig F32.1/F33.1 Rezidivierende depr. Störung F33 Schwer Mit somatischen Sympt. F3x.x1 Ohne psychotische Oh h ti h Symptome F32.2/F33.2 Mit psychotischen Symptomen F32 3/F33 3 F32.3/F33.3 Gegenwärtig remittiert F33.4 Epidemiologie Prävalenz von MDD P kt ä l Punktprävalenz von MDD iin d der Ad Adoleszenz l 5% (Essau & Dobson, 1999) 2% bei Kindern (m:w 1:1) 4-8% bei Jugendlichen (m:w 1:2) bis zu 14 % depressive Symptome (Boyd et al, al 2000) ((Birmaher et al., 1996, Doi et al 2001)) Im Alter zwischen 13 und 18 Jahren: 1-Jahres-Prävalenz 3% für Mädchen und 1% für Jungen (Angold & Costello, 2001) ► ab der Pubertät: Mädchen häufiger als Jungen betroffen Epidemiologie II 25% aller jungen Leute haben wahrscheinlich bis zum Alter von 18 Jahren eine klinisch signifikante g depressive p Episode p erlebt (Lewinsohn et al, 1994, National Health and Medical Research Council, 1997) Lebenszeitprävalenz 15-20% (Kessler et al., 2003; Birmaher et al, 1996) Trend: häufigere und früher beginnende depressive Episoden (Colloshaw et a., 2004) Mittlere Dauer depressive Episode Jugendliche: 8 Monate fast die Hälfte der Depressionen bei Minderjährigen remittiert ) innerhalb eines Jahres ((NICE 2005). Epidemiologie III Nach Remission: Wiederauftretensrate 20-60% nach 1 Jahr, 70% nach 5 Jahren ((Birmaher et al., 2002, Costello et al., 2002)) ungefähr 50 % der Erkrankungen zeigen einen bis in das Erwachsenenalter andauernden Verlauf (Weissman et al. 1999). ►Fazit Depressive Episoden im Kindes Kindes- und Jugendalter bergen ein hohes Risiko des Wiederauftretens im Erwachsenenalter (Harrington & Dubicka, 2001); 45% der Teenager, die sich schon einmal von einer depressiven Episode erholt hatten, erkrankten erneut im Alter zwischen 19 und 24 Jahren (Lewinsohn et al, 1999) hohe Gefahr für Suizidalität (Harrington, 2001), v.a. während der Besserungsphase (Nelson et al., 2007) Epidemiologie IV Komorbidität mit Depressionen Angststörungen bis zu 40% Psychosen: ein Großteil der Patienten zeigt im Verlauf eine manifest depressive Symptomatik Bei einer Vielzahl von Patienten findet man in der Vorgeschichte vor der ersten Phase die Diagnose Depression Risikopopulationen! Heimkinder! Kinder psychisch kranker Eltern! Ursachen Psychosoziale Faktoren Genetische/biologische Faktoren Neurobiologie Die meisten Befunde stammen aus Untersuchungen mit Erwachsenen Serotoninhypothese: verminderte Serotoninkonzentration Katecholaminhypothese: Defizit von Norepinephrin Verminderte V i d N Noradrenalind li und dD Dopamin-Konzentration i K i (Nemeroff, 2002) Hippocampus: pp p Zellaufbau- und –funktionsstörungen g ((Duman et al., 1999) Reduktion des frontalen Kortexvolumens & Erweiterung der lateralen Ventrikel bei depressiven Kindern (Steingard et al al., 1996) Hypometabolismus frontal & temporal (Kimbrell et al., 2002) Psychosozial Trennung von Eltern Mobbing Über- oder Unterforderung in der Schule Familiäre Kommunikations- und Bewältigungsmuster g g Deprivation Die Spezifität der Symptomatik im Kindes- und Jugendalter Veränderung der Symptome im Entwicklungsverlauf I Im Vorschulalter (3-6 Jahre) • Trauriger Gesichtsausdruck • Verminderte Gestik und Mimik • Leicht irritierbar und äußerst stimmungslabil g • Mangelnde Fähigkeit, sich zu freuen • Introvertiertes, aber auch aggressives Verhalten • Vermindertes Interesse an motorischen Aktivitäten • Essstörungen bis zu Gewichtsverlust/-zunahme • Schlafstörungen (Alpträume, Ein- und Durchschlafstörungen) Veränderung der Symptome im Entwicklungsverlauf II Schulkinder • Verbale Berichte über Traurigkeit • Suizidale Gedanken • Befürchtung, g, dass Eltern nicht genügend g g Beachtung g schenken • Schulleistungsstörungen Im Pubertäts- und Jugendalter • Vermindertes Selbstvertrauen • Apathie, Angst, Konzentrationsmangel • Leistungsstörungen • Zirkadiane Schwankungen des Befindens • Psychosomatische Störungen Mimischer Aspekt, nicht nur situativ sondern überdauernd Problem auch bei Depression: Kognition und d Fühl Fühlen stimmen ti nicht immer überein Diagnostik: Depressive Störungen Besonders bei jüngeren Kindern Beobachtung von – Spielverhalten – Essverhalten – Schlafverhalten Bei älteren Kindern zusätzlich – Beobachtung von Leistungsverhalten – Stimmungstagebücher Diagnostik: Depressive Störungen Notwendig: Einbeziehung und ausführliche Befragung von – Eltern – Lehrern – Kindergärtnern g – Sonst. Betreuungspersonal Jede Diagnostik muss auch eine Erhebung selbst- und fremdschädigender Tendenzen beinhalten! – Risikofaktoren, Risikofaktoren zz.B. B Stressoren Stressoren, Komorbiditäten Komorbiditäten, Hoffnungslosigkeit – Protektive Faktoren, z.B. familiärer Rückhalt, religiöse Glaubensüberzeugungen Hilfreiche Fragen zur Diagnostik ►Bist Du eher ein trauriges oder ein fröhliches Kind? ►Wann bist Du richtig fröhlich? Was macht Dir richtig Spaß? ►Fühlst Du Dich oft niedergeschlagen? War das früher anders? ►Weinst Du oft? Weinst Du vor dem Einschlafen? Schläfst Du l lange nicht i ht ein? i ? ►Kreisen Deine Gedanken oft um dasselbe? Grübelst Du viel? Worüber? ►Macht Dir vieles keinen Spaß mehr, was Du früher gerne gemacht hast? Tust Du weniger, triffst Du Dich z.B. weniger mit Freunden? ►Hast Du das Gefühl im Vergleich zu früher völlig ausgebrannt zu sein, keine Energie mehr zu haben, gar nichts mehr zu fühlen? ►Hast Du manchmal das Gefühl, alles habe keinen Sinn mehr? ►Hast Du schon einmal daran gedacht, nicht mehr leben zu wollen? Weitere Diagnostik Labordiagnostik zum Ausschluss einer organischen (Mit-) Ursache Testdiagnostik – Leistungsdiagnostik bei Hinweisen auf Schulschwächen/stärken äk – Depressionsfragebögen, -interviews und -tests zur Eingangsdiagnostik g g g und Verlaufskontrolle – BDI-II, – CDRS, – DIKJ – DAS – Persönlichkeitsdiagnostik mit Hilfe projektiver Verfahren (TGT, CAT, Schweinchen-Schwarzfuß-Test) Phasen der Behandlung Akutbehandlung (acute) Stabilisierung Symptomreduktion Verlauf (continuation) Festigung des gebesserten psychischen Zustands, Vermeidung von Rückfällen Beibehaltung g ((maintenance)) Vermeidung des Wiederauftretens depressiver Symptome Pharmakotherapie: immer eingebettet in kinder- und jugendpsychiatrische/-psychotherapeutische Behandlung Probleme in der Therapie Wie behandelt man? Behandlung von Syndromen ↔ Behandlung von Diagnosen Die „moderne“ Forschung: Genetische Studien haben keine wirklichen Befunde erbracht Neurobiologie: vielfältige Befunde Befunde, aber noch keine Implikation für Therapie Therapieforschung: Verwirrende Befunde sowohl zur Psycho- als auch zur Pharmakotherapie Behandlung leichter und schwerer Depression Leichte Depression Psychoedukation, unterstützende Gespräche und case Psychoedukation management/Umgang mit Stressoren scheinen ausreichend Unterstützende Behandlung/Gespräche, CBT und IPT nur bei leichter Depression gleich wirksam, bei schwereren Formen ist die unterstützende Behandlung unterlegen g ((Barbe et al.,, 2004;; March et al.,, 2004)) Reduktion der leichten depressiven Symptome nach 4-6 Wochen unterstützender Behandlung Behandlung leichter und schwerer Depression Schwere Depression Normalerweise ist der Einsatz antidepressiver Medikation notwendig Medikation kann zuerst als alleinige Behandlung eingesetzt werden, d oder d schon h von B Beginn i an iin K Kombination bi i mit i Psychotherapie Sprechen p Patienten nicht auf Monotherapie p ((entweder Medis oder PT) an, so ist eine Kombi beider Methoden gefragt Psychotherapie - Wirksamkeit Metaanalyse 35 RCTs mit depres. Jugendl. (Weisz 2006) Generell nur moderate Effekte bei der Akutbehandlung, Akutbehandlung wenn auch große Effekte bei einzelnen Studien Signifikant bessere Ergebnisse, wenn das Kind die Infos gegeben b h hat ((nicht i h di die El Eltern)) Kein Zusammenhang zwischen Dauer der Behandlung und Ansprechen p Æ Kurzinterventionen als effiziente und ökonomische Behandlungsmethode Follow-up: Positive Treatmenteffekte bleiben über einige Monate stabil nicht aber 1 Jahr stabil, Lewinsohn et al., 1990: Depressive Patienten, 14-18 Jahre p p g 7 Wochen lang, g, 2 Treffen p pro Woche Therapieprogramm 50% der behandelten Jugendlichen waren remittiert, verglichen mit nur 5% der unbehandelten Jugendlichen auf der Warteliste. Psychotherapie: TADS und ADAPT TADS Ergebnis nach 12 Wochen: – Kombi am besten, keine signifikanten Unterschiede zwischen CBT & Plazebo – Kombinationsbehandlung besser als Fluoxetin alleine hauptsächlich bei leichteren Formen der Depression, nicht aber bei schweren (Curry et al., 2006) Effektstärken: Kombi 0.98, Fluoxetin 0.68, CBT 0.03 Remissionsraten: Kombi 71%, Fluoxetin 60.6%, CBT 43.2%, Plaz 34.8% ADAPT CBT: 1x pro Woche in den ersten 12 Wochen (treatment) Danach alle 14 Tage für weitere 12 Wochen (maintenance) ÆInsgesamt wurden pro Patient 19 Therapiesitzungen angeboten Signifikante Verbesserung der depressiven Symptomatik in beiden Gruppen -Kein Unterschied der beiden Gruppen Æ CBT brachte keine weitere Verbesserung -20% 20% aller Patienten waren non non-responders responders Element in der P Psychotherapie: h th i Generalisierendes Denken und vorgefertigtes Denken verändern Pharmakotherapeutische Behandlung - Antidepressiva Tricyclika y SSRIs MPH Phytopharmaka y p Fettsäuren Neuroleptika Einsatzgebiete von Antidepressiva: AD sind nicht nur in der Pharmakotherapie p der Depression p etabliert,, sondern werden bei verschiedenen kinder- und jugendpsychiatrischen Störungsbildern eingesetzt. Pharmakotherapeutische Behandlung – Antidepressiva bei Minderjährigen Tricyclika y SSRIs MPH Phytopharmaka y p Fettsäuren Neuroleptika Aktuelle Fragen in der Diagnostik und Therapie der depressiven Erkrankungen bei Minderjährigen Psychopharmamakologische Behandlung: seit 2004 SSRI Verwirrung bzw. Unklarheiten Physiologischen Besonderheiten bei MJ („Kinder sind keine kleinen Erwachsenen“) aber auch auf Verhaltensebene Besonderheiten ? → „Behavioural toxicity“: vermehrte Aktivierung des Patienten, die einen Zusammenhang mit suizidalen Gedanken und Verhalten haben kann (Hammad ) 2004). Die Daten zu SSRI-Studien wurden inzwischen reanalysiert und Metaanalysen durchgeführt, durchgeführt ►bisher außer für Fluoxetin kein überzeugender Wirknachweis für die SSRI (Whittington et al. 2004, Hammad et al. 2006). NNT für SSRI bei MDD: 10 (7-15); NNH 143 (Bridge 2007) Probleme der Pharmakotherapie bei MDD: Pharmakosicherheit Altersspezifische Unterschiede bei Nebenwirkungen von SSRI ((Safer & Zito 2006): ) Erbrechen: Kinder > Jugendliche Aktivierung/“beh. toxicity“: Kinder > Jugendliche > Erwachsene Risiko für „Suizidalität“: SSRI 4%, Placebo 2% (Hammad 2006 & Mosholder et al. 2006) Metaanalyse Daten Committee on Safety of Medicines (CSM) + Literatursuche 2004-2005 Self-harm/suicide related behaviour bei knapp pp 5% ((71)) Jugendlichen vs. 3% (38) Pbo Suizidale Gedanken/suizidale Impulse nicht statist. signifikant häufiger (Dubicka et al al. 2006) Pharmakoepidemiologie, oder was verschreiben wir? 15-/3-fach höhere Verordnungen von AD in den USA/NL vs. D Prävalenz und Inzidenz für AD in Deutschland stieg in den letzten Jahren um ca. 25%, insbesondere für SSRI TCA weiterhin am häufigsten verordnet Hoher Anteil Phytopharmaka in D: ca. 40% aller Verordnungen Der tatsächliche Gebrauch ist geringer als Verordnungszahlen Das Indikationsspektrum für AD ist breit Fazit: g mit offenen weiterhin unterschiedliche Verordnungsmuster Fragen zu Evidenzbasierung & Zusammenhängen mit Suiziden Verhältnis der Substanzklassen 2002-2006 D vs. NL 80,0% 70,0% 60,0% 50,0% 2002 2003 2004 2005 2006 40,0% 30 0% 30,0% 20,0% 10,0% 0,0% D NL SSRI D NL TCA D NL OAD Diskussion in den USA SSRI: Fluoxetin Zugelassen ab 8 Jahren für MDD seit Sommer 2006 Beginn einschleichend mit 5mg ??? Dosissteigerung g g bis 40-60mg; g; oftmals 20mg g ausreichend Wirklatenz Besonders zu beachtende Nebenwirkung: Aktivierung Selten Serotonerges Syndrom bei Absetzen Was tun, wenn nichts wirkt? Fragen der Response, Substanzwechsel und Augmentierung TORDIA Studie: 12 Wochen RCT a) anderer SSRI b) anderer SSRI + CBT c)Venlaflaxin d)Venlaflaxin + CBT Ergebnis: g CBT+ Medikation erbrachte g größten Erfolg g Serotonin Transporter Polymorphismen (5-HTTLPR): Cronenberg et al.. J Child Adolesc Psychopharmacol. 2007;17(6):741-50. ► 5-HTTLPR ss Genotyp yp war mit schlechterer klinischer Response p verbunden. Der Polymorphismus könnte ein genetischer Marker für die Effektivität von Escitalopram sein. Aripiprazole pp as adjunctive j therapy py in MDD: Marcus et al. J Clin Psychopharmacol. 2008 28(2):156-65.; Sokolski et al. 2008 ►Augementierung mit atypischen Neuroleptika könnte erfolgreich sein Prävention von Depression • • • • • • Präventionsprogramme, die sich an Risikopopulationen richten, sind effektiver als universelle Programme für große unspezifische G Gruppen (Horowitz (H it & Garber, G b 2006) Mittlere Effektstärken nach Intervention: – Selektive Programme .30 P=.03 – Universelle Programme .12 Mittlere Effektstärken nach Follow-up: – Selektive Programme .34 P< 001 P<.001 – Universelle Programme .02 Programme mit einem höheren Anteil weiblicher Teilnehmer und Jugendlicher hatten höhere Effektstärken (Horowitz & Garber, 2006) Erfolgreiche Behandlung depressiver Mütter hing zusammen mit signifikant weniger psychiatrischen Diagnosen und höheren Remissionsraten bereits bestehender Störungen bei ihren Kindern (Weissman et al al., 2006) Wichtig: Information betreuender Personen über Warnzeichen depressiver Störungen und Erreichbarkeit von Hilfsangeboten! Fazit • • • • • • Erkennen der Symptomatik wichtig Depression bei Minderjährigen: häufiger als früher gedacht Hohe Gefahr der Chronizität Therapie: abhängig vom Schweregrad – Leicht: L i ht supportiv ti – Mittel: Psychotherapie – Mittel (lange) und schwer: Pharmakotherapie + Psychotherapie Fluoxetin als zugelassenes und wirksames Medikament Sicherheitshinweise und – untersuchungen beachten • Dr. Michael Kölch Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie / Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm Steinhövelstraße 5 89075 Ulm www.uniklinik-ulm.de/kjpp Ärztlicher Direktor: Prof. Dr. Jörg M. Fegert